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Machst du das auch manchmal? Dich einfach nur erinnern? An früher? An die Zeiten, die längst vergangen sind? An die guten alten Zeiten, in denen die Welt noch in Ordnung war? Wo der Regenbogen noch erreichbar schien? Wo wir gemeinsam alles geschafft haben? Jede einzelne Kleinigkeit gemeistert haben? Probleme sich auch manchmal von selbst gelöst haben? Weißt du noch, wie das war? Zu der Zeit, als wir uns noch um nichts Sorgen gemacht haben?


Ich sitze oft am Fenster und denke nach. Am Fenster. Oder am See. Oder auf dem Klettergerüst von damals. Ja es steht immer noch. Heute geht kaum noch einer hin. So verändert sich alles. Wir waren ja früher oft dort. Und es war schön dort. Im Sonnenschein. Mit dir.


Weißt du noch, wie wir uns gegenseitig geholfen haben? Auf genau dem Klettergerüst? Weil ich nicht hoch gekommen bin? Weißt du noch, wie du mir deine Hand entgegengestreckt hast, um mich hochzuziehen? Und kannst du dich erinnern wie glücklich wir waren, als wir endlich auf der obersten Stange saßen und von oben auf die anderen geguckt haben?


Oder kannst du dich erinnern, wie wir in der Schule immer abgemacht haben, wer welche Hausaufgaben erledigt? Ich hab immer die Aufsätze geschrieben. Du hast Mathe gemacht. Und Physik. Keiner hat gemerkt, dass ich das nicht konnte. Nie hat jemand gefragt, warum deine Hausaufgaben immer richtig waren und du im Diktat viele Fehler hattest. Wir waren ein eingespieltes Team. Trafen uns nachmittags und tauschten die Zettel für den nächsten Tag aus.


Ich bin mir nicht sicher, wie es genau war. Aber dieses eine Mal im Sommer. Als wir beide, jeder das erste mal ohne seine Eltern, weg waren. Wir beide zusammen. Im Ferienlager. Oh ich weiß noch genau, wie mein Zimmer aussah. Erinnerst du dich auch an deins? Oder an den Strand? An den Wald? Die Ausflüge? Die Nachtwanderung? Ja. Die Nachtwanderung. Wir sind Hand in Hand gelaufen. Ich kann dir nicht mehr sagen wer mehr Angst hatte. Du, dass ich dir eine Hand abquetsche oder ich, weil ich einfach fürchterlich feige war. Aber du warst ja da. Hast auf mich aufgepasst. Wie immer. Ich kannte es ja gar nicht anders. Und ich war glücklich mit dir.


Wir waren noch zu jung um zu erkennen, wo das eines Tages hinführen könnte. Wir konnten nicht verstehen, dass der Tag kommen würde, an dem sich alles ändern würde. Und plötzlich war er doch da. Ich stellte ihn dir vor. Meinen ersten Freund. Den, in den verliebt zu sein ich behauptete. Du hast dich für mich gefreut. Oder zumindest so getan. Und ich? Meine Güte war ich blind. Ich wusste nicht, was mir die ganze Zeit über gefehlt hat. Ich hab überlegt. Hab daran gezweifelt, ob ich auch alles richtig mache. Hab mir die größte Mühe mit ihm gegeben. Doch all das half nicht. Irgendwie fühlte ich mich leer. So, als ob der wichtigste Teil fehlte. Es war wohl auch so.


Ich hatte wenig zu tun mit dir in dieser Zeit. Wir trafen uns schon lange nicht mehr so oft wie früher. Wie in unserem Früher, das für mich irgendwie heilig war. Nur ab und zu sahen wir uns nachmittags zum Lernen. Oder um einfach mal wieder zu quatschen. Aber diese Vertrautheit war noch immer da. So als ob wir wieder ganz oben auf dem Klettergerüst gesessen haben. Bei dir konnte ich sein, wie ich war. Kindisch. Albern. Ein wenig verspielt. Und auf der anderen Seite nachdenklich. Ernsthaft, Skeptisch. Du hast einfach mitgemacht. So als ob es das Normalste von der Welt wäre, neben den Hausaufgaben Enten zu füttern und über Unsterblichkeit zu reden. An diesem einen Nachmittag, im Sonnenschein beim Lernen für unsere Prüfungen. An diesem Nachmittag hab ich beschlossen, mit dir gemeinsam unsterblich sein zu wollen. Ich wusste, dass ich niemanden an meiner Seite brauchte, solange du hinter mir standest.


