Kasachische Steppe, Nacht
Dunkelheit hatte diesen Ort fest im Griff. Lediglich das fade Licht der Sterne und die sanfte Note des Mondes erhellten diese kühle Nacht. Inmitten einer kargen Landschaft erhob sich ein unscheinbares Lagergebäude. Dieses friedliche Bild erblasste und wurde unbarmherzig zerstört in Anbetracht dessen, dass meterhoher Stacheldrahtzaun um das Gebäude führte und mehreren Wachtürmen in den düsteren Himmel wuchsen. Männer patrouillierten in Zweierteams um und im eingezäunten Block. Bis an die Zähne bewaffnet. Die Türme waren vollgestopft mit halbautomatischen Maschinengewehren und sonstigem Kriegsarsenal. Ausgestattet gegen eine Armee.
In mitten dieser Todesfalle machten Parker und Nolan ihre Runden. Seit Jahren waren die beiden ein eingespieltes Team und Wärter für diverse Anlagen mysteriöser Eigentümer. Solange das Gehalt stimmte und schlecht wurden sie wahrlich nicht bezahlt, waren sie sprichwörtlich 'blind wie ein Maulwurf' was die Machenschaften innerhalb der Gebäudekomplexe, welche sie bewachten, anbelangte. Vieles hatte sie gelernt, doch eines kristallisierte sich während all der Zeit, in welcher sie nun schon dienten, deutlich heraus: Wollten sie ihren Kopf behalten, so hatten sie gefälligst keine Fragen zu stellen und jeder Anweisung hatte man bedingungslos zu folgen. Ansonsten war man schneller unter der Erde, als dass man es erwartet hätte. Das Duo hielte sich an diesen stummen Leitfaden und bis zum heutigen Tag hatte dieser sie noch nie im Stich gelassen.
„Hast du das auch gerade gehört?“, raunte ihm Nolan zu. Bis auf einen hin und wieder vorkommenden tierischen Zwischenfall, war der Wachdienst außerhalb einer Anlage von endloser Langeweile geplagt. Was natürlich nicht hieß, dass fremden Geräuschen nicht automatisch nachgegangen wurde. Es trat eher sogar das Gegenteil ein: Man war in diesen Fällen besonders aufmerksam, da man nie wissen konnte, was einen in der Dunkelheit erwartete.
Nolan nickte zu einer natürlichen Anhöhe mehrere dutzend Meter links von ihnen. Das nahezu perfekte Versteck für eine Feind und dennoch das Dümmste was einem einfallen konnte. Zu nah. Zu vorhersehbar. Parker bestätigte stumm, dass er verstanden hatte und gab gestikulierend stille Anweisungen an seinen langjährigen Partner. Von zwei Seiten aus kommend, näherten sich das eingespielte Team dem vermutlichen Aufenthaltsort feindlicher Truppen. Es raschelte erneut. Diesmal war die Quelle des Lärm aus entgegengesetzter Richtung zu vernehmen.
„Scheiße!“, fluchte Parker im Herumwirbeln. Drei schwarze Gestalten huschten über das unbewachte Feld zum Zaun. Er erhob das Maschinengewehr und visierte die Kehrseite des Letzten des Trios an. Der Abschuss kam nie. Es surrte. Dumpf fiel er auf seine Knie und stützte sich mit seinen Händen weiter ab. In seinem Rücken steckte ein Pfeil.
„Jordan!“, rief Nolan aus und beugte sich zu dem Verletzten hinunter. - Ein Fehler. Anstatt die Richtung des Geschosses zurückzuverfolgen, ließ er lieber seine Deckung fallen, um sich um den gefallenen Freund zu kümmern. Zwischenmenschlich, doch in dieser Situation falsch. Es blieb ihm keine Zeit mehr Hilfe anzufordern, geschweige denn anderes zu verrichten da traf ihn schon etwas an der Schulter. Das Projektil bohrte sich mühelos durch die dünne Schutzweste. Schmerz explodierte. - Wortwörtlich. Blut, Knochen und Innereien flogen umher und verwandelten dieses Stückchen Land zu einem Ort des Grauens.
