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Gefangen im Spiel

Du rennst. Du darfst nicht stehen bleiben. Du darfst dich nie sicher fühlen. Du darfst nichst und niemandem vertrauen.
Du fragst dich, wieso? Was passiert ist? Wie du hierher gekommen bist? Du darfst nicht nachdenken. Es geht um dein Überleben, um deinen Hals. Du stehst im Mittelpunkt. Im Mittelpunkt eines Katz und Maus-Spiels. Und du hast es in der Hand, wer von euch die Katze und wer die Maus sein wird.
Du läufst weiter durch das dunkle Höhlenlabyrinth. Die Schritte deiner nackten Füße hallen platschend von den runden Backsteinwänden wieder, die nur von einigen spärlich flackernden Flammen beleuchtet sind. Die Feuer haben schon schwarze Rußflecken an die Mauern gebrannt, an denen sie befestigt sind. Dennoch ergreift dich die Kälte, dringt durch deine zerschlissenen Sachen und ergreift dein Herz. Du hattest Angst. Du hattest schon oft in deinem Leben Angst. Angst vor einem Monster unterm Bett, Angst vor einigen deiner Mitschüler, Angst davor, vom Drei-Meter-Turm im Schwimmbad zu springen. Wie lächerlich! Wenn du hier heraus kommst, wirst du merken, dass all das nur kindische Einbildung war. Du wirst gelernt haben, was Angst bedeutet. Wie es sich anfühlt, keine Hoffnung mehr zu haben. Was Panik ist. Wenn du hier heraus kommst, wirst du ein anderer Mensch sein. Wenn du hier heraus kommst.
Du schaust dich um. Du weißt, dass du einen Gegner hast. Du weißt, dass einer von euch den anderen irgendwann töten muss. Deshalb hältst du dieses Messer in der Hand. Dieses schwere Messer mit einer gezackten Klinge aus dunklem Metall, das du sonst immer in Fantasy-Filmen siehst. Doch das hier ist die knallharte Wirklichkeit!
Ein Messer ist kein Spielzeug, dieses schon gar nicht. Dieses wurde gemacht, um Menschen zu töten. Menschen wie du, die sich auf das Spiel eingelassen haben. Tu nicht so, als wusstest du von nichts, dir ist ganz klar, wovon die Rede ist. Von den Abgründen der menschlichen Seele. Menschen sind Raubtiere. Und hier können sie sich in ihrem natürlichen Lebensraum wieder finden.
Kannst du ein wenig mit der Klinge umgehen? Kannst du Fechten? Betreibst du einen Kampfsport? Judo oder Taekwondo? Bist du Sportler? Bist du schnell? Wie gut sind deine Reaktionen? Die Antworten auf Fragen wie diese sind weitaus entscheidender als Antworten auf Fragen wie: Wo bin ich? Ist das nur ein Traum? Wie bin ich hierher gekommen? Denn diese Antworten weißt du schon. Obwohl du sie nicht wahrhaben willst.
Hast du es auch nur für ein Gerücht gehalten? Ein schlechter Scherz? Eine dumme Provokation deiner zivilisierten Gesellschaft? Die Masse ist zivilisiert, der Einzelne nicht. Das wirst du merken. Das wirst du schon sehr früh merken.
Hast du wirklich geglaubt, dies sei die Chance, deinem Alltag zu entfliehen? Du bist ein Mensch. Und Menschen sind Monster. Man braucht nur täglich Nachrichten zu schauen, um das zu wissen. Warum also tust du dich mit der Wahrheit so schwer? Du willst es vergessen, nicht? Du willst heraus, du willst weg hier. Weg aus den Abgründen deiner Seele, die sonst nur hervor kamen, wenn du wütend warst. Im Zorn zeigt sich das wahre Wesen des Menschen. Die meisten können sich beherrschen. Doch viele sind wie du. Menschlich. Verdorben. Bösartig. Und früher oder später spielen alle dieses Spiel. Dieses Spiel, wo sie ihren Ängsten in einem Kampf auf Leben und Tod gegenüber treten. Du bist gefangen. Gefangen im Spiel.

 

Der Feind, der dich in diese Situation gebracht hat, heißt Zorn. Ja, du vermutest richtig. Ich, der dich hier im Labyrinth festhält, der dich zwingt, gegen eine Person zu kämpfen, die du nie zuvor gesehen hast. Ich bin dein eigener Zorn. Dein Zorn, den du so oft unterdrückt hast. Der sich angestaut hast. Den du ab und zu an Unschuldigen ausgelassen hast. Der Zorn, der euch Menschen zerfrisst, euch zum Glühen bringt, euch dazu treibt, Dinge zu tun, von denen ihr selbst sagt, dass sie aufhören sollen. Gib es zu, deine Welt ist zerfressen von Zorn. Kriege und Verbrechen sprechen eine Sprach für sich. Na, errätst du langsam, was du hier unten tust? Warum du mit zerschrammten Armen, aufgeschlagenen Knien und brennender Lunge durch diese Tunnel hetzt? Du kämpfst gegen deinen Feind. Den größten Feind, den die Menschheit je hatte, den Feind, der sein Spiel schon unendlich lange mit euch spielt. Gegen mich. Deinen Zorn. Deine Wut. Deinen Hass.

