Sie waren ihr aus den Fingern gefallen. Rot, zornig, wie Blutsterne, ihr Würgen verstärkte sich. Sie rannte auf das Badezimmer zu, schaffte es jedoch nicht mehr und erbrach sich auf dem weißen Fliesenboden. Anschließend saß sie vor ihrem Erbrochenen und schaute zur Uhr an der Küchenwand. Sie atmete tief ein und aus, stand auf und wischte was sie verursacht hatte mechanisch weg, sammelte die Rosen auf und ordnete sie in einer Blumenvase. Dann wusch sie sich, schaute prüfend in den Spiegel, warf sich den Mantel über und verließ das Haus.
Zehn Minuten Fußweg hatte sie zur Arbeit, Zeit genug für ihren Körper, sich wieder zu beruhigen. Solche körperlichen Störungungen waren ihr äußerst lästig, ebenso wie solche Tage, an denen sie sich verloren fühlte, innerlich weinerlich und im Äußeren fröstelnd. Sie akzeptierte solche Zustände bei anderen nicht und schon gar nicht bei sich selbst.
Ihr Büro lag im zwölften Stock und die Fahrstühle waren wieder einmal endlos unterwegs. Sie wählte das Treppenhaus und ging, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, der Fahrstuhlchance entgegen. So war sie bis zum fünften Stockwerk unterwegs. Hier ergab es sich endlich, dass sie mit dem Fahrstuhl weiterfahren konnte.
„Viola, da bist du ja, komm her, es gibt tolle Neuigkeiten“
Sanne lachte ihr entgegen. „Du hast es geschafft, du bist im Team!“ Viola schaukelte übertrieben mit den Hüften und rollte albern mit den Augen. „Hast du daran gezweifelt?“ fragte sie, mit leicht überhöhter, fast schriller Stimme, „Wer hätte es denn sonst werden sollen?“
„Schau mal, auf deinem Schreibtisch liegen schon die ersten Glückwünsche, Frau Bartels bittet dich dringend um Rückruf und Herr Kohlwagen hat dir einen Termin um 16.00 Uhr gegeben.“
Viola Brecht las konzentriert weitere Notizen durch, schnappte sich das Telefon und ging schon die erste Nummer wählend in das Nebenzimmer mit der Kaffeemaschine. Hier stand wie immer frisch gebrühter Kaffee bereit. Viola schubste die Tür mit ihrem Fuß zu und schenkte sich eine Tasse Schwarzen ein.
Mit einem kurzen Blick in den Spiegel, der neben der Pinwand hing, überprüfte sie ihr Erscheinungsbild, sie wirkte wie aus dem Ei gepellt, Kleidung, Haare, Fingernägel, alles war perfekt. Die junge Frau nickte sich zufrieden zu, schürzte ihre Lippen und warf sich einen Spiegelkuss zu.
Nach dem Telefonat machte sie sich einige Notizen in ihren Terminkalender und malte nun bestgelaunt ein riesiges Ausrufezeichen hinter das Datum des heutigen Tages.
Der anschließende Blick aus dem Fenster ließ sie stirnrunzelnd zurück: Schon wieder so ein typischer Januartag, dachte sie, grauer geht es fast nicht mehr. Der leichte Nieselregen ließ sie jedoch lächeln: sie hatte Glück gehabt, denn sie war vorhin ohne Schirm aus dem Haus gegangen und wieder einmal davon gekommen.
*
Silbersprühend hing die Wolke über ihr. Das war kein Nieselregen, das war etwas anderes. Unter ihren Füßen war Gras. Grünes weiches Gras, sie hatte keine Schuhe an und spürte die weichen Halme unter ihren Fußsohlen. Sie war auf einer Art Lichtung, in der Ferne standen Bäume, ja, das musste ein Wald sein. Ein Vogel sang. Er sang so schön, dass ihr Tränen über die Wange liefen. Ein leichter Lufthauch strich ihr zart über die Stirn, ihr Kleid wurde ein wenig vom Wind gezupft. Da löste sich eine Gestalt aus dem Schatten der mächtigen drei Bäume, eine Frau. Leichtfüßig, vor sich hinsummend, tänzelnd, gänzlich nackt. Als sie sich seitlich drehte, sah Viola die schneeweißen Flügel auf ihrem Rücken. Ein Engel, durchfuhr es sie, da wendete dieses Wesen mit einer weichen Bewegung seinen Kopf in ihre Richtung und lächelte ihr zu. "Ein Menschenschwan - nein, eine Schwanenfrau", flüsterte die junge Frau und konnte nicht anders, als zu lächeln.
