Die Scheinwerfer tasteten wie zwei dünne Finger durch die kalte Dunkelheit. Fließend und ziellos. Immer wieder einen anderen Ort erkundend. Kahle Äste und Gestrüpp. Dicke Stämme und Dornen. Leitplanken und Steine. Seine Hände umklammerten das Lenkrad, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Das Herz pochte wild unter der Haut und fast so schnell wie der Beat in seinen Ohren.
Sein Freund auf dem Beifahrersitz lachte und schrie: „Boah, das hier ist viel geiler als dieser langweilige Mist auf der Playstation. Die Karre ist der Hammer. Drück drauf, da geht noch was…“ Mit dieser Aufforderung drehte er die Musik laut und sie sangen im Chor: „I walk a lonely road, the only one that I have ever known“
Er drückte das Gaspedal weiter durch und das Adrenalin pumpte durch seine Venen. Noch nie hatte er solch einen Kick gespürt. Eine Art grenzenloser Freiheit, als ob er unverwundbar sei. Ein wilder Ritt durch die Ewigkeit, der ihm kein Mensch mehr wird nehmen können.
Im Fond des Wagens wurde die nächste Bierflasche geöffnet: „Prost, ihr beiden. Auf dem Rückweg darf ich aber mal fahren... Pass bloß auf, dass die Bullen uns nicht erwischen.“ Sein Kumpel drehte den Kopf nach hinten: „Quatsch doch keinen Blödsinn. Bis Fasching sind es noch ein paar Tage, da bleiben die heute noch schön im warmen Büro sitzen. Uns passiert schon nix.“ Mit dieser Feststellung stellte er auf volle Lautstärke und sie grölten weiter: „Where the city sleeps and I'm the only one and I walk alone…“
Er schnitt die engen Kurven und sah die Bäume am Fenster vorbei fliegen. Der Wagen lag gut auf der Straße und das helle Quietschen der Reifen war innen nicht zu hören. Höchste Konzentration und keine Angst. Es war nicht mal spät, doch um diese Zeit waren die Läden bereits geschlossen und die braven Leute saßen vor der Glotze. Tagesschau, Gottschalk und vielleicht noch das Quiz mit Jürgen Busse, wenn sie nicht auf der Couch einschliefen. Nein, so würde er niemals leben...
Die vielen Armaturen leuchteten bläulich und vermittelten das Gefühl, man säße im Cockpit eines Fliegers. Die Nadel des Tachos zeigte über 100 km/h an. Mehr war auf dieser Landstraße nicht möglich, oder etwa doch? Gleich würde eine kurze Gerade kommen, das wäre ein Versuch wert... Sein Freund holte das Handy raus und filmte ihn: „Mann, das ist das Beste, was ich je erlebt hab...“
Plötzlich stand da etwas auf der Straße. Dunkel, erstarrt und still. Groß und mit einem hellen Punkt in der Mitte. Viel heller als die Sterne über ihnen… Es schien auf etwas zu warten, unfähig zu einer Bewegung. Und da waren noch zwei Sterne. Klein und doch intensiv. Er sah ihr Leuchten und spürte darin die Zeit, die blitzartig zusammenschrumpfte. Die Bremsen griffen, der Gummi roch, sein Kopf flog nach vorn, die Bierdosen knallten gegen die Scheibe und jemand schrie. Die Welt drehte sich wie der bunte Kreisel, der seit langem auf dem Dachboden verstaubte…
Das Dunkle zog sich immer mehr zurück, denn auf der Nordhalbkugel hatte der Frühling begonnen. Jeder im Dorf wusste das und dieses Ereignis musste gefeiert werden. Es war nicht das erste Fest des Jahres gewesen, aber das schönste. Die Spanferkel waren rotbraun gegrillt worden, der Musikverein hatte gespielt und der Bürgermeister hatte seine Rede gehalten. Die Wirte, der Metzger, die Feuerwehrleute, die Landfrauen und die Rettungssanitäter waren gelobt worden: „Ohne euch wäre dieser Abend nicht möglich.“ Die Menschen hatten stolz und zustimmend geklatscht, denn der halbe Ort war emsig gewesen.