„Beide erledigt“, sagte der Schütze zu niemanden bestimmten und visierte sein nächstes Ziel an. Hier oben, geschützt vor neugierigen Augen machte er sich daran seinen Part des Plans zu erfüllen. Unzählige Männer strömten auf das Feld, wie die Welle einer gewaltigen Flut und verließen kurzzeitig ihre Posten. Die Explosion hatte ihren gewünschten Effekt erbracht: Ablenkung.
Die Sonnenbrille auf der Nase des Unbekannten war keinesfalls nutzlos in dieser beinahe völligen Finsternis. In Hand- und mühevoller Einzelarbeit von deren Supererfinder zusammengeschraubt, war die Onyx ein einzigartiges Stück Technik und von daher kaum vergleichbar mit dem herkömmlichen Accessoire, welches bei jedermann zu finden war. Nachtsicht, um es mal konkret beim Namen zu benennen, war lediglich eine der Annehmlichkeiten, die dieses Meisterstück zu bieten hatte.
„Gut. Kümmere dich um die restlichen Wachleute. Die Türme gehören uns“, antwortete ihm eine Stimme. Kurz flackerte das Bild einen jungen Teenagers mit giftgrünem Haar vor Swifts Augen auf, projiziert durch eine kleine Linse am linken Bein des Brillengestells.
„Hab nichts anderes vorgehabt.“
Mit diesen Worten ließ er los. Der Pfeil schoss durch die Luft, wie ein Blitz bevor einige Wimpernschläge später einer weniger auf dem Feld zu finden war. Grinsend holte der Bogenschütze den nächsten Pfeil aus seinem Köcher hervor.
„Ihr wisst den Plan. LOS!“, herrschte Ares seine beiden Kollegen an, sobald er den Kontakt zu Swift unterbrochen hatte. Der größere des in der Höhe ungleichen Duos nickte mit einem zähnezeigenden Grinsen. Das Haar war wie sein Eigenes an den Seiten kurz geschoren, barg allerdings einrasierte Blitze. Passend zu seinem Namen.
„Bis später“, schwenkte Lightning lässig mit seiner bewaffneten rechten Hand und sprintete los. Beide Zeigefinger am Abzug seiner heißgeliebten Maschinengewehre. Die Andere hatte sich mit Nichts ins Nichts verabschiedet. Ihr langes und ungebundenes Haar flog hinter ihr her, während sie auf den stärker bemannten Turm lospreschte, wie ein Wildhund auf seine Beute. Plötzlich war alle feindliche Aufmerksamkeit auf sie gerichtet, stellte ihren Partner am nächstliegenden Turm in den sicheren Schatten. Männer schrien, Befehle wurden hastig ausgeteilt, doch niemand konnte die Naturgewalt stoppen, die sich auf sie zubewegte, wie ein geölter Blitz. Bewaffnet mit 'bloß' zwei Schwertern tänzelte sie mit einer Anmut, die tödlich und wahnsinnig und wunderschön zugleich war, durch die anstürmenden Massen. - Ein Paradoxon.
Drei Menschen fielen mit einem sauberen Kehlschnitt zu Boden. Tot. Ein verzücktes Lachen ertönte über das Grauen dieser Nacht. So atemberaubend wie ein klares Glockenspiel und gleichzeitig so unheilvoll, wie das Krähen eines schwarzen Raben. Die Nächsten fielen ihr zum Opfer.
Ares riss seinen Blick von ihr los. Wissend, dass sie ohne seine Hilfe auskommen konnte, rannte er zur Lagerhalle und kümmerte sich um das Wesentliche ihrer Mission. Zähneknirschend musste er feststellen, dass die Kavallerie angekommen war und fast jede erdenkliche Einheit des Feindes sich zu der leichtfüßigen Killerin machten und dementsprechend an ihm vorbeikamen. Mit einer schnellen Handbewegung war eines seiner Zwillings-Sturmgewehre im dazugehörigem Holster an seiner Seite zwischengelagert und zwei Granaten von seinem Gürtel genommen. Die Stifte lösend, warf er das explosive Material auf die kommende Truppe. Eine Rolle seitwärts zu einigen Fässern machend, hörte er kaum wenige Sekunden später Schreie die Luft zerschneiden, sowie er spürte, dass ein Beben den Untergrund erzittern ließ. Versetzt dazu detonierte der linke Aussichtsposten in einem Abstand von einer halben Minute ebenfalls und reduzierte den Turm zu Schotter und Leichenteilen.
