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Prolog

Das Bellen der Hunde hallte durch den nächtlichen Kiefernwald wie ein Schneesturm über die weißen Gipfel der Berge am Horizont. Shurka und Wendol sahen mit sorgenvollem Blick in die Richtung, aus der der unheilvolle Lärm kam. Die Leitwölfe wirkten gefasst, doch Karak kannte sie zu gut, als dass er glauben könnte, sie würden eine solche Bedrohung auf die leichte Schulter nehmen.
Mernos und Faron, die beiden Jährlinge, sahen zu ihm und seinen Geschwistern. Es war erst die dritte Jagd der vier Jungwölfe und ein ungutes Gefühl machte sich in ihren Bäuchen breit.
Wendol reagierte schließlich.

"Faron, bringe die Jungwölfe zurück zum Lager. Verlasst die Höhle nicht, bis ihr unser Zeichen gehört habt. Mernos, du kommst mit uns."

Die Jägerin stupste seine jüngeren Rudelgefährten sachte an. "Kommt schnell, wir müssen durch den Fluss, um unsere Spuren zu verwischen."

Im Laufen spitzte Lirma, Karaks älteste Schwester, die Ohren. "Ich glaube, ich höre Zweibeinerstimmen."
Ihren Geschwistern ließ dies das Fell zu Berge stehen.

Als sie den Fluss durchquert hatten, schlugen ihnen schon der Hundegeruch und der scharfe Gestank von den Feuerrohren entgegen. Faron regierte schnell.

"Wir müssen zu den Bergen. In der Richtung haben wir Rückenwind. Tretet leicht auf, um keine Spuren zu hinterlassen und meidet Pflanzenkontakt."

Das ansteigende Tempo machte den Jungen zu schaffen. Karak hörte Mara und Liro schon keuchen, auch ihm fiel das Atmen immer schwerer, als sie auf die Ebene kamen.

Aus dem Nichts ertönte ein Schuss.

Karak rannte beinahe in Lirma hinein, die wie erstarrt stehen geblieben war.

"Bleibt nicht stehen!", wies Faron sie zu Recht.
Das trockene Gras teilte sich nur so vor ihnen. Lirma holte schnell auf, das Hundegebell war allerdings noch schneller. Ein helles Aufjaulen ließ sie jäh zusammenfahren. Das war Shurka!

Im selben Moment sprang der erste Hund aus dem Gras.

Es war ein hageres Tier mit länglichem Kopf und schnellen Beinen. Seine schneeweißen Zähne blitzten tödlich.

"Lauft!", zischte Faron den Jungwölfen zu. Schon sprangen ein zweiter und ein dritter Hund aus dem Gebüsch.

Während seine Geschwister die Flucht ergriffen, verfolgte Karak wie gebannt die Szene.
Der Hund allein konnte es mit Faron nicht aufnehmen, doch schon attackierten seine Artgenossen die Wölfin von beiden Flanken.

Farons Zähne trafen die Kehle des ersten Hundes nicht, rissen allerdings eine tiefe Furche in seinen Hals, bevor der Zweite sie herumstieß und mit wilden Bissen von scharfen Zähnen taktierte. Der verwundete Hund wankte und zog eine breite Blutspur durch das Gras.

Plötzlich war der Andere über Karak. Mit einem Aufschrei sprang er beiseite. So oft hatte er mit seinen Rudelgefährten die besten Finten und hinterhältigsten Streiche geübt. Doch nun konnte er sich kaum noch an das Training erinnern. Lange Klauen zerfetzten ihm sein Fell. Dann schnappten die mächtigen Fangzähne zu.
Knochen knirschten und Karak konnte den Schmerzenslaut seines jüngeren Bruders hören.

"Lauf", keuchte Liro noch, bevor er wie ein verbliebener Knochen zur Seite geschleudert wurde und bewegungslos liegen blieb.

Karak rannte. Endlich setzte sein Überlebungsinstinkt ein. Kläffend verfolgten ihn die Hunde.
Der Wolf sah sich um, sah, wie Faron sich vergeblich aufzurappeln versuchte, beobachtete, wie seine Freundin, Lehrmeisterin und Rudelgefährtin leblos zusammensackte.

Ein verzweifelter Schrei stieg in seiner Kehle auf. Dann rannte er. Der Geruch von Tod verfolgte ihn. Darin mischte sich der schwache Dunst von Wendol, Shurka und Mernos. Und der fahle Gestank von heißem Metall. Das konnte, das durfte nicht wahr sein!

Einer der Hunde erwischte ihn mit den Zähnen am Hinterbein. Karak spürte den Schmerz kaum. Er folgte der Duftspur von Lirma und Mara. Wenigstens seine Schwestern mussten überlebt haben, wenn nicht der Rest des Rudels. Wenigsten sie...

Der Gedanke an sie gab dem völlig erschöpften Wolf neue Kraft. Er spornte sich an, fühlte sich fast, als flöge er, ließ die Hunde, die Menschen, die Gewehre und den Tod hinter sich. Er spürte die Dornen nicht, die ihm sein Fell zerfetzten und die Hunde aufhielten, er spürte sie Steine nicht, auf denen er sich die Ballen aufscheuerte, er spürte die Halme nicht, die in seine empfindliche Nase schnitten...

Er spürte nur den Schmerz.
Den Schmerz über den Verlust, aller, die er je geliebt hatte, aller, die ihm je etwas bedeutet hatten, aller, an die er sich festhalten konnte, aller, die nicht genug Zeit gehabt haben, um ihn auf diese Situation vor zu bereiten.

Schließlich traf er seine Schwestern. Beziehungsweise Mara.
Die zahnbesetzte Eisenfalle hatte Lirmas schlanken, starken Körper zerdrückt wie eine Blume unter dem Huf eines Büffels. Rotes Blut glänzte silbern im Licht des abnehmenden Mondes.

Mara starrte einfach nur auf den toten Körper ihrer Schwester, als könne sie nicht glauben, was eben geschehen sei.

Sie zuckte zusammen, als Karak sie anstieß.

"Wir müssen von hier weg." Seine eigene Stimme hörte sich rau an, fremd. So wie er sich selbst anfühlte. Es war, als wäre der Wolf, der er einst gewesen war, innerhalb weniger Augenblicke durch ein neues Tier ersetzt worden.

Mara nickte geistesabwesend. Dann liefen die Wölfe los.
Die aufgehende Sonne färbte die schneebesetzten Wipfel der Berge golden, als die Jungwölfe die Berge erklommen. Eisige Winde zerrten an ihrem Pelz und schon als die ersten Steine ihre weichen Ballen zerkratzten, wussten sie, dass der gefährlichste Teil ihrer Reise noch vor ihnen lag.

Die Lawine

Mara und Karak kämpften sich seit etwa zwei Tagen durch den tiefen Schnee über die Berge. Sie froren, waren hungrig und verloren langsam aber sicher den Mut. Der Pelz der Wölfe war nicht dick genug, um den harten Schneewehen standzuhalten, ihre Verletzungen schmerzten von Tag zu Tag mehr und von Tag zu Tag verloren die Geschwister die Hoffnung. Früher hätte ihnen das Rudel Mut gemacht, sie getröstet, sich an sie geschmiegt, doch nun waren sie allein. Allein auf sich gestellt. Allein in den Bergen. Allein gegen den Winter.
Nach langem Suchen fanden sie Jungwölfe schließlich eine kleine Höhle, die sie vor dem Sturm schützte. Erschöpft brachen sie zusammen.

"Wenn Shurka und Wendol hier wären, würden sie uns wärmen. Genau wie Liro und Lirma."

Ein Kloß steckte Mara im Hals, als sie das sagte.

Ein scharfer Schmerz durchfuhr die beiden Wölfe.

"Weißt du noch, wie Mirnos uns letzten Sommer gezeigt hat, wie man Mäuse fängt?", hauchte Karak.

"Und wie Faron ihn verspottet hat, dies sei eine Notlösung für schlechte Tage oder schlechte Jäger?"

Damals hatten sich alle vier Welpen gekugelt vor Lachen. Selbst die Leitwölfe hatten geschmunzelt. Nun waren sie fort. Für immer.

"Erinnerst du dich noch an die Geschichten, die uns die alte Füchsin erzählt hat?"
Mara nicke. Die Füchsin war ihnen auf Wanderschaft begegnet und hatte sich eine Zeit lang in der Nähe des Rudels niedergelassen. Um die Jungen zu unterhalten und ihnen Mut zu machen, da die Jagd nicht geglückt war, hatte sie ihnen eine uralte Legende erzählt. Sie hatten diese Geschichte erst einmal gehört, konnten sie jedoch ohne Probleme aus dem Gedächtnis aufsagen.

"Vor langer Zeit, bevor es Wölfe gab, bevor es irgendein Tier gab, bestand die Erde nur aus Wald", fing Mara an. Karak schloss die Augen. Er sah es vor sich, weite Wälder, Baumriesen, die in den Himmel zu ragen schienen. Wurzelgeflechte, die wahre Labyrinthe bildeten.

"In dieser Zeit, in dieser Zeit der Träume, als die Bäume ihre Seelen bekamen, entstanden die Geister in der Welt. Gute Geister, die über die Pflanzen wachten. Die sie pflegten und beschützten", setzte Karak die Erzählung fort.

Seine Schwester nahm die Geschichte wieder auf. "Doch die Pflanzen fühlten sich einsam, sehr einsam. Deshalb erschufen die Weltgeister die ersten Tiere. Insekten, die im Sonnenlicht schwirrten, Frösche und Fische, die die Gewässer eroberten und Vögel, die durch die Luft segelten, wie zum Dach der Welt."

"Dann kamen die Huftiere. Rehe, Hirsche, Wildschweine. Ihnen folgten kleinere Tiere, wie Hasen, Mäuse und Ratten. Alle waren friedlich, alle lebten in der Welt nebeneinander."

Vor den Augen der Wölfe kamen Tiere zum Vorschein, die fröhlich durch die Bäume hüpften.
Maras Stimme hob sich, als sie den nächsten Teil schilderte.

"Doch die Geister hatten sich da verrechnet. Die Tiere vermehrten sich schnell, fraßen alles kahl und starben, weil es von ihnen selbst zu viele gab."

Bilder von qualvoll verendeten Geschöpfen schnürten den beiden die Kehlen zu. Kahle Baumstämme, die sich wie Gerippe in den Himmel ragten. Karak schob eine schwellende Leidenschaft in die Sätze ein, die nun über seine Lippen kamen.

"Das Gleichgewicht geriet außer Kontrolle, darum erschufen die Geister neue Wesen. Große Wesen auf schnellen Pfoten, mit scharfen Sinnen, die die Tiere, die es zu viele gab, jagten, um sich von ihnen zu ernähren. Dies sollten sie tun, um die Welt im Gleichgewicht zu halten. Doch die ersten Wölfe waren eitel, hielten sich für etwas Besseres und bekämpften einander, bis die Welt erneut aus den Fugen geriet."

Bilder von wilden Schlachten zwischen Wölfen ohne Rudelführer waren zu sehen. Tote Wölfe, sinnlos erlegte Tiere und Chaos, das den Wald regierte.

"Darum gaben die Geister den Wölfen eine Ordnung, Gesetzte. Sie gründeten die ersten Rudel mit weisen Anführern an der Spitze, die dafür sorgten, dass ihre Rudel keinem anderen Tier unnötigen Schaden zufügten. Und die ihnen halfen, die Aufgabe zu erfüllen, für die sie geschaffen waren. In alle Ewigkeit." Mara zitterte, als sie diese Worte ausstieß. Die letzten Sätze sprachen sie gemeinsam.

"So will es das Gesetz der Natur. Alle Lebewesen sind eins. Alles hängt zusammen. Alle sind gleich. Leben ist das höchste Geschenk dieser Welt. Leben soll geachtet werden. Von allen. Für immer."

Die Geschichte hatte ihre Herzen wieder warm werden lassen, dennoch kuschelten sich die Geschwister eng zusammen, um nicht zu frieren.

"Warum?", murmelte Mara schließlich. "Warum tun die Menschen das? Was gibt ihnen das Recht, so über andere Wesen zu entscheiden, als ob die Welt nur ihnen gehören würde? Als ob sie wichtiger wären? Als ob nur sie Gefühle und Verstand hätten?"

"Vielleicht hat ihnen nie jemand erklärt, wie es richtig ist", mutmaßte Karak.
"Menschen sind dumm. Sie wissen nicht, was sie zerstören. Einige Wandervögel haben uns erzählt, dass sie ganze Wälder vernichteten, mehr Tiere töteten, als sie fressen können und alles zerstören, als sich mit der Welt so abzugeben, wie sie ist. Warum tolerieren sie uns nicht?"

"Sie sind dumm", murmelte Karak schon halb im Schlaf. "Vielleicht müsste ihnen einfach einmal jemand erklären, was sie falsch machen."

"Wenn ich ihre Sprache könnte, würde ich es tun." Der Schmerz in Maras Brust wurde größer. "Die Wandervögel haben mal erzählt, dass es Menschen gäbe, die ganz anders sind. Die die gleiche Weltanschauung haben wie wir und die nur das nehmen, was sie brauchen."

"Kann sein. Vielleicht sind nicht alle Menschen schlecht. Vielleicht sind diese Menschen aber auch einfach nur klüger und wissen, wie sie mit Lebewesen umgehen sollen. Vielleicht sind ja nicht alle Menschen gleich."

"Sollten wir jemals auf Menschen treffen, hoffe ich, dass wir solchen begegnen werden", murmelte Mara halb im Schlaf. Dann glitten die Geschwister sanft hinüber ins Reich der Träume.

Sie wachten davon auf, dass der Schnee, der in der Nacht den Eingang zur Höhle teilweise verstopft hatte, schmolz und ihnen kalt auf die Schnauzen tropfte. Mara war sofort hellwach und stupste ihren Bruder an.

"Karak, wach auf. Es ist schon nach Sonnenaufgang. Wie lange haben wir nur geschlafen? Wir sollten weiter!"

Karak wollte gerade Liro und Lirma wecken, als ihm die Ereignisse des letzten Tages wieder einfielen.

Müde rappelte er sich auf. Sein Magen knurrte wie ein wütender Hund und ihm war leicht schwindelig.

Mara war schon draußen. Sie duckte sich und fixierte ihren Blick auf einen Punkt auf dem Schnee. Karak bemerkte die Schneegans, die den Boden nach Nahrung abschabte.

Der Wolf duckte sich und schlich langsam in einem Bogen um den Vogel herum, bis er auf einem Felsvorsprung stand. Mara pirschte sich von der anderen Seite an die Gans an. Da entdeckte sie die Jäger. Zu früh.

Flatternd schoss der Vogel in die Luft. Karak sprang, bekam aber nur einige Federn an den Klauen zu fassen. Enttäuscht sah er ihrer Beute nach.

"Wir müssen wohl noch üben", murmelte Mara missmutig.

"Es ist die Umgebung", meinte Karak. "Im Wald hätten wir bestimmt Erfolg gehabt."

Mara witterte, obwohl die eisige Luft ihr in die trockene Nase schnitt. Nichts.

"Weiter?"

"Ich denke schon. Nach Westen." Die Wölfe fingen an, sich durch den hohen Schnee zu kämpfen.

Ihre dritte Nacht verbrachten sie wieder in einer Höhle. Auf dem Weg hatten sie einige Beeren gefressen und konnten dank Mirnos' "Notlösung" einige Mäuse zum Frühstück verspeisen, keinesfalls genug für die einst kräftigen Jungwölfe.

Als sie an ihrem vierten Wandertag eine Anhöhe erklimmen mussten, brach Karak zusammen.

Der Wolf spürte auf einmal starke Schmerzen in seinen Gliedern, grelle Punkte tanzten vor seinen Augen.

Von einer Sekunde zur anderen verlor er das Gleichgewicht und schlitterte die eisverkrusteten Felsen hinunter.

"Karak!"

Seine Schwester stupste ihn besorgt mit der Nase an. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er die brennenden Augen öffnen und Worte formen konnte.

"Ich...kann nicht mehr. Es geht nicht."

"Du darfst nicht aufgeben! Du kannst es schaffen! Glaub mir!"

"Ich wünschte, ich könnte es."

Die raue Zunge seiner Schwester fuhr über sein Gesicht.

"Hast du vergessen, was Shurka und Wendol uns in unseren ersten Welpentagen gelehrt haben? Kämpft, wenn ihr glaubt, verloren zu haben. Jagt, wenn ihr vor Hunger kein Glied mehr rühren könnt. Glaubt, wenn euch alle Hoffnung verlassen hat. Sie haben danach gelebt. Das ist ihre Welt und somit auch unsere. Sie waren unsere Eltern, sie sind in uns, in unserem Blut und sie werden immer bei uns bleiben. Ich weiß, wie du dich fühlst, ich habe auch schon geglaubt, dass ich die Schmerzen nicht mehr aushalte, dass ich gleich sterben werde. Aber noch sind wir nicht tot. Noch leben wir. Leben bedeutet kämpfen. Also komm, steh auf. Wir müssen weiter."

Karak hob den Kopf und sah seine Schwester an. Eine sensationelle Mischung aus Begeisterung, Leidenschaft, Mitleid und Handlungswillen brannte in ihren bernsteinfarbenen Augen.

"Erinnere dich an die Geschichte. Wir kamen, als alles verloren war, als es keine Hoffnung mehr gab. Du bist kein Welpe mehr, du bist ein Wolf, ein Jäger, ein Kämpfer, also gebe nicht auf. Komm mit!"

Zuerst zuckten seine Pfoten nur schwach, dann hievte er sich vorerst in eine sitzende Position und dann schwankend auf die Beine. Er stützte sich mit der Schulter gegen seine Schwester und zwang seine gefühlslosen Pfoten, sich zu bewegen. Mara schob ihn vorwärts. Mehrmals wurde dem Wolf schwarz vor Augen, doch er blieb aufrecht.

Urplötzlich sank er wieder zusammen. Schwäche überkam ihn wie eine gigantische Flutwelle. Seine Augen fielen zu.

Ein vertrauter Geruch drang in seine Nase. Er hob den Kopf. Wendol stand auf dem Sims. Helles, übernatürliches Licht umgab ihn.

"Du bist stark, Karak. Stärke heißt nicht, Muskelkraft, Stärke heißt, ein gutes Herz und einen festen Willen zu haben."

Shurka erschien neben ihrem Gefährten. Auch sie leuchtete, als käme sie aus einer anderen Welt. "Du bist mein Sohn, Karak, ich weiß, dass du alles schaffst, wenn du es willst."

Faron und Mirnos erschienen im Bild. "Vergiss nicht, was wir dir beigebracht haben. Du bist nicht gut oder schlecht in irgendetwas, du hast Eigenschaften. Steh zu ihnen."

Liro und Lirma erschienen im Rudel. Ihre gelben Augen leuchteten. "Wir kennen dich, Bruder. Wir wissen, wozu du fähig bist. Bitte lass uns nicht umsonst gestorben sein."

Karak nahm seinen Willen zusammen und stieß sich vom Boden ab. Trotz der Schmerzen, trotz der Erschöpfung, ging er weiter.

Ich bin ein Wolf. Ich werde es schaffen. Ich werde kämpfen.

Er erklomm die Felsen, bis er oben war und widmete sich, ohne eine Pause einzulegen, der nächsten Hürde.

Als er abrutschte, schob Mara ihn wieder hoch. Immer weiter. Endlich erreichten sie den Gipfel.

Keuchend sank Karak auf die Seite.

"Du hast es geschafft!" Auch Maras Stimme klang erschöpft und mitgenommen. "Ich wusste es!"

Müde richtete der Wolf sich auf, nachdem er eine Zeit lang wie bewusstlos auf der Seite gelegen hat. Vor ihnen gähnte ein Abgrund, links von ihnen erhob sich eine eisbedeckte Felswand.

"Wie...kommen...wir jetzt weiter?"

Mara deutete auf einen eisgefroren Baumstamm, der wie eine Brücke quer über die Schlucht führte. "Ich gehe vor."

"Sei vorsichtig."

Behutsam setzte die Wölfin eine Pfote nach der anderen auf den Baumstamm. Sie schob sich Schritt für Schritt vorwärts.

"Ich schaffe es!"

Sie hatte die Mitte erreicht.

"Komm, Karak. Es ist sicher!"

Sicher...icher...cher...er.

Das Echo hallte von den Felswänden wieder. Ein tiefes Grollen ertönte. Karak hob träge den Kopf. Auf dem Berg schob sich etwas Gewaltiges, Weißes hervor.

"MARA! KOMM ZURÜCK!"

Es war zu spät. Die Wölfin sah nach oben. Karak konnte erkennen, wie sich ihre Augen weiteten.

"KARAK!"

Ihr letzter Schrei hallte im Gebirge wieder. Eine gewaltige Schneekaskade versperrte ihm jegliche Sicht.

Ein verzweifelter Schrei stieg in seiner Kehle auf. Er hatte seine Eltern verloren. Seine besten Freunde, seine Geschwister...und nun auch noch den einzigen Wolf, der ihm geblieben war.

Das Grollen der Lawine war in weite Ferne gerückt, als auch er von der eiskalten Masse getroffen wurde. Er merkte nur, wie er durch die Luft flog, merkte eisige Kälte. War das das Ende?

Die Höhlen der leuchtenden Steine

Karak wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war. Er wusste nicht, wie lange er halb betäubt im Schnee gesteckt hatte, der fast zu Eis gefroren war, ebenso wenig, wie er wusste, wie lange er hier schon bei vollem Bewusstsein ausharrte und vergeblich versuchte, seine Hinterläufe aus dem harten, zusammengebackten Schnee zu befreien. Er konnte nichts über diese Zeitspanne sagen, nur eines: Sie war zu lang!

Das ist nicht gerecht! Warum musste Mara auch noch sterben? Warum nicht ich anstelle meines Rudels!
Anklagend blickte der Wolf zu den funkelnden Sternen hinauf. Die Sterne, die seit Urzeiten die Welt beobachteten.

"Warum tut ihr mir das an!", schrie er, als wenn die Geister ihn hören könnten, hier oben, im Nirgendwo, wo keine einzige Pflanze wuchs.

"Geister des Waldes, wenn ihr mich hört, dann helft mir. Wächter der Tiere und Pflanzen, warum tut ihr nichts?"

Vollkommen erschöpft sank der Wolf zusammen. Seit er denken konnte, hatte er die Geister gespürt. Sie waren immer da, obwohl man weder mit ihnen reden, noch sie sehen konnte.

Warum haben sie die Wölfe erschaffen, wenn sie tatenlos zusahen, wie ein ganzes Rudel nach und nach ausgelöscht wurde.

Mit der Kraft der Verzweiflung stemmte sich Karak gegen das Eis. Immer wieder.

Hunger und Frost hatten ihm stark zugesetzt, aber Karak war stark und würde niemals aufgeben.

Er zog, bis die Schmerzen in seinen Beinen unerträglich wurden, bearbeitete die Eisdecke mit seinen Krallen, bis diese nacheinander abbrachen. Feine Eissplitter lösten sich, doch seine Läufe kamen nicht frei.

Karak verließ jeglicher Mut, er sank schluchzend zusammen, sein abgemagerter Körper zitterte unkontrolliert. Alles drehte sich um ihn herum, bis er sich in einem schwarzen Strudel aus Hoffnungslosigkeit wieder fand.

Warum ich...warum ich...

Er zitterte längst nicht mehr, die Kälte hatte sich so tief in seine Knochen gefressen, dass sie ein Teil von ihm geworden war. Er würde hier qualvoll erfrieren, wenn der Hunger ihn nicht schon früher hinraffte.

Wozu hatte er sein Leben lang trainiert, wozu hatte er von Geburt an gelernt, zu überleben und zu kämpfen? Wozu, wenn nun in wenigen Stunden alles entschieden wurde, ohne dass er jeglichen Einfluss auf das Leben besaß?

Wozu hatte er überhaupt so lange überlebt?

In seinem Kopf machte sich eine gähnende Leere breit. Er konnte und wollte nichts mehr fühlen, er wollte sterben und in das gute Land hinter den Sternen gehen, wo sein Rudel auf ihn wartete, wo er bis in alle Ewigkeit sorgenlos leben konnte. Warum kam der Tod nicht? Hatten die Geister etwa Freude daran, ihn zu quälen?

...darum erschufen die Geister neue Wesen. Große Wesen auf schnellen Pfoten, die die Tiere, die es zu viele gab, jagten, um sich von ihnen zu ernähren...

Die Geschichte hallte in seinem Kopf wieder. Er hatte eine Aufgabe, auch ohne sein Rudel, so wie jedes Lebewesen eine Aufgabe hatte.

Die Entschlossenheit kehrte in sein tapferes Wolfsherz zurück, doch immer noch war er zu schwach, um sich zu bewegen. Noch dazu quälte ihn unerträglicher Durst.

Karak hauchte den Schnee an, versuchte ihn mit seiner kaum verbliebenen Körperwärme zum Schmelzen zu bringen. Schließlich schleckte er mit seiner Zunge vorsichtig über den festen, rauen Schnee.

Es waren nur minimale Wassertropfen, aber er brauchte sie.

Karak sah Vögel am Himmel fliegen. Was gäbe er dafür, frei zu sein, keine Sorgen mehr zu haben, sich einfach treiben zu lassen.

Etwas Nasses tropfte ihm ins Gesicht. Schwach sah er auf. Regnete es?

Ein großer Eiszapfen über ihm tropfte. Sonnenlicht spiegelte sich in dem klaren Eis.

Die Sonne!

Er hatte ganz vergessen, dass es sie hier oben in den Bergen gab.

Karak verdrehte sich schmerzhaft den Hals, um die ersten, orangefarbenen Strahlen zu sehen, die die großen Berge in dunkle Silhouetten verwandelten.

Das Eis würde schmelzen. Er würde sich befreien können!

Die Sonne erklomm nur langsam den Horizont. Doch schon spürte der Wolf, wie das Eis, das ihn gefangen hielt, einen wässrigen Film bekam. Der Schnee fing an, zu bröckeln.

Obwohl er längst keine Gefühlsregungen in den Beinen spürte, versuchte er, sie zu bewegen. Der gefrorene Schnee bekam Risse.

Mit neu gewonnenem Mut drückte Karak weiter gegen das Eis, bis es schließlich krachend nachgab.

Langsam zog er seine Läufe aus dem Schnee. Sie zitterten unkontrolliert und fingen an, zu schmerzen, als der Blutstrom wieder anfing, seinen Körper wie gewohnt zu durchfließen.

Die Sonne wärmte seinen zerschundenen Pelz, ließ ihn frösteln, als sich die Kälte aus seinen Knochen herauszog.

Karak konnte nicht aufstehen. Er hakte seine angebrochenen Krallen in den rauen Schnee und zog sich vorwärts. Die Sonne schien immer wärmer auf den mageren Jungwolf.

Karak schaffte es, die Vorderpfoten zu belasten, doch seine Hinterläufe knickten unter seinem Gewicht weg.

Hatte Karon ihm nicht einmal einen Trick verraten, wie er seine Kräfte bündeln konnte?

"Versuche zuerst alles zu entspannen. Dann streckst du alle viere von dir, so weit es geht. Wenn es anfängt zu ziehen, bist du auf dem richtigen Weg. Halte dies einen Augenblick und entspann dich wieder. Beim nächsten Mal reckst du die Schnauze soweit wie es geht nach oben. Halten und entspannen. Nun reckst du deine Rute mit in den Himmel.

Wenn du jetzt spürst, wie die Energie in deinen Körper zurückkehrt, spring auf, zögere nicht und laufe los."
Karak folgte den Anweisungen seiner verstorbenen Mentorin. Er spürte, wie er sich langsam erwärmte, wie er mit jedem Mal mehr von seinem Körper spürte. Seine Nerven wurden wieder lebendig.

Schließlich sprang er auf die Pfoten und lief los. Er schwankte, wusste nicht recht, wohin er seine Pfoten setzen sollte, hatte in der Schwanzspitze noch immer kein Gefühl, doch er lief los.

Karak spürte, wie er einen Energieschub bekam, wie die Schmerzen zurückgingen.

Der kratzige Schnee machte ihn nun ebenso wenig aus, wie weicher Waldboden.

Er flog quasi über den Gletscher, ohne die kleinste Erschöpfung zu spüren, er...

Eine dünne Eisdecke gab unter ihm nach und er stürzte abermals in die Tiefe.

 

Überraschenderweise landete Karak auf weichem Moos.

Erschrocken richtete sich der Wolf auf. Er war in eine Eishöhle gefallen. Die vereisten Steinwände machten es unmöglich, wieder hochzuklettern.

Als er sich umsah, traute er seinen Augen nicht.

Der Boden war über und über mit einem dichten Moosgeflecht bedeckt. Vereinzelte Blumen, die er nicht benennen konnte, ragten hervor.

Karak ging langsam über das Moos. Einzelne Steine lagen auf dem Moosteppich. Er prüfte die Luft.

Es roch nach Pflanzen, nach Wasser, nach Boden, wenn auch nicht nach Waldboden, aber vor allem roch es nach Leben.

Wo Pflanzen waren, da waren auch Tiere, also endlich Beute, endlich etwas zu essen.

Die Höhle war mit einem seltsamen, blaugrauen Leuchten erfüllt.

Karak versuchte, die Quelle, dieses Lichtes zu finden, konnte sie aber nicht entdecken. Er...

Etwas Schwarzes, Glänzendes schoss mit einem lauten Krächzen aus dem Dunkel. Mit einem erschrockenen Schrei duckte sich der Wolf. Als der Schatten verschwunden war, fing er an, zu rennen.

Er verfing sich in einer Moosranke, stolperte. Der Schatten kehrte zurück. Karak duckte sich.

Etwas landete dicht neben ihm und tippte ihn vorsichtig an. Blinzelnd öffnete er die Augen, doch seine Nase verriet ihm schon früher, was sich da befand.

Neben ihm hockte ein großer, glänzender Kolkrabe.

"Hey, Kleiner!", krächzte er. Karak fuhr zusammen.

"Keine Angst, Kleiner. Wölfe und Raben sind Freunde, das weißt du doch."

Das stimmte, die Kolkraben, die manchmal durch ihr Gebiet streiften, halfen ihnen oft bei der Futtersuche und bekamen dann ihren Anteil ab.

"Was machst du hier, so ganz alleine, fernab des Waldes?"

