Der strahlend blaue Himmel draußen vor dem Fenster wurde von nicht einem Wölkchen getrübt. Selbst drinnen im Haus, das eigentlich immer kühl und angenehm war, kam sie ins Schwitzen – selbst im Liegen! Ja, sie lag mitten im Badezimmer auf den Fliesen und starrte aus dem Fenster. Die warme Luft machte ihr Kopfschmerzen und schlechte Laune.
Normalerweise liebte sie den Sommer, aber normalerweise war der Sommer auch nicht die Zeit für Abschiede. Wenn alles wie immer gewesen wäre, dann hätte sie an einem Strand gelegen, tropfnasse Haare hätten ihr am Kopf geklebt und aus den Kopfhörern ihres MP3 – Players wäre laut ein Lied zu hören gewesen, bei dem man am liebsten sofort tanzen würde. Vielleicht hätte sie auch auf einer Wiese gelegen und die Wolken beobachtet. Vielleicht hätte sie auch etwas anderes gemacht. Alles wäre besser gewesen, als das hier heute. Besser als Fliesen, an denen ihre Oberschenkel klebten und besser als herumliegen und warten.
Dieses Wetter machte sie krank. Dieser verdammte strahlende Sonnenschein. Gewitter wäre das Richtige gewesen, Sturm und Hagel. Aber doch nicht Sonne und Hitze und Schmetterlinge, die die Luft zum Surren bringen. All das war nicht richtig, es war so unsagbar falsch, dass es sie beinahe schmerzte, mitten drin zu stehen in dieser Szene, die ihr so absurd und schockierend erschien.
Sicherlich, sie hatte zum letzten Mal Sommerferien, es würde sich sowieso alles ändern. Aber doch nicht so!
Er durfte nicht gehen. Er durfte einfach nicht. Ein Jahr wollte er weg, 365 Tage. In einer halben Stunde würde er in einen Zug steigen und zu seinem Flugzeug fahren. Zu diesem verdammten Flugzeug, das ihn ans andere Ende der Welt bringen würde.
Ein Jahr, was sollte sie denn ein ganzes Jahr lang machen, wenn er nicht da war? Sie würde in der Zeit ihren Führerschein machen und volljährig werden und ihren Schulabschluss kriegen und sich an einer Uni bewerben und umziehen und er wäre nicht da um all das mit ihr zu erleben. Er wäre weg und würde sie vergessen. Sie konnte es ihm nicht verübeln, wieso sollte sie? Weder war sie seine Freundin noch sonst irgendwas, sie war einfach eine unter vielen.
Trotzdem sprang sie plötzlich auf und rieb sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn. Sie hastete durch den Flur, ließ die Haustür achtlos hinter sich ins Schloss fallen und ignorierte die vielen kleinen Steinchen, die sich schon kurz darauf in ihre schuhlosen Sohlen bohrten. Nicht langsamer werden, nur nicht langsamer werden. Keine halbe Stunde mehr und er wäre weg, abgehauen ans andere Ende der Welt. Was, wenn sein Flugzeug abstürzen würde? Er hätte nie gewusst, dass sie in ihn verliebt war und er hätte sie nie geküsst. Nein, er durfte nicht losfahren, ohne dass sie sich wenigstens verabschiedet.
Das musste sein, Verliebtsein hin oder her. Sie waren Freunde gewesen, all die Jahre lang, die sie nebeneinander gewohnt haben. Von dem Tag an, als ihre Erinnerungen einsetzen, er war immer da gewesen. Als ihr Beschützer. Er war immer genau das gewesen, was sie gebraucht hat. Und diese letzten Wochen waren der Wahnsinn gewesen. Er hatte sie mitgenommen auf die Abschiedsparties, die seine Freunde für ihn organisiert hatten. Er war mit ihr an den Strand gefahren und hat sich mit ihr den Sonnenaufgang angesehen. Er hat seinen Arm um sie gelegt und sie an sich gezogen, bis ihr Kopf auf seiner Schulter gelegen hat. Er hat seine Stirn an ihre gelegt und ihr gesagt, dass sie ihm fehlen würde, wenn er erst durch Australien wandern würde. Oder arbeiten oder was auch immer. Entscheidend war, dass sie ihm fehlen würde. Er hatte es gesagt, mit seiner Stirn an ihrer. Aber geküsst hatte er sie nicht, geküsst hatte er sie nie.