 

Na, werden dir langsam die Knie weich? Dumm, denn die brauchst du noch. Du bist nichts weiter als ein Schatten. Ein Schatten unter vielen, oder hast du geglaubt, dass dein Leben in Anbetracht von Zeit und Raum eine Rolle spielt. Hier gibt es nur eins, was wichtig ist. Das nackte Überleben. Ich oder du?

 

Keuchend bleibst du stehen. Dein Herz rast, als wolle es deine Rippen sprengen. Etwas in deinem Kopf dröhnt. Das Bild vor deinen Augen fängt an, zu verschwimmen. Du stehst vor einem Problem. Der Weg teilt sich. Rechts oder links? Eine Fehlentscheidung kann den Tod bedeuten.
Rechts. Du nimmst einfach den Tunnel und rennst entlang. Der Gang hat unendlich viele Biegungen. Plötzlich bleibst du stehen. Hast du eben etwas gehört?
Furcht lähmt deinen Kopf, als du dich umdrehst und gehetzt umschaust. War da ein Schatten? Hinter der Biegung? Dein mysteriöser Gegenspieler, der nur wartet, bis du dich umdrehst und er dich von hinten anfallen kann?
Du hebst dein Messer, deine Gedanken sind wie erstarrt. Du siehst nichts, hörst nichts, doch das Gefühl der Gefahr scheint dir das Blut in den Adern gefrieren zu lassen.
Deine Gedanken rasen. Umkehren oder weiter laufen? Kämpfen oder flüchten?

 

Habe ich es dir nicht gesagt? Du denkst zuviel!

 

Obwohl du nicht weißt, ob du das richtige tust, machst du einen Schritt auf die Kurve zu und wirbelst, dein Messer schützend vors Gesicht haltend, herum. Die Lichter am Ende des Tunnels scheinen dich anzustarren. Wie gefräßige Ungeheuer, die dein Blut sehen wollen. Die es über die Steinmauern fließen sehen wollen, wie dein anonymer Gegner, der soeben hinter dir auftaucht, um dir sein Messer an die Gurgel zu halten.

 

Respekt, ich hätte nicht gedacht, dass du solche Reflexe hast!

 

Die Klinge, gezackt und dunkel, wie deine, damit man sie nicht aufblitzen sieht, hinterlässt eine blutige Spur an deinem Hals, als du dich im letzten Moment herum drehst, dem Stich ausweichst und mehrere Schritte zurück gehst, um deinen Gegner einzuschätzen. Du hast keine Zeit, ihn dir richtig anzusehen, da er sogleich wieder zum Angriff übergeht. Unbeholfen taumelst du zurück. Etwas trifft dich am Kinn. Grelle Lichter explodieren vor deinen Augen, kurz bevor du auf dem Boden aufschlägst. Irgendwie spürst du, wie die Klinge deines Gegners gnadenlos auf die zurast.

 

Ein wenig mehr Gegenwehr hätte ich schon erwartet.

 

Du reißt deinen Arm hoch, merkst, wie das Messer in dein Fleisch schneidet und schreist vor Schmerz auf. Warmes Blut tropft dir ins Gesicht, als dein Feind die Klinge zurück zieht. Die Zeit, die er benötigt, um sich einen neuen Angriffspunkt zu suchen, überbrückst du mit einem ungezielten, harten Tritt gegen seine Beine. Er strauchelt ein wenig, gibt aber lange nicht nach. Mit deinem unverletzten Arm, der immer noch deine Waffe hält, versuchst du, dich aufzurichten.
Dein Feind ist plötzlich neben dir und befördert dich mit einem Tritt wieder Richtung Boden. Hilflos fällst du auf den Bauch, Blut strömt aus deiner Nase. Dein Gegner holt zum tödlichen Schlag aus...
Du weißt selbst nicht, woher du die Kraft nimmst, dich trotz stechender Schmerzen in Arm und Kopf umzudrehen. Dein Blickfeld besteht nur aus verschwommenen Flächen. Als du mit deiner Waffe zustichst, ist es eher ein Verzweiflungsakt, als eine durchdacht geführte Tat.
Mit widerlicher Agonie spürst, du, wie die Klinge das Fleisch deines Gegners durchdringt, wie sein Blut auf deine Hand spritz und sich mit dem deinen vermischt. Du fühlst das Messer tiefer in seinen Körper hinein gleiten, bis es bis zum Heft feststeckte. Du blinzelst. Deine Sicht klärt sich wieder.

 

Du blickst in dein eigenes Gesicht. Es ist deine Gesichtszüge,  deine Haare, deine Nase und Ohren. In deinen weit aufgerissenen Augen steht ein Ausdruck, den du nicht ganz deuten kannst. Verwunderung, Angst und Zufriedenheit spiegeln sich darin wieder. Dein dunkler Zwilling gleitet mit deiner Klinge in der Brust neben dir auf dem Boden. Seine Lippen bewegen sich. Der Satz wird dir ewig im Gedächtnis bleiben."Du hast deinen größten Feind, deinen Zorn besigt. Du hast das Spiel gewonnen."
Das Spiel, das in kleinerer Form überall auf der Welt gespielt wird, in dem alle Menschen gefangen sind. Du hast gewonnen. Nicht alle schaffen das. Die meisten werden von ihren Zwillingen, ihrer dunklen Seite, getötet. Du hast dich dieser Seite widersetzt. Als einer von wenigen, die sie je heraus gefordert haben. Achte darauf, dass du nie wieder im Spiel gefangen sein wirst.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

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