"Ich...ich..." Er wollte alles erzählen, doch dann kamen die Erlebnisse wieder hoch. Die Schüsse, die Schreie seiner Rudelgefährten, das Blut, die aggressiven Hunde...

Schluchzend brach Karak zusammen.

Der Rabe legte seinen Flügel auf seine Schulter.

"Ganz ruhig, Kleiner, ganz ruhig. Du hast deine Familie verloren, stimmst?"

"Sie...sind...tot", brachte er mühsam aus sich heraus. Nun war es so weit. Er hatte es ausgesprochen. Nun war nichts mehr rückgängig zu machen. Er steckte seine Schnauze zwischen die Pfoten.

"Waren es die Zweibeiner?"

Seine Nase triefte, seine Augen tränten. Er nickte.

"Sie haben meine Eltern getötet. Einer der Hunde hat meinen Bruder auf dem Gewissen. Er ist gestorben, um mich zu retten..."

"Und du hast als einziger überlebt?"

"Ich...und meine Schwester. Doch sie wurde von einer Lawine erwischt. Ich...ich fühle mich so allein."

"Sssch", machte der Rabe. "Wie heißt du eigentlich."

"Karak", brachte er zwischen zwei Schluchzern hervor.

"Und du kommst von dem Wald, der östlich am Fuß der Berge war?"

Karak sah erschrocken auf. "War?"

"Jetzt sind nur noch einzelne Bäume da. Die Zweibeiner haben alles plattgemacht."

Die Nachricht lähmte ihn. Der Wald, sein Zuhause. Weg? Tot? All die Erinnerungen!

"Das...das kann nicht sein."

"Es ist traurig, aber wahr. Ich komme viel herum, Karak. Dein Wald ist nicht der Einzige. Überall sind Zweibeiner, die mehr beanspruchen, als sie brauchen. Und was ihnen die Natur nicht zur Verfügung stellen kann, das nehmen sie sich. Notfalls mit Gewalt."

Der Wolf war gelähmt. Sein Wald, sein Spielplatz, sein Zuhause...die Tiere...weg?

"Aber...warum tun sie das? Die Geister haben ihnen doch alles gegeben. Merken sie denn nicht, dass sie alles zerstören?"

"Bedauernswerterweise nein. Die Zweibeiner sind dumm, blind gegenüber den Wunden, die sie dieser Welt zufügen und taub gegenüber den Hilfeschreien, die all die Wälder aussenden."

"Warum sind sie so?"

"Nicht alle Zweibeiner sind so."

Karak horchte auf. Er dachte an das, was die Vögel ihm im Wald erzählt hatten, woran Mara ihn in seiner schlimmsten Stunde erinnerte.

"Du meinst, es gibt Menschen...Zweibeiner, die nicht alles kaputtmachen."

"Wenige. Sie leben in, verhältnismäßig zu den anderen, kleinen Schwärmen, oder Rudeln, wie du sagen würdest. Überall auf der Welt gibt es noch solche Zweibeiner. Von den anderen werden sie meist verachtet, aber sie sind klug. Sie achten die Geister. Sie achten die Pflanzen. Ihnen ist es heilig."

"Sie...sie glauben an die Geister?"

"Eigentlich tun das alle Menschen, doch sie nennen die Geister 'Götter'."

Das Wort war mir fremd. "Aber warum hören sie sie dann nicht?"

"Weißt du, Karak, die Menschen glauben nicht an dieselben Götter. Die meisten glauben, dass es nur einen Gott gibt, nennen ihn aber bei unterschiedlichen Namen. Deswegen gab es schon viele Kämpfe zwischen ihnen. Ich habe einige aus der ferne beobachtet und mich dann von ihnen abgeschottet. Die sollen immer noch nicht vorbei sein. Vor langer Zeit sollen die größeren ihrer Rudel sogar ausgezogen sein, um kleineren Rudeln ihren Glauben aufzuzwingen."

"Sie...sie kämpfen, weil sie sich nicht auf den Namen ihres Geistes einigen können?"

Das klang völlig absurd.

"Na ja, sie stellen ihn sich auch anders vor. Dann gibt es Zweibeiner, die haben mehrere Götter, die meisten dieser Zweibeiner wissen noch, wie sie die Natur behandeln sollen, werden aber von den anderen wie Dreck behandelt. Diese Zweibeiner helfen der Natur noch."

Das war alles zu viel für Karak. Er konnte sich das alles nicht vorstellen. Bisher hatte er geglaubt, die Menschen hätten keine Geister, oder Götter, wie der Rabe sagte. Und nun erfuhr er, dass sie wegen ihrer Geister ihre eigenen Artgenossen töteten!

"Aber warum tun ihre Geister nichts dagegen?"

"Die meisten Zweibeiner haben vor langer Zeit den Kontakt zu ihnen verloren. Einige haben den Glauben an sie schon ganz aufgegeben. Meistens wissen sie nicht, wo sie sie suchen sollen. Es gibt nur noch wenige, die mit ihren Göttern oder ihrem Gott noch richtig in Verbindung treten."

"Aber wieso sagen diese...Götter ihnen dann nicht, was sie falsch machen."

"Sie tun es ja, aber die Menschen haben eine ganz entscheidende Schwäche. Sie können nicht zuhören."

"Sie können nicht hören!"

"Doch, doch, aber nur mit ihren Ohren. Und ihre Ohren sind sehr schwach. Als Küken, oder Welpen, oder wie auch immer das bei den Zweibeinern heißt, können die meisten noch hören, aber viele verlernen es einfach. Und nur wenige fangen an, es wieder zu erlernen."

Vor wenigen Minuten noch hatte Karak für Menschen nur noch Verachtung übrig. Doch nach dem was der Rabe erzählte, taten sie ihm leid.

"Und, was ist jetzt mit mir? Ich weiß nicht, wo ich hin soll."

Eine Weile schwieg der Rabe. "Ich denke, ich muss dir etwas zeigen. Ein Geheimnis. Kannst du laufen."

Karak versuchte es, knickte aber wieder ein.

"Bin gleich wieder da." Schwingenschlagend verschwand der Rabe in der Höhle.

Karaks Gedanken rasten. Er musste daran denken, wie er mal die großen Höhlen bewundert hatte, die die Menschen bauten. Wie können Wesen so klug sein, solchartige Gebilde zu formen und gleichzeitig so dumm sein, dass sie nicht einmal die Stimmen ihrer Geister zu hören vermochten?

Der Rabe kehrte mit mächtigem Schwingenschlag zurück. Eine erlegte Wühlmaus fiel vor Karak zu Boden.

"Nicht sehr groß, aber mehr konnte ich auf die Schnelle nicht fangen", kommentierte der Rabe während der ausgehungerte Jungwolf ohne an ein Dankeschön zu denken über die Beute herfiel.

"Fühlst du dich jetzt stärker?", fragte der Rabe.

Karak nickte.

"Gut, ich möchte dir nämlich etwas zeigen. Ach übrigens, ich heiße Korax."

 

Korax führte Karak durch einen langen Tunnel. Der junge Wolf sah nur feine Konturen, den Raben konnte er nur an dem Geräusch seiner Flügel orten. Nach einer gefühlten Ewigkeit stachen ihm grellblaue Lichtstrahlen in die Augen.

Blaues Licht?

Das war...widernatürlich.

Und doch fühlte es sich auf ungewöhnliche Weise beruhigend an.

Karak musste an den seltsamen blaugrauen Schimmer in der Mooshöhle denken. War hier der Ursprung dieses Lichtes?

Karak und der Rabe erreichten die Höhle.

Sie standen auf einem Felssims. Unter ihnen erstreckte sich das atemberaubenste Gebilde, das der junge Wolf je gesehen hatte.

Ein riesiges Meer aus glänzenden, blauen Kristallen, die sich selbst überwucherten, bizarre Formen annahmen und sich wie Pflanzen in die Höhe streckten. Das blaue Licht schien zu pulsieren. Sie wirkten...lebendig.

"Was ist das?", hauchte Karak atemlos.

Korax deutete auf einen schmalen Weg, der hinab führte. "Da unten kann man das am besten erklären."

 

Die Kristalle waren gigantisch. Fast eingeschüchtert ging Karak zwischen ihnen hindurch. Er spürte das pulsierende Licht. Alles wirkte so...mächtig.

Der Wolf fühlte sich auf einmal ganz klein. Er wusste beim besten Willen nicht, wie er diese Gefühle beschreiben sollte, die ihm nun durch den Kopf schwirrten.

Der Kolkrabe segelte kurz durch die Luft und ließ sich dann auf einem kleineren Kristall nieder.

"Diese Kristalle waren nicht immer hier", begann er mit seiner Erzählung. "Sie sind entstanden, als die ersten Tiere lernten, auf der Welt zu laufen."

"Sind sie...nun ja...lebendig?"

"Auf diese Frage kann man keine klare Antwort geben. Die Kristalle können sich nicht bewegen, und nicht wachsen, was das Lebendige eigentlich auszeichnet. Aber sie haben etwas, was jedes Lebewesen hat, was aber häufig in Vergessenheit gerät: eine Seele."

"Das heißt, diese Steine können fühlen? Sie können denken?"

"Viel mehr als das. Sie besitzen eine eigene Vorstellungskraft und sind in der Lage, etwas zu bewirken, was man Magie nennt."

Karak konnte mit dem Wort nichts anfangen.

"Nun, eigentlich ist Magie nichts Besonderes. Man kann es als die Fähigkeit bezeichnen, Dinge und Lebewesen nach seinen eigenen Vorstellungen zu formen oder zu verändern. Dazu gebrauchen die Steine eine ganz ähnliche Kraft, wie die Kräfte, die die Sonne scheinen lassen oder dafür sorgen, dass es regnet."

"Die Eigenschaften der Natur?"

"Diese Steine und die Natur bilden eine Art Symbiose. Die Steine zapfen die Energie der Natur an und benutzen diese, um völlig neue Wesen zu erschaffen, die keine körperlichen Eigenschaften besitzen."

"Geister?!" Langsam schwirrte Karak der Kopf.

"Ganz genau. Die Geister, oder Götter, die Tiere und Pflanzen erschaffen haben, stammen zum größten Teil aus diesen Kristallen."

"Aber...die Kristalle benötigen die Kraft der Natur, um Geister zu erzeugen. Doch die Geister halten die Natur überhaupt am Leben. Das ergibt doch keinen Sinn."

"Sie haben nicht die ersten Geister erschaffen. Woher diese kommen, wissen nicht einmal die Geister selbst. Aber als die erste Pflanze auf der Erde zu blühen begann, haben die Kristalle angefangen zu wachsen."

Karak sah sich um. Er befand sich im Ursprung allen Lebens.

"Und hier werden die Geister geboren. Aber wird es dann nicht bald zu viele geben? Geister sterben doch nicht, oder?"

"Naja, geboren wurden hier nur einige wenige Geister. Eigentlich dienen die Kristalle ihnen eher als Kraftquelle. Geister kann man noch dazu nicht als plastische Wesen bezeichnen. Sie sind alle eins. Und wenn eines dieser...naja...sagen wir mal: Bestandteile. Wenn eines dieser Bestandteile keine Energie mehr hat und keinen anderen Geist anzapfen kann, kommt es zu den Kristallen und wird hier quasi neu geboren."

Karak schwirrte der Kopf.

"Das hier ist die Zentrale allen Lebens auf Erden..."

"Oh nein, nicht allen Lebens. Diese Höhle übernimmt nur einen kleinen Teil des Lebens, das es gibt. Es gibt noch unzählige andere Höhlen, überall auf der Welt verteilt. Aber die Kristalle dienen den Geistern auch als Austauschstätte. Sie können so miteinander kommunizieren."

Karak musste sich hinsetzen. "Können sie von hier aus auch zu Lebewesen sprechen?"

"Probier es aus."

Für einen Augenblick saß der Wolf unschlüssig da und überlegte, wie er dies nun anstellen sollte. Spreche mit den Geistern! Das klang, als würde jemand von ihm verlangen, den Mond vom Himmel zu holen oder die Sterne zu fragen, ob sie zur Abwechslung mal eine Nacht lang nicht scheinen könnten.

"Du musst dich gegen sie lehnen. Bald kommt dann ein tiefer Schlaf. Dann wirst du es schon sehen."

Karak folgte den Aufforderungen des Raben. Er suchte sich eine Nische zwischen zwei Kristallen und machte es sich bequem. Die Steine pulsierten warm durch sein Fell hindurch. Karaks Herz klopfte, sein Fell kribbelte, seine Ohren zuckten. Er wusste überhaupt nicht, was er den Geistern sagen sollte...wie er es sagen sollte.

Doch bevor er sich weiter darüber Gedanken machen konnte, überkam ihn eine tiefe Müdigkeit.

 

Karak glaubte, zu schweben. Er fühlte nichts, hatte keinerlei Sinneseindrücke.

Wo bin ich?

Er war nicht allein.

Er konnte nichts sehen, nichts riechen und nichts hören, aber er spürte etwas, in ihm drin, in diesem uralten Wolfsinstinkten, die er von seinen Ahnen geerbt hatte.

Er war nicht allein.

Etwas fuhr durch seinen Körper. Ein Blitz schoss ihn vor Augen. Bilder schwemmten durch seinen Kopf.

Ein Wald irgendwo in weiter Ferne.

Etwas Dunkles, Unheimliches, was diesen Wald heimsuchte.

Tiere, die keine richtigen Tiere mehr waren.

Pflanzen ohne Seelen.

Verdorrtes Laub.

Etwas Dunkles, Bedrohliches, was sich langsam durch den Wald schlich...

...was suchte...

...was begierte...

...was zerstören wollte...

Nein!, schrie Karak innerlich. Nein, ich will das nicht sehen. Nein!

Etwas drang in seinen Kopf ein. Ein Geist?

Deswegen hast du überlebt. Deswegen musstest du dein Rudel und deine Heimat hinter dich lassen. Deswegen wurdest du gezwungen, diesen Weg zu nehmen. Dieser Wald ist verflucht. Und du bist der Einzige, der den Fluch brechen kann.

 

Karak wachte keuchend auf. Sein Körper fühlte sich eiskalt an, als wäre ihm das Blut in den Adern gefroren.

Ein Fluch. Und er sollte ihn brechen.

Warum ausgerechnet er? Karak war kaum einen Sommer alt. Und vor allem, was war das für ein Fluch?

Korax weckte ihn mit einem Krächzen aus seiner Trance.

"Und?"

"Ich...ich soll einen Fluch brechen."

"Oh, das klingt schon mal sehr unheimlich. Was für einen denn?"

"Ich weiß es nicht. Es ist in irgendeinem Wald. Aber, der Wald ist tot."

"Du meinst...abgeholzt?"

"Nein, seine Seele. Und es ist etwas da drinnen..."

Schweigen.

Langes Schweigen.

Schließlich trat ein ungläubiger Ausdruck in die Züge des Raben. "Ich weiß, was sie gemeint haben!"

 

Der Vogel flog so schnell durch die Tunnel der Höhle, dass Karak rennen musste, um mitzuhalten.

"Was ist es? Wohin bringst du mich?"

"Zu dem Ort deiner Bestimmung. Dort werde ich dir alles Weitere erklären."

Der Weg verließ den Kristallwald und führte durch enge Tunnel in eine weitere Höhle, die mit hohem Gras bewachsen war. Etwas schimmerte silbrig zwischen den Halmen und ein Wispern hallte durch die Luft, doch Karak hatte keine Gelegenheit, sich umzusehen.

Er legte noch einen Zahn zu, um den Raben nicht zu verlieren.

Der Weg setzte sich durch enge, matschige Gänge fort. Karak fing an, zu keuchen. Er hatte in den letzten Tagen gelernt, Anstrengungen zu ertragen und über seine Grenzen zu gehen, doch irgendwann war Schluss. Das hatte Wendol ihm so beigebracht. Kein Wolf kann mehr bringen, als es ihm seine Kräfte zulassen. Er kann gelegentlich über sich hinauswachsen und Grenzen überschreiten, aber irgendwann kommt der Punkt, an dem er eine Pause und Ruhe braucht, um sich zu sammeln und in sich zu gehen.

Als Karak schon glaubte, er hätte diesen Punkt erreicht, erschien helles Sonnenlicht.

Der Tunnel endete in einer Felsnase.

Der Wolf kniff die Augen zusammen. Er hatte sich so schnell an das sanfte Leuchten in der Höhle gewöhnt, dass die Sonnenstrahlen ihm nun wie Speere in die Augen stachen und diese zum tränen brachten.

Unter ihm erstreckte sich ein Wald, so groß, dass er bis zum Horizont zu reichen schien. Die Wipfel der Bäume rauschten im Wind so laut, dass man es selbst noch auf dem Berg hörte.

"Einer Sage nach, schlummert irgendwo in diesem Wald eine dunkle Macht, die die Geister aus der Welt vertreiben kann und somit jedem Lebewesen seine Seele nimmt. Sie breitet sich nur langsam, aber unaufhaltsam aus. Siehst du den kahlen Fleck dort hinten?"

Karak brauchte ein wenig, bis er die Stelle entdeckte. Gen Horizont ragten hunderte abgestorbener Baumgerippe in den Himmel.

"Diese...Macht tötet die Pflanzen."

"Sie tötet sie nicht. Sie vertreibt die Geister und nimmt den Pflanzen ihre Kraft, sich gesund zu halten. Pflanzen sind der Ursprung allen Lebens. Wenn sie sterben, stirbt die Welt."

"Und ich soll das verhindern? Aber wie?"

"Das kannst nur du allein herausfinden, mein tapferer, junger Freund. Vor langer Zeit gab es von den letzten Geistern im Wald eine Prophezeiung, dass einst ein einsamer Wolf kommen wird, um die Macht zu vernichten."

Karak schwieg eine Weile. "Das ist der Grund, warum ich überlebt habe."

Er drehte sich zu Korax um. "Diese Tiere werden sterben, wenn sich diese Macht weiter ausbreitet?"

"Sterben oder Schlimmeres. Du musst jetzt gehen. Keine Sorge, ich werde dir bald folgen."

Rauschend erhob sich der Rabe in die Luft.

"Was? Aber... Warte! Korax!"

Der Vogel war schon hinter den Bergen verschwunden.

Karak drehte sich wieder zu dem Wald. Er sah zu der kahlen Stelle. Nicht einmal Vögel flogen über diesen Fleck hinweg. Etwas Bedrohliches ging davon aus, das sein Herz schneller schlagen ließ. Etwas Kaltes, Totes.

Und er musste es besiegen!

Mit mulmigen, aber entschlossenen Gefühlen machte sich Karak an den Abstieg.

Der tote Wald

Die Vögel flogen erschrocken auf, als der junge Wolf einen vergeblichen Luftsprung nach der Wühlmaus machte. Er wusste, dass sein raschelndes Fell ihn verraten hatte, noch bevor ihm seine Beute zum sechsten Mal durch die Krallen glitt.

Karak hatte Mordshunger, doch Wölfe waren Gruppenjäger, die allein kaum Jagdglück hatten.
Die meisten Tiere hier hatten noch nie einen Wolf gesehen. Nur ihre uralten Instinkte rieten ihnen, das Weite zu suchen.

Karak versuchte, sich an die Jagdtechniken der Füchse und Wildkatzen zu erinnern, die er beobachtet hatte. Nie war ihm der Verlust seines Rudels schmerzhafter vor Augen geführt worden.

Instinktiv verfiel er in die Anschleichposition, als seine feine Nase den Geruch einer Maus wahrnahm.

Es war ein altes, träges Tier, das die Flinkheit der Jugend lange vergessen zu haben schien. Karak roch Krankheit. Das bedeutete leichte Beute.

Er schwebte leicht über den Waldboden, beobachtete die Beute und stieß im entscheidenden Moment zu.

Die Maus tauchte unter seinen Krallen hindurch und fand den Tod in den spitzen, kräftigen Wolfszähnen.

Gierig fiel der ausgehungerte Wolf über seine erste Beute her.

Die kleine Malzeit reichte kaum aus, um seinen Hunger zu besänftigen. Karak prüfte die Luft.

Er roch einen kleinen Fluss und Fische.

Fische waren nicht gerade die Lieblingsspeise der Wölfe, aber als Notzehrung konnten sie dienen.

Schnell kam Karak an den Fluss. Lachse sprangen aus dem Wasser.

Karak hatte schon oft Bären beobachtet, wie sie während der Wanderungen ihre Beute dort fingen. Trotz leichter Wasserscheu watete der Wolf in das seichte Wasser.

Der erste Fisch schnellte durch seine Zähne hindurch. Den Zweiten bemerkte er erst, als er schon neben ihm im Wasser landete. Den Dritten bekam er an der Schwanzflosse zu fassen, verlor ihn dann aber.

Karak rannte dem Fisch laut platschend hinterher, fand ihn jedoch nicht wieder.

Erschöpft und entmutigt setzte er sich am Ufer wieder. Er hatte schon nach anderen Wölfen gerufen, jedoch nur den Widerhall seiner eigenen Stimme gehört.

Karak legte sich an den Rand der Steine und ließ sich das nasse Fell von der Sonne trocknen.

Ich soll diesen Wald erlösen. Doch wie soll ich das tun, wenn dieser Wald mich nicht einmal ernähren kann? Warum haben die Geister...

Er hielt inne. Hier, so nah an der Quelle des Todes konnte er nicht auf die Hilfe der Geister hoffen.
Mühsam erhob sich der junge Wolf.

Er fragte sich, wie es nun weitergehen sollte. Er hatte eine Prophezeiung zu erfüllen, die er selbst nicht einmal ganz verstand.

"Vielleicht sollte ich mir diesen Ort mal genauer ansehen."

Er ging auf Umwegen zu der toten Stelle im Wald. Er musste sich diese Gegend auch noch genau ansehen.
Karak folgte dem Bachlauf, versuchte, sich die Pflanzen am Ufer zu merken. Er kannte einige Heilkräuter gegen Krämpfe und Übelkeit. So etwas musste immer parat sein.

Karak entdeckte auf seinem Weg einen verlassenen Kaninchenbau. Wenigstens gab es hier Beute.

Der fahle Gestank wehte ihm entgegen, obwohl der Wolf bemerkte, wie der Wind mit jedem Schritt, den er in die besagte Richtung tat, schwächer wurde.

Auch die Pflanzen veränderten sich.

Schon immer hatte der Wolf ihre lebendigen Seelen gespürt, doch hier waren sie anders. Als wären sie nicht richtig lebendig, als hätten sie keine Seelen.

Karak schluckte. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit. Selbst die Sonnenstrahlen schienen ihr Leuchten zu verlieren.

Ein Rascheln ließ ihn aufhorchen. Karaks Körper versteifte sich. Es war ein Tier. Durch die fast komplette Windstille konnte er es nicht richtig wittern.

Etwas knackte. Die Blätter stoben auseinander, ein schlanker Körper schoss heraus, rannte beinahe in Karak hinein.

Der Fuchs hatte zerzaustes Fell und wirkte verängstigt.

"Gehe nicht weiter in diese Richtung. Die Zerstörung setzt sich fort. Wenn dir etwas an deiner Seele liegt, gehe weg."

"Was geschieht dort?" Seine Stimme hatte einen festen Ton. Der räudige Fuchs seufzte.

"Ich war zu lange in dem Gebiet. Ich habe es gespürt. Und ich sage dir, das willst du nicht miterleben."

"Was steckt dahinter!", sagte Karak bestimmt. "Ich bin neu hier und muss das herausfinden."

"Wenn du mich fragst, sei froh, dass du es nicht weißt, aber wenn du so willst."

Der Fuchs senkte die Stimme. "Der Wald stirbt! Dort drinnen ist der Tod. Der Tod der Seele, des Willen, alles was unsere Persönlichkeit ausmacht."

"Es nimmt den Lebenswillen." Langsam verstand Karak die instinktive Angst, die ihn befiel, seit er diesen Wald betreten hat.

"Ja. Was auch immer es ist, es tötet. Es verwandelt Lebewesen in seelenlose Geister. Ich habe Tiere dort gesehen, die wie Schatten wirkten. Ich kenne euch Wölfe, im Gegensatz zu den meisten anderen Tieren hier. Ich weiß nicht, was dich hierher treibt und ich will es auch gar nicht wissen, aber ich sage dir, dem da hinten ist niemand gewachsen. Lauf weg, solange du noch kannst."

Das Tier verschwand im Wald, während sich Karaks Gedanken drehten. Die Macht vertrieb nicht nur die Geister, sie nahm den Lebewesen ihren Willen, ihre Gedanken, ihre Fantasie.

Sämtliche Haare stellen sich auf seinem Körper ab. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Karak sich dazu durchrang, weiterzugehen.

Dann spürte er es. Etwas zog an ihm. Zerrte ihn in eine unbestimmbare Richtung. Es war in ihm.

Jeder Pfotenschritt wurde zur Qual. Etwas zog an ihm, in seinem Kopf, in seinem Herzen.

Karaks Atem beschleunigte sich. Die Kraft wich aus seinen Gliedern. Leere breitete sich in ihm aus.

Die Macht vertreibt die Geister, die über alle Lebewesen wachen.

Ohne die Geister ist niemand da, der uns schützt.

Dem Wolf wurde schwindelig. Sein Blickfeld zog sich zusammen. Von seinen Ohren, seinen Pfoten und seiner Nase kamen kaum noch Sinneseindrücke. Die Macht war ganz nahe.

Ein Rascheln ließ ihn aufschauen. Er sah eine Birke. Sein Blick verschleierte sich kurz. Der Baum veränderte sich.

Die grünen Blätter verwelkten. Von den Blattadern aus breitete sich erst gelbrote Farbe aus, dann fingen sie an, dich zu wellen, sich braun zu verfärben.

Eins nach dem anderen fiel herunter.

Es tötet die Pflanzen.

Die Rinde der Birke verlor an Farbe, einzelne Äste fielen tot herab. Innerhalb weniger Augendblicke verwandelte sich der gesunde Baum in ein totes Pflanzengerippe.

Mit klopfenden Herzen und Schwindelgefühlen trat Karak näher. Hinter dem Baum standen noch andere tote Stämme. Darunter Stämme einst mächtiger Eichen, die in sekundenschnelle eines unnatürlichen Todes erlagen.

Das Land war tot. Er sah nur noch fahle, grüne Grenzen. Grenzen, die sich bald zurückziehen würden.

Karak schwankte. Er konnte nicht weiter. Grelle Lichter breiteten sich in seinem Blickfeld aus.

Die Geister waren fort. Der Lebenswille verstarb. Und nur er konnte es verhindern.

Aber wie?

Die Macht wurde größer, drohte ihn zu ersticken. Alles drang auf den jungen Wolf ein. Alles richtete sich gegen ihn.

Karaks Blickfeld zog sich auf einen kleinen Punkt zusammen. Sein Atem ging pfeifend, er bekam kaum noch Luft.

Karak sank zu Boden. Es war tot. Nicht tot im herkömmlichen Sinne.

Der Wolf fühlte sich, als fiele er in ein dunkles Loch, ohne Wiederkehr. Er musste hier weg, sonst würde er den Verstand verlieren. Karak drehte sich um, stolperte.

Er fiel hart auf den Boden, nicht sanft, wie er es im Training gelernt hatte. Alles war schwarz.

Am Rande seines Bewusstseins bemerkte er noch welke Blätter, die von sterbenden Bäumen herunterfielen.

Während sein Wille ganz langsam seinen Kopf verließ, träumte er von dem Land hinter den Sternen, wo er sein Rudel wieder sehen würde.

 

Korax hatte ein schlechtes Gefühl. Er hätte Karak nicht einfach so losschicken dürfen. Er hatte gespürt, dass der Wolf noch viel zu wenig Erfahrung für ein solches Abenteuer hatte. Außerdem konnte er sich nicht vorstellen, wie er allein in einem fremden Wald überleben sollte.

Hätte ich doch nur auch so eine gute Nase wie er, dann könnte ich ihn schneller finden.

Der Rabe näherte sich der toten Lichtung und flog automatisch tiefer und langsamer. Eine unnatürliche Kälte ergriff ihn. Der Atem des Seelentodes.

Mit scharfen Augen suchte der Kolkrabe den schwarzgrauen Erdboden ab. Er entdeckte den Wolf nicht.

Mit mulmigem Gefühl machte er kehrt. Der kühle Wind der ihn begrüßte, war wie ein Schwall neuer Hoffnung. Sollte er vielleicht noch einmal zurück in die Höhlen der leuchtenden Steine, um die Geister um Hilfe zu bitten?

Eine plötzliche Windböe ließ den stabilen Flug des Vogels taumeln. Der Rabe musste auf dem nächsten Ast notlanden. Sofort fing er wieder an, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie er Karak nun finden sollte, ohne im toten Wald selbst den Verstand zu verlieren. Was hatte er da nur angerichtet?

"Hey, Federvieh!"

Es brauchte einen Augenblick, bis er merkte, dass er gemeint war. Der Rufer war ein Fuchs mit zerzaustem Fell am Stamm des Baumes, der aussah, als hätte er in letzter Zeit keine guten Tage gehabt.

"Tut mir leid, ich kann dir keine Beutestelle zeigen. Ich muss einen Freund finden."

"Ist dein Freund ein verrückter Wolf, der glaubt, er könne den toten Wald wieder zum Leben erwecken." Korax zuckte zusammen.

"Jaja, Besucher haben wir hier selten, aber wenn sie kommen, merke ich, wenn sie zusammengehören."

"Hast du ihn gesehen?" Der Rabe segelte auf einen niedrigeren Ast, um sich besser mit dem Fuchs unterhalten zu können.

"Zuletzt an der sterbenden Grenze. Der Welpe war verrückt. Ganz allein wollte er dem Fluch auf den Grund gehen."

"Er hat sein Rudel verloren, er ist der Wolf aus der Prophezeiung."

Der Fuchs sah ihn skeptisch an. "Der Welpe. Ich hatte immer an einen Rudelführer gedacht, der Erfahrungen mit solchen Dingen hat. Bist du sicher?"

"Er sagte, die Geister hätten ihm in der Höhle der leuchtenden Steine die Macht gezeigt. Dort lügt niemand, das weißt du."

Sorge und Entsetzen breiteten sich in den braunen Augen des Fuchses aus. "Wir müssen ihn finden."

Im Auge der Macht

Eiseskälte durchdrang Karak. Es war nicht die Kälte des Frostes, die ihn in den Bergen gequält hatte, es war eine seelische Kälte, die sein Herz umklammerte wie eine eisige Klaue.

