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Willenskraft

Sie rannte. Ihre baren Füße hinterließen blutige Abdrücke im weißen Schnee. Steine und Dreck bohrten sich in ihre Wunden, doch sie rannte verbissen weiter. Tief hängende Äste kratzten an ihren Oberarmen, mit welchen sie den Schwung beim Laufen mitnahm. Zerzauste schwarze Strähnen fielen ihr wirr ins Gesicht. Sie strich das Haar fahrig nach hinten. Ein Paar graue Augen kamen zum Vorschein. Erfüllt mit Angst und doch brannte gleichzeitig die Entschlossenheit zu entkommen in diesen Tiefen.

Ein schwache Jaulen in der Ferne ließ sie aufhorchen. Ihr Puls erhöhte sich drastisch, allerdings wollte sie sich ihrer aufkeimenden Panik nicht hingeben und biss sich auf ihre schon blutigen Lippen. Sie wurde eine Spur schneller und gelangte somit bald an einen reißenden Strom. Wie ein unbezwingbarer Sturm brauste es durch sein Becken. Kraftvoll. Gefährlich. Sie sah, wie ein Stamm doppelt ihrer Größe durch das Nass geschleudert wurde und schließlich an den Felsen zerschellte, wie Glas. Es war faszinierend und gleichermaßen Respekt einflößen was Naturgewalten anstellen konnten. Ein letzter Blick auf die Szenerie vor ihr und die tödliche Gewissheit, dass sie an keiner Stelle den Fluss überqueren konnte, kehrte sie um und versuchte es über einen anderen Weg. Sie musste sich beeilen! Die Zeit drängte und die losgelassenen Monster kamen immer näher! Das ferne Jaulen gehörte der Vergangenheit an. Egal was sie auch unternahm, ihr Blut führte die Bestien auf ihre Fährte. Die Wachmänner hatten gut daran getan, ihr ihrer Schuhe zu berauben und sie solange hatten gehen lassen, bis ihre Füße ganz wund geworden waren. Sadistische Bastarde! Doch sie hatte keine Zeit gehabt, sich neue zu besorgen. Es war eine Angelegenheit von Sekunden gewesen, die über ihre Freiheit entschieden hatten. Was waren Schuhe, wenn es um etwas viel wichtigeres gegangen war? Lieber hatte sie die Option ergriffen zu Fliehen und in diesem Versuch zu sterben, anstatt langsam und qualvoll in hinter den Mauern zu krepieren.

Die Schreie der Anderen...

Es jagte ihr ein Schaudern über den Rücken. Jede Nacht hatte sie sie gehört und hörte sie noch immer, sie würden sie verfolgen bis an ihr Lebensende. Die Männer, die dies taten waren krank, herzlos. Ohne irgendein Gefühl, bloß ein sadistisches Lächeln in ihren Mundwinkeln. Sie verzog ihr verschmutztes Gesicht angewidert und blieb stehen, um neuen Atem zu holen.

Plötzlich schoss hinter einigen Stämmen ein massiger Körper hervor und sprang auf sie zu. Ihre Augen wuchsen an und sie verharrte wie angewurzelt. Das Maul des Tieres war weit aufgerissen und sie konnte die spitzen gelben Zähne sehen, welche es besaß. Im letzten Moment löste sie sich aus ihrer Starre und rollte sich zur Seite. Nicht aufpassend wohin, war es der Rand eines kleinen Abhanges und sie schlitterte die keine Anhöhe herunter. Hart kam sie auf allen Vieren auf und ohne einen Blick zu riskieren rappelte sie sich auf und sprintete davon. Den Schmerz in ihren Händen und Oberschenkeln ignorierend. Ihre Bewegungen wurden hektisch und unkoordiniert. Es war Angst die sie trieb, denn das Monster zu hören und im Endfall wirklich zu treffen waren zwei verschiedene Stiefel, die sie nicht hatte mischen wollen. Jetzt überkam sie das, was sie hatte vermeiden wollen: Nackte Angst. Sie hatte an ihrer Illusion festhalten wollen zu gewinnen, davon zu kommen, allerdings mit dem Eintreffen der von den Wächtern liebevoll genannten Knochenbrecher, verließ sie dieser Wille wie schmelzendes Eis in der Sonne. Dieser Monster waren dazu ausgebildet worden zu töten und zu jagen. - Sie hatte keine Chance. Sie spähte über ihren Rücken. Nichts war von ihnen zu sehen, doch sie spürte sie hinter den Büschen und Bäumen des Waldes. Fühlte die großen gelben Pupillen auf sich ruhend. Wartend auf die perfekte Gelegenheit zuzuschlagen. Es war ein einfach Prinzip was sie verfolgten, und sie lief ihnen direkt in die Falle. Von Panik getrieben hatte sie nicht darauf achtgegeben, wohin ihre geschundenen Füße sie brachten. Sackgasse. Vor ihr hatte sich eine Felswand aufgeragt. Daran hochzuklettern war unmöglich. Panisch wirbelte sie herum und erstarrte zu Eis. Hinter den Bäumen schlichen sich mit langsamen Schritten drei Knochenbrecher heran. Ohne Hast und aus allen drei ihr verbleibenden Fluchtrichtungen. Die Ohren der wolfsähnlichen Kreaturen waren angelegt und deren Zähne gefletscht. Speichel rann aus deren Mäulern, befeuchteten deren grauschwarzen Felle.