„Bin am Nest. Lightning, was ist mit dir?“, fragte er stoßweise atmend über seine Onyx und wischte sich das Blut von den Händen an seiner Hose ab. Es rauschte für einen Moment. Für ein digitales Bild war weder Zeit noch der passende Moment dafür und so begnügten sie sich mit der abgespeckten Version: Funkkontakt.
„Fast fertig. Kannst reingehen. Ich denke Nay hat fast alle zu sich gelockt. Die Restlichen müssten ein Kinderspiel für dich sein“, antworte ihm ein tief gelegener Bariton. Im Hintergrund hörte Ares Schüsse und Männer brüllten irgendwelche Befehle in einer anderen Sprache.
Er seufzte und schlug einem eilig herannahenden Angreifer den Knauf seiner Waffe hart ins Gesicht. Es knackte laut. Ein weiterer gezielter Schlag und der Mann lag mit gebrochen Genick am Boden. Herzlos, aber notwendig. Je weniger es waren, desto schneller konnten sie ihren gemeinsamen Auftrag über die Bühne bringen. Verletzte würden es sowieso nicht sehr weit schaffen. Nicht mit einer frei herumlaufenden Nay - Lunatic. Wahnsinnige.
„Wir reden hier von Nay“, merkte er trocken an. Schwach drang ihr musikalisches Lachen aus seinen Erinnerungen in seine Ohren. Entgegen des Wahnsinns. Entgegen des amüsierten Tons, welchen er trug, als zahlreiche Menschen durch ihre Hand den Tod fanden.
„Ja, Lunatic.“
Lightning sprach bewusst ihren gesamten Namen aus, eigentlich wurde sie meist bloß mit Nay angesprochen, so als wäre es die Antwort auf alles
„Bis später“
und unterbrach mit diesen Worten die Verbindung.
Sich durch sein giftgrünes Haar fahrend, sprintete Ares durch die offenen Lagerhallentore ins Innere. Begrüßt mit einer Salve Bleikugeln, fluchte er erstmals deftig, ehe er sich hinter sicheren Mauern verschanzte. Er berührte seine Onyx leicht an der Seite, übte Druck aus.
„Yo.“
Das Bild einen Jungen mit regenbogenfarbenem Haar projizierte sich vor seinen Iriden in die Luft. Eckiges, doch nicht klobig wirkendes Kinn. Schmale Augen. Gekleidet in einem kariertem Hemd zuzüglich der viereckigen schwarz umrandeten Brille auf seiner Nase, gab er entgegen seiner bunten Locken das typische Bild eines Nerds ab. Finger waren zu hören, wie sie über eine Tastatur flogen, wie ein Tänzer über das Parkett.
„Bin schon dabei.“
Manchmal könnte er ihm für seine Vorarbeit einen Oskar verleihen.
„Leth hat nen Infra-Ckeck gemacht. 15 Männer. Alle in den oberen Geschossen. In den tiefer Gelegenen lediglich sieben.“
Ein kurzzeitige Pause auf der gegnerischen Hälfte zwang ihn nahezu dazu augenblicklich zu handeln, obgleich er noch immer mit der Person auf der anderen Seite verbunden war.
„Du-“
Er schoss unvermittelt weiter, versuchte die Stellung zu halten bis das Computerass seine Magie verrichtet hatte und diese verdammten Lichtquellen auslöschen würde wie eine simple Kerzenflamme.
„Bist-“
Es explodierte über seinen Kopf hinweg. Hastig unterbrach er die Verbindung. Ein Blick um die Ecke genügte, um ihn zum rennen zu bewegen. Dort, in Mitten der Feinde wirbelte eine grazile Schönheit um ihre Achse und warf mit kleinen silbrigen Gegenständen durch die Luft. Jeder Wurf – Ein Ziel. Trefferquote: 100%. Nay. Wenige Schritte vor seinem Ziel, riskierte er einen Blick zurück auf sie. Ihre Kleidung war wie so oft ein Memento an die Finsternis. Nachtschwarze Handschuhe verschwanden in dunklen Lederschienen, welche bis zur Armbeuge gingen, danach übernahm erneut dunkler und dünner Stoff die Führung. Ihr Oberteil war zweiteilig. Eine ärmellose Weste mit einem darunter liegenden trägerlosem Top. Die Hose war enganliegend und kurz, sodass man die kleinen Waffentaschen sehen konnte, welche außen an ihren Oberschenkeln abgebracht waren. Lederschienen an den Beinen mündeten in einfach gestaltete dunkle Schuhe und rundeten das Gesamtbild ab.