Die letzten Tage hatten die Bauern eine Menge Baumschnitt auf der großen Wiese oben am Forst aufgehäuft und gebetet, dass es nicht regnen möge. Damit sich keine Hexe im Ort verirren konnte, hatten sie alte Besen mit Reisig um den Scheiterhaufen aufgestellt. So hatten es schon ihre Väter und die Väter davor getan. Heute Morgen dann waren die jungen Burschen stundenlang beschäftigt gewesen, den Maibaum aufzustellen. Sie hatten eine Grube in die Wiese gegraben und die hohe Birke mit Stangen befestigt. Gleichzeitig hatten die Alten zu Ehren der Mutter Natur einen Altar aufgebaut. Sein Platz war am Brunnen, wo die grünen Efeu-Kränze und frische Blumen besonders farbenprächtig aussahen. Erst danach war jeder bereit gewesen, den Frühling willkommen zu heißen.
Die Einwohner hatten den ganzen Nachmittag gegessen, gelacht und gesungen, bis die Sonne unterging. Danach war stundenlang getanzt und getrunken worden. Es war die Zeit, als Tag und Nacht fast überall auf dem Erdenrund in etwa gleich lang waren, und das Dorf hatte die Balance zwischen Licht und Dunkelheit gefeiert. Die Kinder hatten Schabernack getrieben. Keine Mülltonnen, Fußmatten und Gartenmöbel waren vor ihnen sicher gewesen. Doch mittlerweile lagen sie in ihren Betten und träumten vermutlich von ihren Streichen. Auch ihre Eltern schliefen. Die Väter nicht mehr nüchtern und die Frauen gewiss, dass ihre Gatten am nächsten Morgen nur ein Häufchen Elend sein würden: „Oh Gott, nie wieder Alkohol. Schatz, holst du mir mal ein Aspirin.“ Aber noch war es nicht soweit; noch war die Nacht die Herrscherin über alles.
Kutti, Schlörfie und Plopp saßen allein am Lagerfeuer, denn auf sie war das Los der letzten Wache gefallen. Drei beste Freunde, die seit der Grundschule alles geteilt hatten: Hausaufgaben, Playmobil, Panini-Bildchen, Fastfood, CDs, Kippen, Dosenbier, Träume und Geheimnisse. Jeder im Ort kannte ihre Namen und jeder wusste Geschichten über sie zu erzählen. Die Kindergärtnerin, die Lehrer, der Schlossermeister, die Mädchen und der Besitzer der Autowerkstatt. In diesem Kaff blieb nichts verborgen, denn Tuscheln war die drittliebste Beschäftigung in den Fachwerkhäusern. Natürlich hatten auch der Hilfspolizist und die Frau im Jobcenter ein paar Akten angelegt, aber dadurch fühlten sich die Drei noch mehr verbunden.
Kutti freute sich, dass sie noch genug Bier hatten: „Jungs, die Nacht wird lang und wir müssen wachsam sein. Niemand wird den Baum klauen, das sage ich euch.“ Er war der Älteste und hatte immer gewusst, was das Beste ist. Für sich selbst und für seine Freunde. Er hatte die besonnen Entscheidungen getroffen, wenn Plopp und Schlörfie nicht mehr weiter wussten. Vermutlich war er auch der Gescheiteste, denn nur er hatte Abi gemacht. Aber diesen Gedanken würde er nie laut aussprechen.
