Bären sind starke Tiere, heißt es. Bären sind gefährlich und können Menschen verletzen. Trotzdem sind sie nicht bösartig. Sie greifen nur an, um sich zu verteidigen. Ansonsten kommen sie mit Menschen gut aus. Aber die Menschen wollen sie nicht. Sie machen Jagd auf Bären, weil sie Angst haben. Angst um ihr Vieh, Angst um ihre Kinder, Angst um sich selbst. Keine Vernunft, kein Mitleid, nur Angst vor dem Unbekannten. Wenn ich über Bären rede, denke ich an fastzienierende Tiere, die trotz ihrer Kraft, Größe und Geschwindigkeit hauptsächlich Pflanzen fressen, die mit Menschen leben können, würden diese sie nur lassen. Aber die meisten Menschen denken nicht so. Sie denken bei dem Stichwort "Bär" an Ungeheuer, große Raubtiere mit tödlichen Klauen und Zähnen. Weil sie sie nicht kennen. Weil sie sie nicht kennen lernen wollen, um sich auf ewig hinter Angst und Vorurteilen zu verstecken. Nur weil sie Bären nicht kennen. Nur weil sie fremd sind. Und Fremdes ist gleich Böses. So war es schon immer. So denken die meisten. Aber ich bin nicht wie die meisten.
Als ich hörte, dass Bärenspuren im Wald gefunden worden waren, machte mein Herz einen freudigen Hopser. Ich liebe Tiere. Alle Tiere, auch wenn sie große Zähne und scharfe Krallen haben und laut brüllen. Und gleichzeitig musste ich an den legendären Bruno denken, den sie auch erschossen haben.
Während ich dies schreibe hallen mir wieder die höhnenden Lacher von Torben und seiner Gang in den Augen. "Svennilein heult wegen einem Bären! Hört euch das an!" Alle haben gelacht. Nur weil ich Mitleid habe.
Katja hat zu mir gehalten, die ganze Zeit über. "Hör nicht auf die! Du hast Recht!"
Und dann kam Brummi. Zuerst hörte ich nur Gerüchte. Es fing alles beim Kaufmann an. Mama hatte mich gebeten, Milch und Wurst einzukaufen und da ich sonst nichts zu tun hatte, schnappte ich mir gleich den Korb und ging los. An der Kasse traf ich auf Frau Weinberg, unsere Nachbarin, die sich eingehend mit einer Freundin unterhielt.
"...sie sollen im Wald Spuren gefunden haben. Bärenspuren. Ein Jungtier angeblich. Schlimm genug, dass überhaupt einer da ist. Und diese Tierschützer freuen sich auch noch über die Bestie. Die Förster haben sofort verboten, den Bären zu erlegen."
Ich horchte auf. Ein Bär! Hier?
"Diese Tierschützer!", fauchte ihre Freundin. "Die sehen doch außer grün keine andere Farbe mehr! Einsperren sollte man die! Wenn es nach denen ginge, würden wir alle Vegetarier. Und warum sollte der Bär leben bleiben. Rehe werden doch auch erlegt."
Da sie sonst den ganzen Wald kahlfressen würden, weil solche wie ihr die Wölfe ausgerottet habt, dachte ich, hielt aber den Mund.
"Ganz recht! Sie sollten dieses Biest ausstopfen. Wir befinden uns sonst noch alle in tödlicher Gefahr!"
Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. "Tödliche Gefahr! Es sind schon mehr Menschen an Bienenstichen als an Bärenangriffen gestorben. Aber die Bienen bringt man deshalb auch nicht gleich um!"
Mit verärgertem Gesicht drehte sich Frau Weinberg um. "Was weißt du denn davon. Pass du lieber demnächst beim Spielen auf, sonst kannst du deinem Schmusetier demnächst begegnen
und sein Frühstück werden!", fauchte sie mich an, als seien wissenschaftliche Fakten aus dem Mund eines dreizehnjärigen Schülers gleichbedeutend mit Lügen.
Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht lauthals loszubrüllen, wie unsinnig diese ganze Sorge sei. Endlich kam ich an die Reihe, bezahlte und rannte so schnell wie möglich nach Hause.
"Ein wirklicher Bär?", fragte Mama. Sie mochte diese Tiere mindestens genauso gerne wie ich. "Und den wollen sie erschießen? Es gibt Länder, da gehen Hirten mit ihrem Stock auf Bären los, die ihre Tiere bedohen und hier wollen sie ihm gleich den garaus machen!?"
"Bis jetzt sind es ja nur Gerüchte, aber sollte er wirklich hierher kommen, müssen wir den Tierschutz einschalten!"
Sie nickte. "Ich habe im Moment viel zu tun, aber so bald wie möglich rufe ich den WWF an. Im Notfall können sie ihn ja noch nach Polen oder so umsiedeln."
Ist das wirklich nötig, fragte ich mich. Gleich umsiedeln, nur weil er nicht toleriert wird? Vielleicht gefällt es dem Bären ja hier?