Viola hatte noch nie etwas so schönes, vollendetes gesehen. Jeder Schritt dieses Wesens war wie eine Choreographie. Wieder ganz in sich versunken ging sie auf eine Baumgruppe mit weißsilbernen Stämmen zu., Birken, schlank mit Blättern wie grüne Edelseide,schwingend im leichten Wind. Die Schwanenfrau setzte sich unter einen der schlanken Baumleiber und winkte ihr zu.
Viola war wie betäubt. Sie schritt durch das Gras und kurz bevor sie diese Frau erreicht hatte, gewahrte sie, wie sie selber angezogen war. Sie schämte sich, ob ihrer Kleidung, die hier wie ein Frevel schien. Doch sie, die Schöne, lächelte sie weiter an und hielt ihr die Hand zur Begrüßung hin. Da sank sie zu ihr in das Gras und spürte einen Frieden, wie sie ihn nie gekannt hatte.
Nach dem 16.00 Uhr Termin mit Herrn Kohlwagen fühlte sich Viola erschöpft. In letzter Zeit hatte sie hin und wieder leichte Bewusstseinseintrübungen, nichts dramatisches, nur so seltsame Bilder, die, obwohl sie schön waren, ein unangenehmes Gefühl in ihr hinterließen. Ihr Kopf schmerzte und Übelkeit stieg in ihr auf. Sie hatte wieder einmal vergessen etwas zu sich zu nehmen und so begleiteten sie neben der Übelkeit auch Hunger und Energiemangel.
Die Kantine hatte noch geöffnet und so nahm sie schnell einen Kaffee und ein Stück Kuchen zu sich. Um 17.15 musste sie bei ihrer Mutter sein, das hatte sie ganz fest versprochen. In letzter Zeit häuften sich die Beschwerden aus ihrer Familie, dass sie sich zuwenig um dieses Privatleben kümmerte. Saskia, ihre Schwester versuchte oft vergeblich ein gemeinsames Treffen zu vereinbaren.
Till wohnte in München; ihr Bruder war ähnlich wie sie tief in seiner Geschäftswelt versunken, schaffte es aber dennoch ausgemachte Termine einzuhalten.
Viola hatte immer das Gefühl vor einem riesigen Durchbruch zu stehen, der ihr ganz nach oben helfen sollte. Da passte ihre Familie selten hinein. Heute war das Wahlergebnis ihrer Bewerbung um die Mitgliedschaft im Special Marketingclub „Europe“ bekannt gegeben worden und sie war als einzige ihrer Firma gewählt worden, zu diesem großen internationalen Team zu gehören. Das war eine große Ehre für ihre Firma und vor allem natürlich für sie. Die Garantie einer außerordentlichen Karriere war ihr gewiss.
Ihre Mutter wohnte am anderen Ende der Stadt, deshalb wollte sie mit einem Taxi fahren; zwei oder drei standen meist unten in der Kennedystraße. Sie erledigte noch zwei Telefonate, die vom Vormittag liegengeblieben waren und kaufte sich ein paar Pfefferminzkaugummis aus dem Automaten.
Das Bild ihrer Mutter vor Augen, wie sie vor ungefähr zwei Jahren bewundernd den ersten Provisionsscheck ihrer Tochter betrachtete, brachte Viola wie immer gute Laune. Gut, dachte sie, meine Stirnfalte glättet sich, wenn ich lächle, gut für mein Telefonat mit Herrn Kohlwagen, ich muss ihn noch um etwas bitten.
Sie musste unter dem Baum eingeschlafen sein, die Sonne stand nun direkt über ihr und warf keine Schatten; so etwa Mittagszeit war es jetzt.
