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Flussgebet


Die Sonne hat auf ihrer Bahn durch den Tag schön längst die Mitte überschritten und trotzdem ist es noch hell. Die Natur ist erwacht und versucht vehement, alles nachzuholen, was in den vergangen Monaten unmöglich schien. Der Winter war lang und kalt gewesen. Viele dunkle Monate waren vergangen und ganz Deutschland hatte sich nach dem Frühling gesehnt. Ich auch, stelle ich mit einem Seufzer fest...
Doch nun ist der Frühsommer da und ich kann endlich wieder ohne Jacke draußen sein. Hohes Gras kitzelt meine nackten Füße und ein leichter Wind weht mir um die Nase. Ich sitze an dem Ort, der mir seit vielen Jahren vertraut ist, und schaue mich um. Blumen blühen in allen Farben, die Vögel haben Junge bekommen und die Bäume sind nicht mehr kahl. Der Fluss vor mir fließt immer noch schnell, aber seine Strömung hat mittlerweile an Kraft verloren. Mein Blick geht zur Uhr. Mir bleiben noch ein paar Minuten und ich erinnere mich an längst vergangene Tage…


Schon als kleines Kind saß ich an diesem Platz. Damals, als die Welt sich noch langsamer zu drehen schien als heute. Mein Großvater zeigte mir, wie man Fische fangen kann und ich durfte die Ausrüstung tragen, während er mich an der Hand nahm. Diese Stelle war unter den Anglern beliebt, weil es hier sehr viele Fische gab. Man brauchte nur ein klein wenig Geduld und den richtigen Köder, bis es an der Schnur riss. Ich war immer aufgeregt, sobald eine Forelle am Haken zappelte.


Die Sonne ist schon wieder gewandert, stelle ich fest. Gleich wird die Feuerwehr kommen und ein großes Schlauchboot dabei haben. Das soll mich zum Senioren-Heim bringen, damit ich ein paar Habseligkeiten einpacken kann. Dafür werden mir nur ein paar Minuten vergönnt sein. Ich drehe meinen Kopf und schaue zur Straße hoch. Vor vierzig Jahren gab es hier nur Trampelpfade...


Ein paar Jahre nach dem Tod meines Opas, ich war mittlerweile in der Volksschule, schlich ich mich ganz oft mit meinen Kameraden hierher. Meistens im Juli, bevor die großen Ferien begannen. Dann versteckten wir unsere Räder im dichten Gebüsch und mussten vorsichtig sein, bis wir sicher sein konnten, dass wir allein waren. Unsere Eltern durften nichts von den Ausflügen wissen, weil wir ja Hausaufgaben machten sollten. Aber wer lernt schon gerne Mathe und Deutsch, wenn das Thermometer unerbittlich nach oben klettert und das kühle Wasser lockt?


Langsam wird es Zeit für mich. Die Helfer in den Uniformen werden bestimmt nicht auf mich warten. Ich greife meine Tasche und richte mich auf. Die müden Knochen wollen nicht mehr so, wie ich gerne möchte. Früher, als ich jung war, war das ganz anders. Da konnte ich stundenlang am Fluss entlang laufen…


Manchmal sahen meine Freunde und ich den langen Schlepp-Kähnen zu, die schwer beladen an uns vorbei tuckerten. Wohin wohl ihre Reise gehen wird, fragten wir uns? Ob sie bis ans Meer oder gar nach Amerika fahren würden? Die Kapitäne müssen ein tolles Leben haben, überlegten wir uns, weil sie so ungebunden und frei waren. An solchen Tagen reichte es schon aus, bis zu den Waden in der Strömung zu stehen, und schon wurden wir zu Huck Finn und Tom Sawyer.


Ich krame in meiner Tasche und hole das Faltblatt raus, das die wichtigsten Anweisungen für die nächsten Tage zusammen fast. Früher hatte ich immer ein Buch dabei und jedes Wort war kostbar gewesen. Heute tanzen ganz andere Worte in meinem Kopf herum: Pegel, Flutwelle, Höchststand, (schon wieder) Jahrhundertflut, Scheitelpunkt, Sandsäcke, Krisen-Stab, lokale Unwetter, operative Kräfte, Spenden-Siegel, Elementar-Schaden, Wasserpumpen, Not-Unterkunft oder THW. Auf dem Weg hierher habe ich viele fremde Gesichter gesehen. Es waren junge Leute und sie hatten Gummistiefel, Handschuhe und Sonnencreme dabei. Soweit ich weiß, möchten sie helfen. Das klingt verrückt, weil sie dafür kein Geld verlangen und nicht mal aus dieser Gegend stammen. Sie sprechen ein Dialekt, das ich nur aus dem Fernsehen kenne. Nun muss ich sprachlos weinen, weil es wohl doch noch Mitgefühl und Solidarität gibt. Und weil diese Menschen selbstlos anpacken wollen, wie ich es auch ein Leben lang getan hatten. Teilweise aus ganz einfachen, naiven Gründen...