Etwas war da.

Es beobachtete ihn...

Es war hier...

Die Macht!

Karak versuchte, sich aufzubäumen, aber seine Glieder gehorchten ihm nicht mehr.

Nein!, dachte er. Nein! Ich will nicht!

Seine Gedanken flossen träge. Ein stechender Schmerz machte sich in seinen Schläfen breit.

Die Macht durchdrang seinen angeborenen Überlebenswillen Stück für Stück. Langsam breitete sie sich in seiner Brust aus. Das Atmen fiel ihm schwerer.

Kämpfe, Karak! Kämpfe!

Sein Blut rauschte unnatürlich laut in seinen Ohren. Grelle Punkte durchbrachen das Schwarz. Karak versuchte, gleichmäßiger zu atmen. Ein Pfeifen drang aus seiner Kehle.

Du zwingst mich nicht, aufzugeben!

Die Schmerzen in seinem Kopf breiteten sich schlagartig in seinem ganzen Körper aus. Am liebsten hätte der Wolf laut aufgejault. Die pulsierende Kälte drang tiefer. Eisige Klauen ergriffen sein Herz. Es setzte einen Schlag aus...

Und dann sah er es...

Die Macht...

Die Früchte ihrer Arbeit...

Nein!!!

Karaks Herz schlug schneller. Langsam spürte er wieder Luft, die sich schmerzhaft in seine Lungen presste.

Ein starker Druck ließ ihn aufkeuchen. Sein ganzer Körper verkrampfte sich kurz. Dann ließen stechende Schmerzen alle Wahrnehmungen für Sekunden ausfallen.

Karak sah es wieder. Er konnte es nicht benennen, aber er begriff es. Er verstand alles. Eine gefühlte Ewigkeit später begriff er noch etwas: Ich will nicht so werden!

Mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst überraschte, hievte er sich auf seine Pfoten... und sank gleich darauf wieder zu Boden. Seine Beinknochen hatten sich angefühlt, als würden sie brennen.

Mit einer unfassbaren Brutalität drang das dunkle Etwas, das ihn umgab durch seine Schädeldecke.
Bilder füllten seinen Kopf.

Tausende...zehntausende auf einmal.

Alle mit dem gleichen Ergebnis...

Karak sah eine Welt ohne Geister. Eine Welt ohne Glück und Freude. Er sah eine Welt, in der die Tiere wie wandelnde Tote ohne Gefühle wirkten. Und er sah einen bösen Willen, der wenn er wollte, von ihnen Besitz ergriff, um alles, was ihm nicht passte, auszulöschen.

Er sah den gleichen Willen, der gerade versuchte, in ihn einzudringen.

Karak schnitt sich an einem Stein die Pfote auf. Der kurze, stechende Schmerz brachte ihm ein Stück seines Bewusstseins zurück.

Seine Pfoten schienen über den Waldboden zu schweben. Er spürte etwas.

Es war weich, warm und...lebendig.

Karak ließ sich keuchend in das feuchte Gras fallen. Dunkelheit umkam ihn.

 

"Da ist er!"

Lion entdeckte den leblosen Körper erst auf dem zweiten Blick. Karak hatte sich gerade noch auf das lebendige Gras retten können. Er hatte die Macht nicht lange durchgehalten. Er war doch noch ein Welpe!

Der Fuchs kam nach Korax bei dem Wolf an. Seine Flanke hob sich in unregelmäßigen Abständen, sein Atem ging pfeifend.

"Er braucht Wasser!" Lion beschnüffelte den Wolf oberflächig. Er roch nach Angst, Schweiß und Erschöpfung.

Korax kam von dem nächsten Bachlauf wieder und tröpfelte dem Welpen das Wasser in seinem Gefieder aufs Gesicht.

Seine Miene zuckte.

Eine plötzliche Kälte ergriff Lion. Der Fuchs stöhnte leise. Die Macht kam wieder.

"Wir müssen ihn hier weg bringen!", zischte Korax.

Lion packte den Wolf mit den Zähnen am Nackenfell und versuchte, ihn in Richtung Wald zu ziehen. Er war verdammt schwer.

"So wird das nichts!"

"Dann müssen wir ihn wecken!"

Die Kälte kam näher. "Das bringt nichts. Ich kenne die Macht. Wenn sie dich das erste Mal in Griff hatte weckt dich für einen halben Sonnenzyklus gar nichts mehr."

Langsam schlich sich Panik in Korax. Er konnte doch unmöglich bis zum Abend warten, damit Karak endlich zu sich kam. Plötzlich hatte er einen Geistesblitz.

"Bleibe bei ihm, ich bin gleich wieder zurück."

"Was hast du vor?", rief Lion ihm nach. Korax gab keine Antwort. Wenn er sein Vorhaben dem Fuchs erklärte, würde der ihn für verrückt halten und die Idee gar nicht erst aufkommen lassen. Es war zwar nur eine Vermutung, aber seine einzige Chance...

 

Die Macht beobachtete die drei ungleichen Tiere bei ihrem Treiben. Sie waren außerhalb ihrer Reichweite, aber sie konnte spüren, was sie bewegte.

Sie sah Lebewesen nur als vage Auren, eine Ansammlung lebendiger, leuchtender Masse inmitten der Schattendimensionen ihrer Welt. Sie sah ihre Gefühle, ihre Gedanken. Und sie sah die Dinge, die sie umgaben. Die Geister, nannten sie sie. Nebel aus Lebendigkeit, die ihre Gedanken fließen ließen, ihre Fantasien beflügelten, ihre Pfoten antrieben. Die Dinge, gegen die sie ankämpfte. Schon bald würde sie den Wolf und seine Freunde eingeholt haben. Der Welpe war hartnäckig gewesen. Nicht so stark wie der Fuchs, aber dennoch kampfbereit. Sie liebte solche Wesen, die sich vergeblich gegen das Unvermeidliche wandten. Wesen, die sich nicht mit dem Schicksal abfanden, die sie herausforderten, mit denen man spielen konnte.

Die Verzweiflung der beiden Tiere wuchs. Die Macht kam voran. Sie bereitete sich vor zum entscheidenen Schlag...

Etwas glühte auf. Ein gleißender Schmerz durchfuhr die Macht, peinigte sie bis in die entferntesten Winkel ihres eroberten Gebietes. Ein helles Kreischen durchfuhr die Dimension des Waldes. Licht flutete herein. Das Licht der Dinge, die die Tiere umgaben.

Die Macht zog sich zurück.

 

Karak spürte Wärme. Zuerst war es nur eine unbestimmbare Stelle in der Leere seines Kopfes, die nicht ganz so dunkel und kalt war, wie der Rest. Diese wurde größer, breitete sich langsam aus. Das unsichtbare Eis, das sein Blut ins stocken gebracht hatte, fing langsam an, zu schmelzen. Er spürte seine Atmung wieder. Die Macht verschwand.

Karak fing an, zu frösteln. Aus heiterem Himmel konnte er seine Nerven wieder gebrauchen. Seine Pfoten zuckten. Er fing an, zu zittern.

Stimmen.

Er konnte nicht zuordnen, was sie sagten, aber sie waren da, um ihn.

Der Wolf konnte immer noch nicht seine Augen öffnen. Nur die Augäpfel zuckten unter den leblosen Liedern hin und her.

"Karak."

Er versuchte, die Herkunft der Stimme zu finden.

"Steh auf!"

Er spürte, wie sich sein wackeliger Körper schwerfällig auf die Beine hob und sofort wieder in sich zusammensackte.

"Steh auf!", wiederholte die Stimme.

Bist du ein Geist?, dachte Karak schwerfällig.

"Wenn du so willst, ja."

Karak wankte, jemand stützte ihn. Sein Kopf hatte die neuen Informationen und die ungesteuerten Bewegungen noch nicht ganz verarbeitet.

Seine Nase fing als Erstes wieder an, zu leben.

Er roch, wie er den toten Wald verließ, vernahm den Duft von warmer Erde und verschiedenen Pflanzen. Schließlich kehrte das Gefühl in seine Pfoten zurück, die er sich an einigen Steinen gestoßen hatte. Gedämpfte Geräusche drangen an seine Ohren.

Irgendwann ließ Karak sich fallen. Er spürte raues Gestein durch seinen Pelz. Wasser tröpfelte ihm ins Maul.
Totale Erschöpfung machte sich in ihm breit. Karak übergab sich dem dunklen Schlaf.

 

"Das hat Auswirkungen", murmelte Lion.

"Was meinst du?"

"Die Macht hatte ihn so fest in Griff, wie ich es bei keinem Lebewesen gesehen hatte. Es schien, als sei sie besonders an ihm interessiert gewesen. Als würde sie nicht ruhen, ehe er in ihrem Bann ist."

Korax überlegte. Konnte dies ein Zeichen sein? War das der Beweis, dass Karak wirklich der Auserwählte war, der die Geister zurückbringen würde?

Der Rabe schob den Kristall aus der Höhle, mit dem er die unheimlichen Schatten für kurze Zeit aus dem Körper des Wolfes verdrängt hatte, näher an den geschwächten Wolf heran. Der Kristall begann zu glühen.

Wenn er von Geistern bewohnt war, konnten diese ihm vielleicht helfen - oder seinen Tod lang genug herauszögern.

In Lions Augen blitzte etwas auf.

"Ich glaube, ich kenne jemanden, der ihm helfen könnte. Bleib du hier und passe auf ihn auf!"

Korax hatte die Aussage erst verarbeitet, als der Fuchs bereits aus der Höhle zwischen den Büschen verschwunden war.

"Was? Wen kennst du?" Er bekam keine Antwort mehr. Mit dem Flügel befühlte er Karaks glühende Stirn. Er spürte den starken Strom zwischen dem Wolf und dem Kristall. Der Kampf um Karaks Leben und um die Zukunft dieses Waldes hatte begonnen.

 

Lion keuchte. Er war nicht mehr so ausdauernd wie früher. Den Rest des Weges musste er im Schritttempo zurücklegen, hoffend, dass Karak durchhielt. Endlich kam er zu der alten Eiche.

Er prüfte die Luft. Darika war zu Hause.

"Darika! Ich brauche deine Hilfe!"

Ein Gähnen war zu hören, ein lautes Rascheln. Das Gesicht der alten Eule hob sich aus dem Loch.

"Was zum Henker...Verdammt, es sind noch mindestens zwei Stunden bis Sonnenuntergang..."

"Bitte, Darika, es geht um Leben und Tod!"

"Warum kommt ihr eigentlich immer zu mir!?"

"Weil du die beste Heilerin weit und breit bist." Die Eule hatte ihm als Welpe einmal eine verstauchte Vorderpfote gerichtet. Obwohl Lion nicht behaupten konnte, dass die Prozedur schmerzlos war, hatte er doch nach wenigen Mondwechseln wieder wie früher laufen können.

"Ist es jemand, den ich kenne?"

"Ein Wolf aus dem Westen. Er hat sein Rudel verloren und ist zu nah an die tote Stelle gekommen."

Die Eule plumpste aus heiterem Himmel zu Boden.

"Bei allen Geistern, du weckst mich, weil so ein blöder Graupelz sich nicht genügend über diese Gegend informiert hat und den Schock nicht verkraftet?"

"Nein, ich wecke dich, weil dieser blöde Graupelz mit hoher Wahrscheinlichkeit der Auserwählte ist und die Macht nicht eher ruhen wird, bis sie ihn zur Strecke gebracht hat!"

Mit einem Mal war Darika hellwach.

"Bringe mich auf dem schnellsten Wege zu ihm!"

 

Die Eule legte einen mit Wasser getränkten Moosballen auf Karaks Stirn und hielt ihm einen Brei aus zerstampften, fiebersenkenden Kräutern hin. Sie war sich nicht sicher, wie der Wolf das aufnehmen würde, aber einen Versuch war es wert.

Karak leckte die Medizin wie in Trance auf.

"Er braucht Wasser, so viel wie möglich."

Gerade kam Lion mit einem weiteren tropfenden Moosball zwischen den Zähnen in die Höhle. Er drückte ihn dem Wolf auf die Schnauze. Karak hatte kaum Kraft, die winzigen Tröpfchen aufzunehmen.

"Kommt er durch?", fragte Korax besorgt.

Darika schüttelte müde den Kopf. "Das ist keine normale Krankheit. Ich kann seinen Körper ein wenig unterstützen, aber bekämpfen muss er sie allein."

"Auf alle Fälle braucht er Futter", meinte Lion. "Ich geh jagen." Schon verschwand der Fuchs aus der Höhle.
Darika versuchte sich, an einen ähnlichen Fall zu erinnern. Damals war ein unerfahrenes Wildkatzenjunges zu nah an den toten Wald geraten. Es hatte sich erstaunlich schnell wieder erholt. Sie musste lange überlegen, bis ihr der Faktor einfiel.

"Sonnenlicht, er braucht Sonnenlicht, das vertreibt die Macht!"

Korax sah sie zweifelnd an. "Bist du sicher?"

"Licht bedeutet Leben. Die Macht hasst alles Leben. Ist dir noch nie aufgefallen, dass die Sonnenstrahlen über der toten Stelle gefiltert werden?"

Zu zweit schafften sie es, den schlaffen Körper ihres Patienten aus der Höhle in ein von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtetes Fleckchen zu schieben. Darika trug den Kristall hinterher. In der Sonne schien er stärker zu leuchten.

Lion kam mit einer erbeuteten Wühlmaus zurück. "Ist es schon besser geworden?"

Darika ging auf die Frage nicht ein und überlegte, wie sie ihm helfen könnte.

"Er bewegt sich!", rief Korax plötzlich aus.

Die drei ungleichen Tiere beugten sich über den Wolf. Seine Pfoten zuckten, die Rute zitterte und wimmernde, kaum verständliche Laute drangen aus seinem Mund. "Nein...das...kann nicht..."

 

...wahr sein! Bitte, das kann nicht wahr sein!

Die Bilder in Karaks Kopf hörten nicht auf. Er sah die Hohle der leuchtenden Steine, erloschen, vermodert, ohne Leben. Die Pflanzen in der Höhle, verdorrt, farb- und glanzlos.

Was...woher...das ist nicht möglich! Was bist du? Was willst du von mir?

Die Macht zeigte ihm weitere Bilder. Immer wieder die gleichen, und doch anders.

Was willst du mir sagen?

DU KANNST NICHT ENTKOMMEN!

Der Gedanke zuckte so hart und plötzlich durch seinen Kopf, dass er glaubte, sein Schädel würde bersten.

ICH BIN ÜBERALL. ICH BIN IN DIR. ICH BIN IN JEDEM WESEN. ICH WARTE NUR DARAUF, HERAUSZUKOMMEN.

Karak keuchte auf. Der Druck in seinem Kopf nahm zu.

ICH BIN MIT DEN WESEN, DIE DU GEISTER NENNST, VERBUNDEN. WIR SIND ZWEI SEITEN EINER MEDALLIE. DAS IST DIE ORDNUNG DER DINGE. DU KANNST DIE ORDNUNG NICHT DURCHBRECHEN!

Der Satz hallte nach. Du kannst die Ordnung nicht durchbrechen! Du kannst die Ordnung nicht durchbrechen!

Was für eine Ordnung? Die Geister waren die Ordnung. Nicht die Macht!

LICHT UND SCHATTEN, TAG UND NACHT, GUT UND BÖSE, ICH UND DIE GEISTER. DAS EINE KANN NICHT OHNE DAS ANDERERE EXISTIEREN. WIR SIND AUFEINANDER ANGEWIESEN.

Aber warum willst du sie dann töten?

DAVON WAR NIE DIE REDE. WIR SIND RIVALEN, KEINE FEINDE. SO WIE DIE TIERE. DA ICH IN DIESEM WALD LEBE, IST EIN AUSGLEICH GETROFFEN. WIR HÄNGEN ZUSAMMEN, SO WIE TOD UND LEBEN. ICH BRAUCHE MEINEN RAUM, SIE BRAUCHEN IHREN RAUM.

Aber nicht die ganze Welt! Was ist mit den Tieren, deren Willen du raubst? Was ist mit den Pflanzen?

WAS IST MIT DEN TIEREN, DIE STARBEN, UM DEIN RUDEL ZU ERNÄHREN? WAS  IST MIT DEM JUNGEN PFLANZEN, DIE VON DEN HASEN GEFRESSEN WERDEN? DAS IST DER KREISLAUF DES LEBENS:

Im Leben wächst etwas nach. Die Tiere bekommen Junge, die Pflanzen sprießen nach. Was wir nehmen, geben wir zurück. Was du allerdings zerstörst, bleibt verschwunden. Du gliederst dich nicht in das Leben ein, du zerstörst es. Du brichst die uralten Gesetze der Natur. Du bist nicht der Tod. Du bist das Nichts!

Karak spürte den Geist, der in seinen Körper zurückkehrte. Endlich wich die Leere, die Dunkelheit.

Ich werde dich bekämpfen, was auch immer du bist. Ich bin Teil der Welt, ich bin diese Welt. Heute hast du mich zum Feind gemacht. Du bist nicht unverwundbar. Und ich werde nicht ruhen, ehe das Nichts, das du hier verbreitet hast, wieder gefüllt ist.

"Ich glaube, er kommt zu sich." Darika sah auf Karak hinab. Sein Atemrhythmus hatte sich verändert. Blinzelnd öffnete der Wolf die Augen.

"Wo...wo bin ich? Was ist passiert?"

Mit einem Satz sprang er auf, fiel aber sofort wieder um.

"Du musst liegen bleiben!", wies ihn Darika zu Recht. "Immer diese jungen Tiere. Viel zu ungeduldig."

Karaks Schädel brummte. Lion sah ihn mitleidig an.

"Weißt du nun, wie es ist?"

Wie in Trance nickte der Wolf.

"Gut, dann höre auf unseren guten Rat. Wenn du dieses Etwas bezwingen willst, brauchst du Unterstützung. Und zwar viel Unterstützung."

Müde hob Karak den Kopf und registrierte den leuchtenden Kristall zwischen seinen Pfoten.

Er sah die drei Tiere um ihn herum abwechselnd an.

"Das war nicht alles, oder? Es hat noch mehr Kniffe, die es gegen uns verwenden kann?"

"Es hat unendlich viele Kniffe, die es gegen jedes Lebewesen, das ihm im Weg steht verwenden kann", krächzte Darika. "Und ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache."

Korax sah den Wolf nachdenklich an. "Es hatte einen Einblick in deine Seele. Nun weiß es bestimmt eine Stelle, an der du verwundbar bist."

Karak dachte nach. Er wusste nicht, was für eine empfindliche Stelle die Macht gesehen haben könnte.

Aber falls sie doch eine Waffe gegen ihn hätte, musste er sich auf alles gefasst machen.

Die Grotte lag in den Bergen, tief unter dem Gestein verborgen. Kein Licht durchdrang die starken Felswände. Kein Leben war hier. Perfekt, um zur Tat zu schreiten.
Die Macht hatte den kleinen leblosen Körper schon zu lange hier versteckt. Von der Seele des einst lebensfrohen Tieres war nur noch ein winziger Rest übrig, tief vergraben und sinnlos um Hilfe schreiend in einem erkalteten Herzen.
Das Tier spürte die Präsenz der Macht.
"Wie lautet meine Aufgabe?"
Sie schickte dem Tier die entsprechenden Bilder, die sein Gehirn brauchte, um die Situation zu verstehen. Schon wusste es, was zu tun war.
"Ich werde dich nicht enttäuschen."
Es machte sich auf den Weg hinaus zum Wald.
NEIN, WÖLFCHEN. DAS WIRST DU NICHT.

 

Der Atem des Waldes

Darika hatte Karak verboten, sich dem toten Wald noch einmal zu nähern. Gewiss konnte er das nachvollziehen, wusste jedoch nicht, wo er nun weitermachen sollte. Die Macht hatte es auf ihn abgesehen, soviel war klar, aber wie sollte er nun den Wald retten?

Karak blickte blinzelnd in die untergehende Sonne, die den Horizont in Flammen setzte. Warum er? Warum ausgerechnet er?

Er schüttelte sich, um diese Gedanken loszuwerden. Jeder an seiner Stelle würde sich dieselbe Frage stellen und warten machte es bestenfalls nur noch schlimmer.

Wo sollte er nur anfangen? Wie sollte er nur anfangen? Und vor allen: Womit sollte er nur anfangen?
Lion trat aus dem Gebüsch mit reichlich Beute im Maul.

"Du musst etwas essen. Vor allem jetzt. Ich weiß, dass du dich elend fühlst, aber es hilft nichts."

Karak seufzte. "Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt tun soll. Das ist...ich glaube, ihr alle erwartet zu viel von mir."

Der Fuchs setzte sich neben ihn. Er schien sich bei der Jagd langsam wieder erholt zu haben, sein Fell fing wieder an, zu glänzen.

"Niemand erwartet, dass du zaubern wirst. Niemand erwartet den großen Retter, der aus dem Licht erscheint und die Welt erlösen wird. Du sollst wissen, dass wir und dass der ganze Wald immer hinter dir stehen wird, egal was passiert. Jeder hier hat Angst vor dem, was da draußen ist. Weißt du, was sie überhaupt noch hier hält?"

Karak sah ihn kurz an. Es war ihr zu Hause, aber in einem zu Hause ohne Geister? Wo man sich ständig beobachtet fühlt?

"Liebe und Hoffnung, Karak. Liebe zu dieser Umwelt, den kleinen Wundern des Lebens, zu anderen Geschöpfen und Hoffnung auf Erlösung, auf eine Chance, die Macht zu vertreiben, auf eine Chance auf Frieden. Diese beiden Mächte zusammen können mehr erreichen als wir uns alle vorstellen können."

Karak beobachtete einige Eichhörnchen, die durch die Äste sprangen. Er fühlte sich plötzlich unglaublich einsam.

"Aber warum sollten sie diese Hoffnung ausgerechnet in mich stecken? Keiner kennt mich hier. Die meisten Tiere müssten vor Wölfen eigentlich davonlaufen. Wir sollten in zwei völlig verschiedenen Welten leben. Warum sollten sie in mich Hoffnung stecken."

"Weißt du, wie eine Lawine oder ein Erdrutsch ausgelöst wird?"

"Wie bitte?" Die Frage brachte ihn völlig aus dem Konzept.

"Wenn sich nach dem Regen ein Stein im Berg löst, bricht dadurch der Damm, der die durchnässte Erde aufhält. Wenn sich weiter oben noch ein Stein löst, fällt weitere Erde hinab und setzt die Lawine in Gang. Eine Pfote voll Schlamm ist nichts, aber eine Mure kann einen ganzen Wald unter sich begraben. Verstehst du, was ich damit sagen will?"

Karak musste die Worte erst einmal verarbeiten.

"Du meinst, wir alle sind solche Steine? Und jeder von uns kann der Stein sein, der sich löst, und alle anderen in Gang setzt?"

Lion lächelte. "Dass ich dir das überhaupt erklären muss. Füchse sind es gewohnt, auf sich allein gestellt zu sein, aber du hast selbst gemerkt, wie hilflos du ohne dein Rudel warst. Ein Wolf würde von einem Reh umgerannt werden. Ein Rudel kann es ohne Probleme jagen. Du musst auf deinen natürlichen Gemeinschaftsinstinkt vertrauen. Nur so kann eine Lawine in Gang gesetzt werden."

Karak schwieg einen Moment. Dann leuchteten seine Augen auf. "Das ist genial! Wo ist Korax?"

"Ich weiß nicht, ich glaube, er sieht sich im Wald um."

"Wenn du ihn siehst, richte ihm bitte Folgendes aus..."

 

Die Lichtung lag im Licht der Abendsonne, als plötzlich ein eisiger Wind durch die Luft rauschte. Karak fröstelte. Er wusste nicht, ob die Tiere des Waldes auf ihn hören würden, aber er musste versuchen, zu ihnen zu sprechen. Darika hatte hier anscheinend einen großen Einfluss und würde bestimmt viele Tiere zusammentrommeln. Karak hatte für obersten Frieden geboten. Kein Tier sollte während seiner Ansprache ein anderes verletzen oder töten.

Die Macht breitete sich aus. Er wusste nicht wie, aber er spürte es. Oder war es der Geist, der mit ihm in Verbindung stand?

Ein Rascheln ließ ihn aufhorchen. Lion kam aus dem Gebüsch. "Der Wald hat die Nachricht erhalten. Alle Tiere werden am Sonnenuntergang hier eintreffen."

"Danke. Wie waren ihre Reaktionen?"

"Nun ja, die meisten waren ziemlich überrascht. Viele haben mich gefragt, was ein Wolf überhaupt ist. Ich glaube nicht, dass sie alle an die Rückkehr der Geister glauben, aber in den Meisten ist die Hoffnung nicht erloschen. Sie sind teilweise schon jetzt überzeugt, dass du die Erlösung bringen wirst."

Erlösung? Das Wort klang so fremd für ihn. Eigentlich brauchte er doch selbst Erlösung. Von den Schuldgefühlen an seinem Rudel. Von der schweren Bürde, die auf seinen Wolfsschultern lastete. Einfach von allem.

Karak streckte sich und gähnte. Zweifel plagten ihn. Was, wenn die Tiere ihm nicht glaubten, wenn sie ihn vertreiben würden?

"Vertraue immer deinem Instinkt", hatte Shurka mal gesagt. "Hör auf dein Herz und andere werden auf dich hören. Du musst lernen, Wege zu sehen, wo alles vergeblich scheint."

Ach, Shurka, wärst du doch nur hier!

 

Der ganze Wald schien wie verabredet am Sonnenuntergang zu kommen. Karak kribbelte das Fell, doch er hielt sich ruhig und stand gerade, wie er es von Wendol gelernt hatte.

Er hatte noch nie so viele verschiedene Tiere auf einmal gesehen. Hirsche, Rehe, Füchse, Mäuse, Vögel, Dachse, Marder und sogar zwei Bären standen friedlich nebeneinander auf der Lichtung versammelt. Etwas lag in ihren Augen. Etwas Übernatürliches. War es Hoffnung?

"Das waren alle. Mehr kommen nicht", informierte ihn Korax. Darika und er standen neben ihm. Die Eule schien erschöpft, hielt sich jedoch aufrecht. Karak erhob sich und begann zu sprechen.

"Ich wurde von den Geistern geschickt!"

Gemurmel machte sich breit. Der Wolf konnte aus den Stimmen gleichermaßen Bewunderung, wie Missachtung und Unschlüssigkeit heraushören.

"In dem Wald, in dem ich geboren wurde, gab es sie noch. Sie waren überall vertreten, haben mit allen Tieren gesprochen. Die Pflanzen dort waren noch lebendig. Sie konnten noch träumen und wir konnten ohne Sorge leben."

Ein Eichelhäher flog von einem Baum zu ihm herab.

"Wenn es so schön war, dort wo du herkommst, warum bist du nicht da geblieben? Warum kamst du hierher? Willst du, dass wir diesen Wald verlassen? Willst du, dass wir unsere Heimat verlassen?" Die Menge raunte. Einige Tiere riefen etwas hinein, was Karak allerdings nicht ganz verstand. Der Wolf hob die Rute und bat um Ruhe.

"Ich wollte meine Heimat nie verlassen. Doch die Zweibeiner haben mein Rudel getötet. Ich musste hierher. Auf meinen Weg kam ich durch die Höhle der leuchtenden Steine. Dort habe ich mit den Geistern geredet. Sie zeigten mir diesen Wald, die Angst, die Verzweiflung. Sie schickten mich, diese Macht, die euch tyrannisiert, zu brechen."

Eine junge Dächsin erhob sich. "Warum glaubst du, du könntest überwinden, was niemand in diesem Wald bezwingen konnte. Denkst du, wir hätten nicht versucht, gegen diese Macht zu kämpfen? Wir haben keine Hoffnung auf Frieden mehr, Wolf aus dem Land hinter den Bergen. Wir werden noch kämpfen, bis wir zugrunde gehen und ins Land hinter den Sternen kommen."

Karak merkte, dass sein Plan zu verwirklichen, schwieriger war, als gedacht.

"Du hast gesagt, ihr habt keine Hoffnung mehr? Ich hatte auch keine Hoffnung mehr, als ich mich allein in den Bergen verirrte. Doch da traf ich auf diesen Raben, der mir die Höhle zeigte, in der die Geister wohnen. Ihr habt die Macht nicht brechen können, weil ihr es alle auf eure Weise versucht habt. Jedes Tier hat andere Eigenschaften. Jedes Tier ist auf seine Weise etwas Besonderes. Doch ein Tier allein, kann den Fluch nicht brechen. Wenn ihr jedoch alle zusammenhaltet, wenn ihr alle wieder eure Lebensfreude wieder findet, könnt ihr es schaffen, den Wald zu heilen."

"Zu heilen von einer Krankheit, über die wir nichts wissen, die nicht greifbar ist?"

Karak könnte nicht erkennen, von wem der Einruf stammte.

"Ja, genau das. Weil diese Krankheit nicht natürlich ist. Also müsst ihr alle eure Natur, eure Umgebung und euer Wissen einsetzen, um sie zu besiegen."

Karak ließ die Worte einen Augenblick lang wirken.

"Die Macht kann durch die Geister besiegt werden. Doch ihr habt den Glauben an die Geister verloren. Ohne glauben, können sie nicht arbeiten. Dabei sind sie immer da! In unserem Verstand, in unseren Herzen. Die Geister sind keine außerweltlichen Wesen, WIR sind die Geister. Alles was uns ausmacht, unser Charakter, unsere Hoffnung, unsere Träume, daraus bestehen die Geister."

"Kannst du das beweisen?"

Darauf hatte Karak nur gewartet. Er hob seine Vorderpfote, unter der er den Kristall verborgen hatte und schob den leuchtenden Stein in ihre Mitte.

Die Tiere wichen zurück. Ungläubigkeit spiegelte sich in ihren Augen.

"Ihr wisst, was das ist. Ihr könnte es spüren. Seit alle leise und horcht den Pflanzen."

Ein Rascheln durchdrang die Blätter in den Baumkronen. Die Bäume schienen plötzlich an Farbe zu gewinnen, zu atmen.

"Dieser Geist wäre längst von der Macht ausgelöscht worden, wenn ihr, nicht ich, sondern ihr in eurem tiefsten Herzen nicht noch an die Erlösung glauben würdet. Gibt es welche unter euch, die sich erinnern, wie es vor der Macht war?"