Plopp öffnete die nächste Flasche und betrachtete die Birke: „Ich bin bereit, Alter. Guck mal, wie cool die bunten Fähnchen im Feuerschein flattern.“ Dann nahm er einen tiefen Schluck und wärmte sich an den Flammen. Vor einer Stunde war er barfuß durch das nasse Gras an den Waldrand gelaufen. Er hatte die Feuchtigkeit an den Füßen gespürt und die kalte Luft eingesogen. Von diesem Ritual hatte seine Großmutter erzählt, als er noch Kind war, und ihre Worte hatte er niemals vergessen. In dieser besonderen Nacht soll man Milch und Honig in ein Behälter vermischen und drei Kerzen anzuzünden. Danach beschwört man das Wachstum und die Fruchtbarkeit. Schließlich wünscht man sich etwas, das noch immer unerfüllt ist. All das hatte Plopp beachtet. Nun war es fast 03:00 Uhr und er fragte sich, ob diese Zeremonie wirklich halten würde, was die Großmutter versprochen hatte. Er war der jüngste der drei Freunde und hätte die Erfüllung seines größten Wunsches am meisten verdient, so viel stand fest.
Schlörfie war sich sicher: „Genau, der Baum bleibt hier und ich würde auch niemals einer Auslöse zustimmen; dafür ist genug Bier da.“ Er wollte bis Tagesanbruch wach bleiben und danach schlafen, bis es Zeit war, die Fußballschuhe zu schnüren. Sein Verein stand auf dem vorletzten Platz und der Trainer brauchte seine Dribbelkünste. Er war schon immer der sportlichste von ihnen gewesen und das konnte man seinem Körper auch ansehen.
Kutti hob die Flasche: „Auf das Fest und auf uns. Auf das wir immer durch Dick und Dünn gehen werden...“
„Ich geh heute nirgendwo mehr hin, dafür bin ich zu besoffen“, lallte Plopp und fiel zur Seite. Er war nicht nur der Jüngste, er trank auch immer das meiste, wenn die Freunde zusammen waren.
„Na super, du hast auch schon mal mehr vertragen“, seufzte Kutti und starrte in die hellen Flammen.
Schlörfie nahm seine Gitarre und klimperte auf den Saiten. Früher wollte er mit den Jungs eine Band gründen, aber dazu war es nie gekommen. Er wäre gerne der Sänger gewesen, aber bei jedem Versuch hatten die Katzen gejault. Seit dieser Zeit hatte er lieber im Mittelfeld gestanden und nur gesungen, wenn er betrunken war. Und genau das war jetzt der Fall. Kutti verzog sein Gesicht: „Manno, hör bloß damit, sonst wird das Bier schlecht. Spiel einfach nur auf der Klampfe rum. Mehr brauchst du nicht.“ Schlörfie brummelte und stimmte den nächsten Song an.
Ein paar Minuten lang genoss Kutti die Musik, dann sackte sein Freund über der Gitarre zusammen. „Klasse, jetzt kann ich die halbe Nacht allein hier sitzen und wach bleiben... Weit und breit kein Mensch und ich hab nicht mal den Playboy dabei, den ich letztens an der Tanke geklaut hab.“ Er trank noch einen Schluck, warf die leere Flasche hinter sich und öffnete die nächste.
Es war absolut still um diese Zeit, die Ruhe war eingekehrt und nicht mal ein Hund bellte im Dorf. Die Silhouette der Wipfel wurde vom Halbmond beleuchtet und die Welt war friedlich. Erst ganz leise, kaum wahrnehmbar, hörte Kutti eine Tonfolge. Er hob den Kopf und schaute rüber zu Schlörfie, doch der lag mittlerweile auf der Seite und umarmte den Korpus seiner Klampfe. Die Töne wurden etwas lauter und klarer. Kutti erkannte die Melodie und zog nachdenklich die Stirn in Falten: „Manno, warum fällt mir der Name nicht ein, ich hab das Lied schon so oft gehört.“ In diesem Moment wurde ihm langsam bewusst, wie unwirklich die Situation war.
