Seit Wochen gingen die Hochwassermeldungen durch die Nachrichten.
Seit Tagen regnete es bei uns.
Seit Stunden drohten die Abflüsse überzuquellen.
Dennoch hatte niemand mit der Flut gerechnet.
Die Flut –war das das rechte Wort, um zu beschreiben, was geschah?
Flut, da denkt man an die Flut, die zwei Mal am Tag über das Wattenmeer rollt.
Man denkt vielleicht an die Nordsee.
Aber wir wohnten nicht an der Nordsee.
Wir wohnten in der Mitte von Norddeutschland, an einem Ort, gut zwölf Kilometer von der Elbe entfernt.
Dennoch erreichte sie uns.
Die Flut.
Ich werde diese Bilder nie vergessen, nie diese plötzliche Verzweiflung als das über die Ufer getretene Wasser über die Felder wie ein Tsunami auf das Land schwappte.
Als die Notmeldung kam, war es bereits zu spät.
Mein Name ist Melissa Meyer, ich bin 14 Jahre alt und erzähle euch meine Geschichte.
„Melissa, wach auf!"
Ich hatte schon immer einen festen Schlaf, doch als meine Augenlider zu flattern begannen, riss ich schlagartig den Kopf hoch.
Die Sirene!
Gefahr!
Lebensgefahr!
Es war Mama, die mich rüttelte.
„Wir müssen weg. Schnell!“
Ich sprang aus dem Bett, stieß hart an meine Nachttischlampe und griff nach dem Lichtschalter.
Dunkelheit.
Das Stromnetz war ausgefallen.
Langsam begann sich Panik in mir anzustauen.
Mama warf mir eine Jacke über die Schultern drückte mir die erstbesten Schuhe in die Hand, die sie fand. Nur noch mit halbem Bewusstsein ließ ich mich von ihr aus dem Zimmer zerren.
„Kommt schnell!“
Papa stand an der Treppe, Oliver, meinen neunjährigen Bruder, fest an sich gedrückt. Sie hatten rote Schwimmwesten an. Auch Mama hatte so eine an.
„Zieh die über!“
Ich bemerkte, wie Papa mir die flammende Weste über die Schultern und die Klettverschlüsse so stramm zuzog, dass mir für einen Augenblick die Luft wegblieb.
Dann … Filmriss.
Ich erinnere mich an Ollies Weinen, weil Mama ihn zu fest am Arm packte. Wir rannten durch die Straßen, Wasser platschte gegen meinen Körper. Ob es mir nur bis zu den Knien oder bis zum Bauch reichte, kann ich nicht sagen.
Ich wusste nur, dass das Wasser stetig anstieg.
Rettungsboote, überfüllt mir Menschen, die meistens noch im Schlafanzug waren, so wie ich. Überall Feuerwehrleute, Polizisten und Ehrenamtliche des Roten Kreuzes oder der DLRG.
Oliver schluchzte immer noch.
„Papa, Mama, was ist mit unserem Haus? Werden wir zurückkommen, wenn das Wasser weg ist?“
Keine Antwort.
Niemand hat in dieser Nacht eine Antwort bekommen.
Meine nächste deutliche Erinnerung ist, dass wir alle vier in einem schaukelnden Schlauchboot untergebracht waren. Erst da registrierte ich, dass Oliver fest seinen Teddybären umklammert. Ich sah zu den Wellen.
Wasser.
Überall Wasser.
Es schwappte hinüber, sieg ununterbrochen und strömte wie aus dem Nichts um die Häuser.
Etwas schwamm vorbei. Es sah aus wie ein Auto.
Nun endlich. Nach all der Zeit kam sie. Die Angst.
Sie war plötzlich in mir, ohne dass ich wusste, wovor ich Angst hatte.
Meine Familie, meine Existenz, mein Leben.
Es war mir auch egal, aber dann kam sie –die Panik.
Das schlammige, braune Wasser schlug gegen das wackelige Schlauchboot. Jemand, der noch hinter uns saß, rief etwas, was ich nicht verstand. Ich wollte es auch nicht verstehen.
Ich sah die Wellen. Braune, schleimige Finger aus Wasser, die nach dem Rand des Bootes griffen, nach uns griffen, um uns hinab in die Tiefe zu zerren.
„Mein Teddy!“
Oliver!
Ich sehe ein kleines, flauschiges Etwas, das untergeht.
„Nein! Teddy!“
Ich nehme ihn in den Arm.
„Wir müssen ihn holen!“
„Nein Ollie“, sage ich tonlos.
Er wehrt sich.
„Oliver!“ Das ist Mama.
„Halte still!“ Das Boot fing an zu schaukeln, das Wasser griff nach mir. Ich hielt einfach nur meinen Bruder fest und drückte ihn gegen die Brust.
„Halte still! Es wird alles gut. Bitte, halte still!“
Doch es wurde nicht gut.
Ich weiß heute noch nicht, wie es passierte.
Alles, was ich weiß, war, dass wir kenterten.
Der Alptraum wurde wahr.