Es war Samstagnachmittag, als ich auf Bärensuche in den Wald ging. Der WWF hatte sich für nächste Woche angemeldet, wir haben die Unterstützung von Bürgermeister Heldercamp zugesagt bekommen, aber immer noch waren die meisten Bewohner des Dorfes für den schnellen Tod des Tiers. Auch die meisten in meiner Klasse waren dafür.
"Wenn ich ein Gewehr hätte, würde deses Biest die längste Zeit wehrlose Tiere gefressen haben!", ereiferte sich Torben am Freitag in der Klasse.
Larissa, seine große Verehrerin sah ihn bewundernd an. "Vielleicht wäre so etwas auch was für einen Orden."
"Sicher!", meinte Torben lässig. "Aber dann fängt Sven wieder an zu heulen."
Ich hätte ihm, so wahr ich diese Worte schreibe, eine reingehauen, wäre Katja nicht in dem Augenblick zur Stelle und hätte mich weggezogen. Torben war ohnehin stärker als ich und hätte den Kampf in null Komma nichts für sich entschieden. Und eine Tracht Prügel von diesem Widerling war das Letzte, was ich gebrauchen konnte.
Nur dank Katjas Zureden überstand ich den Tag.
Nun war ich auf Streifzug durch den Wald. Ich war nicht sehr überzeugt, das scheue Tier zu finden, aber hatte mich dennoch mit meiner Digitalkamera bewaffnet.
Irgendwer hatte mir mal erzählt, dass Bären überwiegend nachts und in der Dämmerung jagen. vielleicht sollte ich mich ncoh ein wenig gedulden. Doch dann stieß ich auf den Fußabdruck.
Eine große kräftige Pranke. Sie konnte nur von einem Bären stammen.
Ich folgte der Färte. Etwas weiter glaubte ich ein Brummen zu hören. Nun zitterten mir die Knie doch ein wenig. Ich hockte mich ins Gras hinter einen großen Baumstamm. Und dann kam der Bär.
Gleich vom ersten Augenblick an nannte ich ihn Brummi. Der Name klingt schon etwas
kindisch, aber er passte. Brummi war nicht so groß, wie ich erwartet, aber kräftiger, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Aus sicherer Entfernung von gut dreißig Metern, setzte ich die Kamera ans Auge, zoomte das Tier heran und schoss ein Foto. Mit dem dichten, flauschigem Fell, der dunklen Nase und den braunen Knopfaugen sah er gar nicht mal so gefährlich aus, wie Bären in Filmen immer dargestellt werden. Gar nicht groß und gefährlich, einfach nur friedlich.
Ich merkte gar nicht, wie der Wind drehte. Erst als Brummi die Nase hob und schnupperte, wurde ich mir dieser Tatsache bewusst. Bären waren weder aggressiv noch darauf aus, Menschen zu töten, wenn sie nicht gerade Jungen zu verteidigen hatten. Aber ein Draufgänger war ich auch wieder nicht. Ich ging langsam zurück. Und da stand er plötzlich vor mir.
Nicht direkt vor mir. Etwa zehn Meter abstand, aber doch gefährlich nahe. Mein Herz raste wie verrückt. Nicht aus Furcht. Ich stand einem der größten Jäger der Erde gegenüber. Ein Tier, das mir mit einem Prankenhieb alle Rippen zerschmettern könnte. Und alles, was ich fühlte, waren Achtung und Respekt.
Brummi drehte kurz den Kopf im Meine Richtung, kam zwei Schritte auf micht zu, schnupperte und fing an, wieder in der Erde noch Würmern und Käfern zu wühlen.
Langsam ließ ich mich auf alle viere nieder, kroch auf ihn zu. Einen Meter, zwei Meter. Das Tier beachtete mich kaum. Ich ging in die Offensive, stellte mich aufrecht hin. Der Bär brummt kurz.
"Hallo, Brummi," sagte ich, "ich bin dein Freund."
Brummi kam auf mich zu schnupperte in meiner vorgestreckten Hand. Ich sah dem Bären in die Augen. Ich glaubte, Tiere können fühlen, was Menschen von ihnen denken und wollen. Nun hatte ich Gewissheit.
Ein Donner grollte in der Ferne. Die ersten Regentropfen fielen auf die Blätter. Ich wusste, dass daraus ein richtiger Sturm werden konnte. Ich wollte mich schon auf den Heimweg machen, als Brummi ein tiefes Grollen ausstieß, als wolle er mir etwas sagen. Ich drehte mich um, er brummte noch einmal, wacklelte mit dem Kopf und ging in eine Richtung davon. Ich sah ihm unschlüssig nach. Nach einer Weler erschien sein zotteliger Kopf wieder zwischen den Bäumen, als wolle er sehen, wo ich bliebe. Ein Blitz zuckte über den Himmel, Donner grollte in der Ferne. Vielleicht kannte er einen Schutz vor Gewitter. Aus dem Wald raus würde ich es sicher nicht schaffen. Also lief ich meinem pelzigem Freund hinterher.
