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I. Stille

Stonevalley, Büro von Charles J. Hermes, Vormittag

Endlich!

Er setzte einen Punkt hinter den letzten Satz und drückte auf Enter. Danach schloss er den zwölft Seiten fassenden Bericht und erfreute sich an dem Anblick eines leeren Bildschirmes. Hätte man ihm früher gesagt, wie viel Schreibarbeit auf ihn zukommen würde, wäre er sicherlich nicht in die ISAAC eingestiegen. Von Tag eins an wurde man mit dieser absolut lästigen Arbeit gequält und gepiesackt und seine Meinung zu diesem Thema, hatte sich auch nach mehreren Jahrzehnten nicht verändert. Sie war nach wie vor negativ, auch wenn er im Laufe der Zeit verstanden hatte, dass ohne einen geordneten Ablauf - dazu gehören nun mal diese elendigen Berichte - sich nichts mehr von der Stelle bewegen würde und es ein heilloses Durcheinander und Chaos zur Folge hätte.

Seine Freude hielt jedoch nicht für sehr lange, da plötzlich ein kleines Fenster aufsprang und ihn dazu aufforderte auf 'OK' zu drücken. Es war eine Vidoverbindung zu Esteban da Silva García. Jemand aus der Führungsriege, mit welchem Charles sehr gut zurecht kam, nicht zuletzt deswegen, weil er privat mit ihm seit fast 15 Jahren befreundet war. Hinzu kam, dass er der Patenonkel von seinem ältesten Sohn war.

„Esteban, mein Freund. Wie geht es deiner bezaubernden Frau?“

„Gut, gut. Ihr geht es gut, aber dass kannst du sie dieses Wochenende gerne selber fragen, denn du bist wieder einmal zum Abendessen eingeladen. Und ich rate dir, zu kommen, alter Freund. Arturo und Jago fragen schon seit Wochen nach ihrem Tìo und Mari hat dich seit Turos Geburtstag vor sechs Wochen nicht mehr gesehen.“

Charles Lächeln erblasste. Vor seinem unsichtbaren Auge tauchten die unzähligen Mappen auf, welche noch durchgearbeitet werden müssen. Aufschub unakzeptabel.

„Das könnte schwierig werden.“

„Das sagst du jedes Mal, wenn du eingeladen wirst. Kann deine Antwort nicht einmal mehr... positiver ausfallen?“, fragte Esteban stirnrunzelnd. Er selbst steckte meist bis zum Hals in Unterlagen die durchgelesen und überwiegend auch abgesegnet werden müssen, doch sein Freund hatte irgendwie immer noch mehr zu tun. Ganz gleich ob es eigentlich er war, welcher im höchsten Chefsessel der Organisation saß.

„Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht so ohne Weiteres möglich ist. Zudem müssen wir den Ausfall von nicht nur einer, sondern sogar mehreren Personen kompensieren. An sich wäre das keine große Sache, aber da es sich bei einem der Verletzten um einen unserer beiden Piloten handelt, ist es ein Wunder, dass wir überhaupt noch vorwärtskommen. Glücklicherweise haben wir mit Miss Weigler eine Ausweichmöglichkeit, aber selbst mit ihr gelingt es uns nur bedingt den Abgang von Mister Houser zu kompensieren. Wenn das so weitergeht, werde ich einen weiteren Agent für die Einheit benötigen.“

Miss Weigler war eine exzellente Pilotin, aber sie flog hauptsächlich Erkundungs- und Einzelmissionen. Sie für den Mehrpersonentransport mit zusätzlichen Stunden zu belasten, war notwendig, aber mitnichten eine dauerhafte Lösung. Ein neuer Agent würde gewiss für Entlastung sorgen, wäre jedoch in Anbetracht der angespannten und aufgeheizten Stimmung, welche zurzeit in der Umbra vorherrschte, eher kontraproduktiv, anstatt eine echte Hilfe.

„Angesichts dessen, dass du seitdem Umbra aktiv ist, nur ungern Neuzugänge begrüßen tust, ist es höchst ungewöhnlich, dass du jetzt anscheinend freiwillig Neulinge aufnehmen willst, Charles.“

Esteban war misstrauisch. Und das zu Recht. Das letzte Mal das Charles sich aktiv nach Verstärkung ungesehen hatte, war vor vier Jahren gewesen. Seitdem gab es keine neuen Gesichter in der Umbra. Niemanden mehr. Bei Sondereinheiten war es ohnehin von Vorteil, die Gruppe so klein wie irgendwie möglich zu halten. Ein familiäres Umfeld bedeutete mehr Effektivität und Leistung. Andererseits waren die jüngsten Neuzugänge erst nach langer Bedenkzeit aufgenommen worden und das auch nur weil er schließlich zu dem Schluss kam, dass es Zeit war Familie nicht länger in unterschiedlichen Einheiten dienen zu lassen.

„Von den 17 Agents, die mir zur Verfügung stehen, sind zwei Undercover unterwegs, einer hat immer noch an seiner Rippenverletzung zu nagen und einer liegt im Koma. Mir bleiben also rein theoretisch noch 13 kampffähige Leute. Davon muss ich allerdings noch Mister Heilig, sowie Mister Neuer und Miss Weigler abziehen, da Letztere zurzeit den Ausfall von Mister Houser kompensieren muss und nur noch selten auf Einzelmission geschickt werden kann. Macht aus dreizehn zehn. Nehmen wir außerdem hinzu, dass die ältere Miss Akagawa ihren Dienst zurzeit lediglich sporadisch erledigt, bleiben mir von 17 Leuten gerade einmal neun übrig, die im aktiven Dienst tätig sind“, erklärte Charles die verzwickte Personallage und rieb sich die Stirn. Es war eigentlich nichts Ungewöhnliches, wenn hin und wieder Leute fehlten, aber auf einen Ausfall eines Piloten waren sie nicht vorbereitet gewesen, jedenfalls nicht darauf, dass dieser über Monate hinweg nicht einsatzfähig sein würde.

„Ich werde zu alt für diesen Job!“

„Ich bitte dich! Du bist jünger als ich, wie soll ich mich dann fühlen?“, fragte Esteban und schüttelte auf der anderen Seite des Bildschirms den Kopf.

„Aber du hast Recht“, stimmte er ihm zu.

„ Neun aus 17 ist wenig. Besonders da wir jetzt - mehr den je - unsere Spezialeinheiten brauchen.“

Er verwies damit stumm auf die zunehmend aufgeheizte Stimmung im Nahen Osten. Diese Region war zwar, wenn man es genau nahm, schon seit Jahrzehnten ein Konfliktherd, doch im Laufe der Jahre hatte sich wieder etwas dort unten zusammengebraut, dessen gewaltige Explosion nur noch eine Frage der Zeit war.

„Ich weiß.“

Esteban wechselte das Thema und kam auf etwas zu sprechen, was schon seit Wochen an seinem Freund nagte.

„Wie steht es um den jungen Houser? Ist Besserung in Sicht?“

Jemand anderes der Führungsriege hätte sich nicht um das Wohlergehen eines leicht zu ersetzenden Agent gesorgt, aber Charles war sein Freund und er wusste, wie sehr dem Mann die Einheit und jedes einzelne Mitglied am Herzen lag.

„Nein. Es liegt ganz an ihm selbst, aufzuwachen. Dabei kann ihm keiner helfen.“

Esteban hätte ihm die Hand auf die Schulter gelegt, wäre es ihm möglich gewesen.

„Ich sehe, es war richtig gewesen, dich zu überreden der Teamleiter dieser Einheit zu werden“, sagte er deswegen lediglich.

Oh, war Charles ein sturer Bock gewesen, letztendlich aber hatte er ihn wenigstens dazu bringen können, probeweise die Chefposition zu übernehmen. Nach vier Monaten war es dann geschafft gewesen. Charles beantragte die endgültige Versetzung und die Führungsriege hatte zu diesem Zeitpunkt ein Problem weniger.

„Überredet? - Du hast mich mit dem Essen deiner Frau bestochen!“, unterbrach ihn sein Gegenüber schmunzelnd, erinnerte sich mit Sicherheit gerade an damals zurück.

Er zuckte mit den Schultern.

„Es hat sich ausgezahlt. Dir sind diese jungen Menschen nicht egal, Charles. Du siehst sie nicht als austauschbare Spielfiguren auf einem Schachbrett an. Du zeigst Mitgefühl, wo andere Professionalität walten lassen.“

Die zweite Wahl wäre nämlich Di Rossi gewesen. Hoch dekoriert, aber skrupellos und ohne Moral. Niemanden dem er eine Einheit aus jungen Agenten anvertraut hätte. Di Rossi hätte sie ohne mit der Wimper zu zucken sofort in ein Kriegsgebiet geschickt, anstatt sie erst als ein Team zusammenwachsen zu lassen.