Bis zur dritten Klasse konnte ich nie richtig schwimmen. Ich habe Wasser immer gemieden, wo ich war. Das lag daran, dass ich als Baby mal in den Pool meiner Nachbarn gefallen war. Den Schock hatte ich anscheinend nie verkraftet. Jedenfalls hatte ich seitdem Angst vorm Wasser. Nur mit Unterstützung meiner Eltern und meiner Klassenlehrerin bin ich schließlich ins Schwimmbad gegangen, um es zu lernen, das Wasser zu beherrschen.
Mit Mühe hatte ich dann irgendwann das Bronze-Abzeichen gemacht. Doch eine große Schwimmerin war ich nie.
Und nun gluckerte ich unter.
Um mich herum: Wasser. Gefährliches Wasser.
Nun war der Zeitpunkt gekommen.
Die Panik übermannte mich.
Ich schlug um mich, rang nach Luft, tauchte, gezogen von der Rettungsweste irgendwann auf, würgte, hatte Wasser in der Luftröhre und fing an, zu husten.
Ich konnte noch nicht ganz durchatmen, als ich den Schrei hörte.
„Mamie, Papie, Mellie!“
Es gab zu dem Zeitpunkt nur eine Person, die mich „Mellie“ nannte.
Ich dachte nicht nach, sondert ruderte mit den Armen in die Richtung, aus der Olivers Schrei gekommen war. Das Wasser donnerte tonnenschwer gegen meinen Körper, als wolle es mich zurückdrängen, doch ich schwamm weiter.
Vielleicht verlor ich dabei die Orientierung, aber mich kümmerte es nicht. Ebenso wenig machte ich mir Gedanken darüber, dass dieser verzweifelte Hilfeschrei das letzte war, was ich von meinem Bruder, meinem nervtötenden, schleimigen, kleinen Bruder, je hören würde.
Alles, was in die Finger bekam, war eine signalrote Kinderschwimmweste.
Ein Hubschrauber der Rettungskräfte fischte mich halbtot aus dem Wasser. Ich kam in ein nahe gelegenes Krankenhaus, das zur Notaufnahme umfunktioniert wurde und wurde dort tagelang gegen alle möglichen Krankheitserreger, die ich beim Schwimmen geschluckt habe, geimpft und behandelt.
Mama und Papa fanden mich zwei Tage später. Wir stellten sofort eine Vermisstenanzeige bei der Polizei.
Doch alles, was man je von Oliver Meyer fand, blieb die zerrissene Schwimmweste, die ich, als der Helikopter mich rettete, fest in der Hand hielt.
Ich habe mir noch monatelang den Kopf darüber zerbrochen, wer daran Schuld hatte.
Das Frühwarnsystem, das ausgefallen war, der Stromausfall, das, was das Boot zum kentern brachte, bis mir klar wurde, dass am Tod meines kleinen Bruders die Menschheit selbst Schuld war.
Mir gingen die Bilder von der Katastrophe in Fukushima wieder durch den Kopf. Oder die Nachrichten von dem Erdbeben auf Haiti, die um die Welt gingen. Ebenso wie die Flut, die durch Deutschland gerollt war.
Es war eine Sache, Nachrichten im Fernsehen oder in der Zeitung zu sehen, als es selbst mitzuerleben.
In meiner Frage, wer Schuld an diesen Katastrophen, der Überschwemmung war, kam ich endlich auf die Antwort.
Seitdem die Menschheit existierte, hatte sie die Natur missachtet, sie verschmutzt, ausgebeutet und zerstört, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Wir saßen auf Bäumen und haben die Äste, die uns hielten eigenhändig abgesägt. Jahrtausende Lang hatte sich der Mensch für mächtiger als die Natur gehalten, für wichtiger, für vollkommener.
So lange, bis die Natur zurückschlug. Solange, bis die Menschheit erkennen musste, dass es noch andere Lebewesen auf diesem Planeten gab, dass dieser Planet nicht unausschöpflich ist und dass wir weder unsterblich noch unbesiegbar waren.
Wenn ich heute Nachrichten sehe, wie Regenwälder rund um den Globus platt gewalzt werden, wie unentdeckte Tierarten einfach so ausradiert werden, wie Gifte in Seen geschüttet werden, frage ich mich, was für ein Recht die Menschheit eigentlich noch hat, auf diesem Planeten zu existieren.
Das war erst der Anfang. Die Erde ist so groß, ein explodiertes Atomkraftwerk, eine Überschwemmung, all das sind nur kleine Dinge.
Was wird also passieren, wenn wir die Warnungen von Mutter Natur weiter ignorieren und alles Leben um uns herum vernichten? Und selbst wenn wir dann nicht mehr auf der Welt weilen, unsere Kinder werden den Preis für unsere Zerstörungswut zahlen, für etwas, das vor ihrer Geburt passiert ist?
Ist Geld, Macht, Einfluss…ist all das, was Menschen so zielstrebig erreichen wollen, wirklich wichtiger als das, was uns schon von Anfang an geschenkt wurde:
Leben.
Freiheit.
Was ist Gerechtigkeit?
Ist die Natur oder das Geld wertvoller?
Ich kann nur hoffen, dass die Menschen irgendwann die Wahrheit erkennen.
Und dass die Wahrheit keine allzu hohen Opfer bringen wird.
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
An die Opfer der Flutkatastrophe 2013 und an die, die glauben, dass sie so etwas nichts anginge.