Und jetzt wollte er weg. Sie lief durch den Garten und ihre Gedanken schossen nur so durch die Leere, die sich in ihrem Kopf ausbreitete. Die eben noch vorherrschende Entschlossenheit war blanker Panik gewichen. Wenn er nun schon weg wäre, oder wenn... Nein. Sie würde ihn küssen, ganz bestimmt. Sie würde sich auf die Zehenspitzen stellen und ihre Lippen auf seine legen. Wenn es sein müsste, dann würde sie sich den Kuss kaufen, stehlen – sie würde alles tun, was nötig wäre, nur um einmal in den Genuss zu kommen, ihn küssen zu dürfen.
Das Gartentor, das die benachbarten Grundstücke trennte, hatte sie gerade hinter sich gelassen, als ihr der Duft von Apfelbäumen und gemähtem Gras in die Nase stieg. Sie wurde langsamer, die Knie zitterten bedrohlich. Nicht hinfallen, Elisabet, bloß nicht hinfallen. Sie ging auf die Haustür zu, das Auto stand schon bereit. Seine Eltern würden ihn in ein paar Minuten zum Bahnhof fahren. Gerade als sie auf die Klingel drücken wollte, hörte sie, wie jemand hinter ihr ihren Namen rief:
„Elli?“
„Hey, Ben.“ Sein Vater kam aus der Garage, seine kurzen Hosen schlenkerten um die Beine und auf seinem Gesicht stand die Überraschung geschrieben.
„Willst du zu Basti?“ Fragend sah er sie an. Vermutlich gab sie ein merkwürdiges Bild ab: die Harre wirr zusammengeknotet, ein weißes Trägertop, das ihr eigentlich zu groß war und die karierten kurzen Hosen, die am Hintern grüne Flecken vom Gras hatten.
„Ähm... ja. Eigentlich wollte ich das...“
„Ist er nicht gerade zu dir rüber? Ich hab ihm doch noch gesagt, dass er sich beeilen soll, sonst verpasst er den Zug noch und den Flieger. Hättet ihr euch nicht gestern verabschieden können?“
„Ben, wo ist Basti?“ Ihre Stimme klang unnatürlich hoch und bebte, doch ihr war das egal. Sie kochte innerlich.
Vollkommen entgeistert schüttelte Ben den Kopf: „Bei dir drüben. Beeil dich und schick ihn gleich wieder her. In zwanzig Minuten müssen wir losfahren. Spätestens. Sag ihm das, ja?“
Von plötzlicher Freude übermannt, fiel Elisabet Ben um den Hals und drückte sich für einen kurzen Moment an ihn.
„Danke“, hauchte sie mehr als das sie es sagte und stürzte dann zum Gartentor zurück, durch die zwei Baumreihen hindurch und blieb dann abrupt stehen. Da war er, nur wenige Meter vor ihr, kam geradewegs auf sie zu. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel und traf sie mitten ins Herz. Nein, er durfte wirklich nicht gehen ohne sie einmal geküsst zu haben.
„Elli, wo warst du denn?“ Mit großen Schritten kam er dichter, immer dichter.
„I-Ich...ich war drüben.“ Sie merkte, wie ihre Wangen sich rot färbten. Verlegen schaute sie auf den Boden und auf ihre Füße, die vom Barfußlaufen schmutzig waren.
„Wolltest du dich... verabschieden?“ Jetzt stand er direkt vor ihr in seinem grauen Shirt und der türkisfarbenen Short. Er sah gut aus, ein bisschen müde vielleicht, aber die Augenringe ließen ihn für sie nur noch perfekter werden.
„Basti, ich...“ Bevor Elisabet aussprechen konnte, wie gern sie ihn hatte und wie furchtbar es für sie werden würde, wenn er das gesamte nächste Jahr über nicht da wäre, bevor sie ihm gestehen konnte, dass sie nicht wollte, dass er ohne sie fortgeht, bevor sie auch nur Luft holen konnte, machte er noch einen Schritt auf sie zu und umfasste ihre Schultern.
„Elli, ich wollte... also...was ich sagen will...“
Sein Stottern machte sie unsicher. Was wollte er ihr sagen? Was war für ihn so schwer, dass er es nicht einfach aussprechen konnte? Sie starrte auf seine Lippen, die sich unaufhaltsam bewegten. Er sprach also immer noch, doch sie hörte ihn nicht, verstand kein Wort von dem, was er sagte. Das Surren der Luft wurde lauter, das Vogelgezwitscher ebenso. Ihr kreisten unzählige Gedanken durch den Kopf, immer lauter und schneller. Bis dann plötzlich nichts mehr da war, gar nichts.