Brummi landete in einer kleinen Fleshöhle. Schon völlig durchnässt ging ich zögernd hinterher. In der Höhle war es trocken. Ich lehnte mich gegen die Felswand. Kurze Zeit später, stupste Brummi mich mit seiner feuchten warmen Nase an, als wollte er sagen: Geht es dir gut?
"Ich bin okay, mein Freund", flüsterte ich ihm ins Ohr und streichelte ihm das Fell. Es war kratziger, als ich angenommen hatte, aber wunderbar warm. Brummi gab ein Geräusch,
wie ein Schnurren von sich, als wolle er sagen, das tut gut! Wie ähnlich der Mensch dem Tier doch war.
Ich erwachte von lauten Männerstimmen. "Hier sind Spuren! Der Bär muss hier gewesen sein!" Ein Klicken, als wüde ein Gewehr entsichert. Sofort war ich hellwach.
"Brummi, wach auf." Der Bär brummte im Schlaf, drehte sich ein wenig und pennte weiter.
"Hier sind Spuren von Turnschuhen. Das muss der Junge gewesen sein. Wenn ihm bloß nichts passiert ist."
Bloß michts passiert! Ohne Brummi wäre ich womöglich vom Blitz erschlagen worden!
"Wir sollten hier drüben weitersuchen!" Die Stimmen entfernten sich.
Ich stubste meinen tierischen Freund heftiger an. Er öffnete knurrend ein Auge, als wolle er fragen: Was ist denn los?
"Wir müssen hier weg, sie werden dich erschießen!"
Langsam setzte sich der Bär in Bewegung.
Ich ging weg vom Dorf. Hauptsache, der Bär war von den Jägern fern. Brummi war selbst in seinem trottendem Gang schneller als ich, drehte sich aber alle paar Minuten zu mir um, als wolle er mich auffordern, schneller zu gehen. War ihm der Ernst der Lage bewusst?
Etwas raschelte hinter uns. Ich sah dem Abhang hinunter. Drei in Tarnfarben gekleidete Gestalten mit Gewehren bestiegen den Hang.
"Brummi, lauf!" Der Bär schien mich nicht zu verstehen.
"Wir müssen hier weg!" Zu allem Überfluss setzte er sich auch noch auf den Boden und schnupperte an einem Strauch Wachholderbeeren.
"Du kannst jetzt nicht essen!" Schon mampfte er genüsslich die süßen Früchte.
"Da oben ist irgendwas!", tönte es von unten herauf. Ich spürte eine Schweisperle auf meiner Stirn.
Der erste Jäger kam in Sicht. "Mensch, da bist du ja, was meinst in welch eine Angst du uns alle versetzt hast.
"Es gibt keinen Grund, sich Sorgen um mich zu machen!", erklärte ich wahrheitsgemäß.
"Junge, du..." Seine Miene veränderte sich. Brummi! Warum war er nicht weggelaufen?"
"Bleib ganz ruhig stehen, Sven!" Der Mann legte sein Gewehr an. Seine Kameraden schauten hinter den Bäumen hervor.
"Nein..."
"Er ist genau hinter dir!"
"Nicht schießen!" Endschlossen stellte ich mich in die Schusslinie.
"Geh aus dem Weg! Er greift dich sonst an!" Auch die anderen nahmen ihre Waffen in Anschlag.
"Er ist friedlich! Er greift keine Menschen an." Ich spürte, wie Brummi auf mich zukam.
"Sei nicht so ein verdammter Idiot!"
"Die Idioten seid ihr!" Ich ging rückwärts auf meinen ahnungslosen Freund zu, der
sicher keine Ahnung hatte, in was für einer Gefahr er schwebte. "Der Bär hat mich zu einer Höhle geführt, wo ich die Nacht verbringen konnte. Er hat mich gerettet."
"Es ist ein Tier!"
"Jeden Tag wird jemand von einem Hund angegriffen und sie bleiben trotzdem die bessten Freunde des Menschen!"
"Das ist etwas Anderes!"
"Genau! Wenn das hier nämlich die Bestie wäre, die ihr daraus macht, wäre ich schon tot!" Ich spürte Brummis weiche Nase an der Seite, steckte die Hand aus und streichelte ihm das Fell, ohne meinen festen Blickkontakt zu verlieren. Der Mann senkt die Waffe, sieht abwechselnd mich und den Bären an und nickt.
Brummi wurde schlussendlich doch in einen Zoo verfrachtet. Er ist ganz in der Nähe und ich kann ihn jederzeit besuchen. Auf der Broschüre vor seinem Gehege ist ein großes Foto von ihm und mir zu sehen, mit einer Zusammenfassung unserer Geschichte. Sie ging durch die Zeitungen und Nachrichten im ganzen Land und schließlich auf dieses Blatt Papier. Als Schlusswort möchte ich noch dies sagen: Das was der Mensch sieht, oder zu sehen glaubt ist nicht immer das, was es auch ist. Also, wenn ihr von einem gefährlichen Tier in eurer Nähe hört, einem wildem Bären oder einem Wolf, denkt an meine Geschichte und ihr werdet dieses Tier mit ganz anderen Augen sehen.
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2012
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