Als Kinder hatten wir mal ein Floß gebaut, mit dem wir flussabwärts fahren wollten. Viele Wochen waren mit Sägen, Nähen und Hämmern vergangen, bis das Abenteuer los gehen konnte. Aber wir sind nicht weit gekommen und mussten abends unseren Eltern erklären, warum die Kleider so nass waren.


Nun werde ich unruhig und schaue wieder auf die Uhr; dann wieder auf die braune Brühe vor mir. Dieser Fluss war schon da, bevor es mich und Lina gab. Bevor es all die Häuser und Straßen und Fabriken gab. Ich frage mich, ob die Gründer der Stadt geahnt haben, dass er eines Tages so großes Unheil bringen wird. Bei dem Namen Lina gleiten meine Gedanken wieder ab...


Als ich älter wurde, blieb dieser Platz am Fluss eine Art vertraute Heimat. Natürlich war ich nicht mehr so ungestüm und es gab nicht mehr so viel zu entdecken. Das Wasser floss dahin wie meine Gedanken: mal schnell und mal träge. Trotzdem gab es aufregende Momente, die ich nie vergessen wollte. Hier machte ich Lina einen Heiratsantrag. Das Mädchen, das im Laden meiner Eltern ausgeholfen und mir verstohlene Blicke zugeworfen hatte. Die Frau, die so tolle Briefe schreiben konnte. Die Frau, mit der ich heimlich Ausflüge ins Umland gemacht hatte, während ihre Eltern gegen unsere Freundschaft waren. Die Frau, von der ich meinen ersten Kuss bekommen hatte; natürlich auch hier an diesem Platz.


In der Ferne ist die Autobahn zu sehen und ich blinzele leicht. Wenn mich meine Augen nicht täuschen, ist schon wieder ein Konvoi unterwegs. Jedenfalls sind es große Autos, die wie eine Perlenschnur aufgereiht nach Norden fahren. Man sagt, ein paar Deiche seien gebrochen und unzählige Kubikmeter Wasser würden ins Hinterland fließen. Einige Ortschaften liefen bald voll, Brücken müssten gesperrt und viele Menschen evakuiert werden. In den Häusern sei alles zerstört, was im Erdgeschoss steht. In anderen Dörfern, wo das Wasser bereits verschwindet, lägen Möbel, Dreck, Unrat und Treibgut in den Straßen. Es würde erbärmlich stinken und zähflüssiges Öl würde die Kanäle verstopfen. Wie gut, dass Lina tot ist, und das nicht erleben muss. Bei diesem Gedanken werde ich traurig, denn das habe ich noch nie gedacht…


Eines Tages, an einem Samstagabend, war ich genau hier vor Lina auf die Knie gefallen und hatte die Ringe in der Tasche, die ich mir von meinem kargen Lohn gekauft hatte. Eine Minute und fünf gestammelte Worte später war sie die glücklichste Frau auf der ganzen Welt gewesen und wir hatten sehr lange aufs Wasser geschaut. Bis sich die letzten Sonnenstrahlen im Wasser gespiegelt hatten...


Unsere kleine Wohnung, die wir kurz vor der Silber-Hochzeit gekauft hatten, musste ich aufgeben, stelle ich mal wieder mit Wehmut fest und knirsche mit den Zähnen. Der Platz im Alten-Heim ist nun mein Zuhause geworden. Hier werde ich gut versorgt, bekomme etwas Geld, habe Freunde gefunden und kann in Ruhe sterben, wenn die Zeit da ist. Seit ein paar Tagen habe ich das Gefühl, es wird nicht mehr lange dauern. Was um mich herum passiert, habe ich niemals für möglich gehalten. Die Not und das Elend sind so schrecklich und ich kann nichts dagegen tun. Als ich noch arbeiten konnte, hätte ich anders gefühlt, aber das ist schon lange vorbei...


Lina und ich waren oft an diesen Ort gekommen und haben alle Jahreszeiten erlebt. Das Flussbett war voll oder halb ausgetrocknet. Mal war das Wasser blau und dann wieder schmutzig. Und mancher Winter kam und brachte so viel Kälte mit, dass das Eis keine Schifffahrt mehr zuließ. Leider waren uns keine Kinder vergönnt gewesen und so fütterten wir die Enten, bis sie groß wurden. Sonntags genossen wir die Ruhe am Ufer, machten Picknick, badeten im seichten Wasser oder träumten uns in ferne Länder. An den Nil, den Mississippi oder an die Niagarafälle.