Die Reihe teilte sich, eine alte Bärin kam hervor.

"Als Junges habe ich dieses Gefühl gespürt. Ein Gefühl von Geborgenheit. Sicherheit. Ich wusste damals nicht, es zu erkennen, aufmerksam zu werden. Es war einfach immer da. Ich habe erst gemerkt, wie schön es war, als ich es nicht mehr hatte."

Sie atmete tief ein. "Riecht ihr das? Den Duft der Blumen? Hört ihr die Seele des Waldes, die aufatmet? Merkt, ihr, wie das Leben zurückkehrt?"

Die Tiere sahen sich um. Sie wirkten verstört. Dann hellten sich ihre Mienen auf.

Karak sprach nun etwas leiser, dennoch konnten ihn alle verstehen.

"Kein Tier ist es, das den Wald lebendig hält. Kein Tier schenkt uns Träume und Hoffnung. Das machen die Pflanzen. Sie sind der Ursprung allen Lebens, allem, was vor uns war und nach uns sein wird, allem, was uns ausmacht. Nun, wo die Geister wiederkehren, fangen sie wieder an, zu leben, nicht einfach nur zu existieren. Wollt ihr, dass es so bleibt, oder wollt ihr wieder euer Dasein fristen, wie Steine, ohne Gefühle?"

Die Tiere sahen sich an, tuschelten. Dann flogen die Vögel auf.

"Wir glauben an dich!", schwitscherten sie.

"Wir folgen dir."

"Wir hohlen unsere gestohlenen Träume zurück!"

"Wir werden die Macht besiegen."

Etwas glitt durch die Seelen der Tiere. Hoffnung. Glauben, an das Gute.

Karak sah auf den lebendiger werdenden Wald. Dachte an die Macht, die es zu bezwingen galt.

Nun ging es um alles. Entweder die Macht würde vertrieben, oder der Wald geht unter.

Während er sich langsam den anderen Tieren zuwandte, merkte er nicht, den kalten Schatten, der sich durch die Bäume schlängelte. Eine Ringelblume, die dem Schatten zu nahe kam, welkte, verlor ihre Blüten und verdorrte.

Die Armee der Schatten

Etwas verränderte sich, wie Karak es vorausgesagt hatte. Er hörte wieder Vögel singen und es schien, als würde sich die Macht durch die wiedergegebene Hoffnung zurückziehen.

Karak zweifelte. Konnte Glauben wirklich Wunder bewirken? Da gehörte noch mehr dazu! Er beschloss, wieder zu der toten Stelle zu gehen.

Schon auf großer Entfernung, merkte er, dass sich die Macht zurückgezogen hatte. Der Boden war immer noch trocken und fruchtlos, aber er schien sich zu erholen.

Mit traurigem Gefühl sah der Wolf auf die Reihen der abgestorbenen Bäume. Nur wenige fingen wieder an, grüne Blätter zu sprießen. Lange stand er dort und zögerte, bis er es endlich schaffte, sich zusammenzureißen und über die ehemalige Grenze zu gehen.

Nichts veränderte sich. Die Macht hatte sich anscheinend wirklich zurückgezogen.

Er sah Insekten über den Boden huschen. Es beruhigte ihn, aber sorglos war er immer noch nicht.

Karak ging weiter, bis er in einiger Entfernung die toten Bäume sah, deren schwarze Baumstämme wie dürre Gerippe in den farblosen Himmel ragten. Sie hatte sich zurückgezogen, da hatte er keinen Zweifel, aber war das ein Sieg oder nur ein kleiner Schritt zur Vernichtung?

Karaks Atem beschleunigte sich. Er würde Darika um Rat fragen müssen.

Der Wolf wandte sich von der Macht ab und lief zurück zur Höhle. Er fühlte sich beobachtet.

Konnte die Macht sich auch außerhalb des toten Waldes bewegen?

Karak verwarf sämtliche Gedanken diesbezüglich und lief los. Er bemerkte nicht das Rascheln in den Blättern hinter ihm.

 

Darika schüttelte tadelnd den Kopf.

"Karak, geh nicht wieder dort hin. Das ist zu gefährlich!"

"Die Macht hat sich zurückgezogen. Wir werden sie besiegen!"

Lion seufzte neben ihm. "Eine der wichtigsten Lektionen eines Jägers ist es, den Fang nie zu loben, bis er sich nicht zwischen den eigenen Zähnen befindet. Oder jagt dein Volk nach anderen Normen?"

Karak musste dem Fuchs Recht geben.

"Dennoch ist es ein Erfolg. Und er bringt Hoffnung. Wir sollten es den anderen sagen."

Er hielt inne und sah die beiden an. "Was ist?"

Darika legte den Kopf schief. "Ich habe ein ungutes Gefühl. Wir sollten uns wirklich nicht zu früh freuen. Die Macht sammelt ihre Kräfte. Sie hat ungeahnt Waffen. Der eigendliche Kampf steht uns allen noch bevor."

 

Es war in einer dunklen Neumondnacht, in der Karak unruhig wurde und beim besten Willen nicht einschlafen konnte. Er beschloss, sich ein wenig die Beine zu vertreten.

Der Wolf roch die klare, kalte Luft und sah in die Dunkelheit des Waldes. Er musste sich auf seine anderen Instinkte und seinen Impuls verlassen, um durch den Wald zu finden.

Karak schlug den Weg zum Bach ein und folgte dem plätschernden Lauf des Wassers. Fließendes Wasser hatte etwas Beruhigendes. Es leerte den Kopf von überflüssigen Gedanken und half, das Wesentliche zu betrachten.

Karak roch den Duft von Blumen und Harz. Er war in die Mitte des Waldes vorgedrungen, ein einsames Zentrum aus großen, jahrhundertealten Eichen, deren Blätter auf bei einem lauen Lüftchen zu rascheln schienen.

Wenn er doch nur die Sprache der Bäume verstehen könnte!

Karak lehnte sich an einen bemoosten Stamm und sah mit wachen Augen in die dunkle Nacht hinaus. An diesem Ort könnte man nie erahnen, was sich einen Vogelflug weiter zutrug. Aber Karak spürte ein Kribbeln in den Fellspitzen. Die Macht regte sich.

 

Sie lief durch den dunklen Wald. Sie lief, ohne Erschöpfung, ohne Geräusche, ohne Atem. Die Macht befahl, sie gehorchte.

Nach und nach folgten ihr ähnliche Gestalten. Aus allen Teilen der Berge, des Waldes und der näheren Umgebung in der Steppe. Überall, wo die Macht ihre Diener gefunden hatte. Und alle bereiteten sich vor.

Sie näherten sich dem Wald. Die Tiere waren nicht mehr so ängstlich. Und sie hatten einen Anführer.

Die Macht wusste, dass sie nicht alle Wesen des Waldes unter ihre Kontrolle bringen konnte. Aber den Wald würde sie beherrschen. Und dann kam die Welt...

Das Tier hielt an, als prüfe es die Luft. Der Geruch von Tod lag in der Luft. Von Blut. Vom endgültigen Kampf.

Die Armee der Schatten blieb stehen, sah auf den Wald herab, dann ergossen sie sich wie Pech über die Wipfel. Die Vögel flogen erschrocken auf, Blumen verwelkten, Gras verdorrte. Es wird auf beiden Seiten Blutvergießen geben. Aber danach würde das Geistige, das Lebendige, das Widerstandsfähige in den Tieren endgültig ausgelöscht sein. Dann würde der Wald der Macht gehören und ein neues Zeitalter wird anbrechen.

 

Lion riss ihn unsanft aus der Trance.

"Hier steckst du, verdammt, wir haben dich überall gesucht!"

Etwas verwirrt blinzelte Karak. "Was...was ist los?"

"Es hat begonnen?"

"Was?"

"Die Entscheidung."

Karak brauchte etwas, um die Wörter in seinem Kopf zuordnen zu können. Er sprang auf.

"Der Geist im Kristall wird schwächer. Und die Macht, sie hat eine...eine Armee aufgebaut."

Karak sah seinen Freund an, als hätte erden Verstand verloren.

"Die Tiere, die ihren Willen verloren haben! Sie wurden verflucht."

"Was ist mit ihnen."

"Sie sind nicht mehr lebendig. Sie tun alles, was die Macht ihnen befielt, sie werden alle, die sich nicht unterwerfen, töten."

Karaks Schädel pochte. Wo war er hier nur hineingeraten? Wie bei allen Geistern schaffte es die Macht, die Tiere gegeneinander aufzuhetzen. Und Warum?

"Ich muss zurück zum toten Wald."

"Was? Karak, das kommt auf keinen Fall in Frage."

"Ich muss herausfinden, was das ist, was es vorhat. Nur so können wir es besiegen."

Er hielt kurz inne.

"Wenn ich bei Sonnenuntergang nicht mehr zurück bin, sagt den anderen Tieren, sie sollen wegziehen und sich einen anderen Wald zum Leben suchen."

"Es heißt, die Schatten kämpfen nur bei Nacht!"

"Dann habe ich noch den ganzen Tag Zeit, sie aufzuhalten!"

Ohne auf den Protest des Fuchses zu hören, rannte Karak zurück zum toten Wald.

 

Darika kämpfte gegen den Schlaf an. Eulen sollten keine Tageswache halten! Aber die Umstände verlangten es von ihr ab.

Etwas regte sich im Gebüsch. Ihr Gefieder plusterte sich auf, als eine Häsin mit ihrem reglosen Jungen hervorkam.

"Wir...wir sind auf einen der Schatten getroffen. Ich glaube, er hatte sie Gestalt eines Eichhörnchens. Er hat ihn noch nicht einmal berührt..."

Darika sah sich den jungen Hasen an. Er atmete noch schwach. Die Schatten leiteten die Macht auf andere wesen über. Sie hatte schon viele erkrankte Bäume gesehen.

Der Hase hechelte.

"Wir brauchen Kräuter. Die geben ihm Kraft. Aber ansonsten kann ich kaum etwas für ihn tun."

Sie sah auf seine Geschwister, die mit angelegten Ohren im Gras hockten. "Katzenminze, Wachholder und Huflattich. Könnt ihr das besorgen?"

Eifrig hoppelten die Jungen los.

"Wartet! Bleibt zusammen. Sobald einer von euch etwas Seltsames merkt, und sei es nur ein Gefühl, kehrt sofort um!"

Sie sah zurück auf das schwächelnde Junge. Ihre eigene Müdigkeit verflog sofort. Sie spürte die Macht in ihm. Sie war nicht ganz so intensiv wie bei Karak. Er wird durchkommen.

Doch was war mit den anderen?

 

Der Wolf fühlte sich wieder verfolgt. Etwas war hinter ihm, noch lange bevor er den toten Wald überhaupt wittern konnte. Etwas Dunkles. Etwas, das ihm nach dem Leben trachtete.

Der Wolf legte zu. Er wusste nicht, was er unternehmen sollte. Aber untätig dasitzen und abwarten konnte er ganz sicher nicht.

Tote Blätter wehten ihm entgegen. Karak blieb stehen und prüfte die Luft. Sie roch fade und irgendwie verbrannt. Und noch nach etwas anderem, was der Wolf nicht definieren konnte. War es die Leere der Welt ohne Geister?

Langsam setzte er sich wieder in Bewegung. Hinter ihm raschelte etwas. Der Wolf fuhr herum. Nichts. Stille.

Sein Herz fing an, heftiger zu schlagen. Was, wenn etwas von der Macht hinter ihm war, ihn beobachtete und nur darauf wartete, zu zuschlagen?

Er verwarf diesen Gedanken schnell wieder und nahm den Weg wieder auf.

 

"Er kommt zu sich."

Das Hasenjunges blinzelte. Sein Blick schien verschleiert. Er hustete, wollte aufstehen, doch seine Beine knickten zur Seite. Seine Mutter drückte ihm ihre Nase in die Seite.

"Ruhig, mein Kleiner. Ruhig."

Darika hielt ihm ein gewölbtes Blatt mit Wasser hin. "Trink."

Das Junge gehorchte ohne mit dem Schwanz zu zucken.

"Was hast du gesehen?"

Er versuchte, sich aufzurichten, der Versuch misslang erneut.

"Es...es war plötzlich da...und..."

"Schschsch...ist ja gut. Atme erst einmal tief durch und dann erzählst du mir, was sich zugetragen hat. Von Anfang an."

"Wir...wir haben gespielt. Da hatte ich plötzlich so ein komisches Gefühl. Als ob etwas Totes in unserer Umgebung wäre. Ich habe es zuerst nicht beachtet. Doch dann wurde mir plötzlich so schlecht und so...so... Meine Geschwister haben nichts gemerkt. Ich dachte, das sei nur so eine Phase. Dann kam...es. Und ich konnte nicht mehr atmen. Das war etwas in mir, es war kalt. Eiskalt. Es fühlte sich an, als ob es meine Seele aufsaugen würde. Ich dachte, ich sterbe..."

"Kannst du dieses Etwas beschreiben?"

"Es sah aus wie ein Tier. Ein kleines Tier, ein Wiesel oder Eichhörnchen. Aber...es war nicht lebendig. Etwas umgab das Tier. Etwas Dunkles. Und alles war so kalt. Selbst sein Fell wirkte irgendwie grau. Und seine Augen.

Sie waren leer. Und dennoch war etwas in ihnen. Ich glaube, es war die Macht."

Seine Stimme war zum Schluss kaum noch zu hören. Darika spürte, wie sie zitterte, als sie aufsah.

"Das war ein Schatten. Es gibt Legenden, dass die Macht, wenn sie in ein Tier eindringt, ihm seinen Willen nehmen kann. Die Tiere verlieren die Kontrolle über Körper, Seele und Geist. Sie werden zu willenlosen Marionetten und können die Macht wie eine Krankheit übertragen."

Stille herrschte.

"Und was sollen wir gegen diese Schatten unternehmen?"

Darikas Augen verdüsterten sich.

"Sie bereiten sich gerade erst vor. Es wird zu einem Kampf zwischen den Schatten und den Tieren des Waldes kommen. Mit genügend Willensstärke kann man sie bezwingen. Jedenfalls sagt das die Prophezeiung."

"Und der Wolf? Es hieß, er würde uns erlösen, doch seit er da ist, ist es schlimmer geworden? Was kann der Welpe schon gegen die Macht unternehmen?"

"Nichts, wenn wir ihn nicht unterstützen. Und damit meine ich alle!"

 

Korax flog zurück zur Höhle der leuchtenden Steine. Er hielt es in diesem verfluchten Wald nicht länger aus. Der Kristall, den er mitgenommen hatte, um Karak zu retten, zeigte kaum noch Leben. Vielleicht war sein Geist auch schon lange gestorben oder zu schwach, um seine Macht auszuweiten.

Der Rabe segelte durch die Höhlen und atmete tief auf, als ihn eine sanfte, kühle Briese begrüßte.

Der Kristallwald funkelte wie eh und je.

Er setzte sich auf einen der größeren Säulen nieder und schloss die Augen.

Helft uns! Zeigt und, wie wir die Macht bezwingen können.

Bilder rasten durch seinen Kopf. Bilder, in denen Tiere gegen Schatten kämpften.

Sie kämpfen gegen Schatten!?

Es stimmte, die Schatten hatten sich materialisiert und schienen unerschöpfliche Kräfte zu besitzen.

Sie konnten nicht verwundet werden.

Die Klauen eines Adlers prallten an ihnen ab. Selbst der Schlag einer Bärentatze konnte ihnen nichts anhaben. Sie waren nahezu unbesiegbar.

Es musste andere Wege geben, sie zu töten.

Welche Wege? Zeigt es mir! Welche Wege?

Statt einer Antwort sah er wieder einzelne Schatten. Schatten in den Gestalten aller möglichen Tiere. Er sah Karak, der verwirrt und verängstigt wirkte.

Warum?

Weitere Bilder folgten.

Bilder aus Karaks Gedächtnis, der Tod seines Rudels, seine Reise durch die Berge.

Dann wieder Bilder von Schatten.

Einige Schatten sah er häufiger.

Dann verstand er.

Korax flog auf, ohne sich erst vollständig aus der Trance zu lösen. Er musste den Wolf warnen, wenn es nicht schon zu spät war.

Während er über die Wipfel segelte hatten die ersten Kämpfe bereits begonnen.

 

Auf einmal waren sie da. Um ihn, hinter ihn, überall.

Schatten, soweit er es beurteilen konnte.

Karak sah Umrisse, die immer wieder verschwanden und dann wieder auftauchten.

Sie hatten in etwa die Gestalt von Tieren.

Waren das die willenlosen Geschöpfe, die die Geister ihm in der Höhle der leuchtenden Steine gezeigt hatten?

"Ich weiß, dass ihr da seid! Zeigt euch!"

Seine Stimme zu hören stärkte ihn keineswegs, sie klang zittrig und furchtsam.

Nichts. Nun konnte er Gestalten ausmachen. Ein Marder, einige Rehe und Vögel. Sie schienen kein Leben mehr zu haben, nicht materiell zu sein, wie Nebel. Ihre Farben waren wie von einer grauen Schicht überzogen, matt. Sie schienen über den Boden zu schweben. Eisige Kälte ging von ihnen aus.

Warum griffen sie ihn nicht an?

Warum versuchten sie nicht, in ihn einzudringen?

"Was wollt ihr?" Seine Stimme klang nun gefasster.

"Den Wald." Die Antwort erzeugte ein schrilles Kreischen in Karaks Kopf. Die Stimme war telepathisch. Sie schien vielfältig, als hätten die Tiere allesamt im Chor gesprochen. Dennoch war es eine Stimme.

"Den Wald und alle, die darin wohnen."

Mit aller Mühe nahm Karak seinen Mut zusammen und stellte seine nächste Frage.

"Weshalb?"

"Das musst du nicht verstehen!" Plötzlich wurde die Stimme so schrill, das Karak vor Schmerz fast aufgejault hätte. "Wir brauchen diesen Wald. Wir brauchen euch nicht. Ihr könnt euch in Sicherheit bringen, aber mehr nicht. Geht jetzt!"

Karak keuchte. Heftige Kopfschmerzen plagten ihn. Dennoch gab er nicht auf.

"Weshalb?", wiederholte er.

Kälte erfasste ihn. Karak wurde schwindelig. Die Macht!

Die Stimme in seinem Kopf wurde leiser, unheimlicher. Sie klang hohl, fast wie Wind.

Ich sehe, du gibst nicht auf. Deshalb erfülle ich dir den Wunsch. Ich zeige es dir. Alles.

 

Korax taumelte im Flug. Für kurze Zeit verlor er die Kontrolle über seine Flügel und das Gefühl für oben und unten.

Er stürzte mehrere Flügelschläge tief, bis er seine Schwingen endlich ausbreiten und den Sturz abbremsen konnte.

Ungeschickt landete er auf den Wipfeln einer sich lichtenden Tanne. Grelle Punkte blitzten ihm vor Augen.

Etwas Dunkles schoss vom Himmel. Korax begriff sofort. Ein Schatten.

Der Rabe ließ sich durch die Tannenzweige fallen und bremste den Sturz erst kurz vor dem Boden ab.

Ruckartig änderte er den Kurs und hielt auf die Höhle zu, in der er den Kristall versteckt hatte.

Etwas raschelte unter ihm. Schatten! Er sah kleinere Gestalten unnatürlich schnell über den Boden huschen. Plötzlich klebte einer von ihnen an seinem linken Flügel.

Mit einem Aufschrei stürzte Korax zu Boden. Instinktiv schnappte der Kolkrabe mit dem Schnabel nach dem Schatten, obwohl ihm klar war, dass er so wenig ausrichten konnte.

Dennoch ließ das Geschöpf ab.

Der Rabe hatte keine Zeit, zu überlegen, flatterte auf und schlug mit der Kralle nach dem Schatten, den er mehr spürte als sah.

Die Kreatur schien vor Schmerz zu kreischen.

Etwas raschelte und der Schatten war verschwunden. Mit klopfenden Herzen stand der Rabe noch an dem Platz. Etwas Leuchtendes, Rotes auf dem Waldboden kam in sein Blickfeld. Hatte er sich verletzt?

Korax sah an sich herab. Er hatte einige Federn verloren, war aber ansonsten unversehrt. Konnte das Blut etwa von dem Schatten stammen?

Es fing an, zu dampfen. Der Tropfen löste sich in rötlichen Dampf auf.

Die Schatten waren verletzlich!

Seine Euphorie war nur von kurzer Dauer. Sie waren nicht nur verletzlich, sie hatten sich materialisiert. Sie hatten einen Körper. Und was einen Körper hatte, konnte töten.

Das Geheimnis der Macht

Karak keuchte. Etwas drang brutal in seinen Kopf ein. Nicht, wie vorher, um ihn zu beherrschen, sondern um ihm etwas zu zeigen.

Irgendetwas in ihm wusste, dass er es nicht sehen wollte.

Ich zeige es dir. Alles...

Das Geheimnis der Macht.

Der Grund, warum er überlebt hat.

Das, wogegen er kämpfen sollte.

Etwas drehte sich in ihm. Sein Blick verschwamm.

Komm in die Vergangenheit, ich zeige dir meine Geburt. Ich zeige dir, was ich bin. Und dann wirst du dir noch einmal überlegen, ob du diesen Kampf wirklich führen willst.

Karak gab jeden Widerstand auf und ließ der Vision freien Lauf.

Es waren die Menschen, die die Macht entstehen ließen.

Der zentrale Unterschied zwischen Mensch und Tier ist nicht die Gabe, Feuer zu entfachen, nicht das Lachen oder das Denken, wie Menschen oft behaupten. Menschen sind Tiere. Und in jedem Tier steckt auch ein Mensch. Den zentralen Unterschied bilden die Geister.

Vor undenklich langer Zeit war der Unterschied zwischen Menschen und Tieren noch nicht so enorm ausgeprägt wie heute. Die Menschen lebten nicht in ihren widernatürlich selbst errichteten Höhlen aus Stein, sondern in der Natur, im Einklang mit Pflanzen, Tieren und Geistern. Nur wenige Menschen haben dieses Leben beibehalten.

Als die ersten Menschen anfingen, sich von der Natur abzuschotten, waren sie noch Ausnahmen. Dann wurden es mehr. Nur wenige Menschen blieben noch in der früheren Lebensweise.

Doch auch die Menschen konnten nicht ohne Geister leben. Sie erfanden Namen für sie und begrenzten sie auf wenige Personen, um sie sich einfacher vorzustellen und zu verdeutlichen. Aber sie glaubten noch an die Geister. Sie glaubten an sie, auch wenn sie keine Namen für sie fanden. Tief im Herzen waren sie immer noch ein wenig Tier geblieben. So lange, bis die ersten Kämpfe zwischen ihnen anfingen.

Die Menschen machten sich unterschiedliche Bilder von den Geistern, oder Göttern, wie sie sie gerne auch nannten. Und einige von ihnen behaupteten, nur ihre Eigenen seien die Richtigen. In dem Moment, in dem die Menschen anfingen, für ihre Geister zu kämpfen, verloren sie sie. Und etwas anderes entstand. Die Macht.

Sie war das Gegenstück zu dem Leben, dem Tod und allem, was die Natur ausmachte. Sie war der Grund, warum die Menschen verlernten, mit Tieren und Pflanzen zu reden, warum sie vergaßen, dass sie selbst Tiere waren. Die Macht kam lange Zeit nur einzeln auf der ganzen Welt verstreut vor. Doch dann fing sie an, sich zu sammeln. Sie fing an, einen eigenen Willen zu entwickeln. Und sie setzte das fort, was sie erschaffen hatte:

Den Zerstörungswillen gegen das Natürliche. Den Todeswunsch aller Geister.

Mit jedem der Verbrechen, das die Menschen gegen die Natur und gegen ihre Artgenossen begannen, wuchs ihre Kraft. Mit jedem Zweifel, den Tiere und Pflanzen beschlich, steigerte sie ihre Kontrolle über sie. Und mit jedem Geist, den sie aus der Welt vertrieb bekam sie mehr Platz für sich, mehr Platz für die Leere, die Zerstörung, das Nichts.

Aus dem Nichts ist die Welt entstanden. Und zu Nichts wird sie werden. Alles endet damit, womit es angefangen hat. Ein Baum, der aus der Erde sprießt, wird zu Erde. Ein Fisch, den die Nährstoffe im Wasser wachsen ließen, wird diese Nährstoffe wieder an das Wasser abgeben, aus dem er geboren wurde. Auch die Welt ist nicht ewig. Anfang und Ende sind gleich. Das ist der Lauf des Lebens, das Gesetz der Natur.

 

"NEIN!!!"

Karak sprang auf. Die Schatten waren verschwunden. Er war allein.

"Das ist nicht wahr! Die Macht ist nicht unbesiegbar! Es gibt einen Weg!"

Nur sein Echo antwortete. "...einen Weg...nen Weg...n Weg...Weg...Weg...eg..."

"Es ist nicht wahr!", murmelte Karak mit weinerlich klingender Stimme.

Er sah in die Dunkelheit des Waldes. Leere. Absolute Leere.

"Es stimmt nicht!", versuchte er sich einzureden, er hörte jedoch seine eigene Stimme kaum.

"Es ist wahr, und das weißt du."

Die Stimme ließ Karak das Blut in den Adern gefrieren.

Er hatte sich so lange innerlich nach ihr gesehnt, doch nun, wo er sie hörte und wusste, was dahinter steckte, wünschte er sich, taub zu sein, um die schreckliche Erkenntnis nicht erfahren zu müssen.

"Mara?", hauchte er.

"Deine Lage ist aussichtslos, Bruder. Du weißt nicht, wozu diese Macht fähig ist." Die Stimme klang kalt. Leblos. "Innerhalb weniger Sonnenwanderungen wird der Wald wie du ihn kennst nicht mehr existieren."

Karaks Herz schien zu Eis gefroren.

"Du bist es nicht! Du kannst es nicht sein!"

"Dreh dich um und überzeuge dich selbst."

Nicht er, sondern die Welt schien sich zu drehen, als Karak sich langsam umwandte. Sein Herz klopfte immer noch gegen eine eisige Klaue an. Sein Verstand weigerte sich permanent, die Situation zu verarbeiten.

"Du hast dich verändert!", meinte sein Gegenüber nur.

"Nicht so sehr wie du."

Er starrte fassungslos den Schatten in Gestalt einer Wölfin an. Mara...der Schatten schien wie aus Eis gemacht. Durchsichtig. Ihre Pfoten sanken nicht in den weichen Waldboden ein, vielmehr schienen sie zu schweben. Die graubraune Farbe ihres Fells schien ausgebleicht, stumpf. Mara atmete nicht. Jedenfalls nicht, soweit Karak es erkennen konnte.

"Sag mir, dass das nicht wahr ist!"

"Was meinst du? Dass ich am Leben bin? Dass ich der Macht, wie du es nennst, diene? Dass ich dir gegenüber stehe als Feindin? Oder dass das alles hier kein Traum ist, aus dem du jederzeit aufwachen kannst?"
Karak wich zurück.

"Du bist kein Welpe mehr, Bruder. Du kannst dich nicht in Shurkas Fell kuscheln und hoffen, dass alles bald vorbei ist, dass die anderen es schon lösen würden."

"Sie waren auch deine Familie!", rief Karak plötzlich aus. "Sie sind gestorben, um uns beiden die Flucht zu ermöglichen. Wir haben zusammen gejagt, zusammen gespielt und gekämpft. Und nun stehst du vor mir und willst, dass ich alles vergesse, was hier geschieht. Dass ich meine Prophezeiung hinter mir lasse. Dass ich verschwinde und all diese Tiere im Stich lasse?"

Seine Worte schienen bei Mara keine Wirkung zu haben.

"Du kannst doch nicht alles vergessen haben!", schrie Karak nun verzweifelt.

"Ich bin nicht mehr die, die du mal gekannt hast. Die Macht ist in mir. Ich bin ein Schatten."

"Nein", hauchte der Wolf. "Ein Schatten würde sich nicht daran erinnern. Mag sein, dass du deine Persönlichkeit untergraben und die Macht in dich hinein gelassen hast, aber du bist kein ganzer Schatten. Jedenfalls kein normaler."

"Normal?" Sie sprach das Wort aus, als hätte sie es das erste Mal gehört. "Ist die Macht etwa normal? Ist dieser Wald normal? Ist mein jetziges Leben normal? Ist es normal, dass du dich wider alle Vernunft gegen etwas stellst, was zu groß ist, als dass du es je erfassen könntest?"

"Du erinnerst dich an mich, an dein früheres Leben. Etwas von meiner Schwester ist noch in dir. Wenn du mich hörst, Mara, ich werde dich retten. Ich werde alle retten."

"Oh ja, ich höre dich klar und deutlich. Aber deine aberwitzigen Welpenträume muss ich enttäuschen. Du kannst dich nicht gegen den Lauf des Schicksals stellen. Alles hat einen Anfang, alles hat ein Ende. Glaubst du wirklich, du bist stark genug, um dies zu verhindern?"

Karak bemerkte, dass er schwitzte. Sein Atem beschleunigte sich.

Mara lächelte.

"Du hast Angst. Angst vor mir, Angst vor der Macht, Angst vor der Zukunft, Angst vor deiner Aufgabe. Du hattest schon immer Angst davor. Nun ist es an der Zeit, dich deiner Angst zu stellen."

Ohne eine Vorwarnung sprang sie ihm an die Kehle.

 

Darika zuckte zusammen, als Korax durch das Gebüsch stolperte.

Er hatte etliche Federn verloren und schien zu humpeln.

"Was ist passiert?"

Wortfetzen drangen zu ihr durch.

"Die Schatten... können... Materie... Karak... Gefahr... er wird... sie können... töten... Geister... Höhle... ich..."

Darika beugte sich über ihn und drückte mit dem Schnabel an einen Nervenpunkt an Korax' Schläfe. Der Atem des Raben wurde ruhiger, sein aufgeplustertes Gefieder legte sich langsam wieder.

"Atme tief durch. Und nun erzählst du mir, was sich zugetragen hat. Ganz langsam, der Reihe nach."

"Darika!"

Die Eule seufzte innerlich. Das war Lion.

"Bitte nur, wenn es wichtig ist", knurrte sie.

Der Fuchs lief fast in sie herein. Im Maul trug er den Kristall.