Sie schluckte hart und atmete tief durch. So wollte sie nie sterben! Flucht war zwecklos. Bei dem leisesten Versuch würde sie zerfleischt werden. Sie fühlte sich schwer und antriebslos, wie ein Vogel mit gebrochenen Flügel vor einer hungrigen Katze. Soweit war sie gekommen und das sollte ihr Ende sein? Wo war ihr Wille gewesen nur mit einem Kampf niederzugehen? Herunter geschluckt wie anscheinend ihre Zunge? Jämmerlich, schoss es ihr durch den Kopf. Ja, sie war erbarmungswürdig. Was waren ihre Vorsätze, wenn sie sie nicht einhalten konnte? - Lügen! Ein Bild eines kleines Jungen tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. Er schrie nach seiner Schwester, welche von den Wachen mit Gewalt an den Haaren davon geschliffen wurde. In die hinteren Reihen der Menge von einer alten Frau gezogen, war das Letzte was sie von ihrem Bruder sah, bevor sie in einen Käfig gestoßen und ein dunkles Tuch vor ihr abgesenkt wurde.

Nein!

Ein Funkeln trat in ihre Augen. So wollte sie nicht abtreten. Nicht so! Ohne Mut und versteinert.

Ihre Mund wurde zu einem dünnen Strich. Der Ausdruck in ihren Augen wechselte erneut. Entschlossenheit keimte wieder auf. So klein die Hoffnung auch sein mochte, man sollte niemals aufgeben. Sie würde kämpfen! Für sich, für ihre Freiheit und am meisten für ihren Bruder. Wegen ihm war erst der wahnwitzige Plan entstanden, zu fliehen. Wegen ihrem kleinen Adrian. Ohne sie wäre er allein auf der Welt. Allein. Das konnte und wollte sie nicht zulassen! Sie schloss ihre Lider. Die Biester waren nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Hatten sich langsam und gemütlich an sie herangepirscht. Das Knurren hallte bedrohlich in ihren Ohren wieder. Erneut machte sie einen tiefen Atemzug und öffnete dann blitzartig ihre Augen. Im gleichen Augenblick stieß sie einen Schlachtschrei aus und lungerte nach der Kreatur genau vor sich. Sie hatte keine Waffe, außer ihren Mut.

Es setzte zum Sprung an.

Graue Seelenspiegel sahen in gelbe, ehe die Dunkelheit das Bild vor seinen Augen verschluckte und ihn schlagartig seine Lider öffnen ließ. Panisch sprang der junge Mann aus seinem Bett, die Pupillen wanderten wirr von einem Platz zum Nächsten und griff in seiner Hysterie nach dem eiserner Kerzenständer neben seiner Schlafstätte.

„Ner!“, holte ihn eine weibliche Stimme wieder zurück zur Vernunft. Er sah zur Tür, welche hastig aufgestoßen worden war und eine junge Frau mit einfacher Kleidung offenbarte. Seine Frau. Seine Enna.

„Was ist passiert?“, fragte sein Herz ihn. Besorgnis lag in ihrem Ton. Er legte zitternd den Kerzenständer zurück an seinen angestammten Platz und ließ sich auf sein Bett zurückfallen. Seine Gedanken waren unsortiert und sprangen im Sekundentakt. Ner vergrub das Gesicht in seinen Händen.

„Ich glaube,“ fing er an, sah plötzlich auf, fixierte sie mit seinem Blick. Er würde ein Thema anschneiden, von welchem er sich eigentlich geschworen hatte, es nie wieder in den Mund zu nehmen. Es schmerzte auch nur daran zu denken, doch er musste es loswerden.

„Ich habe das Leben meiner großen Schwester gesehen.“

Impressum

Texte: Alle Rechte dieses Buches liegen bei mir, der Autorin.
Bildmaterialien: Das Cover habe ich aus Google Bildersuche.
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte allen Lesern und meiner Familie.

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