Ruckartig drehte er den Kopf und nahm eine Gestalt zwischen den Fichten wahr. Sie trug ein helles Kleid und bewegte sich nicht. Den Umrissen nach dürfte es eine junge Frau sein, überlegte Kutti, vielleicht sogar ein Mädchen. Aber er war sich nicht mal sicher, ob es überhaupt ein Mensch war. Erneut wehte der Wind diese Melodie an sein Ohr und er stand langsam auf. Das, was er eben gesehen hatte, bewegte sich nach hinten, weg von ihm. Hinein in die Finsternis und zwischen die Bäume.
Er stand auf. Seine Schritte waren erst zögernd, dann wie ein Schlendern, und schließlich wurden sie schneller. Kutti wollte wissen, wer oder was ihm da einen Streich spielen wollte. Er folgte dem hellen Gesang und erreichte den Waldrand. Zunächst konnte er nichts sehen und seine Finger tasteten an feuchter Rinde und Moos entlang. „Shit, warum hab ich die blöde Taschenlampe im Rucksack vergessen.“ Seine Pupillen mussten sich erst an das schwache Licht gewöhnen. Plötzlich stand sie da, nur ein paar Meter entfernt. Zweifellos war es eine junge Frau, die liebevoll an ihrem Kleid spielte. Leider konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, aber sie schien zu lächeln, während sie sang. Kutti schüttelte fassungslos den Kopf: „Was ist denn hier los? So viel habe ich gar nicht getrunken. Und schlafen tue ich auch nicht...“ Die Frau drehte sich um und lief weiter ins knackende Unterholz. Sie schien genau zu wissen, wo sie hinzutreten hat. Er folgte ihr, während sie einen Pfad überquerte und einen Hang hinauf lief. „Hey, bleib bitte stehen. Wo willst du denn hin?“ Kutti keuchte und spürte ein Ziehen in den Rippen. „Wie kann sie nur so flink und schnell sein?“ Er stolperte über einen Ast, torkelte, richtete sich wieder auf und erstarrte vor Schreck...
Plopp zuckte im Schlaf mit den Schultern, weil ihm kalt war, und diese Bewegung weckte ihn. Er rieb sich den brummenden Schädel, während die Sinne langsam zurückkehrten: „Verdammt, das Feuer geht bald aus. Ich muss den Schlafsack holen. Und wenn ich schon mal dabei bin, hol ich mir noch ein Bier.“ Auf allen Vieren kroch er zum Rucksack und vergewisserte sich mit einem seitlichen Blick, dass die Birke genau dort stand, wo sie hingehörte. Plopp musste nicht lange suchen, bevor er das wärmende Teil aus Polyester gefunden hatte. Langsam stand er auf, fand sein Gleichgewicht wieder und wickelte sich ein. Der Kasten war in Griffweite und erst da fiel ihm auf, dass Kutti nirgendwo zu sehen war. Er schaute sich um und murmelte: „Schlörfie liegt da und pennt. Ist ja mal wieder typisch. Aber Kutti ist weg...“ Plopp runzelte die Stirn: „Vermutlich ist er pinkeln. Könnte ich auch gut gebrauchen.“ In diesem Moment hörte er ein dumpfes Grollen aus dem Wald. Er wunderte sich ein wenig und rüttelte an den Schultern seines Freundes: „Schlörfie, wach auf. Da stimmt was nicht. Drüben im Wald. Ich glaub, die wollen den Baum klauen.“
Während Plopp sich wieder aus dem Schlafsack schälte, zog sein Kumpel fröstelnd die Schultern hoch und grummelte: „Bist du verrückt? Lass mich pennen, du Idiot. Kein Mensch klaut um diese Zeit den verdammten Baum. So blöd können nicht mal die Jungs aus dem Nachbardorf sein... Wirf lieber Holz ins Feuer, ich friere mir hier noch was ab.“ Aber Plopp wollte der Sache auf den Grund gehen und dafür brauchte er seinen Freund. So war es schon immer gewesen und das würde heute Nacht nicht anders sein. Er zerrte Schlörfie nach oben und gab ihm ein Bier: „Da, kannste mitnehmen, und jetzt komm...“