„Das alles nützt Mister Houser aber nichts.“

„Nicht ihm, aber denen, die ihm Nahestehen schon. Du hast es doch eben selbst gesagt: Es liegt an dem jungen Mann selbst, aufzuwachen. Wir können nur abwarten.“

„Ich weiß. Es wäre mir jedoch trotzdem lieber, er würde bald aufwachen. Miss Akagawa, nun-“

Er zögerte einen Moment, wusste, dass die nächsten Worte über das Schicksal der jungen, eigenwilligen Dame entscheiden konnten, doch Esteban war im Gegensatz zu anderen aus der Führungsriege sein Freund und vertraute ihm soweit, dass er sich seine Worte zumindest anhören würde, anstatt blind ein Urteil zu fällen. Was im Fall einer Mors sehr, sehr unschön enden konnte.

„Sie ist zurzeit nicht ganz sie... selbst, wenn du verstehst. Mister Houser ist eine wichtige Bezugsperson für sie und-“

„Denkst du, dass sie eine Gefahr darstellen könnte, Charles?“, unterbrach er sein blondes Gegenüber kurzerhand. Es war ihm todernst. Das Charles sie so explizit erwähnte, ließ keine Zweifel daran, dass sein Freund schon länger große Bedenken hegte, was den Gemütszustand der jungen Akagawa anging und nun zu dem Schluss gekommen war, andere in diese Angelegenheit miteinzubeziehen. Mors waren schon schwer genug zu kontrollieren, wenn sie gut drauf waren. Eine instabile Mors hingegen war, wie als würde man eine scharfe Bombe mitten am heiligten Tag in der Fußgängerzone stehen lassen und davongehen. In den 90er Jahren hatte eine Agentin mit dem Namen Elsa the Banshee ein 75-Seelen Dorf beinahe komplett ausgelöscht, weil sie erfahren hatte, dass ihre kleine Tochter, wessen Sorgerecht aufgrund ihrer psychischen Verfassung bei den Großeltern lag, bei einem Autounfall um Leben gekommen war. Nachdem es nicht möglich gewesen war, sie mit herkömmlichen Mitteln zum Aufgeben zu bewegen, beziehungsweise zu überwältigen, hatte die Führungsriege den Befehl zum Neutralisieren gegeben. Insgesamt starben 49 Zivilisten und 6 Agents bis sie endgültig gestoppt werden konnte. Neun weitere Menschen erlagen später ihren Verletzungen, korrigierte die abschließende Opferzahl auf 64 nach oben. Es war ein Massaker gewesen. Mors wurden nicht grundlos als Mors eingestuft. Sollte nicht bald eine Besserung bezüglich Mister Housers Zustand ersichtlich sein, könnte das Ergebnis dasselbe tragische Ende haben, wie bei Elsa damals. Vielleicht sogar noch schlimmer. Früher war die Waffentechnik noch nicht so ausgefeilt und so zerstörerisch, wie heute. Er wollte sich kaum ausmalen, was Miss Akagawa bewaffnet mit dem Wissen und der Technik des 21. Jahrhunderts alles anrichten könnte.

„Ich weiß es nicht“, antwortete ihm Charles ehrlich und verschränkte seine Arme. Er war vieles, doch ein Gedankenleser sicherlich nicht.

„Ich weiß es wirklich nicht. Du weißt doch, dass Miss Akagawa ein besonderer Fall ist.“

Und ob Esteban das wusste! Beide Elternteile waren hochdekorierte Wissenschaftler der ISSAC. Die jüngere Schwester trug ebenso wie die Ältere den Namen Wunderkind. Zudem hatte die Familie einen alten Namen und ein Oberhaupt, welcher sehr, sehr unangenehm werden könnte, sollte er sich in die Angelegenheiten der ISSAC einmischen wollen.

„Seit sie unter mir arbeitet, hatte sie mehr schlechte Phasen, als ich Finger an einer Hand habe.“

Frauen konnten schreckliche Stimmungsschwankungen besitzen, doch ein pubertierendes Mädchen, welche gerade erst zu einer jungen Frau heranwuchs, war in gewisser Hinsicht sogar noch schlimmer. Nahm man hinzu, dass es sich bei der besagten Jugendlichen um eine ausgebildete Killerin handelte, hatte man alle Zutaten für eine ausgereifte Katastrophe zusammen. - Wahrlich, sein alter Freund war nicht zu beneiden.

„Trotzdem hast du noch nie so besorgt geklungen, wie heute“, warf Esteban dazwischen.

„Ich bin mir durchaus bewusst, dass ohne Mister Houser und ihre jüngere Schwester wir Miss Akagawa schon längst hätten aufgeben müssen. Ungeachtet der Folgen. Mir nun weismachen zu wollen, dass Miss Akagawa erst jetzt labil geworden ist, obwohl wir beide genau wissen, dass sie nie eine vernünftige Person zu Beginn war, ist eine Beleidigung gegenüber meiner Intelligenz, Charles!“

Charles seufzte und rieb sich mit Daumen- und Zeigefinger die Schläfe. Er hatte seit Tagen nicht richtig geschlafen und musste obendrein unzählige Berichte schreiben und durchgehen. Physisch wie psychisch war er an seiner Grenze angelangt. Das Esteban sich ausgerechnet heute aussuchen musste, um unangenehme Fragen zu stellen, brachte das Fass endgültig zum Überlaufen.

„Verstehst du nun mein Dilemma?“, fragte er.

„Egal wie es kommen wird, Miss Akagawa ist eine tickende Zeitbombe. Eine überaus intelligente junge Frau, aber trotzdem eine tickende Zeitbombe. Ich weiß nicht, ob sie eine Gefahr ist, weil sie nie kein Risiko für ihre Umwelt darstellt, aber ich weiß, dass sie zurzeit gereizter ist als sonst. Und ich denke wir sollten genau das - und nichts anderes - als eine Warnung verstehen.“

Plötzlich hallte Louis' Stimme in seinen Ohren wider.

Nichts ist umsonst, Charles. Nichts!“

Wahrheit und nichts als die nackte Wahrheit sprach aus ihr.

 

 

Stonevalley, das Chamber von Rain- 'Bow', Uhrzeit: nicht näher datiert

Er schaute auf den rechten Bildschirm. Nichts regte sich. Sein Blick glitt zur neusten Auftragsbeschreibung, nur um wenige Sekunden später wieder auf die rechte Seite zu springen. Nichts. Warum regte sich da nichts? Bow war unruhig. Er konnte es nicht ausstehen, wenn sich plötzlich etwas an der tagtäglichen Routine änderte. In dieser Hinsicht war er durch und durch ein Gewohnheitstier. Diese Routine beinhaltete hauptsächlich, dass er eben nicht wusste, wo sich dieses vermaledeite Mädl den ganzen Tag aufhielt!

Da! - Er glaubte eine Veränderung aus den Augenwinkeln heraus gesehen zu haben. Sofort schnellte sein Kopf zur Seite. Schon wieder nichts! Es war Loki, welcher aus dem Krankenflügel gekommen war und nicht Kuraiko.

Huh?

Wo kam den Loki bitteschön plötzlich her? Er war sich sicher gewesen, dass Loki den Krankenflügel schon vor Stunden verlassen hatte. Merkwürdig. Es konnte aber nicht sein, dass er die Wiederkehr nicht nicht gesehen hatte! Oder?

„Argh!“

Bow schlug die Hände über den Kopf zusammen und raufte sich durchs lockige Haar.

Was hatte er in seinem vorherigen Leben nur falsch gemacht, dass man ihn jetzt so bestrafen musste? Eigentlich sollte er sich ja freuen, dass das ewige Katz und Mausspiel anscheinend ein Ende hatte, aber richtige Genugtuung kam nicht auf. Eher das Gegenteil war der Fall! Kaum zu glauben, aber er hatte es wirklich lieber, nicht zu wissen, wo sie war, anstatt sie nun - wenn er gewollt hätte - auf Schritt und Tritt verfolgen zu können. Es war doch zum verrückt werden!

Er seufzte tief.

Warum, warum musste auch alles immer so kompliziert sein?