Mein Freund? Mit dem hab ich Schluss gemacht. Warum? Ich konnte es einfach nicht. Ich konnte nichts finden, was ich anders machen sollte, dass es besser wird mit ihm. Er konnte mir einfach nicht das geben, was ich erwartete. Was ich brauchte. Er hatte nicht diese Wärme, dieses Verständnis, das ich von dir kannte. Es tat mir nicht mal wirklich weh. Ich hatte ja dich. Hinter mir. Als Stärkung im Rücken. So, wie ich es kannte. Ich hab auch mal geweint wegen ihm. Als ich bei dir war. Wir trafen uns ja wieder öfter. Jetzt, wo ich wieder mehr Zeit hatte. Du richtetest dich ja eh meist nach mir. Hattest also auch Zeit. Nicht oft. Und meist nicht viel. Aber es reichte zum Reden. Und dazu, mich fröhlich zu machen. Mir mein Lächeln zurückzubringen. Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich gemacht hätte. Allein wäre ich nicht Enten füttern gegangen.


Dann kam der Tag. An dem du mir gesagt hast, dass wir im nächsten Jahr getrennt werden würden. Dass wir nicht weiter jeden Tag zusammen durch die Schule laufen würden. Dass wir uns die Hausaufgaben nicht mehr teilen konnten. Ich gab mich optimistisch. Wir würden uns ja trotzdem sehen. Ich hatte aber auch Angst. Dich zu verlieren. Ich fürchtete, dass du mich vergessen könntest. Mich, die ich alles mit dir geteilt habe. Oder jedenfalls glaubte, es getan zu haben. Die ich immer da war. Oder jedenfalls glaubte es gewesen zu sein. Mich, die ich dich besser kannte als alle anderen. Und trotzdem hatte ich etwas übersehen.


Heute weiß ich, dass ich so vieles falsch gemacht habe mit dir. Dass immer nur du mir geholfen hast und nie ich dir. Dass immer nur du zuhören musstest und nicht ich. Dass immer nur du mir Kraft gegeben hast und nie ich dir. Dass du mehr wolltest als ich sehen konnte. Dass ich dir doller weh getan habe, als ich es je für möglich gehalten habe. Dass du mich besser kanntest, als ich dich je kennen würde. Dass du mich nicht vergessen könntest, solange ich an dich denken würde.


Heute sehe ich alles. Heute habe ich keine Angst mehr im Dunkeln. Heute komm ich alleine nach ganz oben auf das Klettergerüst. Sitze auch oft da. Aber es macht keinen Spaß ohne dich. Heute geh ich allein an den Strand. Starre stundenlang in die Wolken, denke an dich. Und vermisse dich. Du hattest mich nicht vergessen. Du hast nur endlich angefangen selbst zu leben. Du hast endlich aufgehört auf mich zu warten. Heute sehe ich, dass du es jahrelang gemacht hast.


Ich kann dir nicht böse sein. Zu viel hast du für mich getan. Zu viel bedeutest du mir. Zu sehr liebe ich dich. Ja ich liebe dich. Nicht nur weil du ein wirklich toller Typ warst und ein noch viel tollerer geworden bist. Nein. Ich liebe dich, weil ich dich kenne. Und sehe, was ich verschenkt hab. Ich wünsche dir alles Gute. Ich wünsche dir, dass du nicht noch einmal all das machen musst und am Ende doch nicht glücklich wirst. Ich wünsche dir eigentlich nur das Beste. Denn nur das ist gerade gut genug für dich.


Ich werde wohl erstmal alleine Enten füttern gehen müssen. Ich tue es ab und zu. Wenn ich Zeit habe. Weil ich ja jetzt auch alle meine Hausaufgaben machen muss. Und nebenbei immer gucken muss, dass sich hinter meinem Rücken nichts gegen mich stellt. Ach was war das noch für eine Zeit, als du da warst. Und aufgepasst hast, dass mir nichts passiert. Heute würde ich gern wieder Rücken an Rücken mit dir stehen. Denn heute würde ich auch auf dich aufpassen können. Nicht so wie früher. Wo ich klein und feige und schüchtern war.


Ob ich immer noch unsterblich sein will? Wenn du mitmachst schon. Alleine nicht. Nicht ohne dich. Denn unsterblich sein wollte ich immer nur wegen dir. Wegen niemandem sonst. Sag beschein, wenn du soweit bist. Denn jetzt bin ich dran mit warten. Und solange ich das tue werde ich wieder zum Spielplatz gehen. Zum Klettergerüst. Werde Enten füttern am See. Nur heute regnet es viel öfter als früher. Heute bin ich allein. Nicht so wie früher. Aber ich hab ja Zeit…

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Tag der Veröffentlichung: 17.04.2012

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