Heute habe ich keine Träume mehr, mir bleibt nur der Fernseher in meinem kleinen Zimmer. Die Sondersendungen schalte ich nicht mehr ein. Die Wissenschaftler sagen, es gäbe zwei große Golf-Strömungen, die um den ganzen Globus reichen und unser Klima beeinflussen würden. Die würden seit Jahren immer träger werden und dadurch würde hier immer mehr Regen fallen. Die Klima-Forscher mahnen, es gäbe zu wenig Auen und es seien zu viele Häuser am Ufer gebaut worden. Andere Gelehrte sagen, etwas namens „Jetstream“ würde durch die Erderwärmung jede Menge Feuchtigkeit in die Atmosphäre tragen und über uns „einfrieren“. Es heißt, die Tiefdruckgebiete würden immer langsamer wandern und genau das sei der Grund für den Regen. Ich verstehe nichts davon und weiß nicht, was ich glauben soll. Aber ich weiß, dass es früher nie so viel, so häufig und so lange geregnet hat wie heute.

Es zwickt in den Beinen, während ich aufstehe. Gerade, als ich mich vom Fluss verabschieden möchte, sehe ich etwas in der Sonne blitzen. Es liegt auf den Steinen, die das Wasser schon längst rund gefärbt hat. Was mag das sein? Langsam gehe ich zu der Stelle und erkenne, dass es eine Flasche ist. Kleine Wellen schütteln sie hin und her und sie scheint mir zu winken: „Heb mich auf.“ Wieder knacken die Knochen, als ich das Glas aufgebe und dann mache ich große Augen. Der Korken steckt fest im Hals und der große Zettel im Inneren macht mich neugierig. Früher hatte ich immer ein kleines Messer in der Tasche, weil es von einem echten Mann erwartet wurde, aber heute ist das nicht mehr nötig. Also werfe ich die Flasche auf einen Stein. Es tut mir leid, als sie in tausend kleine Scherben zersplittert. Dann hebe ich das Papier auf und meine Augen wandern über die große Schrift. An diesem Fluss habe ich so viel erlebt, aber das hier noch nie:

„Hallo Gott... Ich weiß nicht, ob es dich gibt. Trotzdem schreibe ich dir. Mein Lehrer sagt, dass man immer beten soll, weil du über alle Menschen wachst und sehr gütig bist und nichts ohne deinen Willen geschieht. Aber warum schickst du uns dieses böse Wasser? Meine Mama weint seit so viel und hört nicht mehr auf, weil unsere Wohnung kaputt ist. Sie ist ganz allein und so traurig. Mein kleiner Bruder hat so große Angst und ich auch. Meine Mama sagt, wir haben kein Geld und niemand, der uns hilft. Lieber Gott, wenn du uns das böse Wasser schickst, dann kann das Wasser ja vielleicht auch etwas Gutes bringen? Ich schreibe dir mal unsere Adresse auf.“

Diese Buchstaben waren von einer Kinderhand geschrieben worden und die Flasche war nicht lange im Wasser geschwommen. Ich frage mich, wie das Mädchen -oder war es ein Junge- auf diese verrückte Idee gekommen war? Vielleicht liest das Kind auch so gern wie ich und kennt Flaschenpost aus den Romanen? Jedenfalls lebt es nicht weit weg von hier.
Mit einem Mal huscht ein Lächeln über mein Gesicht und ein Gedanke formt sich in meinem Kopf. Morgen werde ich an den Bahnhof gehen und eine Fahrkarte kaufen müssen. Erst für den Zug und dann für den Bus. Ich werde eine Stunde unterwegs sein und an einer fremden Klingel läuten müssen. Ein kleines Kind wird da sein, da bin ich mir ganz sicher. Und ich werde ihm den Brief zeigen...

Jetzt höre ich die Rufe der Feuerwehrmänner. Sie stehen nur 50 Meter entfernt an der Haltestelle. Ich winke ihnen zu und mache mich auf den Weg. Tja, ich werde wohl doch noch eine Weile leben müssen, weil ich etwas sehr Wichtiges zu erledigen habe.

Impressum

Texte: Zaubertrommel a. D. Juni 2013
Bildmaterialien: SilvHe 2012
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die von dieser schrecklichen Flut betroffen sind. Für die Menschen, die verzweifelt sind. Für die Menschen, die selbstlos mit anpacken, wo die Hilfe nötig ist. Für die Menschen, die daran Anteil nehmen, wie auch immer...

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