Ihre Augen trafen sich just in diesem Moment, in welchem er zu ihr sah. Fantastisches Rot bohrten sich in seine eisblauen Tiefen, legten den Kontrast zu ihrem schwarzen Tattoo welches sich über die linke Hälfte ihres schmalen herzförmigen Gesichts bis hinab in andere Spähren schlängelte. Die Iriden einer Wahnsinnigen starrten ihn an, verzehrten seine Seele bis zum Unkenntlichen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem manischen Grinsen, während sie in ihrer Kunst erblühte, wie eine dornige Rose.
Es war eine der Augenblicke in welchen ihm wiedereinmal bewusst wurde, warum sie zur Riege der Mors tacita gehörte. Mors tacita, eine Bezeichnung für diejenige, die man mit sogenannten Eliten vergleichen könnte. Ansatzweise, denn was sie differenzierte, war deren zumeist unorthodoxen Vorgehensweisen, wenn nicht sogar brutal, zudem war Umbra schon eine Elite. Mors waren nicht darauf ausgerichtet zu funktionieren, nein diese Art von Leute konnte man nicht kontrollieren, lediglich zufrieden stellen, indem man ihnen das gab, wonach sie verlangten. Man sollte den Namen also von daher nicht immer in seiner getreuen Übersetzung stiller Tod wahrnehmen, sondern mehr als eine verzehrte Darstellung der Wirklichkeit.
Er wand sich abrupt ab und rannte weiter, wollte sich dem Blutbad nicht länger unterziehen.
Kaum das er durch eine Tür stob, welche in die unteren Ebenen führte, erstarb jedes Lampenlicht wie von Geisterhand. Er wusste es besser: Bow hatte gewirkt.
„Wohin?“, fragte er flüsternd und versuchte sich mit lautlosen Schritten durch die verzweigten Gänge zu winden. Mit den Linsen seiner Onyx, welche sich automatisch umgeschaltet auf Infrarotsicht umgeschaltet hatten, konnte er den verbleibenden Gegnern schnell den Gar ausmachen. Im Gegensatz zu ihm waren sie der Dunkelheit völlig hilflos ausgeliefert.
„Gerade aus. Nach 15 Metern kommt eine Tür. Dann bist du dort. Beeile dich. Lightning ist fertig und bewegt sich zu Punkt A. Swift gleichfalls. Nay – Keine Ahnung wo des Mädl is.“
Ares unterdrückte ein genervtes Augenrollen, was der andere eh nicht mitbekommen hätte.
„Lass sie. Die kommt schon, wenn wir abgeholt werden. Bis später.“
Einfacher wäre es gewesen Leth einen weiteren Bodenscan machen zu lassen, jedoch kannte er den Piloten lange genug um zu wissen, dass dieser längst am Heraussuchen der sichersten und schnellsten Heimroute war, anstatt sich mit solch einer Nichtigkeit auseinandersetzen zu wollen. Nay konnte ohnehin sehr, sehr gut auf sich selber aufpassen. - Daran hatte er nicht die geringsten Zweifel.
Besagte Tür tauchte nach einigen Augenblicken vor ihm auf. Dahinter konnte er einen einzelnen warmen Fleck sehen. Das weiß lackierte Holz mit einem mächtigen Fußkick tretend, sprang diese aus deren Angeln. Jemand schrie wie vom Teufel gepackt auf. Ein Schuss löste sich aus seiner Waffe und das Geheule erstarb gurgelnd. Achtlos stieg er über den erkaltenden Körper hinweg. Es war lediglich eine weitere Zahl. Zahl und kein Mensch. Fing man erst einmal so zu denken an, dann konnte man diesen Beruf an den Nagel hängen und sich gleich in die Geschlossene einweisen lassen. Licht durchflutete zeitgleich den dunklen Raum, sowie auf den Gängen und überall sonst wo in diesem Gebäudeabschnitt. Praktisch war er schon dieser Edelhacker.
„Danke Bow“, murmelte der Grünschopf und machte sich daran wichtige Ordner und Festplatten einzusacken.