Nachdem das Mädl gleich am ersten Tag der Klassenfahrt Hals über Kopf wieder abgereist war, hatten er und Yuna Mühe gehabt, sich eine Ausrede zu überlegen, welche nicht nur logisch, sondern auch halbwegs glaubwürdig rüber kommen würde. Am Ende haben sie sich darauf geeinigt, zu behaupten, das wegen einem dringenden familiärem Notfall eigentlich beide Schwestern sofort nach Hause zurückkommen sollten, nach einer kurzen Diskussion Kuraiko allerdings entschieden hatte, alleine nach Deutschland zurückzukehren. Natürlich hatte Herr Bierlig trotzdem getobt wie ein Wilder - so rot im Gesicht hatten sie ihn noch nie davor erlebt gehabt - und mit einem Disziplinarausschuss und einer sofortigen Suspendierung auf unbestimmte Zeit gedroht. Glücklicherweise wurde dem Antrag von der Schulleitung nicht stattgegeben und so hatte er sich am Ende mit einer persönlichen Entschuldigung, einem verschärften Verweis, einem Gespräch unter zehn Augen - Schulleiter, Stellvertreter, ihm, ihrem Vater und ihr selbst - und einer 'nur' zweiwöchigen Suspendierung zufrieden geben müssen. Es hinderte den Mann allerdings nicht daran ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter zu ziehen, wann immer er Kuraiko oder Yuna auf dem Gang oder im Unterricht erblickte. Dabei hatte der Sonnenschein keine Schuld daran, dass Kuraiko Hals über Kopf abgehauen war. Um fair zu sein, traf das Mädl auch keine Schuld. Natürlich hätte sie besser mit der Situation umgehen können und müssen, doch der wahre Übeltäter war derjenige, der ihren Teamkollegen verletzte und somit dieses ganze Schlamassel überhaupt erst ins Rollen gebracht hatte.

Womit sie beim nächsten Problem wären, denn das abgelegene Warenhaus in Rumänien war nicht das Einzige seiner Art gewesen. In Europa gab es zwar kein Weiteres, doch dafür lagen in Afrika und Asien jeweils zwei, drei in Südamerika und eines in Nordamerika. Das waren die insgesamt neun Standorte in denen es sicher zu Genversuchen gekommen war. An fünf Weiteren waren zwar Hinweise gefunden worden, dass dort ein Forschungszentrum errichtet werden sollte, allerdings war es nicht in die Tat umgesetzt worden. Vier weitere Orte würden im Laufe der nächsten Wochen noch von den Einheiten aus der Heavy Duty Division - kurz HDD - der Organisation untersucht werden.

Für seinen Geschmack waren diese Leute ein bisschen zu sehr auf ihre Feuerkraft fixiert und weniger darauf aus subtil vorzugehen. Von dieser Sorte hatte er mit Cane schon genug zu tun!

In diesem Fall war es jedoch besser erst draufzuhauen und dann die Fragen zu stellen. Vielleicht hätte sich so das Drama in Kanada vermeiden lassen. Andererseits hatte es keine Hinweise gegeben, dass sich dort ein Standort befand, lediglich der Verdacht, dass dort sich etwas befinden könnte, was mit der Untergrundorganisation, nicht aber direkt mit den Experimenten in Verbindung stand. Das der Schwarzhaarige bei seinen Nachforschungen für Mister Hermes auf genmanipulierte Menschen treffen sollte, war nicht miteinkalkuliert, noch erwartet worden. Im Gegenteil! Mister Hermes hatte nach eigenen Angaben nicht damit gerechnet, dass Uranu auf größere Schwierigkeiten stoßen würde. Es war in erster Linie eine reine Erkundungs- und Hinweisbeschaffungsmission gewesen und deswegen auch eine Einzel- und keine Teammission. Außerdem hatte Mister Hermes jemanden haben wollen, der sich mit der Gegend auskannte und da traf es sich gerade Recht, dass sie drei Kanada Stämmige in der Umbra hatten. Im Nachhinein war es eine schlechte Entscheidung gewesen, überhaupt jemanden auf diese Mission geschickt zu haben, allerdings konnte der Mann ja auch nicht Hellsehen. Das Uranu für diesen 'Fehler' nun bezahlte, war nicht fair, doch was war im Leben schon fair?

Etwas regte sich auf dem Bildschirm. Sofort sah er drauf... nur um Sekunden später zerknirscht auf das geöffnete Word-Dokument zu starren, welches er in den letzten zehn Minuten nicht einmal im Ansatz gelesen, geschweige denn überhaupt überflogen hatte.

Loki! Es war schon wieder Loki gewesen. Natürlich war es Loki gewesen. Wer sonst außer dem Scherzkeks besuchte den Krankenflügel mit zig Medizinbüchern auf dem Arm?

Er schlug die Hände über den Kopf zusammen. Pause! Er brauchte dringend eine Pause! Drigend! Bows Blick wanderte zu einem dreckigen Teller neben sich. Wann hatte er nochmal das letzte Mal gegessen? Hmm...

Er kam nach reichlicher Überlegung zu dem Schluss, dass es gestern Mittag gewesen sein könnte - könnte. Höchste Zeit, dass er sich mal wieder die Beine vertrat und schlafen, ja schlafen, sollte er auch wieder mal für ein paar Stunden...

 

 

Stonevalley, früher Nachmittag bis Abend

„Ich würd' zu gerne wissen, was du gerade denkst, aber ich habe das Gefühl, ich weiß es eh schon“, murmelte jemand von hinten ganz nah an ihrem Ohr. Yuna schreckte hoch und schlug automatisch mit dem rechten Arm aus.

„Loki!“

Er blockte ihren Schlag ab und ließ sich anschließend breit grinsend neben ihr nieder. Ihre Knie berührten sich fast.

„Mach das nicht noch einmal!“

Waaaaas?“, fragte er spitzbübisch. Seine Augen funkelten im typischen Glanz.

„Schreckhaft?“

Sie gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.

„Idiot. Du bist ein Idiot, Loki“, sagte Yuna und ließ sich zurück in das weiche Leder fallen.

„Ich meine, dass du dich nicht so ran schleichen sollst. Was wenn ich die Waffen gezogen hätte?“

„Traust du mir etwa nicht zu, deiner schnellen Hand auszuweichen?“

„Nein“, entgegnete sie trocken, musste allerdings bei seinem Gesichtsausdruck wenige Sekunden später, zu lachen anfangen. Loki verschränkte schmollend seine Arme.

„Du bist gemein“, warf er ihr vor.

„Nein, ich bin realistisch. Da gibt es einen Unterschied.“

Mit einem Messer in der Hand hätte sie ihn mit Sicherheit verletzt. Egal wie schnell er ausgewichen oder abgeblockt hätte.

„Gut gut. Du hast gewonnen“, gab er sich geschlagen.

„Dafür bekomme ich aber was als Entschädigung.“

Gesagt, getan. Er gab ihr einen sanften Kuss, welchen sie sogleich erwiderte.

„Sucht euch ein Zimmer ihr zwei!“, rief Ares dazwischen und hielt sich eine Hand vor die Augen. Vorsichtig lugte er hinter gespreizten Finger hervor.

„Das kann man sich ja nicht mitansehen, wie ihr da rummacht.“

„Oh als Rummachen würd ich das nicht bezeichnen“, sagte Loki und nahm Yuna in den Arm. Ein dreckiges Grinsen tauchte in seinen Mundwinkeln auf.

„Aber wir können dir ruhig ne Kostprobe geben, wenn du willst.“

„Loki!“

Yuna sprang hochrot aus seinem Arm.

„Ich kann nicht fassen, dass du das gerade wirklich gesagt hast!“

„Ich glaube aber, dass deine Freundin was dagegen hat, Loki“, sagte Ares schelmisch.

„Schade. Kein Kino frei Haus.“

Ares!

Fassungslos starrte sie von einem grinsenden Idioten zum anderen. Das war doch nicht zu fassen!

Du!“, zischte sie und bohrte mit ihrem Zeigefinger ein Loch in Lokis Schulter.

„Das ist alles deine Schuld!“

Die Blunette wirbelte herum und fixierte die lauthals lachende Hyäne vor sich mit kalten Augen. Ares verstummte augenblicklich. Wenn Blicke töten könnten...

„Und dir rate ich das Weite zu suchen, ansonsten...“

Sie ließ die Worte so im Raum stehen, aber alle Anweisenden wussten, dass sie andernfalls ihrer Schwester gefährlich Konkurrenz machen würde.

Ares salutierte. So etwas ließ er sich nicht zweimal sagen.

„Jawohl, Captain.

Nachdem Ares eiligst den Raum wieder verlassen hatte, wandte Yuna sich ihrem Freund, welcher wohl schon ahnte, was nun auf ihn zukommen würde, denn das Lachen war ihm spätestens nach ihrem eisigen Blick vergangen. Vielleicht hätte er doch nicht so dick auftragen sollen... Immerhin waren sie erst frisch zusammen gekommen und alles noch ein wenig Neuland für sie.