Die Bäume waren vielleicht 100 Meter weg und Plopp schritt zielstrebig auf sie zu. Schlörfie folgte ihm widerwillig mit einigem Abstand... Dann blieb er stehen und hörte das Dröhnen im Wald. Er kannte dieses Geräusch aus den Videos auf Youtube. Es klang, als ob ein Tornado direkt auf sie zukäme. Sein Blick wanderte besorgt zum sternenklaren Himmel und sein Kumpel verschwand zwischen den Fichten. War es Skepsis oder Furcht, das wusste Schlörfie nicht, als er die Beine in die Hand nahm: „Plopp, das ist doch verrückt. Kein Ast bewegte sich, nicht mal ein Grashalm. Keine Wolke ist zu sehen, aber der Wind wird immer stärker. Was ist da los? Wo willst du denn hin?“
Das Mädchen stand genau vor Kutti und hinter ihr befand sich der Eingang eines Fuchsbaus, welcher unter einem Teil freigelegter Wurzeln gegraben worden war. Sie schaute Kutti an und streckte beide Arme in seine Richtung. Ihr blondes Haar schimmerte im Mondlicht und sie flüsterte etwas, das er nicht verstand. Eines ihrer Augen schien anders zu sein als das andere. Es war dunkel wie die Tiefen des Ozeans, wie ein Krebsgeschwür, wie das Ende des Universums oder wie... Er musste kurz überlegen... wie der Tod selbst. Rational war das unmöglich, wusste Kutti, und dennoch war er gefangen von diesem Anblick.
Von einer Sekunde zur nächsten hörte das Grollen auf und die Stille kam zurück. Plopp hielt an und sah sich fragend um. Er versuchte sich zu orientieren, doch wusste er nicht mal, wo er sich befand. Um ihn herum standen fremde Bäume, dessen Art er noch nie gesehen hatte, und der Wald glich einem Irrgarten. Er stolperte in die Richtung, von der er glaubte, das vertraute Lagerfeuer finden zu können. Plötzlich waren da zwei rote Lichter zwischen den Stämmen und Plopp blieb stehen. Ihm war klar, dass er vorsichtig sein musste. „Vielleicht ist ein Förster mit seinem Wagen unterwegs, oder einer von den durchgeknallten Ökos, die ständig die Natur retten wollen“, beruhigte er sich selbst. Aber beide Optionen waren sehr unwahrscheinlich, das wusste er. Ein weiterer Schritt und dann sah er helle Zähne, scharf wie Messer. Und er hörte ein zorniges Knurren, so gefährlich wie das eines Wolfs. Aber Wölfe gab es in der Gegend nicht, höchstens im äußersten Osten oder unten in Bayern. Was es auch war, es war eine Art Tier, und die Lichter waren Augen. Plopp fixierte das Vieh und war wie gelähmt vor Angst. Zu spät bemerkte er, dass etwas von den Bäumen fiel. Vielleicht sprang es auch, er vermochte es nicht zu sagen. Alles ging viel zu schnell und fauliger Geruch strömte in seine Nase. Das Ding, was immer es war, drückte ihn fest zu Boden, warme Haare streiften seine Wangen und spitze Nadeln ritzten in die Haut...
Schlörfie stieg einen kleinen Hang hinauf und musste sich erst mal setzen, als er ihn erklommen hatte. Seine Lunge brannte und die Beine taten weh. „Mist, niemand zu sehen. Wo sind die anderen nur“, hörte er sich sagen und sein Kopf zuckte hektisch hin und her. Im nächsten Moment traute seinen Augen nicht, als er den Hang hinab blickte. Ein buntes Kinderkarussell stand auf einer Lichtung, drehte sich im Wind und die Holzpferde erwachten zum Leben. Sie bewegen sich auf und ab, während sie die Kutschen zogen. Lichter gingen an und beleuchteten ein kleines Kassenhäuschen. Aus einem Leierkasten erklang plötzlich eine Melodie, die Schlörfie sehr gut kannte, doch es war kein Kinderlied, obwohl das viel besser zu dieser verrückten Szene gepasst hätte. Wieso konnte er Farben sehen, wo es doch so dunkel war? Wieso konnte er in diesem infernalischen Dröhnen ein Lied hören? Wieso war das Karussell beleuchtet, wo es doch weit und breit kein Strom gab? Er rief nach Plopp und ihm fiel auf, dass er seine eigene Stimme nicht hörte.