In einem stillen Kämmerlein, weit entfernt des Geschehens nickte ein Junge mit buntem Haar und und schaltete auf Stand-by zurück. Ares konnte selbst den Weg hinaus finden. Jetzt da wo die Lichter wieder brannten, war es nichts weiter als ein Kinderspiel.
Seufzend sah er auf einen anderen Bildschirm. Dunkel. Der Einzige.
Sie rannte über das Trümmerfeld. Vereinzelte Überlebende der Detonationen waren mit gezielten Kunais Geschichte. Benetzten den staubigen Untergrund mit noch mehr Blut. Über den Kommunikator an ihrer Onyx hörte sie Rainbow und Ares miteinander reden. Das Gesprächsthema war sie. Ein Kichern entkam ihrer Kehle, ehe sie die Verbindung komplett unterbrach, anstatt sie bloß in den Hintergrund treten zu lassen, wie es eigentlich vorhergesehen war. Ansonsten hatte das Computerass nämlich keine Chance im kritischen Fall Verstärkung zum jeweiligen Standort zu schicken.
Die Überreste des Wachturms ragten wie Spieße aus dem Boden. Systematisch durchsuchte sie die Trümmer. Hinter einer eingestürzten Mauer fand sie das gewünschte Objekt. Den Schotter und einzelne Brocken aus dem Weg räumend, legte sie eine metallene Luke frei. Mit einer geschickten Drehung war sie offen, offenbarte einen tiefen Schacht in die Dunkelheit. Während sie sich an einer sehr in Mitleidenschaft gezogenen Leiter vorsichtig herunter hangelte, wechselte sie mit der Onyx auf Ultraschall.
Die letzten Stufen übersprang sie kurzerhand und landete lautlos auf Erdboden. Der Gang war gerade hoch genug um aufrecht zu gehen und breit für höchsten zwei ausgewachsene Männer. Sie folgte ihm bis zu einer natürlichen Aushöhlung im Erdreich. Der Weg gabelte sich im hinteren Bereich, doch es blieb in ihren Augen lediglich ein nichtsnutziges Detail. Sie hatte gefunden, was sie haben wollte. Fässer und Truhen waren provisorisch als Stühle und Tisch entfremdet worden. Zu ihrer Linken war ein primitiver Schlafplatz mit einer kleinen Feuerstelle. Mit einer Hand ein zerschlissenes Kissen aufheben, drückte sie es sich an die Nase. Der Geruch war unverkennbar. Schwach, aber unverkennbar. Ein Lächeln, welches von Rache durchzogen war, stahl sie in ihre Mundwinkel. Er war hier gewesen. Fernando hatte Recht behalten. - Der Spanier hätte reichlich belohnt werden können. Hätte. Sie hatte ihn längst umgebracht. Schließlich war jemand, der andere verrät nichts weiter als ein schäbiges Insekt unter ihren Füßen. Ein... Bastard.
Es fallen lassend, ging sie zum Tisch. Viel war nicht mehr zu finden. Leere Blätter, eine verschmutzte Tasse und dreckiges Verbandszeugs waren ihre Ausbeute. Sie rollte die Blätter zusammen und steckte sie in eine Hosentasche am Bein. Ihr Blick glitt zu der Gabelung. - Nein. Den Wegen jetzt zu folgen wäre reine Zeitverschwendung. Sie hatte, was sie haben wollte.
„Swift ist da!“, rief Lightning zu ihm herüber, sobald er zu ihm aufgeschlossen hatte, und knockte den Nächsten mit der harten Seite seiner Gewehre ins Aus. Die Ebene, auf welcher sie sich nun befanden, war weitgehend überschaubar. Der übrige Feind hatte sich in alle Winde zerstreut und oder suchten dort Unterschlupf, wo sie glaubten am sichersten zu sein. Für einen technologisch, kämpferisch sowie strategisch besser aufgestellten Gegner waren sie nicht geschult gewesen. Was nutzten einem die hochwertigsten Waffen, wenn der Widersacher mit einem brillant ausgefeilten Plan um die Ecke kam? Ares sah auf. Just in diesem Moment flogen zwei Pfeile schnell hintereinander durch die Lüfte und trafen todsicher auf Fleisch. Er grinste. Ja, Swift war definitiv in unmittelbarer Nähe.