Die Schwanenfrau saß nicht mehr im Gras, sie hockte mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Baumstumpf, und betrachtete etwas. Viola erhob sich und ging unsicher auf dieses überirdisch schöne Wesen zu. Sie folgte seinen Blicken ins Gras; zwischen einigen schimmernden Quarzsteinen lag dort unten eine Stadt, im Miniformat. Wolkenkratzer, Kirchen, Schulen, Straßen wie summende Schlangen und Autos wie flitzende Krabbelkäfer. An einer Kreuzung stand eine Traube winziger Menschen; sie betrachteten eine menschliche Gestalt, die auf der Straße lag und schlief. Neben ihr hockte ein Mann, der sie scheinbar untersuchte. Aus der Ferne klang das Heulen einer Sirene. Der Untersuchende erhob sich und zuckte mit den Schultern.
„Sie lebt“, sagte er, zu einer neben ihm stehenden Frau, „aber sie reagiert nicht“.
Die Frau sah aus wie Saskia und brach in Schluchzen aus. Viola hielt sich entsetzt den Mund zu und sah wie erstarrt zu der Schwanenfrau, dem Engel oder was auch immer dieses Wesen war.
Sie blickte in Augen wie silbergrünes Wasser, tief und gut, kühl und warm, vertraut und geheimnisvoll. Die Schwanenfrau legte ihr die Hände auf die Schultern und zog sie sanft an sich. Viola spürte, wie ihr die Tränen die Wangen herunterliefen, wie ihr Körper begann rhythmisch zu schluchzen; sie warf einen Blick auf die Quarzsteinstadt, obwohl sie bereits ahnte, was sie dort zu sehen bekam: Die Frau, die dort unten lag war sie selbst.
Dann fühlte sie, die kraftvollen Schläge von weichen Schwingen, linde Luft, die ihr die dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht bliesen und lange sanfte Ruhe.
Und später, viel später der Traum: Sie konnten das Federkleid der Schwanenfrau nicht finden. Verloren? Gestohlen?
Sie suchten es überall, einen Tag, einen Monat, ein Jahr und länger, doch es blieb verschwunden.
Sie konnte nicht mehr zurück.
Als Viola das letzte Telefonat erledigt hatte, trug sie noch einen weiteren Termin in ihren Kalender ein. Sie kniff sich in die Wangen, als sie bemerkte, dass sie mit einem Mal sehr müde wurde und die Knie ein wenig nachgaben. „Jetzt reiß dich doch mal zusammen, Brecht“ schimpfte sie mit sich und sprang die Treppen herunter, zum Warten auf den Fahrstuhl hatte sie keine Zeit. Ihre Absätze hallten ihr hinterher und wurden ihr unangenehm laut in den Ohren. Um sich abzulenken von diesem seltsamen Gefühl in ihrem Körper, rechnete sie sich noch einmal aus, was sie jetzt mehr verdienen würde. Zufrieden nickte sie vor sich hin, ja, damit konnte sie sich endlich einige Träume erfüllen. Sie verließ das Gebäude und hielt Ausschau nach einem Taxi. „Mist“ murmelte sie, „ich muss über die Kennedystraße, heute stehen die Taxen auf der anderen Seite“. Sie wartete bis die Ampel grün zeigte und schritt entschlossen auf die Kreuzung. Als ihre Knie nachgaben, fühlte sie, wie ihr die Handtasche aus der Hand glitt und zu Boden fiel;
sie fiel so tief, als wenn die Straße eine endlose Schlucht wäre und in ihrer Angst wollte sie schreien, doch eine Frau mit grünen Augen legte sich den Finger auf die Lippen. “Leise “, stammelte Viola, „ich soll leise sein“ und während ihre Handtasche noch fiel in diese schwarze flüsternde Schlucht, wurde sie von tausend weichen Händen gehalten,
nichts konnte ihr geschehen,nichts.
„Kann sie etwas spüren oder sehen, irgendetwas?“ fragte Saskia. Neben ihr stand eine alte Frau, ihre Mutter, deren Hände zitterten.
„Nein, alles was sie an Reaktionen zeigt sind höchstwahrscheinlich Reflexe.“
Die Ärztin sagte es sachlich kühl und auch ein wenig müde.
„Sie hat heute morgen geweint“ sagte die junge Frau leise.