„Ich hätte wissen müssen, dass du früher oder später mit so einer Aktion kommst.“

Anstatt, wie eigentlich erwartet, ein typische Yuna-Standpauke zu bekommen, machte Yuna... nichts?

„Ähhh...“, lautete seine sehr einfallsreiche Entgegnung. Die Bluenette kicherte.

„Was hast du erwartet, was jetzt kommt? Ein fliegendes Messer? Ich bitte dich! Selbst Nēsan hätte so etwas nicht gemacht.“

Loki war sich da nicht so sicher. Immerhin war hier von Kuraiko die Rede. Einer Verrückten mit einer unheimlichen Vorliebe für spitze Gegenstände.

Yuna machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Also wirklich! Sie hätte dich angestarrt und dann nachdem du fast wahnsinnig geworden bist, erst dann hätte sie ein Kunai gezogen. Und das auch nur, wenn sie jemanden weiter einschüchtern wollte oder dieser jemand es Wert war, eine Waffe zu ziehen.“

Und inwiefern sollte ihn das jetzt beruhigen?

„Du bist du, Loki. Mach dir nicht zu viele Gedanken.“

Hier grinste sie verschwörerisch.

„Ist nicht gut für dein Hirn, wenn du dich zu sehr anstrengst.“

Ein Kuss auf die Wange und damit war für sie der Fall erledigt. Lange sauer sein konnte sie ohnehin nicht auf den Brünetten. Schon gar nicht wegen so einer Kleinigkeiten. Herumalbern und dreckige Witze gehörten eben zu einer Beziehung, besonders zu einer mit Loki. Noch vor wenigen Wochen hatten sie kaum ein Wort außerhalb ISAAC-relevanten Dingen gewechselt. Nun waren die Zwei praktisch unzertrennlich.

„Ich muss bald wieder los“, murmelte Loki mit halben Blick auf die Uhr und drückte die Blunette näher an sich. Er wollte nicht aufstehen, aber die Pflicht rief. Uranus Werte mussten alle paar Stunden überprüft werden. Manchmal begleitete sie ihn, doch die meist Zeit über war er alleine unterwegs. Eigentlich, brauchte er sich nicht die Mühe machen, da Doc eh da war, doch sein obligatorischer Besuch galt nicht nur dem bewusstlosen Kanadier, sondern auch Yunas älterer Schwester, die die letzten Tage kaum aus dem Krankenflügel wegzudenken war. Kam er am frühen Morgen zu seinem alltäglichen Rundgang, war sie da. Sah er nach der Schule bei der Doc vorbei, holte sich Bücher zum Selbststudium, räumte den Medizinschrank um oder half bei irgendwelchen Experimenten, war sie da. Ging er am Abend nachdem er alle Geräte und Werte überprüft hatte, war sie da. Himmel! Sogar Ares wusste, dass es gewaltig schief laufen musste, wenn Kuraiko selbst auf die üblichen Seitenhiebe von Rainbow keinerlei Reaktion zeigte, nicht einmal eine spöttische Miene zog. Die Grünhaarige war zwar schon immer auf Distanz gewesen, doch dieses neue Level der Gleichgültigkeit überraschte auch ihn. Kuraiko war... da. - Nicht mehr und nicht weniger.

„Schon?“, fragte Yuna und sah selbst zum großen Zeiger an der Wand.

„Ja. Außerdem muss ich noch die Verbände sortieren und aufräumen. Sonst bringt mich Doc um.“

Die Mitte Vierzigerin konnte ganz schön unangenehm werden, nicht nur zu ihren Patienten.

Yuna stand auf.

„Ich komme mit“, sagte sie.

„Nēsan kann sich nicht ewig verkriechen.“

Das Verhältnis zwischen den Schwestern war zwar angespannt, doch ihr gegenüber zeigte Kuraiko wenigstens noch ein bisschen Interesse. Er wusste von ihrem Streit, wie auch nicht, wenn er durch das halbe Hotel zu hören gewesen war? Es war das erste Mal, dass er das Zwillingspaar so im Twist gesehen hatte. Klar, hier und da gab es mal immer Kabbeleien zwischen Geschwistern, doch zwischen Kuraiko und Yuna waren Streitereien schon immer etwas anders gewesen. Es gab kein lautes Geschrei oder sonstiges dergleichen. Es war einfach... anders. Bis jetzt. Schon komisch, wie eine winzige Nachricht den Wesenszugs eines Menschen so drastisch verändern konnte. Natürlich war ihre Reaktion verständlich gewesen, andererseits, wenn man es nicht gewohnt war, dann schon ein wenig befremdlich.

„Stimmt. Noch ein paar Tage mehr in Docs persönlicher Folterkammer und jeder Geist wird neidisch auf sie sein.“

Loki hievte sich schwerfällig vom gemütlichen Sofa hoch.

„Hopp hopp. Mal schauen wie unsere atmende Statue auf deinen Besuch reagiert. Wenn wir Glück haben, blinzelt sie sogar, wenn du sie ansprichst.“

„So schlimm ist Nēsan dann auch wieder nicht“, verteidigte die Bluenette ihre Schwester und trat hinaus auf den Gang.

„Glaubst auch nur du.“

Hinter dem Brünetten schloss sich die Tür mit einem leisen Klacken.

„Glauben? - Ich weiß es einfach, Loki. Sie ist meine Schwester.“

Nēsan würde ihr antworten, musste es. Yuna war nicht gewillt, ihren Zwilling erneut zu verlieren und dieses Gefühl hatte sie. Einmal war genug. Sie hatte ihren Eltern bis heute nicht verziehen, dass sie sie voneinander getrennt hatten. Sie waren Schuld und nur sie allein, dass das lachende und fröhliche Kind von damals nicht mehr existierte.

Im Krankenflügel angekommen, verschwand Loki sofort in das kleine Medikamentenzimmer, wo auch die Verbände aufbewahrt wurden und machte sich an die Arbeit, während sie in den hinteren Bereich des Raumes ging.

„Nēsan.“

Ihre Schwester reagierte nicht. Yuna kam näher.

„Kuraiko Nēsan.“

Diesmal klang es fordernder, trotzdem zeigte Kuraiko äußerlich keinerlei Reaktion. Die Bluenette seufzte innerlich. Warum mussten ältere Geschwister immer nur so schwierig sein?

Kuraiko drehte sich blitzschnell herum und fing das Kunai, bevor es ihr Auge durchstechen konnte, gekonnt ab.

„Imouto.“

Die Grünhaarige wirbelte das Messer in der Hand, ehe sie es packte und mit dem Griff voran in ihre Richtung ausstreckte.

„Warum bist du - nein, was willst du hier?

Yuna nahm ihre Waffe wieder an sich und besah sich ihren Zwilling kritisch von oben nach unten. Beide hatten die helle Haut ihrer Okasan geerbt, doch Loki hatte Recht. Kuraiko ähnelte so langsam wirklich einer weißen Wand.

„Wann hast du das letzte Mal geschlafen? Und damit meine ich nicht hier, sondern in deinem eigenen Bett“, entgegnete die Jüngere, anstatt auf ihre Fragen zu antworten.

Die Grünhaarige hob eine Braue an.

„Tut das zur Sache?“, fragte sie. Ihr Blick glitt auf die schlafende Person neben sich. Ignorierte man das klinisch weiß um sie herum und die Gegebenheit, dass unzählige Maschinen an den Kanadier angeschlossen waren, wirkte es für einem Moment tatsächlich so, dass Uranu nur schlief und gleich wieder aufwachen würde. Die Realität sah anders aus.

„Er schläft genug für uns Beide.“

„Du kommst jetzt mit.“

Yunas Ton ließ keinen Raum für Verhandlungen.

„Eine Dusche im eigenen Zimmer und danach gehen wir in die Kantine und essen. Gemeinsam. Anschließend gehen wir an die Luft.“

„Und wenn ich mich weigere?“, wollte Kuraiko wissen und liebkoste nebenbei, wie selbstverständlich, Uranus Wange. Manchmal fragte sich Yuna, ob zwischen ihrem Zwilling und dem Dunkelhaarigen nicht doch mehr lief, mehr als nur eine tiefe Freundschaft.

„Was machst du dann? Mich fesseln und nach draußen schleifen?“

„Genau das.“

ihre Schwester lachte trocken auf.

„Deine Ideen werden immer schlechter, Imouto“, sagte sie und sah sie zum ersten Mal, seit sie den Krankenflügel betreten hatte, direkt an.

„Glaubst du wirklich, ich lasse ihn allein?“

Yuna hielt dem Blick stand, welcher ihr entgegengeworfen wurde.

