Cover


Ein Raum, der der Küche meiner Eltern ähnelt. Die gleichen dunkelgrünen Fliesen, auch das gleiche Fenster. In der Ecke ist ein Loch in der Wand zu erkennen, darunter stehen ein Bildderrahmen und ein Werkzegkoffer. Ein Hammer, ein Schraubenschlüssel und unzählige Schrauben liegen auf dem Boden verteilt. Sonst ist der Raum leer. Ein Mädchen sitzt auf dem Boden, hält ein Handy in der Hand. Ich sehe dieses Bild wie von oben herab. Ich gehe dichter an das Mädchen heran und erschrecke mich. Das bin ich, als ich 15 oder 16 war. Ich stehe genau hinter meinem jüngeren Ich, welches nicht reagiert. Sie bemerkt mich gar nicht. sie konzentriert sich auf eine SMS, die sie bekommen hat. Ich kann mitlesen, aber erst die Antwort. Ich erkenne sofort, was sie, also ich da schreibt. Das ist ein Liedtext, an den ich mich gut erinnere. Sie schreibt die ersten zwei Zeilen des Liedes an jemanden, den ich nur zu gut kannte. An Nick.

Nur einen Kuss - mehr will ich nicht von dir
Der Sommer war kurz, der Winter steht vor der Tür



Dann wartet sie. Sie schaut aus dem Fenster, vor dem dichte Nebelschwaden aufsteigen. Es scheint Herbst zu sein. Eine Antwort.

Du musst nicht allein sein. Ich bin doch da.



Sie lächelt verträumt vor sich hin. Und tippt eifrig eine Antwort. Weitere Zeilen aus dem Lied von den Ärzten. Ich habe dieses Lied geliebt und kann es noch heute auswendig. Das Mädchen, ich, das vor mir sitzt schreibt eifrig den Liedtext weiter und verschickt ihn. Keine Antwort. Ich glaube nicht, dass sie überhaupt damit gerechnet hat, denn sie schreibt gleich weiter.

Weil der fremde Mann kam und sie mir wegnahm
Ich glaubte trotzdem an die Liebe
Ein paar Wochen lang nur strahlte sie vor Glück
Dann ging er fort und sagte er sei bald zurück
Sie wartete noch, als schon der Frühling kam.



Jetzt wird ihr Blick noch verklärter. Sie starrt mitten in die Leere. Was sie denkt oder in ihren Gedanken gerade erlebt, kann ich nicht sagen. Ihr Blick verrät nichts, er vereint einfach nichts mit allem. ich würde gern in meinen eigenen Kopf gucken. Sie schreckt hoch, das Handy hat vibriert.

Sag mir wer der Fremde ist. Sag mir endlich, wer dich mir wegnimmt! Ich wäre auch im Frühling noch da, immer wäre ich da.



Da, ein trauriges Lächeln. Ganz matt, kaum zu erkennen. Sie schaut einmal kurz über die Schulter, als erwarte sie, überrascht zu werden. Mich nimmt sie nicht wahr, schaut durch mich hindurch. Und wendet sich dann wieder ihrem Handy zu. Sie schreibt fast den ganzen Songtext, Wort für Wort. Nick antwortet nicht. Sie scheint wieder damit gerechnet zu haben. Denn unbeirrt tippt die weiter. Die letzte, die entscheidende Nachricht, glaube ich.
Dann kehrte ich heim, doch geküsst habe ich nie mehr.
Denn ich glaube nicht mehr an die Liebe.



Senden. Bevor sie die Taste drückt, zögert sie kurz. Als würde sie überlegen, ob dies wirklich das Richtige ist. Ich fühle, wie sie langsam in sich zusammenfällt, je länger ihr Handy nicht aufleuchtet und eine neue Nachricht für sie bereithält. Sie klammert sich an das Handy, als wäre er des letzte Strohhalm, der sie im Hier und Jetzt hält. Wie ein Häufchen Elend sitzt sie da, unzufrieden mit sich und der Welt um sich herum. Dann die Antwort.

Du weißt, dass ich niemanden außer dich küssen will. Niemals. Ich liebe dich. Lass mich nicht zu lange warten, ich werde langsam verrückt.



Das Mädchen vor mir scheint genau in diesem Moment innerlich zu zerreißen. Sie sieht aus, als würde sie weinen und lachen wollen, gleichzeitig. Was sie aber tatsächlich macht, ist einmal hart Schlucken, aufstehen und aus dem Raum gehen. Das Handy hat sie in der Hand wie einen Zauberstab, der sie in eine bessere Welt entführen kann. Ich sehe gerade noch, wie sich eine dicke Träne aus ihrem Augenwinkel stiehlt. Dann wache ich auf.

Ich muss Nick wiederfinden. Irgendwo auf meinem Weg ins Erwachsenwerden habe ich ihn verloren. Verloren, obwohl er der sein sollte, der für immer bei mir bleibt. Ich weiß wo er wohnt, doch ob ich ihn in der leeren Hüller seiner Selbst wiederfinden kann? Ich muss es versuchen. Ich wusste es damals, in der Küche meiner Eltern, als ich ihm den Liedtext geschickt habe und ich weiß es heute. Nur ein richtiger Kuss und es gibt ein wir. Einen Kuss, mehr brauchen wir nicht. Ich zücke mein Handy und schreibe:

Nick erinnerst du dich an dieses eine Lied? Nur einen Kuss? Willst du mich immer noch Küssen?



Ruhe. Eine unheimliche Ruhe, die kurz danach von dem Vibrieren meines Handys gestört wird.

Nur einen Kuss, mehr will ich nicht von dir...
...denn ich glaube nicht mehr an die Liebe.
An die beiden Zeilen erinner ich mich. Und daran, dass du mich nicht küssen wolltest.



Darf ich dich heute küssen?



Auf diese Frage warte ich seit sieben Jahren. Jeden Tag sehe ich dich und jeden Tag warte ich darauf. Und verdammt nochmal, ja!



Nick, ich glaub ich liebe dich...



ich weiß Leni. Ich weiß es seit mehr als sieben Jahren.


Impressum

Texte: der Songtext gehört nicht mir, sondern der unglaublichen Band Die Ärzte.
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

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