"Ich kann nicht glauben, dass sie wirklich nichts fühlen soll".
Die alte Dame strich Viola zärtlich über die Stirn.
„Ihr Gesichtsausdruck wird immer weich, wenn ich komme und wenn sie meine Stimme hört.Sie wacht eines Tages wieder auf, das fühle ich“, sagte sie und in ihrem Gesicht zeichnete sich ihre Verzweiflung ein.
Als die Ärztin den Raum verlassen hatte, öffnete Saskia die Fenster weit. Es war Sommer, ein weicher Wind verfing sich in den Gardinen und schubste die Klangspiele über dem Bett an. Violas Augen waren geschlossen.
Saskia sah ihre Mutter an:“ Sie wissen immer noch nicht, was damals wirklich geschehen ist, Mutter, das macht mir Mut, es kann doch wirklich sein, dass sie irgendwann genauso plötzlich wieder aufwacht, wie sie eingeschlafen ist".
Frau Brecht sah von Saskia zu Viola und nickte.
„Es ist nun schon drei Jahre her und manchmal hatte ich den Eindruck, sie ist kurz davor aufzuwachen ... Saskia, aber was ist, wenn sie es gar nicht will?“
Die junge Frau sah ihre Mutter ernst an.
"Das habe ich auch schon oft gedacht“, sagte sie. "Vielleicht ist das Leben für sie im Draußen schwerer als bei sich darinnen.
Der Wald war in eine süße Stille getaucht, heute morgen sprang nicht einmal der Bach fröhlich über die Steine, sondern murmelte nur, die Vögel ließen vereinzelt feine trillernde Laute erklingen, so leise, dass es klang als ob ein Tautropfen im Fall die Blüten der Waldglockenblumen streifte.
Die Schwanenfrau stieg nackt und bloß in den träumenden kleinen See, in den zwei Trauerweiden ihre Äste spielten. Ihr wunderschönes Federkleid hatte sie vor Jahrtausenden verloren, manchmal dachte sie noch daran und ein Schmerz, klein wie ein Schmetterling breitete sich in ihrem Herzen aus.
Sie schwamm einige Züge und atmete tief die wie grün schmeckende Luft. Um ihre Beine im Wasser perlten kleine Luftbläschen, da spürte sie auch schon die rauen Schuppen des Hechtes, der sie jeden Morgen auf diese Weise begrüßte und gleich wieder in den Tiefen des Sees verschwand.
Jeden Hauch kannte sie hier, jede Farbe, jeden Laut. Auch die Wellenstimmen, die immer wieder aus dem Himmel fielen waren ihr vertraut. Sie ließen sie an eine junge Frau denken, von der sie in diesem Wald einst besucht wurde, ihren Namen wusste sie nicht mehr, es war schon zu lange her.
Sie begann ein Lied zu summen, erstaunt und erfreut, wie schön ihre Stimme hier in der Stille klang und griff mit den Händen in das Wasser, um es anschließend in den See tröpfeln zu lassen. Ihr Summen und das Tröpfeln hallte angenehm in ihrem Kopf nach.
Die Wellenstimmen von oben wurden ein wenig lauter und die Frau bemühte sich zu verstehen, was diese Wellen gegen das Blau des Himmels schlugen, doch wie meistens bemühte sie sich vergebens.
Nur einmal hatte sie etwas verstanden: “Mein armes Kind“.
„Mein armes Kind“ sang sie an jenem Tag wie ein Lied, leise und voller Gefühl.
„Mein armes Kind“ flüsterte sie wieder und wieder und dachte an jene Frau, die sie einst besucht hatte und die nie wieder gekommen war.
Niemand war jemals vor dieser Frau bei ihr gewesen und niemand kam nach ihr.
Sie war ganz allein.
Texte: Alle Texte und Bilder unterliegen dem Copyright von Mara Krovecs und dürfen nicht ohne Genehmigung, auch nicht auszugsweise, verwendet werden.
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Wer hat dich gefangen
du schönes kind
in schlösser aus nebel und eis
du irrst wie verloren
durch unendliche gänge
aus deinem traum ohne wiederkehr
Aus: "Wer hat dich gefangen?" M.Krovecs