Wie schnell doch geschulte Ausdrücke zu einem Wirbel der Gefühle umschwenken konnten; nicht nur bei ihrer Schwester, sondern allgemein betrachtet. Masken. Egal wie gut man war, sobald Gefühle unter der Haut brodelten, zersprangen diese Trugbilder wie Glas. Wahrheit konnte man nicht verbergen. Wahrheit triumphierte früher oder später immer. Es war ein unaufhaltsamer Prozess. Keiner konnte dem entkommen. Keiner konnte der Realität entkommen.

„Er ist kaum allein, oder zählen Doc und Loki plötzlich nicht mehr?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht-“

Ihre Schwester stand mit einer fließenden Bewegung auf.

„doch ich weiß, wann ich nachgeben sollte und wann nicht. Jetzt ist der Zeitpunkt klüger zu sein.“

Kuraiko verabschiedete sich mit einem sanften Kuss auf die Stirn des Ruhenden.

„Bis später“, murmelte sie in sein Haar und richtete sich auf. In jenem Augenblick ergriff ihr Alter Ego wieder von ihr Besitz und zeigte der Welt das kalte Gesicht, welches man von ihr gewohnt war.

„Kommst du?“

Die plötzliche Frage schreckte Yuna aus ihre Gedanken auf. Verwirrt sah sie in die Richtung aus der die Stimme kam. Manchmal konnte ein einziger Augenblick alles ändern.

„Wie bi- Ja, natürlich!“

Sie beeilte sich zu ihrer Schwester aufzuschließen, nicht, dass diese es sich noch anders überlegte. Zuzutrauen wäre es ihr. Mit einem kleinen Lächeln verabschiedete sie sich von Loki, welcher zwar leicht ungläubig, doch mit erhobenen Daumen in der Tür zu den Medikamenten und anderen Hilfsmaterialien stand und dem Zwillingspaar mit einem eigenen kleinen Grinsen hinterher sah. Manchmal konnten Worte wahre Wunder bewirken. Ein Glück! Er hatte Kuraiko lieber nicht im Nacken, wenn er die Werte an den lebenswichtigen Geräten kontrollierte. Apropos nach dem Rechten sehen, es war Zeit für die nächste Stippvisite. Während er Uranus Zustand genaustens dokumentierte und jede noch so kleinste Abweichung aufschrieb, kam er nicht umhin daran zu denken, was wäre, wenn seine Verfassung sich verschlimmern würde. Im Moment sah es weder sonderlich gut noch schlecht aus. Stagnation bedeutete aber auf langer Sicht gesehen, nichts Positives. Eher das Gegenteil. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sich jemand schwerwiegender verletzt, doch noch keiner hatte über als zwei Wochen im Koma gelegen und zeigte nach wie vor keine Anzeichen dafür, bald aufzuwachen.

„Da ist ja ein Elefant im Porzellanladen leiser als du bei deinem Versuch, dich heranzuschleichen“, sagte Loki ohne aufzusehen und notierte die letzten Ergebnisse.

„Was willst du? Nerv wen andern. Ich muss mich beeilen.“

Loki schob sich am Neuankömmling vorbei und ging ins nebenstehende Labor. Wenige Augenblicke später tauchte er mit leeren Händen wieder auf, nur um ins Medikamentenzimmer zu verschwinden. Im Schlepptau: sein bester Freund mit den Händen in den Hosentaschen.

„Doc meckert sonst wieder herum, wenn das Verbandszeugs nicht geordnet ist.“

„Wieso? Hast du das nicht erst vor drei Tagen gemacht?“

Loki stoppte und hielt eine Mullbinde hoch.

„Die da sind neu. Ihr blutetet ja bei jedem größeren Auftrag Unmengen davon voll. Weißt du eigentlich, wie viel Arbeit das ist, alles wieder aufzufüllen? Wie viele Stunden dabei draufgehen?“

„Ruhig Blut“, versuchte er den aufgebrachten Brünetten zu beruhigen.

„Ich glaubs dir ja, Kumpel. Brauchst mir nicht nen Vortrag halten. Wollt doch nur mal schauen, ob du Zeit hast. Hat sich ja jetzt erledigt.“

Mit diesen Worten ging er. Loki sah ihm ein bisschen verwirrt hinterher, ehe ihm einfiel, dass Doc um sieben Uhr bei ihm vorbeischauen wollte. Es war kurz nach sechs und es warteten noch einige Kartons auf ihn.

„Verdammt.“

 

II. Lügenmärchen

 

Sie blieb. Länger als nötig war, länger als sie erwartet hatte. War es das schlechten Gewissens gewesen, welches sie zum bleiben bewegt hatte? Kuraiko müsste lügen, wenn sie behaupten würde, es hatte ihr nicht gefallen mit ihrer Schwester Zeit zu verbringen. Es war erfrischend anders gewesen. Keine Fragen. Kein Mitleid. Nichts. Eine andere Herangehensweise. Sie hatte ihr Halt gegeben, anstatt Erwartungen zu haben. Das war es, was sie im Moment brauchte. Halt. Irgendwann würde sie Yuna vielleicht alles erklären. Adrien. Van Dryar. Die TEF. Nicht jetzt. Dafür war es zu früh und die Wunden, ausgelöst durch Ranus Verletzungen, zu frisch.

„Bis später, Imouto.“

Jede schöne Zeit hatte irgendwann ihr Ende. So auch diese. Die Umgebung wechselte wieder. Sie kam an jenem Ort zurück, von wo sie seit Wochen nicht mehr wegzudenken war. Ihre Lippen kräuselten sich zu einem bitteren Lächeln, während sie dem regelmäßigem Piepen der Geräte lauschte. Rainbow hatte zurzeit keine Probleme sie zu finden, doch wozu, wenn sie keinen Verpflichtungen mehr nachging? Wozu, wenn sie keinen Sinn darin sah, keinen Sinn mehr in irgendetwas entdecken konnte? Es war unfair dem Team gegenüber, unfair der ISAAC gegenüber, aber sie konnte sich nicht dazu bringen, ein schlechtes Gewissen zu entwickeln. Wozu auch? Ihre Loyalität lag einzig und allein bei ihren Geschwistern und den wenigen Freunden, die sie hatte. Der Rest konnte sprichwörtlich zur Hölle fahren. Sie konnte sich allerdings nicht ewig komplett verweigern. Ihrer Schwester lag etwas an dem Team, den Freunden, die sie hatte. Es war eine Gratwanderung zwischen dem, was Kuraiko machen wollte und dem was, was sie machen sollte, doch sie wusste, was sie sich noch erlauben konnte und was nicht mehr.

„Kuraiko! Genau diejenige, die ich gesucht habe!“

Natürlich. Kaum dachte man an Verpflichtungen, tauchten sie auch schon, wie herbeigerufen, auf.

„Sie wussten genau wo ich bin – wozu also diese Farce, Mister Hermes? Ist mein Verhalten nun soweit, dass sie das oberste Gremium eingeschaltet haben?“, fragte Kuraiko spitz. Sie hatte weder Lust noch Geduld sich auf seine Spielchen einzulassen. Der Mann schürzte für einen Moment die Lippen, ehe das freundliche Lächeln zurückkam.

„Aber nein, wieso denkst du das, meine Liebe?“

„Ach wirklich?“, hakte sie mit einer gehobenen Augenbraue nach.

„Was wollen sie dann, wenn mich nicht zur Führungsriege zu begleiten?“

Früher oder später musste Mister Hermes zu seinen Vorgesetzten gehen. So war es vorgeschrieben, so musste es auch sein.

„Zum einem sehen, wie es dem jungen Franklin geht. Zum-“

„Ihm geht es unverändert, wie sie unschwer sehen können, Mister Hermes“, unterbrach sie ihn.

„Kommen sie zum Punkt.“

„Da ist aber heute jemand leicht reizbar“, bemerkte Mister Hermes beiläufig. Untertreibung des Jahrhunderts.

„Nun gut.“

Seine Stimme nahm einen professionellen Ton an.

„Ich bin hier, weil ich dir eine Mission anbieten möchte. Eine, die du unter gegebenen Umständen nicht ablehnen wirst.“

Mister Hermes konnte es einfach nicht lassen. Sie drehte sich zu ihm, behielt aber eine Hand an Ranus Körper.

„Ich schlucke den Köder und frage nach dem warum, obwohl... nein. Sie wollen etwas von mir. Die Frage ist dann, was wollen sie mir im Austausch für meine Hilfe geben?“

Er lachte. Einsam halte es in der Krankenstation wieder.