"Der Geist, ich spüre ihn kaum noch. Und er gibt kein Lebenszeichen von sich."

Darika berührte den Kristall. Er leuchtete nicht mehr, war matt. Nur ganz schwach spürte sie ein Pulsieren.

"Was hat das zu bedeuten?"

Lion holte Luft, schwieg dann aber.

"Jetzt rede schon!"

"Es ist nur so ein Gedanke. Der Geist...ich glaube, er steht mit Karak in Verbindung. Und...wenn er nicht mehr leuchtet, muss ihm irgendetwas zugestoßen sein."

"Seine Schwester", keuchte Korax.

Darika und Lion drahten sich abrupt zu ihm um. "Was?"

 

Es war nur ein Scheinangriff. Dennoch konnte Karak sich erst in letzter Sekunde zusammenreißen und mit einem Ausfallschritt in Sicherheit bringen.

"Komm schon, du warst schon mal wendiger."

Mara griff erneut an. Karak duckte sich und rollte sich zur Seite. Das passte nicht zusammen. Es war zu leicht. Sie spielte mit ihm.

Ein Krallenhieb fuhr knapp an Karaks Ohr vorbei. Er hätte die Gelegenheit nutzen und ihr an die Gurgel fallen können, doch er wich zurück.

"Ich will nicht gegen dich kämpfen!"

Der Schatten, der einst seine Schwester gewesen war, lächelte hinterlistig.

"Ich weiß."

Sie sprang ihn erneut an.

Diesmal war die Attacke ernster. Karak rollte sich über den Boden weg, konnte einem Schlag gegen seine Schläfe jedoch nicht entrinnen. Er taumelte. In dem Moment sprang Mara auf ihn und warf ihn zu Boden. Karak versuchte, in ihre Pfote zu beißen, doch sie zog sie weg und hieb sie ihm ins Gesicht.
Karak zog die Beine an, um sie wegzustoßen, doch da sprang Mara von ihm herunter und stieß ihn so hart in die Seite, dass er mehrere Schwanzlängen über den Boden schlitterte.

"Ich kann mich nicht erinnern, mit einem Weichei aufgewachsen zu sein", höhnte Mara, während Karak sich ächzend aufrappelte.

Er hatte gerade einen einigermaßen festen Stand, als ihm etwas die Pfoten wegzog und er erneut auf der Seite in dem matschigen Boden landete. Schlamm drang in seine Augen. Er blinzelte. Während er versuchte, Halt zu finden und sich hochzustemmen, drückte seine Gegnerin ihn mit einer Pfote zurück auf den Boden.

"Du kannst es nicht." Ihre Stimme war kaum mehr als ein flüstern. "Du kannst mir nicht wehtun. Es ist nicht so, dass du es nicht willst. Du kannst es nicht!"

Karak schloss krampfhaft die Augen.

Es ist nicht deine Schwester, verdammt! Es ist ein Schatten! Deine Schwester ist tot. Sie ist es nicht. Sie ist es nicht!

Mara ging einige Schritte zurück und wartete, bis Karak die Kraft gefunden hatte, sich keuchend wieder aufzurichten. Ein Hustenkrampf schüttelte den Wolf, er hatte Erde in seine Lunge bekommen. Mit einer Pfote wischte er sich den Dreck aus den Augen, so dass er wieder einigermaßen klar sehen konnte.

"Das war nur ein kleines Spielchen. Sollen wir jetzt richtig kämpfen, oder willst du noch eine Aufwärmrunde?"

Karak wartete, bis er seinen Atem unter Kontrolle hatte. Langsam drehte er sich um, nahm Mara ins Visier und griff an.

Er setzte zu einem Sprung an. Wie er es erwartet hatte, duckte sie sich. Karak ließ sich genau auf sie fallen, spürte den Luftzug, mit dem sie sich zur Seite rollte und schnappte mit den Zähnen nach ihr.

Er verfehlte Mara um Zentimeter. Mit spielerischer Leichtigkeit sprang sie ihm auf den Rücken und warf ihn zu Boden. Karak gelang es, eine Pfote zu befreien und schlug nach ihrer.

Er traf ins Nichts.

Mit einem kaltherzigen Lachen ließ Mara von ihr ab.

"Wir haben zusammen trainiert, schon vergessen? Ich kenne deinen Kampfstil wie meinen eigenen. Ich weiß, wann du dich zurückziehst, wann du vorangehst. Aber wenn du glaubst, diese Kniffe bei mir anwenden zu können, liegst du falsch. Ich bin nicht mehr die, die du mal kanntest. Und dementsprechend bewege ich mich auch anders."

Karak brauchte wieder eine halbe Ewigkeit, bis er sicher auf den Beinen stand.

"Wenn ich dir einen guten Rat geben dürfte, verschwinde aus dem Wald. Du kannst hier nichts ausrichten."
Mit müdem Blick drehte er sich zu ihr um.

"Ein anderer Schatten hätte mich zerfetzt, du nicht. Etwas von meiner Schwester ist noch in dir. Da bin ich mir sicher."

Mara bleckte drohend die Zähne.

Karaks ganzer Körper schmerzte. Sie hatte Recht. Warum hatte er nur je gehofft, dieser Auserwählte zu sein, der die Macht vertrieb? Er war ein Nichts. Er war nicht mehr er selbst. Schon lange nicht mehr.

Ohne sich noch einmal umzudrehen ging Karak davon. Zum Waldrand. Ohne die Absicht, je wieder zurückzukehren. Er würde diesen Kampf sowieso nie gewinnen.

Ohne Hoffnung, ohne eine Vorstellung von Leben, ohne ein Ziel machte sich der einsame Wolf auf den Weg in ein neues Zuhause, um seine Prophezeiung und alle, die an ihn glaubten, hinter sich zu lassen.

Kleine Blume

Lion hechtete schon lange durch den Wald, immer der Fährte des Wolfes nach. Er kam näher an den Waldrand. Die Sonne war schon längst dabei, den neuen Tag einzuleiten und der Fuchs hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan.

Die Witterung wurde stärker. Soweit er wusste, war Karak noch nie so weit in den Wald hinein gegangen. Es bestand kein Zweifel mehr. Er wollte sie verlassen.

Der Fuchs blieb auf einer Anhöhe stehen und hielt Ausschau. Er konnte den Waldrand erkennen, wo nur noch einzelne Bäume standen und die Landschaft stufenweise in eine trockene Prärie überging. Er war nie an diesem Ort gewesen.

Lion sah den Wolf erst auf dem zweiten Blick. Er war nicht mehr der vor Tatendrang und Energie sprühende Jungwolf, der vor wenigen Sonnenwechseln in diesen Wald kam. Er wirkte plötzlich so kraftlos, erschöpft und einsam. Der Wolf ließ den Kopf hängen, hob beim Gehen kaum die Pfoten und ließ seine Rute im Laub hinter sich herschleifen.

"Karak!"

Er reagierte nicht.

"Karak, warte!"

Lion lief den Abhang hinunter und holte ihn ein.

"Du kannst nicht gehen."

Der Wolf hob nicht einmal den Kopf, um ihn anzusehen.

"Es ist deine Bestimmung. Du musst den Wald erlösen. Wir glauben an dich. Alle."

Keine Reaktion.

"Es ist schwer, ich weiß, aber wir werden dir helfen. Zusammen können wir..."

"IHR KÖNNT MIR NICHT HELFEN!", fuhr Karak ihn so laut an, dass der Fuchs zusammenzuckte.

Der Wolf sah ihn an. Sein sonst klarer Blick flackerte in einer Mischung aus Angst, Verwirrung und Fluchtwillen.

"Ihr könnt mir nicht helfen", wiederholte er diesmal leiser.

Lion spürte einen harten Stich im Herzen.

"Was ist passiert?"

Karak wandte sich von ihm ab und ging weiter.

"Du kannst mit uns über alles reden. Wir stehen immer an deiner Seite. Wir finden eine Lösung für alles, Karak. Wir...BLEIB VERDAMMT NOCH MAL STEHEN, WENN ICH MIT DIR REDE!"

Der Wolf verharrte, sah Lion mit müdem, unschlüssigen Blick an.

"Der Geist aus der Höhle, den Korax mitgebracht hat, stirbt, Karak. Die Schatten sind überall im Wald. Sie werden uns alle vernichten, wenn du nichts unternimmst. Einer von ihnen hat Korax angegriffen. Ich habe ihn noch nie so schwach gesehen."

"Das Einzige, was ich euch raten kann, ist die Flucht", meinte Karak tonlos.

"Erzähl mir doch wenigsten, was passiert ist."

"Das verstehst du nicht."

Lion knurrte. "Warum? Weil ich nur ein kleiner, unbedeutender Fuchs bin. Nur noch ein weiteres kleines Tier unter so vielen, um das sich der Wolf keine Gedanken machen muss, solange er noch seine Artgenossen hat? Oh ja, Wölfe und Füchse bleiben unter sich. Wenn du noch dein Rudel hättest, wären wir uns nie begegnet. Nur leider ist dein verdammtes Rudel tot und wir sind aneinander geknüpft. Also reiß dich zusammen und kehr um, wenn du irgendwann in deinem Leben noch mal so etwas wie Gemeinschaft haben willst!"

Lion war sich sicher, dass jeder andere Wolf ihm dafür das Fell abgezogen hätte, Karak blieb jedoch eine Weile stocksteif stehen und setzte sich dann langsam ins Gras. Sein Körper bebte.

Plötzlich taten ihm seine harten Worte leid.

"Karak, ich...ich hab es nicht so gemeint..."

"Doch das hast du." Er fuhr herum. "Für euch alle bin ich doch nur der kleine, dumme Welpe, der nicht einmal weiß, wie man einen Wurm aus der Erde gräbt. Das arme einsame Wölfchen, das sich so aufopfernd gegen das Unvermeidliche aufbäumt. Weißt du was: Ihr seid mir alle egal. Ihr könnt eure Probleme ruhig alleine aushandeln. Ich gehe! Und du gehst jetzt zu den Anderen und richtest ihnen aus, wenn sie die Macht loswerden wollen, sollen sie sich ein anderes zu Hause suchen! Aber nicht mit mir!"

Er wandte sich erneut um, ging jedoch nicht.

"Weißt du, wie es ist, alle verloren zu haben, die du liebst, zu wissen, dass du sie nie wieder sehen wirst? Wie es ist, auf sich allein gestellt zu sein? Und dann merkst du plötzlich, dass eine von ihnen überlebt hat, allerdings alles daran setzt, dich aufzuhalten. Du weißt, dass du nicht gegen sie kämpfen kannst, ohne dir selbst wehzutun. Ja, sie ist ein Schatten, vielleicht auch die Anführerin, aber sie ist immer noch meine Schwester. Und ich kann nicht gegen sie kämpfen. Verstehst du, ich kann es einfach nicht."

"Sie ist ein Schatten, Karak. Ein Dämon, der in den Körper deiner Schwester eingedrungen ist, um dich zu zerstören. Mara ist tot, verdammt. Sehe das endlich ein. Du kämpfst nicht gegen sie, du kämpfst gegen etwas Größeres, das deine Liebe zu ihr als Waffe benutzt. Deine Familie würde sich niemals..."

Mit einem wütenden Knurren drückte Karak den erschrockenen Fuchs zu Boden. Er bleckte seine Fänge dicht vor seiner Nase.

"Erzähle mir nichts von Familie", knurrte er. Seine Stimme klang dunkel und bedrohlich. "Du bist dein Leben lang Einzelläufer gewesen, du weißt nicht, was Familie bedeutet. Du weißt nicht, was Treue bedeutet. Wir leben in verschiedenen Welten, Lion. Wir werden nie auf einer Seite stehen können. Niemals."

Er ließ den Fuchs los, sah ihn eine Weile schwer atmend an.

Es dauerte lange, bis der unter Schock stehende Lion seine Sprache wieder fand.

"Ich...ich dachte, wir...wir beide wären...Freunde."

"Zwischen unseren Völkern hat es nie eine Freundschaft gegeben."

Mit diesen Worten machte Karak sich wieder auf seinen Weg.

Wut, Enttäuschung und Traurigkeit mischten sich in Lions Kopf.

"Dann geh doch! Wir brauchen dich hier nicht. Du warst uns sowieso nur eine Last. Verschwinde und lass dich nie wieder blicken!"

Ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen, verließ Karak den Wald und verschwand hinterm Horizont.

Lion trat den Rückweg an und fühlte sich elend.

 

Die unerwartete Wärme des Gebietes machte Karak zu schaffen, dennoch spürte er eine positive Veränderung. Geister.

Sie durchdrangen jeden Grashalm, jeden Stein. Sie waren um ihn herum verteilt, über ihm und in ihm.

Der Wolf atmete tief ein. Er roch den Duft von Pflanzen und verschiedenen Tieren. Einige davon kannte er nicht. Doch er würde sie schnell erblicken.

Schuldgefühle fingen an, an ihm zu nagen. War es richtig gewesen, den Wald im Stich zu lassen? Lion, der stets zu ihm gehalten hatte, so zu verletzen? Darika zu verlassen, ohne deren Hilfe er die Macht vielleicht nicht überlebt hätte. Korax, der wie ein treuer Freund war?

Karak schüttelte den Kopf. Es wurde Zeit, ein neues Leben anzufangen.

Er holte tief Luft, legte seinen Kopf in den Nacken und ließ sein lautes, melodisches Wolfsheulen über die Prärie hallen. Wie lange hatte er sich danach gesehnt?

Er lauschte. Nichts. Ob es hier keine Wölfe gab?

Vielleicht waren sie auch einfach nur zu weit weg. Karak setzte sich auf und lief weiter durch das hohe Gras. Ein neues Leben begann. Und diesmal würde ihn nichts aufhalten.

 

Kleine Blume wurde nicht, wie sonst, vom Sonnenaufgang geweckt. Es war ein Geräusch, wie sie es noch nie zuvor gehört hatte.

Ein sirenenartiges Heulen mit einem melodischen Summen unterlegt. Sie war fast traurig, als es jäh verebbte. Wenn es ein Tier war, dann eines, von dem sie nie gehört hatte. Die Weißen standen bestimmt nicht dahinter.

Das Mädchen rappelte sich auf und kam als eine der Letzten ins Lager. Weises Auge, der Medizinmann, empfing sie.

"Auch wenn es dir jetzt besser geht, solltest du dich noch ausruhen. Das Fieber war sehr stark und wirklich gesund siehst du noch nicht aus."

Kleine Blume hasste es. Der ganze Stamm behandelte sie mit Vorsicht, wenn ihr etwas zustieß. Dabei war sie schon vierzehn Sommer alt und bald schon eine Frau!

Es kam selten vor, dass Mädchen sich entschieden, Jägerinnen zu werden. Frauen waren beim Stamm allgemein dafür da, das Lager zu bewachen und Essen zu kochen, doch wurden Ausnahmen wie sie toleriert und in ihren Stärken unterwiesen.

Kleine Blume sah die arbeitenden Menschen um sie herum an. Jeder war dabei, irgendetwas zu tun.

"Danke, aber ich denke, es geht mir schon viel besser. Ich möchte nicht einfach nur irgendwie nützlich machen."

Weises Auge lächelte.

"Natürlich. Uns geht langsam das Feuerholz aus. Gehst du bitte und sammelst noch ein wenig? Du kannst ja deine Schwester mitnehmen und sie ein wenig in Pflanzenkunde unterweisen. Ein tüchtiges Mädchen, jedoch hat sie leichte Schwierigkeiten, sich Namen zu merken."

Kleine Blume nickte. "Danke, Weises Auge."

 

Schnelle Biene trug ihren Namen zu Recht. Mit ihren neun Sommern war sie erstaunlich leichtfüßig unterwegs. Geduld war eine ihrer Schwächen.

"Kleine Blume! Sieh mal, welch eine schöne Blume!"

"Warte!" Kleine Blume beeilte sich, zu ihr zu kommen. "Fass sie nicht an, diese Pflanze ist giftig."

Erschrocken zog Schnelle Biene ihre Finger zurück.

"Na ja, ich denke, vom Berühren wirst du nicht sterben."

Schnelle Biene warf ihr einen kurzen, ärgerlichen Blick zu und machte sich dann wieder ans Sammeln.

"Achte darauf, dass du nur trockenes Holz sammelst. Die Zeit der fallenden Blätter kommt immer näher."

"Kleine Blume! Hier...hier ist eine Spur!"

"Und, was ist es?"

"Ein...ein Hund, glaube ich. Aber ein enorm Großer."

Neugierig geworden lief Kleine Blume zu ihrer Schwester, um sich den Fund anzusehen. Die Spur sah aus, wie eine Hundespur, war aber etwa so groß wie die ausgebreitete Hand eines Kindes. Ein normaler Hund war das hier jedenfalls nicht.

"Was kann das sein?"

"Ich weiß es nicht. Hier kommt ja immer Großer Dachs auf der Jagd vorbei. Wenn wir ihn treffen, fragen wir ihn."

 

Der Fund der Kinder löste unter den Jägern große Aufregung aus. Großer Dachs, Leise Eule und Flussotter sahen die Spur nacheinander an.

Kleine Blume wurde langsam ungeduldig.

"Was ist es nun? Wir glauben, es sei ein großer Hund. Wenn er frei herumläuft, müssen wir ihn doch einfangen, oder?"

"Deine Vermutung, kommt unserem Verdacht schon sehr nahe", meinte Leise Eule, während er an der Erde roch. "Es könnte sich gut um einen Wolf handeln."

"Vielleicht ist es sogar einer der Grauwölfe aus den Wäldern", fügte Großer Dachs hinzu.

Die Mädchen sahen sich unschlüssig an.

"Ach ja, ihr habt noch nie einen Wolf gesehen, stimmt's?" Leise Eule gesellte sich zu ihnen.

"Wölfe sind die Urväter der Hunde. Einige wurden von den Menschen gezähmt, aber heute haben Wölfe und Hunde kaum noch Ähnlichkeiten miteinander."

Kleine Blume sah wieder auf die Spur. Sie hatte noch nie einen so großen Hund gesehen.

"Wisst ihr, Wölfe sind uns Menschen sehr ähnlich. Sie leben in Rudeln, eine Wolfsfamilie sozusagen."

"Warum war der hier dann alleine?", fragte Schnelle Biene.

"Wenn die Jungen alt genug sind, verlassen sie ihre Rudel und ein Eigenes zu gründen", erklärte Flussotter. "Eigentlich hat ein Wurf immer drei oder vier Junge, doch es ist gut möglich, dass dieser Wolf seine Geschwister verloren haben könnte."

"Wir sollten ihn finden", meinte Leise Eule.

"Sind Wölfe gefährlich?", fragte Schnelle Biene mit zittriger Stimme.

"Nicht viel gefährlicher als ein voll gefressener Bär, aber die Weißen sehen das anders. Sie waren damals um ihre Viehherden besorgt und haben die meisten Wölfe erlegt. Heutzutage trifft man in der Prärie selten auf einen von ihnen."

Die Jäger erhoben sich wieder.

"Ihr solltet mitkommen. Es gab hier in der Gegend seit langem keine Wölfe mehr. Der Rat muss entscheiden, was zu tun ist. Es ist unsere Pflicht, dieses Tier zu schützen. Und nebenbei werden wir euch dann noch ein wenig mehr über sie erzählen."

 

Alter Baum verschluckte sich fast an seiner Pfeife, als er das Wort "Wolf" hörte.

"Hier? Seit ihr sicher?"

"Es gibt keine Zweifel", bestätigte Leise Eule.

Der Dorfälteste sah den Jäger fassungslos an. Dann flog sein Blick zu den beiden Schwestern.

"Und die Mädchen haben die Fährte entdeckt?"

"Schnelle Biene war es", antwortete Kleine Blume.

Eine Weile schwieg Alter Baum und paffte einige Züge an der Pfeife. Sein faltiges Gesicht zeigte Freude und Nachdenklichkeit.

"Wir sollten das Tier erstmals in Ruhe lassen. Wenn ihr jedoch noch mehr von ihm hört, sagt mir unverzüglich bescheid."

 

Karak wusste längst, dass Menschen hinter dem seltsamen Geruch steckten. Dennoch empfand er keine Angst vor ihnen. Etwas war seltsam. Sie waren anders als die Menschen, denen er begegnet ist. Korax hatte ihm von kleineren Menschenrudeln erzählt, die noch nicht verlernt hätten, mit den Geistern zu sprechen. War dies eins dieser Rudel?

Karak wurde zunehmend nervös. Hinzu kamen sein knurrender Magen und die andauernde Gewissensbisse. Warum konnte er diesen verdammten Wald nicht einfach vergessen?

Endlich fasste er einen Entschluss und ging näher an die seltsamen Höhlen aus Fell heran, die die Menschen errichtet hatten. Schon von weitem stach ihm der Gestank von Feuer in die Nase. Es war nur ein kleines Feuer, über das eine seltsame Blüte hing, die nicht anfing zu brennen und im Licht glänzte. War das Stein?

An dem Feuer saßen zwei Weibchen, die sich in Menschensprache unterhielten. Eines von ihnen rührte mit einem Stock in dem Wasser, das in der Blüte brodelte herum.

Karak fragte sich unwillkürlich, was das zu bedeuten hatte. Nach einigem Beobachten sah er, wie andere Menschen Früchte, Kräuter und Fleisch mit tragbaren Krallen klein hackten und in die Blüte warfen. Das Weibchen am Feuer rührte permanent mit dem Stock in der Blüte.

Das Bild kam Karak irgendwie verrückt vor. Warum fraßen sie ihre Beute nicht sofort? Was hatte es mit dieser Blüte auf sich?

Nach einiger Zeit holte das Weibchen den Stock aus der Blüte und leckte die Flüssigkeit ab. Sie rief den anderen Menschen etwas zu, die sofort mit kleinen Schalen zu dem Feuer kamen. Allen voran die Jungen. Danach kamen die Weibchen und zum Schluss die Männchen.

Die Menschen hatten ähnliche Stöcker in der Hand, nur kleiner, mit denen sie das heiße Wasser und die Nahrung darin zum Mund führten.

Obwohl dieses Ritual für den Wolf ein wenig befremdlich war, faszinierten die Menschen ihn. Wie gut sie mit den ganzen Sachen umgehen konnten.

Karak schnupperte. In ihrem Geruch schwang Fröhlichkeit und Natur mit. Er war nicht wie der Gestank anderer Menschen, fast wie der von Tieren.

Karak sah zu einer Gruppe kleinerer Jungen, die zwischen den Höhlen spielten. Viele von ihnen hatten anscheinend gerade erst gelernt, auf den Hinterläufen zu gehen.

Stimmen waren zu hören. Auf einmal hielten alle Menschen inne.

Neugierig sah Karak auf. Aus einer der Höhlen kam ein altes Männchen auf einen Stock gestützt mit Vogelfedern im Fell und Haar. Das Kopffell des Männchens war weiß, nicht schwarz, wie das der anderen, und es hatte viele Falten im Gesicht. Ihm folgten einige Jäger und zwei Jungen.

Als das alte Männchen sprach, hörten alle plötzlich zu. Die Weibchen holten die spielenden Jungen zu sich und alle lauschten der Ansprache des Alten. Ob er der Rudelführer war?

Obwohl Karak nicht verstand, worüber die Menschen redeten, schlich er sich näher heran. Langsam konnte er die Gerüche der Menschen auseinander halten.

Kaum hatte der Rudelführer die ersten Sätze gesprochen, brach schon fast überall Tumult aus. Nur ein Männchen, das sich an Seilen Knochen und Federn um den Hals gehängt hatte, blieb ruhig. Als der Mensch aufstand hefteten sich alle Blicke an ihn. Auch er fing an, eine Ansprache zu halten.

Karak sah sich das Rudel genauer an. War dieser Mensch so etwas wie ein zweiter Anführer?

Die Diskussionen steigerten sich, bis der Rudelführer wieder seine Arme hob und Stille eintrat. Die Menschen redeten nun ruhiger.

Karak ging langsam näher, schnupperte neugierig an verschiedenen Gegenständen im Lager. Warum mussten die Zweibeiner nur eine so unverständliche Sprache haben?

Ein Ruf ließ ihn und das Rudel aufschauen. Das größere der beiden Jungen, das den Anführer aus der Höhle begleitet hatte, deutete mit der Pfote auf ihn und rief etwas.

Alle drehten sich und, die Jungen drückten sich an ihre Mütter. Sie schienen keine Angst vor ihm zu haben, eher so etwas wie Ehrfurcht. Genau das verstörte Karak.

Der Wolf trat die Flucht an.

 

"...es gab seit fast zwanzig Sommern keine Wölfe mehr in diesem Gebiet", rief eine Frau mit leuchtenden Augen.

Kleine Blume sah sich um. Die Kinder kannten wie sie Wölfe entweder nur aus Geschichten oder zupften Erwachsene an der Kleidung und fragten, was ein Wolf sei.

"...was ist mit den Weißen? Sie haben Angst vor Wölfen."

Alter Baum hob die Stimme. "Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Es könnte immer noch ein streunender Hund sein. Aber falls es wirklich ein Wolf ist, müssen wir ihn vor den Weißen schützen."

Stimmen hallten durch das Lager. Die Leute wurden erst wieder still, als Weises Auge sich erhob.

"Die Zeichen sind klar. Es gab genügend Anzeichen, dass ein verschwundenes Tier zurückkehren würde."

Kleine Blume sah über die Gesichter der Menschen. Die Erwachsenen hatten Freude in ihnen, die Jüngeren Neugier und Ehrfurcht, da sie noch nie einen Wolf gesehen hatten. Die Kinder wussten anscheinend nicht, wie sie darüber denken sollten.

Kleine Blume sah sich weiter um. Das ganze Lager hörte zu, etwas, was man nicht immer sah. Etwas Graues trat in ihr Blickfeld. Eine Gestalt.

Er stand am Rand des Lagers. Sein graues Fell wehte im Wind, kräftige Pfoten standen auf dem Fels. Am meisten fesselten sie seine Augen. Gelb wie Bernstein. Für ein Tier sehr klug. Und igentwie...menschlich. Es sah aus, als würde er sie studieren. Als würde er versuchen, eine Freundschaft zu ihnen aufzubauen.

Kleine Blume war wie hypnotisiert. Er wirkte so prachtvoll, so stolz, nicht wie Hunde und wunderschön.

Ihr Arm reckte sich in die Höhe. "Da...der Wolf. Er ist hier."

Alle wandten sich um und sahen das Tier an. Den kleineren Kindern fielen fast die Augen aus dem Kopf.

"Er ist wirklich da!", murmelte Leise Eule neben ihr.

Der Wolf legte seine Ohren an und bleckte die Zähne. Kleine Blume zuckte zusammen. Würde er sie nun angreifen? Doch dann wandte er sich um und lief weg.

"Was hatte er? Er wirkte so bedrohlich."

"Er hatte Angst!", antwortete Großer Dachs. "Wölfe haben eine unmissverständliche Körpersprache. Für die, die sie kennen ist es ein Kinderspiel, mit ihnen zu reden."

Ein kleiner Junge meldete sich. "Warum hatte der Wolf Angst? Wir tun ihm doch nichts."

"Wölfe sind scheu", erklärte Flussotter. "Für gewöhnlich meiden sie den Kontakt mit uns."

Lächelnd schob sich Weises Auge zwischen die Kinder. "Immer mit der Ruhe. Ich weiß, dass ihr aufgeregt seid. Großer Dachs, Flussotter und Leise Eule werden euch heute abend alles über Wölfe erzählen, was sie wissen. Es sind kluge und starke Tiere. Und es ist ein Segen, dass die Götter diesem Tier den Weg zurück gewiesen haben. Wir sollten den Wolf weiter beobachten."

Die Zeichen der Götter

"Kleine Blume, warte!"

Sie drehte sich um und legte ihren Finger auf die Lippen.

"Willst du den Wolf suchen?", fragte Schnelle Biene. Sie nickte. Die Jäger hatten die Kinder mit Wissen über Wölfe regelrecht voll gestopft. Kleine Blume war sich sicher, dass sie die Hälfte wieder vergessen hatte, aber sie konnte nicht bleiben.

"Großer Dachs hat gesagt, Wölfe sind Rudeltiere. Meinst du, er fühlt sich sehr einsam?"

"Ich fürchte schon", sagte Kleine Blume. Sie konnte es kaum erwarten, den Wolf noch einmal zu sehen. Vielleicht konnten sie sogar Freunde werden.

"Hier haben wir die Spur entdeckt!" Schnelle Biene kniete sich hin und strich mit den Fingern vorsichtig das welkende Gras bei Seite. "Sie führt zum Lager. Anscheinend hat er uns eine Zeit lang beobachtet."
Als sie nachsahen, merkte Kleine Blume, wie an einer Stelle nahe des Lagers das Gras eingedrückt war. Sie hob graue Fellhaare auf.

"Hier hat er gelegen, bevor ich ihn entdeckt habe." Sie roch an den Haaren. Das Fell duftete nach Bäumen und Moos. "Ich glaube, er kommt aus dem Wald."

Schnelle Biene sah ihre Schwester erschrocken an. "Der Wald ist verflucht."

"Irgendeinen Grund muss es ja haben, dass er weiter gezogen ist."

Schnelle Biene nickte. "Vielleicht hat ihn der Fluch krank gemacht. Dann braucht er unsere Hilfe."

Kleine Blume zögerte. Sie versuchte sich an all die erschreckenden Geschichten zu erinnern, die sie von dem Wald gehört hatte. Ein böser Dämon sollte dort sein Unwesen treiben und die Tiere quälen. Ihr Stamm mied es, zu nah an den Waldrand heranzutreten. War der Wolf vor dem Dämon geflohen?

"Die Spur führt zu den Felsen." Sie sah auf den Horizont. "Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es, vor Sonnenaufgang dort zu sein."

 

Die Mädchen folgten der Spur. Als sie die grauen Steinriesen aus dem Gras hervorragen sahen, dämmerte es bereits.

"Hier müsste irgendwo eine Höhle sein", meinte Schnelle Biene, während sie um den Fels ging und mit der Hand über den rauen Stein strich.

"Vielleicht beobachtet er uns schon. Wölfe haben starke Sinne."

"Da oben, ein Loch!"

Kleine Blume folgte dem Finger ihrer Schwester. Die Höhle müsste für einen kräftigen Wolf mit Leichtigkeit zu erreichen sein. Sie inspizierte den Fels. Krallenspuren waren zu erkennen.