Von jetzt auf gleich stand die Welt still und alles um sie herum war ruhig. Sie hatte sich ohne es zu merken auf die Zehenspitzen gestellt und ihre Lippen auf seine gelegt. Als sie das realisierte war sie so entsetzt von sich selbst, dass sie augenblicklich einen kleinen Schritt zurück machte und auf den Boden starrte.
„E-es tut... entschuldige...ich...“
„Elli?“
„Basti, es...es tut mir wirklich...“
„Elisabet?“
„Wirklich, also...also bitte...sei nicht böse...“
„Elisabet Grünberg, jetzt sei ruhig!“
Erschrocken davon, dass Basti ihren ganzen Namen sagte, schaute sie auf, direkt in seine dunkelgrünen Augen. Ein Leuchten erfüllte sie und Elisabet verlor sich für eine sekundenschnelle Unendlichkeit in ihnen. Als sich dann auch noch Basti‘s Hände um ihre Taille legten und sie an ihn gezogen wurde, verlor sie endgültig den Halt.
„Hey, Elli. Alles okay? Geht’s dir gut?“
„Ja, also nein. Keine Ahnung.“
„Kann ich dich loslassen oder kippst du dann um?“
Ein verlegenes Lächeln versuchend schüttelte sie den Kopf.
„Du Elli, was ich sagen wollte... Also bevor du mich... wir uns...also vor dem Kuss...“
„Was? Was wolltest du sagen?“ In ihr flackerten Angst und Hoffnung und Freude und Sorge und alles und mehr gleichzeitig auf. Wollte sie wirklich hören, was Basti ihr zu sagen hatte? Sie hatte sich ihren Kuss gestohlen und die Welt hat für einen kurzen Moment stillgestanden. Sie hatte sich ein Stück vom Himmel geholt. Ach was, sie hatte für einen Moment alles Glück der Welt empfunden. Was sollte jetzt noch kommen?
„Ich weiß nicht, wie...“
„Sag es einfach. Bitte.“
Basti löste die Hände von ihrer Taille und legte sie stattdessen auf ihre Schultern. Mit seinem Blick hielt er sie fest, sie konnte und wollte nicht weg. Sie wollte genau an dieser Stelle im Garten sein, sie wollte hören, was er zu sagen hatte. Sie hoffte auf ein neues Stück Himmel, einen weiteren Moment unendlichen Glücks.
„Ich kann nicht gehen ohne dich das zu fragen, weißt du?“
„Was fragen, Basti? Was?“
„Wenn ich zurück bin, was machen wir dann?“
Elli sah ihn an, ihre Augenbrauen zogen sich unweigerlich zusammen. Das war weder das, was sie gehofft, noch das, was sie gefürchtet hatte. Um genau zu sein wusste Elisabet wirklich nicht, was Basti ihr sagen oder sie fragen wollte.
„Was sollen wir machen?“
„Tun wir dann immer noch so wie jetzt?“
„Ich versteh nicht...“
„Elli, hast du denn nichts gemerkt?“
„Was soll ich denn gemerkt haben? Basti, was...?“
Der Griff um ihre Schultern wurde fester und im nächsten Augenblick wurde sie schon an ihn gedrückt, seine warmen Lippen lagen auf ihren und fühlten sich unglaublich an. Er schmeckte nach Schokolade und Sommer und nach Leichtigkeit. Seine Lippen bewegten sich vorsichtig auf denen von Elisabet und nach einem winzigen Moment der Überraschung passte sie ihre Bewegungen an seine an. Beide bildeten eine Einheit, ein Ganzes ohne Grenzen.
Basti wurde drängender. Sie gab seiner Forderung nach, ihr Mund öffnete sich langsam und noch sehr viel langsamer fühlte sie, wie seine Zunge ihre streifte. Er küsste sie, wie sie noch nie geküsst worden ist. Wenn sie vor einigen Momenten schon glaubte, die Welt hätte still gestanden, dann war das jetzt etwas noch viel größeres. In ihrem Bauch fühle sie ein leichtes und angenehmes Ziehen, ihre Augen schlossen sich wie von selbst, ebenso vergruben sich ihre Hände in Basti‘s braunen Haaren, ihre Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und in ihrem Kopf herrschte vollkommene Leere. Es gab nichts an das sie dachte und nichts anderes als diesen Kuss, als sie und ihn.