„Dein Scharfsinn ist das, was dich so gefährlich macht, Kuraiko. Das und die Tatsache, dass deinem Großvater mehr an seinen Enkeln liegt, als an seiner einzigen Tochter.“

Gerüchten zufolge hatte das alte Oberhaupt Kuraiko sogar schon zu seiner Haupterbin gemacht und seine eigentliche Erbin - Kuraikos und Yunas Mutter - auf den zweiten Rang in der Erbschaftsfolge verwiesen. Sie ging nicht auf seine Worte ein.

„Ich möchte einen kleinen Gefallen als Gegenleistung dafür, dass ich dich auf eine Mission schicke.“

„Sie verstehen die Art zu verhandeln wohl nicht, Mister Hermes. Noch mehr wollen, aber - scheinbar - nichts dafür geben? Noch dazu ein Gefallen? Diplomatie ist doch eigentlich ihre Stärke, hätte ich angenommen?“, stichelte sie.

„Ist es“, bestätigte er, ohne auf ihre Provokation weiter einzugehen.

„Ich will einen Gefallen. Du willst die, die Franklins Zustand zu verschulden haben. Dazu dient der Auftrag. Du willst jedoch noch mehr, nicht wahr? Du willst nicht nur die Drahtzieher haben.“

Kuraiko verkrampfte, versuchte die blanke Maske aufrecht zu halten. Ein Kraftakt, welchen Mister Hermes zu durchschauen schien.

„Ich kann ihn dir nicht auf einem Silbertablett servieren, dazu müsste ich wissen wo er genau ist - doch ich kann dir Informationen über ihn geben. Verlässliche Informationen.“

Die junge Frau sah ihn fassungslos an. Sie war über Leichen gegangen, um an die auch noch so kleine Information über diesen Judas zu kommen und würde es auch weiterhin so handhaben. Allens Kopf war ihrer. Ihrer allein. Er sollte dafür qualvoll leiden, was er ihnen - ihr – angetan, was er ihr und Ranu letztendlich genommen hatte.

Ein grandioser Schachzug seinerseits - das musste sie ihm lassen.

„Wen muss ich liquidieren?“

Ihr Mund war trocken, als sie dies fragte. Ein Wunder, dass überhaupt etwas über ihre Lippen gedrungen war.

Mister Hermes fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Nervös. Er war nervös. So sehr, dass er für einen Moment aus seiner geschulten Gelassenheit ausbrach und einen Blick frei auf sein Inneres gab.

Es war also persönlich. Interessant.

„Ein Gefallen kann alles mögliche beinhalten, es muss nicht unbedingt ein... Mord sein... doch wenn die Zeit gekommen ist, möchte ich, dass du jemanden für mich erledigst, ja. Ohne Wiederworte.“

Es war falsch. Das was sie hier taten, wie sie so kalt einen Deal über den zukünftigen Tod eines Menschen aushandeln konnte, war moralisch falsch. Es kümmerte aber weder ihn noch sie. Ihn nicht, weil er lange genug im Geschäft war um zu wissen, dass man manchmal verwerfliche Entscheidungen treffen musste, für das Wohl aller. Sie nicht, weil sie es nicht anders beigebracht bekommen und weil sie sich für dieses Leben entschieden hatte. Vielleicht bereute sie es irgendwann einmal, vielleicht auch nicht. Was im Moment jedoch zählte, war das Hier und Jetzt. Sie musste Allen zur Rechenschaft ziehen. Dafür war ihr jedes Mittel Recht. Der Tod einer Person mit eingeschlossen.

„Einverstanden.“

Für die TEF. Für Adrien. Für sich selbst.

 

„Die Doc ist echt ne Sklaventreiberin. Bin grad so fertig geworden, da kommt sie reingewirbelt und halst mir die nächste Arbeit auf.“

Ausgelaugt und fertig mit der Welt ließ Loki sich, neben seiner Freundin zu Boden fallen. Jetzt wollte er erst einmal abschalten und nichts tun.

„Warum hab ich eigentlich nochmal zugestimmt ihr Assistent zu sein?“

Yuna kicherte.

„Armer, armer Loki.“

Sie schlang einen Arm um seine Mitte und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Augenblicklich zog er sie näher.

„Immer diese böse Doc. Sie will dich ja gar nicht darauf vorbereiten, ein Arzt zu werden, sondern nur eine billige Hilfskraft.“

„Solltest du nicht eigentlich auf meiner Seite sein?“, schmollte er.

„Übrigens war deine Schwester, als ich raus bin, noch nicht oder nicht mehr da.“

„Wie? Ich dachte, sie sei zurück zu Uranu.“

Der Zwilling war ehrlich überrascht. Loki zuckte mit den Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Kann sein, dass sie da gewesen war, nur eben nicht mehr, als ich gegangen bin.“

„Kann sein“, stimmte sie ihm zu und kuschelte sich näher an ihren Freund.

„Wie geht es ihm eigentlich?“

„Besser als gestern. Was ein Fortschritt gegenüber der letzten Tage ist, aber ansonsten unverändert.“

„Wenigstens etwas.“

Danach ebbte das Gespräch ab. Erholsame Stille breitete sich um sie aus, während sie den Grillen beim Zirpen zuhörten und ihren eigenen Gedanken nachhingen. Später, als die Mücken endgültig unerträglich wurden, gingen sie wieder rein. Ihre Wege trennten sich ziemlich schnell. Loki musste in den Krankenflügel zurück, da er dort etwas vergessen hatte. Sie versprachen sich am nächsten Morgen, bevor er auf Mission musste, noch einmal zu sehen und gingen dann in entgegengesetzten Richtungen weiter. Kaum war sie um die nächste Ecke gebogen, lief sie prompt in Ares, den sie übersehen hatte, hinein.

„Entschuldige“ entfuhr es ihr, während sie gerade so das Gleichgewicht halten konnte. Damit sie nicht doch noch hinfiel, stabilisierte ihr Gegenüber sie mit einer Hand.

„Ach, kein Problem. Ist ja nichts passiert.“

Mit einem Nicken verabschiedete er sich von ihr und ging zügig weiter. Anstatt sich über sein seltsames Verhalten zu wundern, setzte sie sich wieder in Bewegung. Schließlich konnte es gut sein, dass Ares sich wegen vorhin noch ein bisschen vorsichtig ihr gegenüber verhielt. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. So furchteinflößend war sie gar nicht. Hin und wieder launisch, aber nicht gleich furchteinflößend. Das war eher die Sparte ihrer Schwester, obwohl, man war eigentlich nur so beängstigend, wie ein anderer sich einen vorstellte. In ihrem Zimmer angekommen, schaffte sie es gerade so sich umzuziehen, ehe sie auf ihr Bett fiel und in einen unruhigen Schlaf gezogen wurde. Viel zu schnell und viel zu früh, wie sie mit einem verschlafenen Blick auf ihren Wecker feststellen musste, wachte sie wieder auf. Es war sinnlos zu versuchen weiterzuschlafen. Yuna war eine dieser Personen, die nicht mehr schlafen können, sobald sie die Augen aufgemacht hatten. Während sie sich also für den Tag fertig machte, war ihr Kopf mehr mit ihren wirren Träumen beschäftigt als für die Farbe ihrer Kleidung. Die Szenen haben so schnell und so oft ihre Perspektive gewechselt, dass sie jetzt im Nachhinein nicht mehr genau sagen konnte wer oder was alles vorgekommen war. Immer und immer wieder tauschten die Personen in ihrem Traum ihre Gesicht, bis ihrem Traum-Ich schlussendlich ein harter Schlag ins Gesicht gegeben wurde und sie dadurch schlagartig ihre Augen öffnete. Warum und von wem sie den Kinnhaken bekommen hatte, konnte sie nicht sagen. Es war ein dunkler Schemen gewesen, männlich, aber ansonsten ihr völlig unbekannt. Als sie schließlich vor dem Konferenzraum angelangt war, in welchem die heutige Einsatzbesprechung stattfand, hatte der Traum schon wieder an Bedeutung verloren.

„Was machst du hier?“, fragte Light, welcher für diese Mission auch mit von der Partie war, und wenige Augenblicke nach ihr gekommen war.

„Ich dachte, Loki ist mein Partner?“

Im nächstem Moment ging ihm ein Licht auf und er beantworte seine Frage selbst.

„Aber natürlich! Willst ihm wohl Glück wünschen.“

Ein anzügliches Grinsen hatte sich auf dem Gesicht des - nun - 20-Jährigen breit gemacht.

„Wäre es nicht besser du hättest ihn für diese Art von Glückwünschen gestern Nacht einen Besuch abgestattet?“

Sie liebte die Jungs in ihrer Einheit wirklich, doch manchmal gingen sie zu weit.