Plötzlich fielen dichte Schneeflocken in sein Haar. Was hier passierte, durfte nicht sein. Es konnte nicht sein. Die Welt war nicht mehr wie dieselbe… Oder spielte ihm sein Verstand einen Streich? War er verrückt geworden? „Ich muss weg, raus aus dem Wald. Ich muss Hilfe holen und meine Freunde finden.“ Schlörfie zog sein Handy aus der Jacke, aber das Display zeigte kein Netz. Er wollte sich umdrehen, doch seine Schuhe schienen festgefroren. Gleichzeitig spürte er Eiseskälte, die durch jede Pore seiner Haut drang. Etwas drückte heftig an seinem rechten Handgelenk und er stöhnte vor Schmerz. Sein Blick wanderte nach unten und er registrierte, wie sich die Zeiger der Armbanduhr rückwärts drehten. Immer schneller, genau wie sich das Fahrgeschäft immer schneller drehte, allerdings in entgegengesetzter Richtung. Schlörfie schrie, aber niemand konnte ihn hören. Jede Flocke zerfloss auf seinem Gesicht und mit ihnen sickerte grenzenlose Einsamkeit in die Adern. Dann flehte er nur noch, während unzählige Würmer aus der dunklen Erde krochen und an seinen nackten Füßen leckten...
Die junge Frau vergrub ihre Finger in seine und es fühlte sich sanft an. Kuttis Atem ging stoßweise und er verstand nicht, was ihre Geste zu bedeuten hatte. Sie lächelte und ihre Füße glitten nach hinten zum Eingang der kleinen Höhle. Einer nach dem anderen. Sorgsam und doch zielstrebig. Sie zog ihn mit sich und seine Neugier wurde größer als die Angst, die er vor einer Minute gespürt hatte. Nicht lange und die Erde verschluckte sie beide. Kutti traute seinen Sinnen nicht. Was tue ich hier? Wer ist das Mädchen? Der Bau kann niemals so groß sein, dass er Platz für mich hat. Und erst recht nicht für uns beide.
Trotzdem krochen sie vorsichtig weiter, während es enger und kälter wurde. Der Weg führte tiefer als die Wurzeln des Baumes ragten. So tief, bis Kutti ein helles Licht sah. Ganz weit weg und doch beängstigend nah. Alle Farben dieser Welt schienen sich in ihm zu vereinen. Erst da fiel ihm auf, dass er es schon mal gesehen hatte. Im anderen Auge dieses stummen Geschöpfs, dessen Hände nicht loslassen wollten, während hinter ihm die Erde einbrach…
Auszug aus dem Polizeibericht:
Inspektion I / Bleichstraße
AZ 126001038
Tattag: 23.07.2016
Tatzeit: 16:23 Uhr
Tatort: Gem. 3 / Fl III
Zeuge/in: Herr A. Theobald
Beweismittel: Zeuge/aufnehmender Beamter
Reg-Nr. 454666
Anruf in der Leitzentrale um 18:44 Uhr/Eingang der Meldung:
„Hilfe, mein Hund hat da etwas ausgebuddelt. Ich glaube, da liegt ein Mensch oder sowas. Jedenfalls sieht es nach einem Knochen aus. Kommen Sie schnell vorbei.“
Feststellung vor Ort:
Die Örtlichkeit wurde von PM Schmitt und POM Müller eine halbe Stunde nach dem Anruf aufgesucht. Bereits vom Feldweg aus konnte lautes Hundegebell vernommen werden. Die Beamten wurden bereits von Herrn Theobald erwartet, der folgenden Sachverhalt schilderte:
Am heutigen Nachmittag habe er mit seinem Hund einen Spaziergang durch den Wald getätigt. Anstatt der gewohnten Strecke wählte er einen anderen Weg, um sich die Baustelle anzusehen, wo die Windräder stehen sollen. Plötzlich sei der Jack Russel Terrier aufgeregt einen Hang hoch gelaufen, wo er irgendwann stehenblieb, mit dem Schwanz wedelte und eine Erdkuhle ankläffte. Der Zeuge erklärte, er sei seinem Terrier gefolgt, habe Äste und Laub entfernt und bei näherem Hinsehen ein Stück Knochen erkannt. Der heftige Starkregen im vergangen Juni hat eine große Menge Erde weg gewaschen und daher habe er nach kurzer Suche einen weiteren Knochen und einen verrosteten Schlüsselbund entdeckt. Sodann habe er den Notruf gewählt, da es sich nach seinem Dafürhalten um einen Menschen zu handeln schien.