„Gut! Wo ist Leth?“
Wie aufs Stichwort hörte er über sich ein sanftes Schnurren. Ein kurzer Blick nach oben und er sah einen dunklen Jet. Praktischer ging es nicht! Mattschwarz und mit dunkler, metallfarbener Schnauze erstrahlte er in seiner ganzen majestätischen Pracht.
„Bin da, du Quälgeist! Lass einem Mal seine Ruhe“, seufzte Leth über Funk. Wann hatte er noch einmal die Verbindung aufgenommen? - Es war erschreckend, wie nützlich so ein Stand-by Modus sein konnte. Auch wenn Leths Name etwas anderes von ihm behauptete, es konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er zu einem tosenden Sturm werden konnte. - Wenn er wollte und die dazugehörige Lust dazu aufbringen konnte.
Der Bauch der Spirit öffnete sich und eine Strickleiter wurde heruntergelassen.
„Beeilt euch gefälligst. Ich will nicht noch Morgen dastehen.“
Er kannte seine schroffe Ader, von daher machte sich Ares nichts aus seiner Unfreundlichkeit und gab den Befehl zum Rückzug. Irgendwo in dem Gewusel gesellte sich ein grüner Schopf zu ihnen. - Wie er es prophezeit hatte. Lautlos war sie zu der Truppe getreten und hangelte sich nun an an der Leiter hinauf. Vom erdrückenden Schwarz war kaum mehr ein Fleckchen zu sehen. Stattdessen war sie über und über mit rotem Lebenssaft bedeckt. Es war kaum ihr eigenes. Dafür war sie einfach zu gut. Nachdem er er nach ihr oben angekommen war, klopfte er sich erst einmal - wie die anderen - den Dreck von den Klamotten. Anschließend streckte er sich ausgiebig, versuchte so seinen steifen Muskeln neues Leben einzuhauchen. Währenddessen schloss sich der Hangar und sie machten sich daran auf die Sitzplätze zu kommen. Gleichzeitig spürten sie, wie Leth die Geschwindigkeit aufnahm, um sie möglichst schnell von hier weg und nach Hause zu bringen. Lightning bereute allerdings sogleich seine ausgiebige Dehnübung. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen linken Oberarm. Der Schnitt war lang, aber zum Glück nicht sonderlich tief. Musste wohl irgendein scharfes Trümmerteil gewesen sein, welches er durch den Adrenalin-kick nicht wahrgenommen hatte.
„Zum Henker!“, fluchte er trotzdem aus gutem Brauch.
„Jetzt kann ich schon wieder zur Doc! Ehrlich, ich bin öfters bei ihr, als das ich zu meinem Hausarzt geh!“
„Wenigstens hat sie dann wieder jemanden zum ausschimpfen. Nicht das du ihre Predigt übers bessere Ausweichen und Aufpassen schon genug gehört hättest!“, zog Swift ihn auf und lachte herzhaft. Das Schulterklopfen überließ er Ares, welcher ohnehin näher an Lightning war.
„Ha. Ha“, machte Angesprochener sarkastisch, ließ sich jedoch das Grinsen in seiner Stimme anmerken.
„Alle da? - Dann hockt euch hin und macht was produktives. STÖRT mich ja NICHT!“, kam es vom Cockpit über die Lautsprecher zu ihnen. Sie antworteten nicht, weder brauchte Leth diese Bestätigung. Es war seine übliche Art. Irgendwann arrangierte man sich mit solchen Gepflogenheiten. Es war ja nicht so, dass sie nicht auch hin und wieder ihre eigentümlichen Eigenarten heraushängen ließen. Während der eine sich provisorisch selbst verarztete, lehnte sich der andere zurück und blätterte durch die eingetüteten Unterlagen.
„Auftrag erledigt?“
„Klar was denkst du denn?“, feixte Ares in typischer Manier und reichte die gesammelten Daten zu Light, welcher einen Sitz weiter den Kampf mit dem weißen Band gewonnen hatte. Swift, eine Reihe vor ihnen, besah sich seines Köchers und schrieb nebenbei auf ein Block anscheinend eine neue Bestellliste für Hypnos auf. Der Hüne sah von allen am wenigsten ramponiert aus. Sein dunkelgrau-schwarzes Ensemble war beinahe noch in Topzustand. Lediglich die sporadischen Kratzer an seinem Armen und der leichte Staubfilm, welcher an der Kleidung haftete, bewiesen das Gegenteil. Bei ihm selbst hingegen sah die Sache ganz anders aus. Seine camouflagefarbene Hose hatte zwei große Risse am unteren Ende und das Shirt sah auch schon mal besser aus. Immerhin trug er nicht allzu große Verletzungen wie Light davon, doch einmal hatte er einer Kugel nicht schnell genug ausweichen können. Hauchfein hatte das Bleigeschoss ihn am Oberarm gestreift. Jetzt nachdem die Aufregung nachließ und sein Blut wieder auf Betriebstemperatur runterkam, spürte er so langsam das sengende Brennen.