Sie legte ihre Hände ineinander, damit Schnelle Biene ihren Fuß hineinstellen kann und hob ihre Schwester hoch. Schnelle Biene fand schnell Halt und zog sich über das Sims.

Eine Zeit lang fiel kein Wort.

"Schnelle Biene!"

Als Antwort erschien der Kopf ihrer Schwester. Wortlos streckte sie ihr die Hand entgegen und zog sie hoch.

"Er ist hier", hauchte Schnelle Biene.

Aus dem Schatten weit hinter ihnen am Ende der Höhle löste sich die Gestalt eines Wolfes.

 

Karak hätte Angst haben sollen, als die beiden Menschen in seine Höhle kletterten. Doch etwas an ihnen kam ihm vertraut vor. Etwas an ihnen unterdrückte seinen Fluchtinstinkt.

Das kleinere der Jungen drehte sich zu ihm um, während das andere wie erstarrt stehen blieb. Ob es Angst vor ihm hatte?

Das kleinere Junge kam näher. Karak stutzte, als es sich vor ihm niederließ und zu ihm aufblickte. Die Geste der Unterwerfung, die Respektanzeige an einen Rudelführer. Wollte das Junge mit ihm reden?

Karak ging vorsichtig auf die beiden Menschen zu. Er zögerte. Etwas in ihm zog sich zu den beiden hin. Nun kam auch das größere Junge heran. Dies war fast schon ausgewachsen, schien aber ebenfalls nicht viel Erfahrung zu haben. Auch das größere Junge ließ sich auf alle viere fallen.

Warum behandelten die beiden Menschen ihn, wie einen Rudelführer? Sie waren keine Wölfe, auch wenn sie ihm vom Wesen her ähnlich waren. Was wollten sie ihm sagen?

Das kleinere Junge hob den Blick. Ihre Vorderpfote glitt zu etwas, das ihr um den Hals baumelte. Karak erschauderte. Es war ein Kristall, wie die in denen die Geister Kraft tankten.

Das Weibchen sah ihn unverwandt an.

Freunde?

 

Kleine Blume ließ den Wolf nicht aus den Augen. Auf einmal wirkte er gar nicht mehr so scheu wie vorhin. Er kam näher an Schnelle Biene heran, beschnupperte sie. Plötzlich fing er an, mit dem Schwanz zu wedeln und um die Kinder herum zu springen. Als begrüße er einen Artgenossen.

"Was ist los?", hauchte sie zu ihrer Schwester.

Schnelle Biene zeigte ihr den Anhänger. Sie hatte den Kristall als Neugeborenes von der Amme Geschenk bekommen. Kleine Blume wusste schon immer, dass etwas Magisches an ihm haftete.

"Ich kann ihn dadurch verstehen. Irgendwas ist mit dem Kristall. So können wir reden. Nicht deutlich, aber wir können reden."

Kleine Blume sah den Anhänger nachdenklich an. "Woran kann das liegen?"

Der Wolf kläffte. Schnelle Biene runzelte die Stirn. "Er sagt etwas von einem...einem Geist, der in dem Kristall wohnt. Soweit ich es richtig verstehe."

"Ein Geist? Was meint er damit?"

"Ich glaube, für ihn ist das so etwas wie ein Gott."

Der Wolf fing an, winselnde Geräusche von sich zu geben. Schnelle Biene schien verwirrt.

"Ich glaube, er will mir irgendwas erzählen. Etwas von einem Wald und von Geistern. Aber...ich verstehe ihn nicht."

Kleine Blume kniete sich neben ihre Schwester und berührte den Stein.

Ihr Zweibeiner...Menschen...ihr gut...nicht böse. Rudel verloren. Lange keine Geister mehr. Im Wald...keine Geister. In Stein ist Geist. Geist aus Höhle.

Die Schwestern sahen sich nachdenklich an. "Was meint er?"

Schnelle Biene zuckte mit den Schultern.

"Mich nennt man Schnelle Biene. Das ist Kleine Blume. Meine Schwester. Wir sind vom Stamm. Du warst in unserem Lager. Wir Menschen. Du Wolf."

Ich verstehen...ich verstehen. Ihr nette Menschen. Ihr glaubt an Geister. In Wald keine Geister. Deshalb ich weg.

Sie verstanden immer noch nicht, was der Wolf ihnen mitteilen wollte.

"Du bist ein Wolf", sagte Kleine Blume deutlich. "Wir sind Menschen. Wir freuen uns, dich zu sehen, Wolf."

Karak, kläffte der Wolf. Mein Name Karak.

 

Weises Auge warf die Knochenwürfel noch einmal und verglich das Ergebnis mit der Feuchtigkeit der Erde und dem Stand der letzten Sterne am Himmel. Es bestand kein Zweifel, die Zeichen waren eindeutig. Aber das alles klang so...seltsam.

Alter Baum gesellte sich zu dem Schamanen. "Was sagen die Runen, Weises Auge?"

"Sie erzählen von dem Wolf. Und von dem verfluchten Wald."

"Sollte er aus dem Wald kommen, wird dies mit Sicherheit Konsequenzen für den Stamm mit sich ziehen."

"Warte." Weises Auge atmete den Rauch der Pfeife ein und blies ihn über die Würfel. Er runzelte die Stirn.

"Die Götter wollen uns etwas über den Wald mitteilen. Etwas von seiner Erlösung. Und dass der Wolf sie bringen wird. Und noch etwas Anderes. Aber das kann ich nicht entschlüsseln."

"Die Erlösung? Wir wissen noch nicht einmal, was genau den Wald befallen hat. Und soweit ich verstehe, soll der Wolf die Erlösung bringen."

Weises Auge hob den Blick zum Horizont. "Die Zeichen der Götter sind vage, aber unmissverständlich. Etwas steht dem Stamm bevor. Und dem Wald, aus dem der Wolf kam. Es könnte sein, dass er ein Bote ist. Was auch immer dahinter steckt, ich habe das Gefühl, wir werden auch noch eine Rolle in dieser Sache spielen."

 

Es bestand kein Zweifel. Nicht für ihn.

Aus dem Nichts ist die Welt entstanden. Und zu Nichts wird sie werden. Alles endet damit, womit es angefangen hat. Anfang und Ende sind gleich. Das ist der Lauf des Lebens, das Gesetz der Natur.

Ein Geistesblitz hatte ihn auf diese Idee gebracht. Die Macht hatte sich selbst verraten. Menschen hatten sie erschaffen. Alles endet damit, womit es angefangen hat. Anfang und Ende sind gleich. Mit den Menschen hatte die Macht angefangen, mit ihren Zweifeln. Nur Menschen konnten sie aus der Welt vertreiben.

Doch wie sollte er es diesen beiden Jungen erklären?

"Es ist etwas, was Geister vertreibt. Der Wald stirbt dadurch. Ihr müsst helfen!"

Sie schienen ihn immer noch nicht zu verstehen.

Der Wald ist krank?

"Ja."

Braucht er ein Heilmittel?

"Er braucht euch! Ihr müsst helfen!"

Karak sah keine andere Wahl. Er berührte mit der Nasenspitze den Kristall am Hals des kleineren Junges. Die Geister konnten Bilder anscheinend besser übermitteln als Worte.

Er schickte ihnen Bilder vom Wald, seine Erinnerungen, die Prophezeiung, die Angst der Tiere im Wald, die Worte der Macht und seine eigenen Gedanken. Er ließ die ganze Geschichte noch einmal im Kopf ablaufen und übertrug sie auf die beiden Menschen.

Sie verstanden es langsam.

Er zeigte es ihnen noch einmal.

Ihre Augen weiteten sich. Nun hatten sie die Situation erfasst.

 

Es war bereits Mittag, als Weises Auge die nächste Vision erhielt.

"Sie sind dem Wolf gefolgt. In den verfluchten Wald. Anscheinend wollen sie den Fluch brechen."

Wilder Fluss, einer der Jäger, der dem Ritual beiwohnte, meldete sich zu Wort.

"Wir sollten sie nicht im Stich lassen. Sie sind noch Kinder. Und wenn ihr Schicksal das unseres Stammes wird, müssen wir ihre Aufgabe zu der unseres Volkes machen."

Alter Baum brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

"Mut ist wichtig für die Menschen, Wilder Fluss, aber nur in Maßen. Dennoch gebe ich dir Recht. Wir können die Mädchen weder mit ihrer Prophezeiung allein lassen, noch sie daran hindern, dem Hilferuf des Wolfes zu folgen. Eins ist klar, wenn einer geht, müssen wir alle gehen. Und damit meine ich den ganzen Stamm."

Ein Raunen lief durch die Versammlung. Wolke Die Am Himmel Schwebt, eine alte, erfahrene Frau stand auf.

"Wenn der Wolf uns diese Botschaft zukommen ließ, müssen die Götter im Spiel sein. Wir sind ihre Kinder und haben die Pflicht, ihre und unsere Welt zu schützen, wo es in unserer Macht steht."

Alter Baum nickte. "Wolke Die Am Himmel Schwebt hat Recht. Wir müssen alle gehen. Auch die Mütter mit den Kindern. Es wird für uns alle eine neue Erfahrung sein. Am Sonnenuntergang brechen wir auf. Schickt Rauchzeichen hoch, die den Kindern sagen, dass sie warten sollen. Wir werden diesen Wald erlösen, so ist es der Wille der Götter."

 

Kleine Blume sah zu den Rauchzeichen. "Sie haben eine Botschaft der Götter erhalten. Sie werden uns folgen, um zu helfen den Wald zu erlösen."

Karak stupste seine menschlichen Freunde an und knurrte.

"Nicht zu viele Menschen im Wald. Tiere werden unzufrieden. Sie nicht kennen gute Menschen, die reden mit Geistern", übersetzte Schnelle Biene.

Kleine Blume dachte einen Augenblick nach. Sie konnte ihren Stamm nicht einfach im Stich lassen. Aber sie vertraute dem Wolf. Er kannte den Wald.

"Ich denke, wir sollten Karak trauen. Die Götter haben nur uns zwei zu ihm geführt. Und er kennt den Wald besser als wir. Wir sollten schnell gehen."

"Wir müssen ihnen eine Nachricht schicken", meinte Schnelle Biene.

Sie nahm ein Stück Leder aus einer Tasche und brach einen Kreidestein von der Wand ab. Schnell schrieb sie eine kurze Botschaft in leichten Schriftzeichen.

"Meinst du, ich kann mit dem Stein einen Vogel rufen, der ihnen die Botschaft überbringt?"

"Wir sollten es..."

Karak trat an den Stein und ließ ein kurzes, lautes Heulen ertönen. Es hallte über die Landschaft. Wenige Augenblicke später flatterte zwitschernd ein bunter Vogel herbei, dessen Namen Kleine Blume nicht kannte.

Schnelle Biene band die Botschaft am Bein des Vogels fest. "Es gibt immer wieder Dinge im Tierreich, die dem Menschen auf alle Zeit ein Rätsel bleiben werden."

 

"Folgt uns nicht. Der Wolf hat uns allein bestimmt. Er weiß, was gut ist", las der Junge vor, der den Vogel abgefangen hatte.

Alter Baum und Weises Auge sahen sich nachdenklich an.

"Sie wissen, wovon sie reden", sagte Weises Auge schließlich. "Tiere lügen nicht. Wölfe sind weise. Wir sollten sie ziehen lassen, aber wir behalten den Wald im Auge."

Ein machtvoller Stein

Karak musste immer wieder anhalten, da seine menschlichen Freunde zu langsam und zu schnell erschöpft waren. Kleine Blume hatte Schnelle Biene für eine Zeit lang sogar auf dem Rücken getragen. Karak wurde langsam ungeduldig. Wer wusste, wie viel Zeit ihnen noch blieb, wie lange die Tiere und der geschwächte Geist in Korax' Kristall die Schatten noch aufhalten konnten?

Er prüfte die Luft. Nicht weit weg von hier befand sich ein Bach. Die Jungen mussten sich ausruhen.

Schwanzwedelnd wies er ihnen den Weg.

 

Die Hitze machte den beiden Schwestern zu schaffen. Kleine Blume fragte sich, ob Karak eigentlich ihre Gedanken lesen konnte, als er sie zu dem Bach führte.

Sie setzte ihre Schwester vorsichtig ab, schöpfte mit der hohlen Hand Wasser aus dem plätschernden Bach und hielt es ihr an den Mund.

"Sind wir...sind wir schon im Wald?"

Kleine Blume schüttelte den Kopf. "Wir machen erst einmal eine Pause. Ich bin auch müde. Und ich glaube Karak spürt es, wenn uns etwas fehlt. Er sorgt sich um uns, wie um sein eigenes Rudel."

Schnelle Biene richtete sich auf und beobachtete den Wolf, der durch das hohe Gras streifte und anscheinend nach Beute Ausschau hielt.

"Glaubst du, wir können diesem Wald helfen?", fragte sie. "Ich habe keine Vorstellung davon, was wir ausrichten könnten."

"Ich glaube, das hat er auch nicht. Aber er glaubt an uns. Er fragt nicht nach, er nimmt das Schicksal entgegen und stellt sich ihm." Kleine Blume seufzte. "Wenn wir doch nur ohne Zaubersteine mit ihm reden könnten. Ich bin mir sicher, er würde uns einige ernste Lektionen beibringen."

Karak kam mit einem frisch erbeuteten Kanninnchen zurück.

 

Korax beobachtete, wie die letzten Blüten im Wald langsam dahinwelkten. Er sah zu dem Kristall. Es war unmöglich festzustellen, ob der Geist noch lebte oder nicht.

Mutlos richtete er seinen Blick auf den grauen Himmel. Die Wärme der Sonne kam nicht durch. Die Tiere konnten aufgrund der Schatten kaum noch ein Auge zu tun.

"Komm zurück, Karak!", murmelte er kraftlos. "Bitte komm zurück!"

 

Die Mädchen brauchten einige Zeit, bis sie es schafften, ein Feuer zu entzünden und das Kanninnchen zu braten. Karak machte sich über die Innereien und einen Teil des Fleisches etwas abseits des Feuers her.

Kleine Blume nahm einen Streifen Fleisch vom Feuer.

"Der ist durchgebraten. Du musst etwas essen."

Schnelle Biene nahm es dankbar entgegen. Ihre Schwester hatte mit den Jägern auf ihren Lehrstunden schon einige Nächte im Freien verbracht, für sie war das jedoch neu.

Wie sich Schnelle Biene auch anstrengte, sie konnte keine Ruhe finden.

"Es ist die erste Nacht im Freien, das ist normal. Morgen wirst du dich schon sicher fühlen."

Ja, morgen.

Das Feuer war weitgehend heruntergebrannt und Kleine Blume schon im Schlummer. Schnelle Biene fror. Sie stand auf und näherte sich Karak.

Der Wolf hob kurz den Kopf, als sie sich näherte und sich zu ihm setzte.

"Bei dir fürchte ich mich nicht so sehr." Sie kraulte den Wolf hinter den Ohren und schmiegte sich an ihn.

Keine Angst. Ich passe auf. Wölfe beschützen alle Jungen. Auch von fremden Rudeln.

Schnelle Biene lächelte. "Musst du nicht auch schlafen?"

Ich wache auf, wenn Gefahr kommt. Bei Nacht sind meine Ohren immer wach. Ich brauche nicht viel Schlaf.

"Wir scheinen uns immer besser zu verstehen."

Das liegt am Geist. Er hat Übung. Tiere und Menschen sprechen unterschiedlich. Wir reden wenig. Ihr viel. Er muss sich erst gewöhnen.

Kleine Biene nahm den leuchtenden Kristall zwischen ihre Finger. Etwas schien sich darin zu bewegen. "Meinst du, ich kann mit ihm reden?"

Geister reden immer. Zu jedem. Du musst nur lernen, zuzuhören.

"Dir haben sie doch auch eine Botschaft geschickt. Durch ein Gefühl?"

Ja. Und durch Bilder. Ich war bei einem anderen Kristall mit vielen Geistern. Im Wald ist auch noch ein Kristall mit nur einem Geist. Doch der Geist ist schwach wegen der Macht. Deiner ist jünger und stärker.

"Woran spürst du das?"

Die Pflanzen. Sie strahlen in seiner Umgebung mehr Leben aus. Geister schützen Pflanzen, geben ihnen Energie.

"Können die Pflanzen reden?"

Weiß nicht. Aber denken und fühlen tun sie wie wir. Sie sind nur empfindlicher. Deshalb sind die Geister bei ihnen. Ich weiß nicht, ob sie Pflanzensprache übersetzen können. Aber ich glaube, auf ihre Weise reden sie auch.

Schnelle Biene drehte den Stein in der Hand. Ob der Geist ihre Gedanken lesen konnte?

Bevor sie sich weiter darüber Gedanken machen konnte, schlief sie ein.

 

Kleine Blume träumte. Sie lief durch einen dunklen Wald. Etwas verfolgte sie. Waren das diese Schatten?

Die Bäume versperrten ihr plötzlich den Weg. Sie drehte sich um, als etwas auf die zuschnellte...

Keuchend wachte sie auf. Karak leckte ihr energisch über das Gesicht.

Immer noch mit wild klopfenden Herzen schob sie ihn bei Seite.

Er stupste sie an.

"Was ist?"

Schnelle Biene. Sie wacht nicht auf.

Schlagartig war Kleine Blume wach. Sie rollte sich zu ihrer Schwester.

"Schnelle Biene! Wache auf. Bitte, sag etwas!"

Ihre Stirn war heiß. Sie schwitzte. Ihre Augenlider zuckten, als wolle sie blinzeln. Ihre Lippen bewegten sich schwach. Sie hatte Fieber.

Schnell schöpfte sie mehrere Handvoll Wasser aus dem Fluss und hielt sie Schnelle Biene an die Lippen. Schwach schluckte sie.

"Was hat sie nur?"

Sie ist zu jung. Sie war nicht abgehärtet, hat sich nicht richtig gewärmt. Sie hätte am Feuer bleiben sollen.

Kleine Blume holte aus ihrem Gepäck eine Schale hervor und erwärmte etwas Wasser darin. Sie schnitt das verbliebene Fleisch so klein wie möglich und gab es hinzu.

"Du verstehst mich, nicht wahr? Sie braucht Früchte. Beeren. Die geben Kraft. Kannst du welche suchen?" Sie hielt den Kristall fest umklammert während sie zu Karak sprach.

Der Wolf schnupperte, scharrte kurz mit den Pfoten in der Erde und schnupperte wieder. Dann lief er los. Kleine Blume wusste, dass er sie verstanden hatte.

Sie legte den Kristall auf Schnelle Bienes Stirn. "Hilf ihr, Geist. Hilf ihr."

Der Stein begann zu leuchten, der Geist zu arbeiten.

 

Karak hatte es tatsächlich geschafft, in der Prärie, die er kaum kannte, einige vitaminreiche Beeren und Samen aufzutreiben. Er kam mit mehreren Büscheln im Maul wieder, während Schnelle Biene langsam ihre fiebrigen Augen aufschlug. Kleine Blume gab die Beeren zu ihrer Suppe und hielt ihrer Schwester einen Löffelvoll hin.

"Du musst etwas essen."

Sie nippte an dem heißen Wasser und schluckte schwer. Kleine Blume hielt ihren Kopf, um sie beim Schlucken zu unterstützen.

"Ich..."

"Nein, du darfst nicht sprechen. Du musst dich schonen."

Karak stupste sie an. Sie will sagen, sie braucht Kräuter. Hat Medizinmann über Schulter geschaut.

Irgendwie übermittelte der Wolf ihr Bilder der notwendigen Pflanzen.

"Ich weiß, wo sie zu finden sind."

Kleine Blume holte noch mehr Decken hervor und wickelte Schnelle Biene darin ein.

"Du musst auf sie aufpassen. Ich bin gleich zurück. Lauf nicht weg."

Keine Sorge. Wölfe beschützen alle Jungen. Sie wird sicher sein.

Kleine Blume war schon auf dem Weg zu den Kräuterwiesen.

 

Sie durfte nicht ohnmächtig werden. Sie mussten weiter ziehen. Unbedingt.

Du musst schlafen. Du darfst nicht laufen. Niemals. Du musst dich schonen. Geist wird helfen.

Sie spürte das leichte Pulsieren auf ihrer Brust. Der Stein fühlte sich warm an. Allerdings hatte sie nicht das Gefühl, als ob der Geist ihr half.

Er erforscht deinen Körper. Muss Krankheit erkennen. Dann er heilt dich.

Karak redete ihr immer weiter zu, doch seine Worte drangen nicht in ihr Bewusstsein. Gestern noch war ihr Leben geregelt gewesen, nun war sie mit ihrer Schwester und einem Wolf auf dem Weg, einen Fluch zu brechen und kämpfte gegen ein hohes Fieber an.

Kleine Blume zurück! Kleine Blume zurück!

Sie spürte, wie ihre Schwester sich neben sie kniete und ihr erneut einen Brei, dessen Geschmack sie nicht identifizieren konnte, einflößte. Etwas Warmes durchdrang sie. Es fühlte sich an, als würde ihre Lebenskraft zurückkehren.

Geist wieder stärker. Träger stärker. Geist kann dich heilen.

Schnelle Biene fiel in einen tiefen, sanften Schlaf.

 

Kleine Blume trug ihre Schwester in den Armen und hatte das ganze Gepäck einschließlich zweier Wasserschläuche und einem neuen Vorrat an Heilkräutern in den Rucksack auf ihren Rücken gesteckt oder dort angebunden.

Karak versicherte ihr immer wieder, dass Schnelle Biene im Heilschlaf war. Dass sie wieder aufwachen würde. Dass der Geist im Stein sie gesund machen würde.

Sie hatte trotzdem Sorgen. Sie überlegte sich, ob sie zurück zum Stamm gehen sollten, aber sie wusste nicht, wie sie es dem Wolf erklären sollte. Er hatte all seine Hoffnung in sie und ihre Schwester gesteckt.

Wald da. Ich kann ihn riechen. Wir sind angekommen! Der Geist wird den Wald retten.

Kleine Blume sah zu dem Waldrand. Etwas Kaltes ging von ihm aus. Die Bäume waren krank. Sie merkte es schon auf wenige Meter. Sie waren krank und würden bald sterben, wenn sie den Dämon nicht vertrieben. Und dann würde der Dämon sich die Prärie vornehmen.

Kleine Blume atmete tief ein und machte den ersten Schritt zwischen die Bäume.

 

Etwas geschah mit dem Geist. Etwas griff ihn an. Er wurde schwächer. Schnelle Biene spürte dies genau.
Was war das?

Ihr wurde kalt. Es war keine gewöhnliche Kälte, sondern ein Schauer, der das Leben selbst zu gefrieren schien.

Der Dämon. Die Macht.

Sie waren im Wald.

Etwas beobachtete sie.

Etwas regte sich.

Überall im Wald.

Sie spürte es.

Es folgte ihnen.

Es nahm sie ins Visier.

Es war etwas Dunkles.

Es war kein Lebewesen.

Es war ein Schatten.

Während sie blinzelnd die Augen aufschlug, vermehrte sich der Schatten. Andere kamen hinzu. Es waren hauptsächlich kleine Tiere. Ab und zu auch Größere, die Schnelle Biene nicht identifizieren konnte.

Karak sträubte das Fell.

Kleine Blume druckte sie fester an sich.

Der Geist schwächelte.

Karak rückte näher an die Mädchen.

Der Geist pulsierte nur noch schwach.

Etwas griff nach ihnen.

Unnachgiebich.

Die Schatten griffen an.

 

Durch die welkenden Bäume erhob es sich in die Wipfel. Über den Wald. Es durchfuhr jedes Tier, jede Pflanze. Alle Tiere, die sich noch nicht in Schatten verwandelt hatten, sahen auf und folgten mit dem Kopf dem melodischen, sirenenartigen, volltönigem Heulen.

Darika, die gerade dabei war mehrere angeschlagene Tiere aufzupäppeln, hob überrascht den Kopf. Korax blinzelte schwach. Lion sah mit leuchtenden Augen zum Waldrand.

"Er ist zurückgekehrt. Ich wusste, er würde wiederkommen."

Im toten Wald, wo noch der größte Teil der Schattenarmee auf ihren Kampf wartete, hob der Schatten in Gestalt einer Wölfin den Kopf.

"Du bist zurückgekehrt, Bruder. Nun wird sich alles entscheiden."

Sie gab den verbliebenen Schatten das Zeichen, auszuschwärmen.

Der Beginn des Kampfes

Etwas Kaltes griff nach Kleine Blume. Sie taumelte. Im letzten Moment drehte sie sich im Fall, um Schnelle Biene mit ihrem Körper aufzufangen. Sie legte das Mädchen am Boden ab, stand auf und sah sich hektisch um.

Die Schatten.

Das mussten sie sein!

Aber es waren Tiere!! Kleine Blume sah sich um. Jedenfalls hatten sie die Gestalt von Tieren, wenn sie auch unheimlicher und machtvoller wirkten. Was war hier nur los?

Sie kamen einzeln auf sie zu. Etwas griff nach Kleine Blume. Sie keuchte auf. Das war es. Der Dämon. Die Macht. Was auch immer! Es vertrieb ihre Gedanken, schwappte wie eine eisige Welle durch ihren Körper und schien sich wie eine eisige Klaue um ihr Herz zu schließen.

Ihr wurde schwindelig.

Verschwommen sah sie, wie Karak auf einen der Schatten zusprang.

Etwas Unglaubliches geschah.

Kleine Blume hatte bisher angenommen, dass Schatten keine Masse hatten, dass sie wie Nebel waren.

Diese hier waren definitiv nicht aus Nebel.

Der Schatten, ein Vielfraß oder Dachs von enormer Größe, sprang auf die Hinterpfoten und schleuderte den jungen Wolf mit einem Prankenhieb zu Boden.

Karak war sichtlich genauso überrascht wie sie.

Mit einem schmerzerfüllten Aufjaulen landete er dumpf auf dem Boden.

Kleine Blume wollte zu ihm, stemmte sich hoch, war schon halb aufgerichtet, als etwas sie am Hinterkopf traf und sich ihr Blickfeld auf einen winzigen Punkt im Dunkeln zusammenzog, der von einem endlosen, schwarzen Loch verschluckt wurde. Kurz bevor die Dunkelheit sie verschluckte, nahm sie ihr Jagdmesser aus dem Gürtel und schlug damit dach dem Schatten. Er löste sich in Luft auf.

 

Korax krallte sich an Lions Schulter fest, der allen voran durch die Büsche preschte. Die Vögel waren ihnen schon lange voraus geflohen. Je mehr der Rabe von diesem Ereignis sah, desto mehr fühlte er sich wie in einem bizarren Traum.

Es kam zur Schlacht!

Alle Tiere des Waldes, selbst Hasen, Igel und Insekten, zogen gegen die Schatten ins Feld. Wie viele Gegner sie haben würden, mit was für Kräften sie ihnen entgegentraten und was bei einem Sieg mit der Macht geschehen würde, keiner machte sich darüber Gedanken. Allein die Jungtiere waren am Waldrand am Fuß der Berge geblieben.

Korax sollte zuerst bei ihnen bleiben, doch nicht alle Geister der Welt konnten ihn aufhalten. Oder die anderen Vögel.

"Wenn wir mitten im Gefecht sind, gibst du das Zeichen und ihr startet Aktion Kristall", rief Lion ihm zu. Der Rabe duckte sich in das flammenfarbene Fell des Fuchses.

"Was sollten wir tun, wenn sich die Macht dennoch weiter ausbreitet? Was, wenn sie auf einige von uns übergreift?"

Lion schwieg einen Moment. "Im schlimmsten Fall folgen wir immer noch unseren Herzen und tun das, was für uns richtig erscheint."

Immer mehr Tiere schlossen sich ihnen an. Der Vogelschwarm über ihren Köpfen schien nie zu versiegen.

"Haben deine Freunde in den Bergen uns die Unterstützung bestätigt?"

"Sie stehen auf unserer Seite."

"Dann mögen die Geister uns beistehen."

 

Karak wusste, dass nur eines sie retten konnte.

Was war nur mit diesen Schatten los?

Die Macht ging in die Offensive.

Zähne und Klauen schnappten nach ihm. Karak schlug mehrmals blind um sich, traf kaum jemanden.

Vier Schatten in Gestalt einer Schlange, eines Dachses und zweier Wildkatzen nahmen ihn in die Mangel.

Karak schlug mit den Hinterkrallen nach einer der Katzen, während sich die Schlange schwer um seine Beine schlang. Ohne zu überlegen, biss er zu.

Karak hörte Knochen knacken. Sie waren verletzlich!

Bevor er sich wieder aufrichten konnte, hatte der Dachs ihn mit einem übernatürlich starken Schlag zur Seite geschleudert. Hufe traten nach ihm. Karak biss die Zähne zusammen, als er einen stechenden Schmerz in der Seite spürte. Etwas hing an seinem Nackenfell, etwas an seinem Hinterbein und etwas am Schwanz. Er sah nur noch einen Ausweg.

Karak ließ sich mit aller Kraft in die Luft schnellen, drehte sich im Sprung auf den Rücken und begrub die Schatten unter seinem Gewicht. Etwas stach ihm in den Rücken, Knochen knirschten. Der Wolf brachte sich mit einer Rolle wieder auf die Pfoten.

Nur kurz darauf wurde er wieder von allen Seiten angegriffen.

Ein grelles Licht schleuderte sämtliche Schatten in seiner Umgebung bei Seite. Etwas durchfuhr die Luft. Ein warmer Wind zerzauste Karaks blutbespritztes Fell.

Es war Schnelle Biene. Irgendwie hatte sie sich aufgerappelt. Ihr langes, dunkles Kopffell wehte in dem Wind. Sie hielt den Stein in die Höhe. Das Licht strömte von dem Anhänger durch die Bäume. Die Schatten flohen. Wenn sie nicht rechtzeitig in Deckung gingen, lösten sie sich auf. Aus heiterem Himmel. Karak glaubte, Seufzer zu hören, als ein Schatten neben ihm im Licht aufging. Die Seelen der geknechteten Tiere konnten endlich Ruhe finden und in das Land hinter den Sternen reisen.

Genau so plötzlich, wie es gekommen war, erlosch das Licht. Schnelle Biene fiel keuchen zu Boden. Sie hielt den Kristall immer noch in der Hand. Ein kleines Licht schien in ihm zu glimmen. Wie ein Glühwürmchen. Es pulsierte, wie von dem Schlag eines Herzens.