„Du weißt schon, dass ich derjenige bin, der deine Wunden verarzten muss, oder?“

Loki tauchte wie aus dem Nichts auf, konterte, bevor Yuna handgreiflich werden konnte und gab besagter Person auch noch gleich einen Guten-Morgen-Kuss.

„Gut geschlafen?“, flüsterte er in ihr Ohr.

„Hmm“, murmelte sie.

„Besser als gestern.“

Glatte Lüge, doch vor Light alles auszubreiten, wollte sie nicht.

„Dann ist ja gut.“

Light, welcher merkte, dass nun der perfekte Zeitpunkt war, um zu gehen, verschwand im Konferenzraum und ließ die beiden Turteltauben allein. Einen letzten Spruch hatte er sich aber dennoch nicht verkneifen können:

„Denkt dran, auch bei einem Quickie solltet ihr das Kondom nicht vergessen!“

Fassungslos sahen Yuna ihm hinterher. Loki nahm es ein wenig gelassener auf, auch wenn er fand, dass es für derartige Themen noch viel zu früh am Morgen war. Solche Sprüche waren leider Standard, wenn man eine Freundin hatte. Zumindest war das bei ihnen so.

„Darf ich ihn als Zielscheibe für das nächste Wurftraining mit meiner Schwester nutzen?“

Er verzog mitleidig das Gesicht, was sie nicht sehen konnte. Oh Light hatte es eindeutig übertrieben. Die Frage war jetzt allerdings, ob er seinen Teamkollegen von seinem bevorstehenden Schicksal warnen sollte oder nicht. Einerseits war es kollegial ihm gegenüber, andererseits war er nicht gewillt den Zorn seiner liebenswerten - wenngleich auch gefährlichen - Freundin auf sich zu ziehen. Also versuchte er es mit einem Mittelweg - nun er hoffte, es war einer:

„Meinst du nicht, dass deine Schwester sich mit ihm langweilen würde? Nur weil er verdammt schnell schießt, heißt das nicht, dass er genauso flink ist.“

Gut, es war nicht ganz das, was er eigentlich sagen wollte, aber wie hätte er sich sonst ausdrücken sollen?

Sie verengte ihre Augen.

„Glaub ja nicht, ich weiß nicht, was du hier tust! Du versucht mich mit Worten zu besänftigen und mir den Wind aus den Segeln zu nehmen.“

„Funktioniert es wenigstens?“, fragte er grinsend und lehnte sich zu ihr herunter. Sie entzog sich seiner Umarmung und schlüpfte unter ihm hindurch.

„Finde es doch heraus“, erwiderte sie ebenso frech.

„Heute Abend. Der kleine Trainingsraum im zweiten Stock.“

„Ist das ein Date, Akagawa?“, rief er ihr hinterher, doch sie war schon hinter der nächsten Ecke verschwunden. Was für ein keckes Ding sie doch sein konnte! Loki schüttelte lachend seinen Kopf und beeilte sich, die Mission hinter sich zu bringen. Es wartete immerhin eine hübsche Halbjapanerin mit zweifarbigen Augen auf ihn.

 

Berlin, früher Nachmittag

Muss ich annehmen, dass mein Platz als deine Lieblingsperson gefährdet ist?“, fragte Adrien belustigt seine kleine Partnerin und wuschelte ihr durchs Haar. Jeder andere hätte ihr feuriges Temperament zu spüren bekommen, doch nicht er. Sie richtete ihre Frisur und setzte sich anschließend neben ihn auf das Sofa.

Wieso das?“

Du kennst ihn nicht einmal 24 Stunden und der Neue heißt schon Uranu bei dir. Ich habe ewig gebraucht bist du das -san am Ende von meinem Namen weggelassen hast.“

Bei Cadiem, Loreley und den anderen hatte es noch länger gedauert. Selbst nach nun mehr als zwei Jahren, kam es noch vor, dass das -san an ihre Namen gehängt wurde. Es war ein Zeichen dafür, dass man in irgendeiner Weise zu weit gegangen war.

Du bist Adrien. Er ist Uranu“, sagte sie, als erklärte es alles. Er lachte.

Und Cadiem ist Cadiem und Lorelei ist Lorelei nehme ich an?“

Sie sah auf und strahlte ein perlweißes Lächeln.

Genau und Allen ist Allen und-“

Kuraiko jauchzte glücklich als er sie plötzlich packte und mit ihr durchs Zimmer wirbelte. In Momenten wie diesen wurde ihm wiedereinmal bewusst, dass am Ende des Tages, nach all der harten Arbeit unter der geschulten Porzellanmiene ein junges Kind zum Vorschein kam. Die ISAAC war barbarisch so jung schon zu rekrutieren, doch was hatte Kuraiko schon großartig für eine Wahl gehabt? Er kannte ihre Eltern nicht persönlich, doch es waren große Namen in der Organisation. Wenn sie von ihrer Familie sprach, dann nur von ihrer wenigen Minuten jüngeren Zwillingsschwester Yuna.

A-dri-en. Los lassen!“

Hmm, lass mich mal überlegen: Nein, niemals!“

Kuraiko schmollte, wiegte ihn damit in Sicherheit und schlug im Augenblick seiner Unachtsamkeit gnadenlos zu.

Ha! Doch nicht so Aufmerksam“, sagte sie und grinste so breit, dass er glaubte es ginge von einem Ohr zum anderen.

Was glaubst du, warum wurde er geschickt?“

Ich könnte mir denken, man will, dass er Erfahrung sammelt.“

Ein einer Grund wollte ihm nicht einfallen, aber ihn deswegen ausgerechnet in die TEF zu stecken, erschien ihm dann doch etwas seltsam. Die TEF war kein Zuckerschlecken und eigentlich nicht für die Kinderagenten geeignet, die die ISAAC zurzeit mit Vorliebe ausbildete. Natürlich waren in ein paar Jahren diese Knirpse die nächste Generation von Agenten, doch er fand es barbarisch sie so früh schon zu konditionieren. Mit dieser Meinung stand er nicht alleine da, doch weder er noch Cadiem oder seine Frau Lore konnten etwas dagegen machen. Sie nahmen Befehle entgegen, verteilten sie nicht.

Das schon, doch warum wir?“, fragte sie eindringlich. Entgegen der Ansicht einiger kannte unter den jungen Agents nicht jeder jeden. Sie war zwar mit Leuten ihrer Altersklasse zusammengesteckt worden, doch dies diente meist nur dem Zweck sie vorzuführen wie Tiere im Zirkus.

Ist das wichtig?“

Kuraiko legte den Kopf ein wenig schief. Egal wie sehr man auch versuchte ihr diese kindlichen Reaktionen auszutreiben, einige Gesten blieben einfach.

Nein. Er gehört jetzt zu uns.“

Sie sagte das mit solch Nachdruck, dass er willkürlich lachen musste.

Das tut er“, bestätigte Adrien nickend.

Und wir beschützen, was unser ist.“

 

Genau deswegen war Kuraiko hier, anstatt über ihn zu wachen, stand sie in einer Seitenstraße in Berlin vor einer herunterkommenden Kneipe um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Allen hatte nichts mit seinem jetzigen Zustand zu tun, doch sie zweifelte nicht daran, dass er Vergeltung für seinen toten Bruder suchen würde. Wenn er nur halb die Person war, die er ihnen jahrelang vorgegaukelt hatte, dann war er schon längst daran eine Möglichkeit zu finden sie schleichend langsam zu vernichten. Auch wenn er das Leben eines Abtrünniger gewählt hatte, war er immer noch der Stratege. Bis jetzt war es ein typische Katz und Maus Spiel zwischen ihnen gewesen. Sie war die dumme Katze, welche sich mit jedem noch so banalen Trick ködern ließ. Er war die schlaue Maus, welche jedes Mal aufs Neue entwischte. Nun galten jedoch andere Regeln. Sie hatte einen Baustein gefunden, welchen er nicht miteinkalkuliert hatte - seinen allerliebsten Bruder - und es eiskalt ausgenutzt. Jahrelang musste sie auf ihn reagieren, jetzt war er am Zug und so einfach würde sie ihm die Oberhand nicht mehr überlassen.

Sie machte einen Schritt auf die Kneipe zu.

„Püppchen, ich glaube nicht, dass das der richtige Laden für dich ist.“

Ein Mitte Vierziger trat neben sie und musterte sie von oben nach unten.

„Warum nicht?“

Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Püppchen, hier gehen nur richtige Männer ein und aus. Keine Großstadtgören, die sich was beweisen müssen und schon gar nicht so hübsche Dinger wie du. Hast du eine Wette verloren oder warum bist du hier?“

Das der Mann sie einschüchterten wollte, war sonnenklar.