Nach einer Weile, die irgendwo zwischen ein paar Sekunden und einem halben Leben liegen musste, löste sich Basti von ihr, ganz sanft und trotzdem bestimmt. Er legte seine Stirn an ihre, beide hatten die Augen noch geschlossen und den Geschmack des anderen auf den Lippen.
„Das, Elli. Hast du das nicht gemerkt? Ich wollte das schon lange machen und jetzt wäre es fast zu spät gewesen.“
Wie ein Schlag in den Bauch kam die Gewissheit zurück, dass Basti – ihr Basti? - in wenigen Minuten verschwinden würde. Ohne dass sie es wollte, sammelten sich Tränen in Elisabets Augen.
„Hey, Süße. Nicht weinen, bloß nicht weinen, bitte.“ Basti hielt sie mit einem Arm fest an sich gedrückt, die andere Hand hob er langsam an ihr Gesicht. Mit einer vorsichtigen Bewegung strich er die ersten Tränen beiseite, die sich aus ihren Augenwinkeln gestohlen hatten.
„Basti, versprichst du mir zwei Sachen?“
„Alles, was du willst.“ Basti sah ihr direkt in die Augen, ganz fest. Er hielt sie immer noch mit einem Arm umschlossen und erweckte nicht den Eindruck, als würde er sie jemals wieder loslassen wollen. Elisabet fühlte sich wohl, genoss es, wie sich eine ihr bis dahin unbekannte Wärme in ihr ausbreitete. Sie schmiegte sich an ihn, schlang beide Arme um seine Taille und verschränkte ihre Finger miteinander. Sie würde ihn festhalten. Genau so lange, bis er gehen müsste. Sie würde ihn gehen lassen und wissen, dass er an sie denken würde. Sie würde an ihn denken, jeden Tag. Und niemals müsste sie sich Vorwürfe machen, es nicht versucht zu haben, ihn nie geküsst zu haben.
„Sag schon, Elli, was?“
Elisabet nahm all ihren Mut zusammen, holte einmal tief Luft, senkte den Blick, holte dann nochmal tief Luft und schlug die Augen auf. Basti wäre bei diesem Anblick dahingeschmolzen, wenn er nicht sowieso schon Wachs gewesen wäre in ihren Händen. Er wollte hier sein, bei ihr. Er wollte sie küssen und die Tage mit ihr verbringen. Er wollte barfuß mit ihr über die Wiesen laufen und Sonnenuntergänge beobachten. Er wollte hören, was er ihr versprechen sollte. Er wollte nicht nach Australien. Nicht jetzt, nicht mehr nach diesem Kuss.
„Nummer eins: du wartest nie wieder so lange damit, etwas zu tun, okay?“
„Heißt das etwa, du wolltest...“
„...das Gleiche? Ja. Und Nummer zwei: vergiss mich nicht.“
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stellte Elisabet sich wieder auf die Zehenspitzen und küsste den Jungen, in den sie verliebt war.
Dass er kurz darauf losmusste, vergaßen beide und erst als Ben mehrere Male gerufen hatte, machte Basti sich widerwillig auf den Weg.
Elisabet blieb zurück mit dem Geschmack von Sommer und Schokolade auf den Lippen und einem Versprechen im Herzen. Er würde zurückkommen. Außerdem würde er ihr schreiben. Den ersten Brief schon dann, wenn er angekommen war. Sie würde ihm antworten und das Jahr wäre schneller vorbei, als sie jemals geglaubt hätte. Er hatte es ihr versprochen und ihr gesagt, dass er noch nie für jemanden so etwas empfunden hatte wie für sie.
Basti würde in 365 Tagen zurück sein und dann, dann würden sie beide sehen, was passiert. Elisabet hätte dann ein Abitur, einen Führerschein und vermutlich eine Wohnung - irgendwo.
Basti würde wiederkommen und dann wäre alles gut.
Ein Jahr, 365 Tage, unendlich viele Möglichkeiten. Hier und am anderen Ende der Welt.
Ein Jahr, 365 Tage, ein Versprechen. Er und sie, sie und er – hier und am anderen Ende der Welt.
Texte: zauberland.
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2012
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