Kleine Blume richtete sich neben ihr mühsam auf. Sie war am Kopf verwundet. Die große Steinklaue in ihrer Hand war bei dem Aufprall auf dem Boden zerbrochen.

Karak ging mühsam zu ihr und leckte vorsichtig über die Wunde. Sie streichelte ihm dankbar das Fell.

Es ist noch nicht vorbei. Ich spüre es. Der Kampf brennt jetzt erst aus.

 

Die Schatten erwarteten sie bereits.

Wären sie noch richtige Wesen mit Gefühlen und Gedanken gewesen, wäre der Ansturm der Waldtiere glatt über sie hinweggefegt. Doch sie schienen auf alles vorbeireitet.

Korax versuchte, Näheres zu erkennen, doch er sah nur umherwirbelnde Schatten und die Tiere. Viele von ihnen lagen schon tot am Boden.

Sie töteten also wirklich.

"So können wir nichts machen. Sie werden es merken!"

In Lions Augen funkelte ein übernatürlicher, magischer Glanz.

"Gegen das, was ihr vorhabt werden sie nichts ausrichten können. Der Plan bleibt."

Die Vögel schwirrten auf die Schatten herab. Ihre spitzen Schnäbel waren tödlich. Lion beobachtete, wie mehrere Schatten sich in Luft auflösten, sobald einer der Vögel in sie einschlug.

Korax breitete die Flügel aus.

Eichhörnchen, Marder und alles, was noch wendig auf Ästen war, sprangen von den Bäumen auf die Feinde herab. Sie nahmen Unmengen an Ästen, Blättern und Nüssen mit.

Den Moment der Verwirrung nutzte Korax, um aufzufliegen.

Sämtliche Vögel schlugen im Sturzflug um und folgten ihm.

Im Flug sah er auf die Tiere herab, die noch aus dem Wald rannten, um ihre Artgenossen zu unterstützen. Sie waren wie eine unaufhaltsame Macht, die sich wellenartig über die Lichtungen ausbreitete. Korax flog dicht über die Wipfel der Bäume. Es war ihm, als würden sie aufatmen.

Er stieg steil nach oben. Ein lautes Zwitschern, Rascheln und Flügelschlagen folgte ihm. Die Berge kamen in Sicht. Steinböcke, Gämsen und andere Felsentiere sprangen hinunter ins Tal, als sie den Schwarm sahen. Auch die Vögel in den Bergen erwarteten sie bereits.

 

Ein Vibrieren ließ die Schatten aufschauen. Die Dinge hatten eine unerwartete Wendung genommen. Doch sie waren den Waldbewohnern immer noch zahlenmäßig weit überlegen. Alle sahen zu der Wölfin, die mit geschlossenen Augen über ihre Pfoten die Nachrichten aus dem Boden aufnahm und verarbeitete. Schließlich gab sie das Zeichen.

"Nun wird sich alles entscheiden." Sie lief als Letzte los und schlug einen anderen Weg ein. Sie würde den Wolf stoppen, koste es was es wolle.

Einer von ihnen würde diese Schlacht nicht überleben. Die Dämmerung hatte eingesetzt. Es war Vollmond.

Diese Nacht würde alles entscheiden.

 

Karak führte die Mädchen in schnellem Tempo durch den Wald. Er horchte, wie die Blätter der Bäume anfingen, zu rascheln. Zu atmen. Zu leben.

Mit einem Kläffen spornte er die Menschenjungen zur Eile. Der Geist wurde langsam schwächer. Er musste unbedingt noch leben, wenn sie die Quelle erreichten.

Sie betraten den toten Wald.

Karak spürte es wie einen Schlag und auch seine menschlichen Freunde fühlten die unheimliche Kraft, die sich wie ein Stein auf sie legte und das Atmen schwer machte.

Karak blieb stehen. Sämtliche Sinneseindrücke sagten ihm nichts mehr. Er musste sich voll und ganz auf sein Gespür verlassen.

Es war wie ein Netz. Die Macht breitete sich im Radar um einen bestimmten Ausgangspunkt aus. Er versuchte, sie zu spüren. Er fühlte die Entfernung zur Grenze. Der Boden trug die Vibrationen von laufenden Tieren zu sich. Durch die Erde spürte er das Leben des Waldes und konnte abschätzen, wo es aufhörte.

Karak hatte den Kreis erfasst und wusste nun ungefähr, wo er sich befand. Sie müssten der Richtung folgen, um weiter zur Mitte zu gelangen.

"Ich weiß, wo das Zentrum ist!", ließ er die Menschenjungen über den Kristall wissen. "Ihr müsst den Geist dorthin bringen und ihn an der Stelle freilassen, damit er seine Kräfte entfalten kann."

Wie machten wir das?

"Ihr müsst euren Herzen folgen. Ich führe euch jetzt zum Zentrum."

Zielstrebig hielt er auf die Mitte des toten Waldes zu. Er bemerkte nicht, wie sich der Schatten an seine Fersen heftete.

 

Weises Auge ließ den Stamm anhalten, als sie am Waldrand angekommen sind.

Der Schamane ging an den Bäumen vorüber, berührte einige von ihnen und lauschte. Doch den Wald betrat er nicht.

"Es ist etwas im Gange. Etwas, das sämtliche Lebensformen in der Umgebung betrifft. Den Dämonen in diesem Wald gibt es wirklich."

"Greift er uns an?", fragte Alter Baum.

"Wohl erst, wenn wir diesen Wald betreten. Doch der Kampf ist schon in vollem Gange. Die Tiere kämpfen gegen ihn."

Weises Auge schüttelte den Kopf. Er konnte die Sprache des Windes, der Pflanzen und sogar der Steine verstehen, doch was nun vor sich ging, übertraf seinen Verstand.

"Ich glaube, die Dämonen haben den Wald angegriffen. Ich spüre die Götter hier nicht. Wenn sie hier sind, dann nur in hauchdünner Präsenz. Und ich kann mir nicht vorstellen, wie sie hier etwas ausrichten wollen."

"Was ist mit Kleine Blume und Schnelle Biene? Sind sie im Wald?"

Weises Auge schloss die Augen. "Ich kann sie spüren. Aber...sie sind mitten im Geschehen. Ich weiß nicht, was sie dabei verloren haben, aber sie scheinen die Götter und die Tiere zu unterstützen."

Alter Baum schwieg.

"Was gedenkst du zu tun?"

Der Älteste sah mit müden Augen zwischen die Bäume. "Hier sind Dinge am Werk, die unser aller Fassungsvermögen bei Weitem überschreiten." Er blickte über die versammelten Männer und Frauen seines Stammes.

"Wir gehören zu der Natur. Und dieser Wald gehört zu unserer Welt. Wenn der Kampf dort ausbricht, der unser aller Schicksal, in welcher Weise auch immer, bestimmen wird, können wir uns der Verantwortung, die wir den Göttern gegenüber haben, nicht entziehen. Ich werde hinein gehen und die Welt im Kampf gegen diesen Dämon unterstützen. Wer mit mir ziehen will, soll mir folgen, doch kann jeder, der sich fürchtet, umkehren und weiterhin ein friedliches Leben führen, ohne Schande auf sich zu ziehen. Vielleicht werden wir dabei alle vernichtet, doch wenn dies der Wille der Götter ist, so werde ich ihn befolgen. Wer folgt mir?"

Zögerlich traten die ersten Jäger hervor. Dann einige der Frauen. Nach und nach kamen Jugendliche hinzu, die kaum Erfahrungen hatten. Es wurden immer mehr. Schließlich stand der ganze Stamm vor seinem Anführer. Alter Baum lächelte.

"Ich bin stolz, ein Volk wie dieses zu führen, das sich keiner Herausforderung entzieht. Auch wenn einige von euch nie einen Bogen in die Hand genommen oder sogar nie das Lager verlassen haben, steckt in jedem einzelnen Menschen hier das Herz eines Kriegers, der seine Welt verteidigen wird. Stellen wir uns der Aufgabe, die die Götter uns auferlegt haben. Bringt die Kinder an einen sicheren Ort. Und dann folgt mir. Wir werden vielleicht nichts ausrichten können, aber wenn ihr alle später einmal Kinder und Enkelkinder auf euren Schößen sitzen habt, könnt ihr ihnen voller Stolz erzählen, dass ihr dem Schicksal nicht freien Lauf gelassen habt, sondern ihm mutig entgegen getreten seit."

Jubel brach aus. Die Menschen verteilten Äxte, Speere und Pfeile unter sich. Einige der Krieger erklärten den Jungen und Frauen kurz einige wichtige Streich und Kniffe, mit denen man Angreifer erledigen konnte. Dann ging der Stamm geschlossen ins Feld. Jeder von ihnen wird mit einer oder mehreren Adlerfedern geschmückt wieder herauskommen.

Geister und Schatten

Lion sah wie in Zeitlupe den Schatten auf sich zukommen.

Er war in seinem früheren Leben augenscheinlich so etwas wie ein Wiesel gewesen, doch genau konnte er seine Rasse nicht mehr bestimmen.

Der Schatten flog geradezu über den Waldboden.

Lion versuchte, die aufkeimende Panik in ihm zu unterdrücken, indem er langsam und ruhig durch die Nase ein- und ausatmete.

Er sah die kleinen, aber scharfen Krallen des Schattens blitzen.

Mit einem Mal ging es ganz schnell.

Lion sah nur noch einen verschwommenen Schemen, bevor sich die Zähne wie Felsspitzen in seine Schulter gruben. Der Schmerz ließ ihn aufjaulen. Für kurze Zeit verlor der Fuchs die Besinnung. Erst als er etwas Spitzes an seiner Kehle spürte, schlug er mit den Krallen zu.

Er traf den Schatten am Rücken, schien allerdings nur zu erreichen, dass er in seinem Biss für den Bruchteil eines Augenblickes verharrte. Diese Gelegenheit nutzte der Fuchs und warf ihn um. Mit den Pfoten drückte er ihn fest auf den Boden und schlug mit ausgefahrenen Krallen zu.

Einem echten Tier hätte dieser Streich die Kehle zerfetzt, bevor es ihn überhaupt bemerkt hätte. Doch der Schatten riss seine eigene Pfote hoch, blockte den Schlag ab und befreite sich aus dem Griff.

Sein Gegner ließ nicht locker.

Lion spürte wie das Wesen unter seinen zuschnappenden Zähnen hindurchhuschte. Sogleich bekam er mehrere schmerzhafte Krallenhiebe über die Schnauze.

Tränen schossen ihm in die Augen. Der Schatten schleuderte sich ihm entgegen. und warf ihn zu Boden. Es war nur ein plötzlicher Impuls, der Lion dazu veranlasste, die Schnauze zu senken, um mit dem Gebiss den Angriff auf seinen ungeschützten Hals abzuwehren.

Lion hörte die Beinknochen des Schattens knacken. Sogleich fuhr er hoch und landete mit seinem vollen Gewicht auf den Rippen seines Gegners.

Der Schatten spuckte etwas, das wie Blut aussah, bevor er sich in schwarzen Rauch auflöste.

Bevor Lion auch nur einen winzigen Moment zum Verschnaufen bekam, griff der nächste Schatten an.

 

Leise Eule beschattete die Augen mit der Hand, um einen besseren Blick zu haben.

"Es sieht so aus, als kämen sie von den Bergen. Es sind Vögel, aber von verschiedenen Arten. Sie haben etwas in ihren Schnäbeln. Etwas Leuchtendes. Ich kann es von hier aus nicht erkennen."

Alter Baum runzelte die Stirn. "Was mag da nur vorgehen? Dieses Verhalten ist für Tiere alles andere als normal."

Grünes Moos Auf Schwarzen Stein griff seinen Speer fester. "Da muss der Dämon im Spiel sein. Ich habe das Gefühl, dass wir hier nicht hergehören. Das ist nicht unser Kampf!"

Zustimmendes, ängstliches Gemurmel erhob sich aus den Reihen des Stammes.

Ein junger Mann schrie plötzlich auf. "DA! DA IST WAS!"

Weises Auge wusste, was es war, bevor er sich komplett umgedreht hatte.

"Es sieht aus wie ein Hirsch."

"Das ist kein Hirsch", hauchte der Schamane, ergriff sein Zeremoniemesser und schleuderte es nach dem Schatten.

Übernatürlich schnell sprang das Wesen aus der Schusslinie und preschte auf die Menschen zu. Mit einem Tritt seines Hufes stieß er einen der älteren Jäger zur Seite. Um ihn herum bildete sich eine Blutlache und er stand nicht mehr auf. Ein Sirren ertönte. Ein Pfeil schoss auf den Hirsch zu und durchbohrte die Stelle, unter der das Herz lag. Der Dämon, oder was es auch immer war, löste sich in Luft auf.

Eine junge Frau drängte sich durch die Menschen. Tränen standen in ihren Augen. Schluchzend fiel sie vor der Leiche zu Boden.

"Vater, Vater! Bitte."

Eine der anderen Frauen gesellte sich zu ihr. "Heller Stern, es tut mir leid. Er ist tot."

Zitternd erhob Heller Stein sich wieder. In ihren Augen standen Schmerz und Wut.

"Ob dies unsere Aufgabe ist oder nicht, wir werden gegen diese Dämonen kämpfen. Und wenn wir alle sterben." Sie zog das lange Messer aus ihrem Gürtel. "Diesen Preis zahle ich gerne für die Götter!"

Eine Weile stand sie noch schwer atmend in dieser Position. Dann nickte Alter Baum.

"Lasst uns weiterziehen."

 

Karak hatte das Zentrum der Macht erreicht. Sein Orientierungssinn spielte ihm niemals Streiche. Und sein Gefühl auch nicht.

Sein Pelz fühlte sich unnatürlich heiß an, während die Kälte der Macht bis in sein Knochenmark vorgedrungen war. Sein Blick schien verschleiert und Nase und Ohren fühlten sich an, als seien sie mit Staub verklebt.

Durch Scharren über den trockenen, grauen Waldboden machte er Kleine Blume und Schnelle Biene auf die Stelle aufmerksam.

"Der Kristall muss hier hin. Ich hoffe, so wird der Geist die Macht vertreiben."

Es dauerte eine Weile bis der geschwächte Geist die Aufforderung in die Menschensprache übersetzt hatte. Schnelle Biene sah müde und mitgenommen aus, als sie den Anhänger abnahm und den Stein auf die von Karak markierte Stelle legte.

Zuerst war es nur ein Glimmen. Dann brach ein Lichtstrahl aus der Erde.

Ehrfurchtsvoll traten die Menschenjungen und der Wolf zurück. Das Licht breitete sich aus, wurde heller, als würde es ein Loch in die Erde reißen. Wie eine Säule stiegen die Strahlen nach oben in den Himmel.

Karak blinzelte, um zu erkennen, was geschah. Das Licht, schien die Erde aufzulösen. An der Stelle, wo der Anhänger lag, hatte sich ein tiefes Loch gebildet.

Karak und die Menschen beugten sich über den Rand. Eine raue Felswand führte hinab in ein Labyrinth aus Felswänden, Schluchten und Bergen. Etwas glühte dort unten. Heißer Dampf stieg herauf.

Karak ging einen Schritt zurück. Was auch immer das dort unten war, es war kein Ort, an dem sich ein vernünftiges Tier aufhalten sollte.

Stattdessen stupste er auffordernd die Kinder an.

Sie sahen sich an. Kleine Blume sagte etwas in Menschensprache, das Karak wegen der Entfernung zum Stein nicht verstand. Schnelle Biene nickte. Sie machten sich daran, herabzusteigen.

Ein tiefes Knurren forderte Karaks Aufmerksamkeit.

"Ihr werdet nicht dort hinunter gehen!", grollte der Schatten, der einst Mara gewesen war, und sprang auf die Menschen zu.

 

Der Vogelschwarm verdunkelte die Sonne am Himmel. Korax fühlte sich berauscht, wie Teil eines unbesiegbaren Wesens, das nun hinter ihm flog. Krähen, Raben, Adler, Drosseln, alle Vögel des Waldes und der Berge hatten sich versammelt. Eine gigantische, fliegende Armee. Eine Armee, die jeden Augenblick zuschlagen würde.

"Wenn wir direkt über den Schatten sind, stoßen wir alle im Sturzflug herunter und lassen die Steine fallen. Versucht, die Schatten direkt zu treffen."

Der Geist in dem Kristall übermittelte die Botschaft. Die Bergvögel hatten die ganze Nacht kleinere Steine für die kleineren Vögel bereitgelegt, doch schienen die Kristalle in allen Größen leicht wie Schneeflocken zu sein. Karak konnte sich nicht daran erinnern, dass die Geister in der Gegend je eine so starke Kraft besessen hatten.

Die kämpfenden Tiere und Schatten kamen in Sicht. Die ersten Vögel ließen sich fallen.

Wenige Flügelschläge über den Schatten brachen sie den Sturz ab und ließen die Kristalle fallen. Die Schatten, die mit ihnen in Berührung kamen oder zu nahe dabei standen lösten sich auf.

Korax sah, wie die Steine anfingen zu leuchten. Ein blendend helles Licht flutete über den Boden. Die freigesetzten Geister wurden aktiv.

Leuchtende Wesen zischten wie Pfeile durch die Luft, durchbohrten jeden Schatten, der ihnen in den Weg kam.

Korax war an der Reihe. Er nahm einen größeren Schatten, bei dem es sich anscheinend um einen Bären handelte, ins Visier und schlug zu. Der Schatten stellte sich auf die Hinterbeine, als er auf ihn zuflog. Im letzten Moment ließ Korax den Kristall fallen. Dunkler Rauch und helle Lichter hüllten den Raben ein. Er glaubte, einen tiefen Seufzer zu hören.

Korax stieg auf und schloss sich den Vögeln an, die zurück zu den Bergen flogen, um weitere Kristalle zu holen. Sein Blick wanderte über die vielen noch wütenden Schatten und über die erschöpften, überlebenden Tiere.

Dann sah er Lion.

Der Fuchs lag am Boden und war anscheinend nicht in der Lage, wieder hochzukommen. Von oben erkannte Korax mehrere Schnitte in seinem Fell. Der Schatten über ihm war gerade dabei, herab zu stoßen...

Es lag nicht im Plan, dass einzelne Vögel sich vom Schwarm trennten, um sich ins Getümmel zu stürzen, doch Korax konnte seinen Freund nicht im Stich lassen. Auch wenn um ihn herum schon unzählige Tiere zu Tode gekommen waren, den Tod des Fuchses konnte er auf keinen Fall zulassen.

Zischend stürzte der Rabe herab und durchbohrte mit seinem Schnabel das Auge des Schattens.

"Lion!"

Der Fuchs lag auf der Seite, keuchte.

"Lion, bitte, steh auf."

Schwach erhob er sich. Ohne Korax anzusehen, humpelte er auf die Schatten zu.

"Du bist zu schwer verletzt. Du musst weg hier."

Seine Augen waren mit Schmerz erfüllt, als er Korax ansah.

"Ich habe hier so Viele sterben sehen, da macht mein Tod auch nichts weiter aus. Nur der Wald zählt. Flieg jetzt los."

Korax wusste, dass er keinen Widerspruch dulden würde. Er erhob sich in die Luft.

 

Mara hatte es nicht auf die Menschenkinder oder Karak abgesehen.

Mit einem lauten Knurren rannte sie auf den in der Luft schwebenden Kristall zu.

Schnelle Biene sah entsetzt auf das riesige Wesen mit den kalten, wütenden Augen, das mit gebleckten Zähnen auf sie zu rannte. Sie griff nach dem Kristall und umklammerte ihn so fest, dass er ihr in die Hand schnitt.

Die Wölfin sprang.

Karak riss sich im letzten Moment zusammen und fiel ihr mit seinem vollen Gewicht in die Flanke. Haarscharf schossen die beiden an Schnelle Biene und ihrem Kristall vorbei. Angstvoll drückte sie sich an ihre Schwester.

Mit einem harten Schlag warf Mara Karak beiseite und wandte sich wieder den Kindern zu.

"Wir müssen hinunter!" Kleine Blume hob ihre Schwester in das Loch. "Klettere hinab!"

Der Schatten griff erneut an. Mit einem Ruck riss Karak sich hoch und sprang Mara auf den Rücken.

Es war das Letzte, was die Kinder von ihm sahen, bevor sich der Felsspalt über ihnen schloss.

Hektisch sah sich Schnelle Biene zu ihrer Schwester um.

"Wir können ihn nicht im Stich lassen."

"Er lenkt den Schatten ab. Wir müssen. Es tut mir auch weh, aber wir haben keine andere Wahl."

Mit Tränen in den Augen klammerte sie sich weiter an ihre Schwester, während diese sicher nach unten kletterte.

"Was sollen wir jetzt nur tun?" Schnelle Biene fing an, zu schwitzen.

"Hier muss irgendwo das Herz dieses Dämons sein. Wir müssen den Geist dort wieder freisetzen, bevor er seine Kraft verliert."

Schnelle Biene sah den Kristall an. Sie spürte, wie der Geist nach dem Öffnen des Bodens erschöpft war und schwächelte. Kleine Blume hatte Recht. Sie mussten sich beeilen.

"Ich spüre ein Pulsieren." Kleine Blume legte ihre flache Hand an den Stein. "Ich glaube, das sind so etwas wie Adern. In die Richtung wird es stärker."

Sie folgten dem leisen Pochen des Labyrinths.

 

Alter Baum spürte das Rütteln als Erster.

Dann vernahm es der ganze Stamm.

Gemurmel machte sich breit.

Alter Baum sah zu Weises Auge.

"Das ist kein gutes Zeichen", murmelte der Schamane.

"Der Baum!", rief jemand.

Schreiend sprangen die Menschen beiseite, als die schwere Eiche sich neigte und mit voller Wucht zwischen die Menschen krachte.

Weises Auge ging näher an den Baum heran. "Der ist nicht von Natur aus gefallen."

Ein weiteres Vibrieren ließ den Stamm zusammenzucken. Es erfasste den ganzen Waldboden.

Als sich auch dieses Beben gelegt hatte, drehten sich alle Stammesmitglieder zitternd zu dem Schamanen um.

Weises Auge sah mit schwerem Atem durch die Bäume. Was war hier los? Was hielten die Götter für sie bereit?

Ein heftiges Krachen lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Etwas grub sich durch die Erde. Etwas kam auf sie zu. Etwas, das sie vernichten wollte.

"Haltet euch kampfbereit!", schrie er zu dem Rest des Stammes. Einen Augenblick später riss das Erdreich auf und ein riesiges, dunkles Etwas kam auf sie zu.

 

Karak spürte, wie sich der Riss im Boden schloss. Endlich! Nun hing alles von den beiden Mädchen ab!

"Mach dir keine Hoffnungen. Die Menschlein werden da unten in ihre Einzelteile zerlegt werden. Genau wie du."

Mit den Worten sprang der Schatten erneut auf ihn zu.

Karak schnelle in die Höhe und ließ sich mit den Vorderpfoten auf Maras Rücken fallen. Seine Krallen streiften ihr Fell, rissen aber keine Wunden. Sie war zu schnell zur Seite gesprungen. Karak ließ sein Gebiss in ihre Richtung zuschnappen. Leere.

Ein heftiger Stoß in die Flanke ließ ihn taumeln. In letzter Sekunde hielt er sich und schlug mit den Krallen zu, verfehlte die Kehle seiner Gegnerin nur um Haaresbreite. Die Wölfe sprangen gleichzeitig in die Luft und trafen mit voller Wucht gegeneinander. Karak krümmte in der Luft den Rücken und warf Mara zu Boden. Sie nutzte den Schwung, rammte ihm ihre Hinterbeine in den Bauch und warf ihn nach hinten über. Karak landete unsanft auf dem Rücken und rollte sich in letzter Sekunde zur Seite, als ein Gebiss messerscharfer, schneeweißer Zähne neben seinem Kopf zusammen schnappte. Der Wolf sprang auf die Pfoten und schlug mit den Vorderkrallen nach Maras Gesicht. Zu langsam. Sie tauchte unter dem Hieb hindurch und schnappte nach Karaks Kehle. Karak zog den Hals gerade noch zurück, sodass, sie sich nur in seinem Fell verbiss. Er ließ sein Gewicht nach vorne fallen und schlug seine Krallen über ihre Ohren. Mara duckte sich zu Boden und fuhr ruckartig wieder hoch. Erneut wurde ihr Gegner durch die Luft geschleudert. Mit einer geschickten Drehung fand Karak im Flug sein Gleichgewicht wieder und landete sicher auf seinen vier Beinen. Mit einem Stoß warf er Mara zu Boden, hatte freie Bahn zu ihrer Kehle, holte aus...

...und konnte es nicht.

Er sah in ihre Pupillen. Sah denselben feurigen Glanz wie in den Augen seiner Schwester, die ihn an kalten Wintertagen in der Welpenhöhle gewärmt hat, die mit ihm gespielt hatte und immer knapp gewann, die mit ihm lernte, mit ihm jagte, sich mit ihm durch den Schnee der Berge kämpfte, ihm Mut machte, als er alle Hoffnung verloren hatte.

Sie lebte.

Irgendwo tief vergraben in diesem kalten Wesen, das von der Macht auf so schändliche Weise missbraucht wurde.

Etwas von dem Schatten vor ihm war noch seine Schwester. Und er konnte den Streich nicht ausführen.
Etwas krachte hart gegen seine Schläfe und ließ bunte Sterne vor seinen Augen aufflackern. Keuchend landete Karak auf der Seite, während sich ein bohrender Schmerz in seinen Schädel brannte.

Er wusste nicht ob dieser Schmerz seine folgende Reaktion ausgelöst hatte oder etwas anderes. Auf jeden Fall hörte er plötzlich seine eigene schwache, mitgenommene und dennoch klare Stimme sprechen.

"Vor langer Zeit, bevor es Wölfe gab, bevor es irgendein Tier gab, bestand die Erde nur aus Wald."

Der Schatten stutzte. Er schien plötzlich nervös zu werden.

"In dieser Zeit, in dieser Zeit der Träume, als die Bäume ihre Seelen bekamen, entstanden die Geister in der Welt."

"Die Geister sind tot. Sie haben keine Zukunft!"

Karak ließ sich nicht beirren. "Gute Geister, die über die Pflanzen wachten. Die sie pflegten und beschützten."

Irgendwo inmitten der Wüste des toten Waldes schien etwas Grünes aufzuleuchten.

"Doch die Pflanzen fühlten sich einsam. Sehr einsam."

Bei dem Wort 'einsam' ging der Schatten unsicher einige Schritte zurück.

"Deshalb schufen die Weltgeister die ersten Tiere. Insekten, die im Sonnenlicht schwirrten, Frösche und Fische, die die Gewässer eroberten und Vögel, die durch die Luft segelten, wie zum Dach der Welt."

Karak hörte, wie seine Stimme immer schwächer wurde. Er musste sich zusammenreißen, um nicht abzubrechen.

Der Schatten rührte sich immer noch nicht.

"Dann kamen die Huftiere. Rehe, Hirsche, Wildschweine. Ihnen folgten kleinere Tiere, wie Hasen, Mäuse und Ratten. Alle waren friedlich, alle lebten in der Welt nebeneinander."

Karak spürte neuen Schwung in seinem Körper. Etwas veränderte sich. Klare Luft strömte in seine Lungen, er spürte einen warmen Sonnenschein auf dem Fell.

"Doch die Geister hatten sich da verrechnet. Die Tiere vermehrten sich schnell, fraßen alles kahl und starben, weil es von ihnen selbst zu viele gab. Das Gleichgewicht geriet außer Kontrolle, darum erschufen die Geister neue Wesen. Große Wesen auf schnellen Pfoten, mit scharfen Sinnen, die die Tiere, die es zu viele gab, jagten, um sich von ihnen zu ernähren. Dies sollten sie tun, um die Welt im Gleichgewicht zu halten."

Karak spürte, wie seine Stimme immer schwächer wurde. Schließlich brachte er keinen Ton mehr hervor. Als sein Schweigen anhielt, erhob sich hinter ihm eine andere Stimme.

"Doch die ersten Wölfe waren eitel, hielten sich für etwas Besseres und bekämpften einander, bis die Welt erneut aus den Fugen geriet."

Es war kein drohender Unterton in den Worten. Er spürte nicht einmal die Gegenwart des Schattens. Es war Maras Stimme. Die der wirklichen Mara.

Seine Schwester erzählte weiter. "Darum gaben die Geister den Wölfen eine Ordnung, Gesetze. Sie gründeten die ersten Rudel mit weisen Anführern an der Spitze, die dafür sorgten, dass ihre Rudel keinem anderen Tier unnötigen Schaden zufügten. Und die ihnen halfen, die Aufgabe zu erfüllen, für die sie geschaffen waren."

"In alle Ewigkeit", sagten die Wölfe gemeinsam.

"So will es das Gesetz der Natur", erzählte Karak nun wieder mit alter Kraft.

"Alle Lebewesen sind eins", hörte er seine Schwester und sprach weiter.

"Alles hängt zusammen."

"Alle sind gleich."

Den letzten Part sprachen sie gemeinsam. "Leben ist das höchste Geschenk. Leben soll geachtet werden. Von allen. Für immer."

Stille.

Lange Zeit herrschte nichts als Stille.

Endlich fand Karak die Kraft sich aufzurichten und umzudrehen. "Mara?"

Sie lag neben ihm. Klein, zusammengerollt, zitternd. Ihr Fell wirkte stumpf und struppig, ihre Augen glanzlos, ihr Blick ruhelos, als könne sie das Geschehene nicht verarbeiten. Aber es war unzweifelbar seine Schwester. Mit Leib und Seele.

"Karak", hauchte sie.

Er ging langsam zu ihr, legte seinen Kopf auf ihre Schulter.

"Es tut mir so leid, Bruder. Es tut mir so leid."

Ein heller Lichtschimmer, wie von einem Geist, flammte zwischen ihnen auf, ehe er sich in Luft auflöste. Durch den schwarzen, toten Boden der Ebene brachen die ersten, grünen Halme.

Der Gorrywan

Kleine Blume und Schnelle Biene folgten den Pulsadern im Fels schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Das Pochen wurde kaum schneller und das Ziel schien meilenweit entfernt zu sein.

Der Geist wurde schwächer.