PM Schmitt und POM Müller fanden nach vorsichtiger Suche weitere Knochenteile, sicherten die Umgebung ab und verständigten einen Arzt sowie die Kollegen der KTU.
Notizen für den internen Zweck/Dienstbetrieb (nicht für die Öffentlichkeit bestimmt):
Die KTU fand menschliche Überreste von drei Personen sowie u. a. verrottete Kleidungsstücke sowie 2 BPA. Ebenso wurde ein Rucksack geborgen, in dem sich ein Mobiltelefon älteren Fabrikats befand. Dem Techniker gelang es, den Chip auszulesen, welcher einige Fotos, Namen und Telefon-Nummern gespeichert hatte. Zudem konnten zwei beschädigte Videodateien hergestellt werden, welche diesem Leichenfund ab sofort höchste Dringlichkeit und Brisanz verleihen.
Der erste Film wurde im Inneren eines Kraftfahrzeugs aufgenommen. Der Wagen scheint zu schleudern, leider werden alle Stimmen von dröhnender Musik überdeckt. Allerdings zeigt das Video, wie das Fahrzeug mit großer Wucht eine menschliche Gestalt trifft. Auf dem zweiten, sehr kurzen Film erkennt man Gesichter, augenscheinlich zwei junge Männer in jugendlichem Alter. Sie beugen sich über eine reglose Person und brüllen panisch durcheinander. Laut Eigenschaft des Datenträgers sind beide Videos am Abend des 29.01.2005 entstanden, als Stefanie R. auf einer Landstraße verunfallte. Die junge Frau war auf ihrem Fahrrad von einem Kfz erfasst worden und starb noch am Unfallort. Auf den Befund des Pathologen wird verwiesen. Allerdings konnte ihr Tod nicht vollständig geklärt werden, da sich der/die Verursacher vom Unfallort entfernt hatten und nie ermittelt werden konnten.
Dem zweiten Video und dem Fund der BPA entsprechend, handelt es sich bei den Leichen mutmaßlich um die drei junge Männer, die seit dem 30. April 2010 als vermisst gelten. Näheres wird die Obduktion ergeben. Eine Großfahndung sowie Aufrufe in den Medien konnten damals auch nach Monaten keine Ergebnisse erbringen. Allerdings hatte es keinerlei Hinweise auf ein Gewaltverbrechen gegeben, sodass die Maßnahmen eingestellt wurden. Zudem hatten mehrere Zeugen ausgesagt, dass die drei Männer des Öfteren ein gemeinsames Leben in Südeuropa in Betracht gezogen hatten.
Es ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass zwei von ihnen vor 11 Jahren den Tod von Stefanie R. herbeigeführt haben. Weitere Analysen der beiden Videos werden angeordnet, die beiden Alt-Akten wieder geöffnet.
Texte: Zaubertrommel
Cover: Zaubertrommel
Lektorat: Zaubertrommel
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2017
Alle Rechte vorbehalten