„Ich habe ein Treffen“, entgegnete sie fest. Sie konnte sehen, dass es ihn beeindruckte, dass sie selbst nach seiner Musterung und dem Spiel mit den tätowierten Muskeln nicht Reißaus genommen hatte.

„Hier?“

„Natürlich, sonst wäre ich sicherlich nicht in dieser Gegend noch vor dieser Kneipe aufgetaucht“, lautete ihre schnippische Antwort. Jedermann konnte getäuscht werden, es bedarf lediglich Übung.

„Na gut. Wenn das so ist“

Er setzte sich in Bewegung.

„Komm mit.“

Sie folgte ihm still.

„Weißt du, dass man sich eigentlich bedankt, wenn einem Hilfe angeboten wird, Püppchen?“, fragte er, während sie ins Innere marschierten.

„Ich habe nicht um Hilfe gebeten. Hier rein wäre ich so oder so gekommen.“

„Große Klappe, Püppchen. Ich-“

„Sandra. Ich heiße Sandra“, fiel sie ihm ins Wort. Sie erregten Aufmerksamkeit. Selbst einem Blinden wäre es aufgefallen. Ihr freundlicher Helfer ließ sich an der Bar nieder und bestellte sich prompt zwei Bier.

„Jens“, brummte er und gönnte sich einen kräftigen Zug. Anschießend schob er die zweite Flasche zu ihr hin.

„Für dich. Mit einem Bierchen lässt es sich viel besser leben.“

Wäre jemand anderes auf dieser Mission gewesen, namentlich Lightning, Loki oder gar Venus, dann hätte der- oder diejenige seinen Spaß gehabt. Sie war allerdings keine große Bierfreundin, eher eine Schnapstrinkerin - nicht, dass das viele in der Umbra wussten. Trotzdem nahm sie Angebot an und trank einen Schluck. Ihr Augen glitten über die Anwesenden. Der Barkeeper polierte seelenruhig seine Gläser, beobachtete sie dabei jedoch wie ein Habicht.

„Wohl nicht da“, kommentierte Jens ihren suchenden Blick.

„Ich...“, sie zögerte, wie als wäre ihr jetzt erst bewusst geworden, wo sie war und was sie hier tat,

„bin zu früh?“

Jens wechselte einen Blick mit dem Mann hinter der Bar. Anscheinend war jemand wie sie, doch keine Seltenheit in diesem Etablissement.

„Hör mal Sandra, wenn du kalte Füße kriegst, dann gehe lieber und vergiss, dass du hierhergekommen bist.“

Sie atmete tief durch, sammelte ihre Gedanken und entgegnete dann trotzig:

„Ich wäre nicht hier, wenn ich mir nicht sicher wäre.“

„So schaust du aber nicht gerade aus.“

„Dich hat auch keiner nach einer Meinung gefragt“, konterte sie. Jens hob seine Hände.

„Ich bin ja schon still, aber wen suchst du, wenn ich fragen darf?“

„Oskar Stilinski hat hier ein Treffen für mich arrangiert.“

Oskar Stilinski war der Name eines ISAAC-Informanten, welcher hauptsächlich im Großraum Berlin operierte. Er war nur widerwillig ein Spitzel, hatte jedoch keine andere Wahl, als ihnen von Zeit zu Zeit Auskunft zu geben. Meist waren es Tipps bezüglich des Drogen- und Waffenschmuggel aus und nach Südeuropa.

„Und woher kennt so ein junges Ding wie du diesen alten Gauner?“

„Ganz schön neugierig für jemanden, der mir vor wenigen Minuten noch ganz selbstlos seine Bitte angeboten hatte, ohne das ich nach welcher gefragt hätte“, konterte sie. Ein Lächeln stahl sich in Jens Züge. Mumm hatte sie, dass musste er zugeben.

„Du weißt doch wie das ist. Ich kenne einen Freund, der kennt jemanden und dieser kennt wiederum einen, der mit einem anderen befreundet ist, welcher wieder jemanden kennt und so weiter. Am Ende der Fahnenstange ist dann Oskar Stilinskis Name gefallen und dieser hat mich hierher bestellt.“

Ganz so wie sie ihre Geschichte gesponnen hatte, war es logischerweise nicht abgelaufen. Sollte jemand auf die Idee kommen bei Oskar nachzufragen, würde er ihr Märchen zwar bestätigen, darüber hinaus aber keine nähere Bekanntschaft bekunden.

„Er hat mir gesagt, dass ich hier finden würde, was ich suche. Jemand der sich die Finger für mich dreckig machen würde. Gegen das gewisse 'Kleingeld' versteht sich.“

In diesem jemand vermutete Mister Hermes ein Mitglied der unbekannten Untergrundorganisation, die bei den Menschenexperimenten ihre Finger mit ihm Spiel hatte. Zugegeben, eine sehr magere Ausbeute. Vermutungen hatten nämlich hin und wieder die unliebsame Angewohnheit falsch zu sein. Da die Ermittlungen jedoch noch ziemlich in den Kinderschuhen steckten, was es besser als nichts. Außerdem war man nach ersten Erkenntnissen wohl jahrelang hinters Licht geführt worden und wenn die ISAAC eines war, dann war sie gnadenlos wenn sie sich persönlich angegriffen fühlte.

„Bist du dir sicher, dass das die richtige Lösung ist, Sandra?“, fragte Jens. Er wollte sie wohl vor falschen Entscheidungen schützen. Leider war dieser Zug für sie schon längst angefahren.

„Ja“, entgegnete sie fest und signalisierte ihm, dass das Gespräch für sie nun beendet war. Der Mann, welcher ihren fiktiven geldgierigen Onkel beseitigen sollte, kam nur wenige Minuten später zur Tür hereingeschneit. Sechs Tage später war es dann soweit. Doch anstatt seine Zielperson in der luxuriösen Villa aufzufinden, begrüßte Kuraiko ihre Zielperson. Lächelnd und mit einem ihrer Katana bewaffnet. Er verlor den Kampf, doch nicht sein Leben. Noch nicht. Nicht einmal 24 Stunden später stand sie in Mister Hermes Büro. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht mit sauberer Kleidung zu erscheinen, sondern kam blutbesudelt und mit einem versiegelten Ordner in ihren Händen vor seinem Schreibtisch zum stehen. Die Unterlagen knallten vor ihm auf den Tisch auf.

„Meinen Teil der Abmachung habe ich erlegt. Jetzt müsst ihr liefern.“

Mister Hermes lehnte sich in seinem Stuhl nach hinten.

„Sinn der Sache war es ihn lebendig abzuliefern, damit wir uns um ihn kümmern können und nicht, dass wir ihn in einem Leichensack zu Gesicht bekommen.“

Kuraiko lächelte kalt.

„Ihr wolltet, dass ich ihn aufsuche und herausfinde, ob er ein Mitglied derjenigen Organisation ist, die euch schon seit Jahren an der Nase herumführt. Hier“

Sie tippte auf das Päckchen.

„sind die Antworten auf eure Fragen. Was ist schon ein toter Amateurauftragsmörder, wenn ihr habt, was ihr wollt?“

„Eigentlich ist es eine ungeschriebene Regel, dass wenn das Zielobjekt jemand ist, der vertrauliche Informationen besitzt, man ihn unversehrt in die Obhut der ISAAC überführt.“

„Außer es gibt Faktoren, die es einem nicht gestatten nach dem Regelwerk zu handeln“, konterte Kuraiko ruhig. Sie tippte erneut auf das Päckchen.

„Lest es, Mister Hermes.“

Mit diesen Worten ging sie hinaus und ließ ihn allein. Kuraiko war ein Pulverfass mit kurzer Lunte. Zwar stimmte es, dass nicht ausdrücklich gesagt worden war, dass sie die Zielperson lebend in der ISAAC abliefern sollte, aber sie konnte nicht immer eigenständig handeln. Lange betrachtete er das Päckchen.Wie dem auch war, sie hatte ihren Teil der Abmachung erfüllt. Unkonventionell wie sonst auch. Jetzt musste er liefern. Er griff nach den Unterlagen. Ob es ihm gefiel oder nicht. Sie hatten ein Abkommen.

Impressum

Texte: Alle Rechte dieses Buches liegen bei mir, Julliet R., der Autorin.
Bildmaterialien: Das Cover und die Trennlinie habe ich aus Google Bildersuche.
Tag der Veröffentlichung: 25.01.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Buch meiner Schwester, ohne sie wäre ich nie auf diese Idee gekommen.

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