Ein plötzliches Vibrieren erschütterte die Höhle. Mit einem Schrei presste sich Schnelle Biene an ihre Schwester, die sie fest umklammert hielt. Mehrere Steine fielen von der Höhlendecke.

Erst, als das Echo des Donnerns verklungen war, traute sie sich wieder, aufzusehen.

"Wir müssen weiter", sagte Kleine Blume.

Sie setzten ihren Weg fort.

"Hier verlaufen mehrere der Adern ineinander." Kleine Blume strich über die im Fels leuchtende Stelle. "Das Herz kann nicht mehr weit sein."

"Ich glaube, wir kommen zu spät", hauchte Schnelle Biene tonlos.

Kleine Blume folgte dem Blick.
Die Adern liefen in einer riesigen Steinkuhle zusammen. In der Kuhle waren Krater aus denen Dampf und blubbernde Flüssigkeiten emporstiegen. Spuren riesiger Krallen hatten sich in den Fels gebohrt.

"Was auch immer dort lag, es wird jetzt eine unglaubliche Bedrohung sein!", sprach Schnelle Biene mit zitternder Stimme.

Kleine Blume erstarrte. Mit zitterndem Finger wies sie auf die Stelle im Fels, die sie soeben entdeckt hatte.

Ihre Schwester drehte sich abrupt um. Die Wand öffnete sich hinter ihnen zu einem feurig roten Loch. Hitze schlug ihnen entgegen. Etwas bewegte sich dort drinnen.

"Was...was kann das sein?"

Kleine Blume erkannte es.

"Der Kristall. Wir brauchen den Kristall. Dort drinnen ist er. Der Dämon, die Macht! Dort drinnen!"

Schnelle Biene sah sie mit großen Augen an.

"Ich kann es nicht erklären. Ich spüre es einfach. Da ist etwas."

Sie gingen langsam auf den Höhlenschlitz zu. Hinter der Höhle fiel der Weg steil nach unten ab. Brodelnde Lava sandte eine höllische Hitze in die Richtung der Mädchen.

"Sie muss hier irgendwo sein", meinte Kleine Blume und sah sich um. Riesige, pechschwarze Felsbrocken schwebten in der Luft über ihnen. "Ich glaube, wir müssen..."

Weiter kam sie nicht. Die ersten schwebenden Steine rasten mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu.

 

Pfeile schwirrten durch die Luft, bevor es überhaupt ganz aus dem Erdboden heraus brach.

Alter Baum schwankte. Er hatte schon viel gesehen. Natürliches und Magisches. Aber dies hier überstieg seine wildesten Vorstellungen.

"Was bei allen Göttern, ist das?", rief er Weises Auge zu.

Der Schamane hatte die Augen weit aufgerissen und starrte wortlos das gigantische Ungetüm an, das sich vor ihnen aufbäumte.

Es war riesig, überragte die höchsten Bäume des Waldes um das Doppelte. Das Wesen bestand nicht aus Fleisch und Blut, sondern schien aus vielfach verknoteten und wimmelnden Baumwurzeln und Lianen gemacht zu sein. Wie riesige Muskelstränge zogen sich mannsdicke Holzseile über den Körper und bedeckten ihn vollständig, wenn es nun nicht aus den Pflanzen zu bestehen schien.

Einzig und allein zwei Augen waren frei. Zwei große, rot glühende Augen.

Die Pfeile schien das Wesen kaum zu spüren. Es ließ sich langsam auf alle Vieren fallen, woraufhin der Wald bis in seine Wurzeln zu erzittern schien.

Weises Auge erwachte aus seiner Starre.

"Wir müssen weg hier! Sofort raus aus dem Wald!"

Mit einem grollendem Laut warf sich das Ungetüm auf den Stamm.

 

Karak wäre am liebsten für alle Zeiten so sitzen geblieben.

Er blutete aus mehreren Schürfwunden und kleineren Kratzern, fühlte sich erschöpft und ausgelaugt, jedoch überglücklich.

"Ich habe das nicht gewollt. Es tut mir so leid", wiederholte Mara flüsternd.

"Ich weiß." Karak leckte ihr tröstend, wie bei Wolfsgeschwistern üblich, über die Schulter. "Ich weiß."

Sie war wieder sie selbst.

Ein plötzliches Beben erschütterte die Erde. Schreckhaft duckte sich Karak zu Boden, Mara drückte sich in seine Flanke. Hinter den Bäumen war ein markerschütterndes Brüllen zu hören. Es kam sicher nicht von einem Tier.

"Was...was war das?" Karak versuchte, etwas zu riechen. Er erkannte den Geruch des Menschenrudels wieder, aus dem Kleine Blume und Schnelle Biene stammten. Waren sie ihren Jungen gefolgt? Mit ihnen mischte sich ein starker Angstgeruch. Nicht nur von den Menschen, auch von mehreren Tieren in der Nähe.

Etwas Großes, Unheilvolles befand sich im Wald.

Mara versuchte aufzustehen und knickte wieder ein.

"Du musst liegen bleiben."

"Das...das geht nicht. Dieses Geräusch...es...es wird uns alle zerstören. Und mit den Menschen fängt es an."

"Was ist das?"

Maras Stimme verdunkelte sich, als sie das Wort aussprach. "Ein Gorrywan."

 

Korax bemerkte zunächst nur das aufgeregte Zwitschern der anderen Vögel, bevor er realisierte, dass eine unheilvolle Gefahr im Anzug war.

"Was ist da vorne los?"

Er erhielt abgehackte Wörter von vorbei fliegenden Vögeln als Antwort. Er blickte nach unten und sah, dass auch die Tiere aus dem Wald in Richtung Felsen flohen. Aber nicht vor den Schatten.

Korax flog schneller, segelte an den anderen Vögeln vorbei - und sah ihn.

"Das ist unmöglich!", hörte er sich selbst flüstern.

Es war ein riesiges Ungetüm aus sich umschlingenden und windenden Flechten, die wie Muskeln und Sehnen einen titanischen Körper zusammenhielten. Das Wesen fuhr lange, messerscharfe Krallen aus und schlug damit in die Luft. Korax sah einige tote und verstümmelte Vögel hinabfallen. Es bestand kein Zweifel.

Ein Gorrywan! Ein leibhaftiger Gorrywan. Ein Wesen, über unzählige Mondzyklen genährt von der Energie der sterbenden Tiere und Pflanzen, die die Macht mit in den Tod gerissen hat. Mit jedem letzten Atemzug, den die Macht aus einem Wesen hinauspresst sollte, einer Legende nach tief in der Erde ein Wesen wachsen und stärker werden, bis dieses über den Wald, der es erschaffen hat, hinweg fällt, unfähig einen eigenen Willen zu entwickeln, nur von der Macht geleitet.

Korax hatte es für ein Märchen gehalten, eine Geschichte, um kleine Küken zu erschrecken und Jungtiere davon abzuhalten, in tiefen Erdstollen zu spielen. Doch nun stand er vor ihm. Leibhaftig vor ihm.

Mit einem ohrenbetäubenden Brüllen richtete sich der Gorrywan zu seiner vollen Größe auf und ließ seine Krallen die Luft zerschneiden.

Korax reagierte zu spät. Er machte in der Luft kehrt, doch seine Flügel waren nicht stark genug, um zu entkommen. Ein greller Schmerz löschte alle Empfindungen aus. Ein helles Licht erschien vor den Augen des Raben. War das das Land hinter den Sternen?

 

Mara schwankte und hinkte gefährlich, dennoch ließ sie sich von nichts davon abbringen, dem Grollen des Ungetüms in den Wald zu folgen.

Karak konnte ihr nur hilflos folgen. "Gorrywane gibt es doch nur in Geschichten. Wenn jemals welche gelebt haben, müssten sie doch schon längst zu Staub zerfallen sein."

"Dieser hier...wurde von der Macht erschaffen."

Erschöpft ließ sie sich fallen und sah Karak keuchend und verzweifelt an. "Die Macht... hat die Energie der sterbenden Bäume in sich aufgenommen und an ihn weitergeleitet. Dies hat ihn genährt und ließ ihn wachsen. Ich weiß nicht, wie er unter die Erde entstanden ist, aber nun ist er hier und wird nicht ruhen, ehe der Wald vernichtet ist."

"Was ist, wenn die Menschenjungen es schaffen, die Macht zu vernichten?"

"Dann wird er dennoch weiterexistieren. Er muss getötet werden."

"Wie?"

Etwas Schweres, Trauriges trat in Maras Augen. "Die Lawine in den Bergen war kein Zufall. Auch sie wurde von der Macht in die Wege geleitet."

Karak starrte sie wortlos an. "Also...sie hat gespürt, dass ich komme. Sie wollte mich mit der Lawine ebenfalls treffen?"

"Nein, Karak, nicht dich." Maras Atem wurde ruhiger. Sie schloss kurz die Augen. "Für dich hat sich die Macht niemals interessiert."

"Aber...die Prophezeiung."

"Ich habe es im Fieberschlaf bemerkt, im Unterbewusstsein, als ich die Macht in mir gerade noch kontrollieren konnte, kurz bevor sie den Spieß umdrehte. Du warst nur so etwas wie ein Hilfsmittel. Korax hat sich geirrt, als die Geister dir die Botschaft zukommen ließen. Es war für dich keine Aufforderung, sondern eine Warnung."

Karak brauchte lange, bevor er diese Worte verarbeiten konnte. "Dann stimmt es also."

"Du hast es auch von Anfang an gewusst. Du wolltest die Tiere nur nicht im Stich lassen, da du weißt, wie es ist, seine Heimat zu verlieren. Du hast die Erkenntnis verdrängt, obwohl du es tief in deinem Herzen immer gewusst hast."

"Dann hat sich die Prophezeiung also niemals auf mich bezogen."

"Nein, Bruder. Ich bin der Wolf, der die Macht vernichten wird."

Lange Zeit herrschte Schweigen zwischen den beiden. Dann hob Karak den Kopf.

"Ich mag vielleicht nicht der Retter sein, aber allein in den Kampf ziehen lasse ich dich auf keinen Fall. Wir haben uns schon einmal verloren. Die letzte Schlacht schlagen wir gemeinsam."

Mara lächelte. "Wenn nur alle Wesen auf der Welt so denken würden, hatten wir es mit weitaus weniger Problemen zu tun."

Gemeinsam zogen sie dem Gorrywan entgegen.

 

In letzter Sekunde konnten die Schwestern sich mit einem Seitenhüpfer in Sicherheit bringen. Der Fels erzitterte, als der riesige Steinbrocken gegen die Höhlenwand prallte. Die Lava unter ihnen brodelte gefährlich.
Sie sprangen wieder auf.

"Was sollten wir jetzt tun?", rief Schnelle Biene verzweifelt.

Kleine Blume sah sich hektisch um. Die höllische Hitze trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Hier irgendwo war das Herz der Macht. Das, was sie zerstören mussten.

Das Licht des Kristalls fing an zu flackern. Sie mussten sich beeilen.

"Da, eine Brücke!" Schnelle Biene deutete auf eine schmale Steinbrücke, die über den brodelnden Lavakessel hinwegführte. Kleine Blume sah auf die schwebenden Felsen. Sobald sie sich in Bewegung setzten, würden sie erneut auf sie hinab stürzen.

"Wenn ich 'Jetzt' sage, rennen wir gemeinsam los über die Brücke. Du musst laufen, so schnell du kannst. Und nicht zurücksehen. Egal was passiert, verstanden?"

Schnelle Biene nickte. Sie wusste, dass sie schneller war, als ihre Schwester, aber diese hatte Recht. Sie durfte auf nichts und niemanden warten.

Kleine Blume sah zu den Felsen. Sie bewegten sich fast wie Greifvögel auf der Jagd. Sie versuchte, ein Muster in ihren Bewegungen zu erkennen.

"Jetzt!" Die Mädchen erreichten die Brücke, bevor der erste Brocken auf den Weg einschlug. Er brach auseinander, der Boden zitterte, doch Kleine Blume und Schnelle Biene rannten weiter.

Der nächste Fels raste herab.

Kleine Blume versuchte, auf den schmalen Pfad zu achten, obwohl die glühende Lava unter ihren Füßen gefährlich zu brodeln anfing.

Die Brücke erzitterte unter einem starken Aufprall.

Schnelle Biene war weit vor ihr. Etwas raste herab.

"Schnelle Biene, pass auf. Über..."

Mehr brachte sie nicht heraus. Der Stein, der fast doppelt so groß war, wie sie selbst, nahm Kleine Blume die Sicht auf ihre Schwester. Die Steinbrücke wurde von Rissen durchzogen. Diese breiteten sich in ihre Richtung aus.

Kleine Blume rannte zurück. Sie spürte die Hitze durch ihre Mokkasins. Feuerzungen leckten an der angeschlagenen Steinbrücke.

Der Weg hinter ihr brach ab. Zehn Schritt vor ihr durchbrach ein Fels den Stein der Brücke.

Kleine Blume verlor den Halt und warf sich längs auf den Stein. Der Fels fiel. Verzweifelt krallte sie sich in eine Spalte, während der brodelnde Abgrund näher auf sie zuraste. Kleine Blume ließ los. Sie befand sich im freien Fall...

Etwas ergriff ihre Hand und riss sie mit sich.

"Halte dich an mir fest!", brüllte Schnelle Biene ihr zu, während Kleine Blume hektisch Halt am Fels suchte. Mit einem Ruck zogen sich die beiden auf die Spitze des Brockens.

"Da hinten! Das muss es sein!" Für Kleine Blume bestand kein Zweifel. Am Felsrand schimmerte etwas, was Wellen eines unguten Gefühls ausstrahlte. Schnelle Biene griff nach ihrem Anhänger.

"Er lebt nicht mehr lange!" Der Stein hatte nur noch ein schwaches Funkeln in seinem Kern. "Was machen wir jetzt?"

Vorsichtig richtete Kleine Blume sich auf und sah zu den anderen Felsen. "Wenn ich es sage, bringen wir beide auf den nächsten Felsen, der vorbeikommt."

Ein Felsbrocken raste auf sie zu.

"Jetzt!" Gemeinsam stießen sich die Mädchen ab und landeten hart aber sicher auf dem Felsen. Er bewegte sich in Richtung Macht.

"Vorsicht!", schrie Schnelle Biene. In letzter Sekunde rollte Kleine Blume sich zur Seite, bevor mehrere spitze Felssplitter in die Stelle einschlugen, an der sie sich kurz zuvor noch befunden hatte.

Der Fels raste auf die Höhlenwand zu. Sie sahen das rote Leuchten, das kalte Gefühl der Macht.

Als sie sich genau über dem Herzen befanden, ließ Schnelle Biene los. Im Fall riss sie sich den Anhänger vom Hals und stieß ihn in das rote, eiskalte Zentrum der Macht.

 

Die Welle breitete sich von der Mitte des toten Waldes im Radius durch den Wald aus. Es war keine sichtbare Druckwelle, sondern etwas Anderes. Sie bestand aus purer Lebensenergie und obwohl Darika sich am Waldrand bei den Jungtieren und Verletzten befand, spürte sie am deutlichsten von allen, wie das Lebendige sie durchfuhr, den ganzen Wald überzog.

"Sie ist tot!", hauchte die alte Eule. "Sie ist tatsächlich tot."

Etwas kam von den Bergen herab. Etwas Gutes, Lebendiges.

Die Geister flossen über den ganzen Wald. Die restlichen Schatten lösten sich in Luft auf. Alle Tiere sahen auf, bevor es sie bis ins Mark durchfuhr. Ein lange nicht verspürtes, unbeschreibliches Glücksgefühl.

Am Härtesten traf es den Gorrywan. Er spürte die Welle wie einen harten Schlag. Er schwankte und fiel zu Boden.

Alter Baum trat zitternd näher. Das Ungetüm hatte eine Schneise der Verwüstung durch den Wald gezogen und etliche Todesopfer unter dem Stamm gefordert, darunter Leise Eule, einen der besten Jäger und Heller Stern, deren Vater sie nun in den Ewigen Jagdgründen empfangen wird.

"Ist es tot?", hörte er einige der Menschen fragen. Da durchfuhr ein Vibrieren den Körper. Das Wesen richtete sich auf.

Erneut wurden mit Lappen umwickelte Pfeile auf die Sehnen gelegt und angezündet. Das Wesen erhob sich und ließ einen durchdringenden Wutschrei über den Wald hallen. Die ersten Brandpfeile flogen.

Dann kamen die überlebenden Tiere.

Alter Baum sah mehrere Vögel, die auf das Monster herabstießen. Etliche von ihnen fielen den schweren Krallen zum Opfer.

Der Stammesälteste fühlte sich wie in einem bizarren Traum. Tiere aller Art strömten Seite an Seite auf das Wesen zu, sprangen an ihm hoch und versuchten, die Schlingen zu zerreißen, aus denen es bestand.

Das Wesen ließ sich zu Boden fallen, die Welt schien unter dem Aufprall zu erzittern. Mehrere Tiere fielen ihm zum Opfer.

Die Menschen warfen die ersten Speere.

"Zielt auf seine Augen!", rief Alter Baum seinem Stamm zu.

Mit einem fast lässig wirkenden Prankenhieb fegte das Ungeheuer die Speere beiseite. Die ersten Tiere flohen. Auch die Vögel zogen sich zurück.

Alter Baum nahm einen herrenlosen Speer und umklammerte ihn fest. Dann wandte er sich selbst dem Monstrum zu.

 

Lion sah, wie der Gorrywan sich langsam auf ihn und die anderen Tiere zuschob. Er musste seinen gesamten Willen zusammennehmen, um nicht die Fluch anzutreten.

Das ist das Ende. Alles ist vorbei.

Eine Gasse bildete sich zwischen den Tieren. Neugierig reckte der Fuchs den Kopf und hielt nach dem Wolf Ausschau. Ihm stockte der Atem. Karak war nicht allein.

 

Karak und Mara rannten auf den Gorrywan zu. Die ersten Tiere bemerkten sie. Jubel brach aus.

Eine Gasse entstand zwischen den Waldbewohnern. Die Wölfe flogen fast über den Waldboden. Sie hatten alles abgesprochen. Karak lief vor, um einen Scheinangriff zu führen, während Mara anschließend zuschlug. Sie wussten nicht, ob dies aufgehen würde, aber eine andere Wahl hatten sie nicht.

Der Gorrywan nahm Karak mit seinem stechenden, feurigen Blick uns Visier. Wie in Zeitlupe sah Karak, dass er die Pranke hob.

Der Wolf sprang ihn an, tauchte zuerst unter den Krallen hinweg und wich dann dem hinunterdonnernden Pranken aus. Karak bellte provozierend. Er sah blitzende Zähne, die krachend eine Schwanzlänge neben ihm zuschnappten.

Der Kopf des Monsters war unten. Eine perfekte Position.

Mara stieß sich vom Boden ab und rammte dem Gorrywan ihre Krallen in die Augenhöhle.

Mit einem erschütternden Schmerzensschrei bäumte sich das Wesen auf. Menschen und Tiere wichen zurück. Der Gorrywan warf seinen Kopf in der Luft herum. Mara hielt sich fest.

Karak nahm erneut Anlauf und biss dem Gorrywan ins Hinterbein.

Diesmal konnte er nicht rechtzeitig ausweichen.

Die Pranke des Gorrywan traf ihm in die Seite und schleuderte Karak durch die Luft.

Grelle Lichter blitzten vor seinen Augen auf, den Aufprall auf dem Boden spürte er schon nicht mehr.

 

Weises Auge realisierte nur langsam, was nun geschah.

Er hatte bemerkt, wie zwei Wölfe, zwei wahrhaftige Wölfe, das Ungetüm angegriffen hatten. Einer von ihnen hatte sich in seinen Kopf verbissen.

Das linke Auge der Kreatur war in seiner Glut erloschen, eine dunkle Flüssigkeit trat heraus.

Mit schweren Pranken hieb es nach dem Wolf, der sich immer noch an seinem Kopf festklammerte. Doch die Wunde hatte ihn geschwächt.

Der Wolf biss mehrmals zu. Dann verlor er den Halt.

Den Jägern des Stammes blieb beinahe das Herz stehen, als das Tier sich nur noch mit den
Krallen an der Schnauze festhielt.

Irgendwie gelangte er an die Kehle des Monsters.

Der Wolf segelte zurück zu Boden und landete mit gefletschten Zähnen auf dem Boden. Das Wesen schwankte. Nach und nach lösten sich die Flechten.

Weises Auge spürte etwas. Etwas glitt an ihnen vorbei. Götter.

Sie schlüpften durch die Spalten in den Wurzelgeflechten des Monsters. Es fing an, zu leuchten. Ein grelles, übernatürliches Licht strahlte von innen aus dem Wesen heraus. Alter Baum musste die Augen schließen. Eine plötzliche Druckwelle ließ ihn taumeln.

Als er wieder hinsah, war das Biest verschwunden. An den Bäumen öffneten sich winzige, grüne Knospen.

Ein Knacken ließ den Stamm herumwirbeln. Zwei Kinder traten aus den Schatten der Bäume.

"Kleine Blume! Schnelle Biene!"

Sie waren über und über mit Staub und Ruß verdreckt, ihre Kleider zerrissen und sie wirkten mitgenommen -und überglücklich. Mit offenen Armen liefen sie in die Arme des Stammes. Der Schamane drängte sich zu ihnen durch.

"Was ist hier geschehen?"

Schnelle Biene löste sich als Erste. "Das werdet ihr uns nie glauben. Karak hat uns geholt, weil wir die Macht zerstören sollten. Und dann waren wir in den Höhlen, wo..."

"Warte, warte. Erzählt doch erst einmal alles der Reihe nach. Und wer ist Karak?"

"Der Wolf, der..."

Sie verstummte. "Kleine Blume! Er ist verletzt!"

Die Mädchen liefen zu dem zweiten Wolf, der den Gorrywan angegriffen hatte. Er hatte sich halb aufgerichtet, Blut troff von seiner Schulter.

Auch der andere Wolf bewegte sich zu ihm.

Alter Baum begutachtete die Wunde. "Sie ist tief. Sehr tief."

Prophezeiung erfüllt! Wir gewonnen! Macht weg!

Der Schamane zuckte zusammen.

Geister zurück. Geister überall. Deshalb ihr mich verstehen. Die anderen Tiere euch auch verstehen. In Stein von Schnelle Biene war Geist. Geist konnte mit uns reden. Geist hat Macht zerstört.

Die Mädchen lächelten.

"Das ist nur der Anfang!", meinte Kleine Blume beruhigend. "Wenn sich die Geister an uns gewöhnt haben, können wir mit ihm sprechen, wie mit Menschen."

Alter Baum sah die Kinder mit großen Augen an. "Geister?"

"So nennen sie die Götter."

Nun hörten sie auch weitere Tierstimmen. Geister zurück. Macht weg. Wald Frieden.

Erschöpft drehte sich Weises Auge zu ihr um. "Wenn wir erst einmal zu Hause sind, habt ihr uns viel zu erklären."

Epilog

Der Wald würde sich nur langsam von der Macht erholen. Doch nun, da die Geister zurückgekehrt waren, würde alles leichter werden.

Karak atmete tief ein. Er hörte das sanfte Rauschen des Windes in den Bäumen, spürte, wie die Pflanzen wieder zu atmen anfingen, wie das Leben zurückkehrte.

"Karak!"

Er drehte sich um. Darika landete mit leisem Flügelschlag neben ihm.

"Korax liegt im Sterben. Der Gorrywan hat ihn schwer verletzt. Er möchte dich noch einmal sehen."

Karak benötigte lange, um die Information zu verarbeiten. Schließlich folgte er der Eule.

 

"Du...du hast es wirklich...geschafft."

Der Rabe lag flach auf dem Stein und keuchte.

"Du darfst nicht reden! Du musst..."

"Mich schonen? Wir...wir wissen beide...dass meine Zeit...bald zu Ende sein wird. Ich...ich muss es dir nur noch schnell sagen..."

Die Stimme des Raben wurde leiser. Karak musste sich tief zu seinem Freund hinunterbeugen, um ihn zu verstehen.

"Ich...ich bin in diesem Wald groß geworden. Damals, als die ersten...Geister verschwanden. Ich war...noch viel zu...jung. Ich habe nicht verstanden, was...passierte. Dann...dann fing der Wald an, zu sterben. Ich war gerade ausgewachsen...meine Geschwister...sie fielen...der Macht als erste...zum Opfer..."

Er machte eine lange Pause und sah dem Wolf tief in die Augen.

"Ich...ich kann verstehen, dass du fliehen wolltest...Ich bin...damals auch...weggeflogen. In die Berge. Ich hoffte...zu...vergessen..."

Seine Brust bebte schwach.

"Als du dann...aufgetaucht bist...Du hast mich an...mich selbst erinnert. Keine Heimat... keine Familie mehr. Aber du hast nicht aufgegeben. Auch nicht...als du weggelaufen...

Was ich dir...sagen will...du warst mutiger als ich damals. Du...hast...gekämpft...selbst als du gezweifelt...als du keine Hoffnung mehr hattest. Ich bewundere dich, Karak. Und...ich bin stolz...jemanden...wie dich...als....Freund zu...haben."

Karak spürte Tränen in seinen Augen. "Korax, bitte. Geh nicht."

Frieden lag in den dunklen Augen des Raben. "Ich werde auf dich warten." Seine Stimme war kaum mehr als ein Windhauch. "Hab keine Angst. Es ist...nicht schlimm. Es ist schön...einfach wunder...schön."

Er erzitterte noch einmal, dann rührte er sich nicht mehr.

Mara trat neben Karak und legte ihren Kopf tröstend auf seine Schulter.

"Leb wohl, mein Freund", murmelte der Wolf und berührte Korax zum Abschied noch einmal mit der Schnauze, bevor er sich abwandte.

 

"Ihr wollt gehen."

Es war kein Vorwurf, keine Enttäuschung in der Stimme. Nur eine sachliche Feststellung. Die Geschwister drehten sich zu Lion um.

"Es ist...nun ja...wir...", Karak bekam keinen vernünftigen Satz hin.

"Wir können hier nicht leben", sagte Mara. Sie sah zu den anderen Tieren, die Lion gefolgt waren. "Wir werden euch nie vergessen, aber hier ist zu viel passiert. Aber ich verspreche euch, wir kommen wieder. Irgendwann."

Lion lächelte. "Ich weiß. Passt auf euch auf."

Der Fuchs wollte schon gehen, doch wandte sich noch einmal um.

"Ach ja, Karak, was ich da gesagt habe...als du den Wald verlassen hast...es...es tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint. Ich war nur...sauer. Verstehst du?"

Karak lächelte. "Natürlich. Ich habe dir schon verziehen. Du hattest ja auch irgendwie Recht."

"Danke, mein Freund." Der Fuchs blinzelte ihnen noch einmal freundschaftlich zu und zog sich dann in den Wald zurück. Die Wölfe zogen los.

"Ich wittere die Menschen", sagte Mara. "Möchtest du dich noch von ihnen verabschieden?"

Karak sah Schnelle Biene und Kleine Blume auf ihn zulaufen. Ihr Anführer sah ihnen nach. Schwanzwedelnd lief er ihnen entgegen."

Die Mädchen fielen ihm um den Hals.

"Du kommst doch mal wieder?", fragte Schnelle Biene.

"Natürlich wird er uns nicht vergessen", sagte ihre Schwester.

Karak beschnupperte sie kurz noch und lief dann zu Mara zurück. Die beiden verschwanden hinterm Horizont.

"Macht euch da mal keine Sorgen", entgegnete Weises Auge, der ihnen zugehört hatte. "Wölfe haben ein gutes Gedächtnis. Er wird zurückkommen. Irgendwann."

Irgendwann, wiederholte Schnelle Biene in Gedanken, während sie den Blick durch den Wald schweifen ließ. Kristalle lagen vereinzelt auf dem Waldboden. Sie alle besaßen dasselbe pulsierende Licht, wie der, den sie in der Höhle verloren hatte.

Bevor der Stamm ging, nahm sie einen von ihnen vom Boden auf. Der Geist in diesem Kristall vibrierte, sandte warme Gefühle zu ihr. Er würde bei ihr bleiben. Als ihr persönlicher, kleiner Gott.

Am Horizont ertönte ein zweistimmiges, melodisches Heulen.

Wir werden wiederkommen. Irgendwann.

Ein Sommer später

 

Weises Auge sah zufrieden zu, wie seine Schülerin mit der Hand die richtigen Mengen an Kräutern abwog und fachmännisch im Mörser zerstampfte.

"Das machst du gut, Schnelle Biene. Du wirst einmal eine kluge Medizinfrau werden."

Schnelle Biene war stolz über das Lob ihres Mentors. Auch für ihre Schwester war der Tag gut verlaufen. Sie war nun fünfzehn Sommer alt und hatte gerade ihre Weihung zur Jägerin des Stammes hinter sich.

Ein melodisches, sirenenartiges Heulen ließ sie zusammenfahren.

"Das ist Karak!" Sie stieß beim Sprung in den Stand fast den Mörser um und schlug die Wand des Tipis zur Seite. Das Heulen schien die gesamte Luft zu erfüllen, bevor es in der Ferne verstummte.

"Bist du sicher, dass er es ist? Seit die Weißen Frieden mit den Wölfen geschlossen haben und sie mehr schützen, streifen viele Rudel durch die Prärie."

"Sein Heulen würde ich unter tausenden erkennen." Sie formte mit den Händen einen Trichter vorm Mund und ahmte ein Wolfsheulen nach.

Weit entfernt, auf einem Hügel im Grasland standen die beiden Wölfe und schauten auf die Prärie herab.

"Und hier wohnen wirklich Menschen?", fragte eines der Jungen aufgeregt.

Mara lächelte. "Und wenn ich es euch doch sage. Sie freuen sich bestimmt schon, uns zu sehen."

Karak zog durch die Nase den Duft des trockenen Grases in der Abendsonne ein. Auch vom Wald her kam ein wundervoller Duft. Die Geister hatten sie empfangen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.02.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An alle Wolf-Liebhaber, die schon immer eine fantastische Geschichte über diese wunderschönen Tiere lesen wollten. Liebe Leser, ich finde es großartig, dass ihr euch bis zu dieser Seite durchgerungen habt. Bitte schreibt mir doch einen Kommentar und sagt, was gut war und was ich noch verbessern könnte. Ich wäre euch für jeden Tipp viel dankbarer als für eintausend Herzchen.

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