Aus den Augenwinkeln sah er zu Nay. Die Wahnsinnige war von oben bis unten mit Blut benetzt. Abgesehen davon konnte er augenscheinlich keine Verletzungen an ihr wahrnehmen. Scheinbar gelangweilt spielte sie mit einem Shuriken in ihrer Hand und sah aus dem Fenster. Ares hatte vor Jahren aufgegeben sie zu verstehen, geschweige denn sie nach ihren plötzlichen Verschwinden und Auftauchen zu befragen. Die Antwort würde eh stets dieselbe bleiben: Ein blanker Blick mit diesen Blutaugen, welche sie ihr Eigen nannte. Er war beunruhigend und bewegte einen förmlich dazu wegzusehen. Dieser Blick, nein, ihr Blick - Sie war ein Mysterium. Niemand bei der Umbra verstand das Mädchen mit den dunkelgrünen Haaren wirklich. Davon ausgenommen ihre Schwester und ihr persönlicher Schatten. Nay konnte so unschuldig und so harmlos wirken, dass man bei ihrem Anblick nicht automatisch an einen wahren Teufel in Engelsgestalt dachte. Wie sie diese Männer heute umgebracht hatte... Ohne Reue. Ohne einen Tropfen Anteilnahme. Ohne Regung. Konnte sie eigentlich fühlen? Oder waren die sporadischen Aussetzer ausschließlich seiner eigenen Vorstellungskraft zuzuschreiben?
Andererseits war sie wie ihre Zwillingsschwester eine zeitlose Schönheit. Vielleicht wurde sie deswegen als eine nicht allzu große Bedrohung gesehen. Selbst mit ihrer seltsamen Augen- und Haarfarbe konnte sie viel männliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wahrscheinlich sogar nur deswegen. Aber auch ihre Tattoos trug einen Teil dazu bei, sie interessanter wirkten zu lassen, als sie es ohnehin schon war. Er hatte am eigen Leib erfahren, was es bedeutete seiner - im Nachhinein - falschen Annahme, nämlich dass er mit jedem neuen dazugekommenen Mädchen der Einheit und dementsprechend auch ihr seinen kleinen Spaß haben konnte, folge zu leisten. Einmal und nie wieder! Damals war er ungestüm und viel zu sehr auf sich selbst bezogen gewesen, als dass er sich bei einem hübschen Mädchen zurückgehalten hätte und mit seiner Arroganz hatte er sich schlussendlich beinahe selbst sein Grab ausgehoben.
„Wer würde dich vermissen, sollte ich mich entscheiden dich Wurm von dieser Erde zu tilgen. Was meinst du?“, fragte sie desinteressiert und starrte aus dem Fenster. Ihre Hand ruhte mit einer scharfen Klinge an seinem Hals. Mit der Rechten zupfte sie belanglos an einer Strähne ihres Haars. Aus welchem Winkel ihres luftig schwarz-roten Kleides sie das Messer gezaubert hatte, war ihm nicht geläufig.
„Niemand?“, fragte sie scheinbar fürsorglich nach und lächelte. Es war das Lächeln eines hungrigen Wolfes. Ihm wurde langsam bewusst, dass eine schlechte, sehr schlechte Idee war sie so dreist nach einem Rendezvous zu fragen.
„Sprich“, befahl sie ihm. Nay lockerte den Druck an seiner Kehle soweit, dass er sprechen konnte, jedoch blieb der Dolch in unmittelbarer Nähe seines Halses. Er kam ihrer Aufforderung ohne wenn und aber nach.
„Ich-“
„Na. Na. Na“, unterbrach sie ihn spielerisch und zeigte ein strahlendes Lächeln. Blutaugen sahen ihn verzückt an, wie als würde bald ein rauschendes Fest beginnen.
„Wer hat dir gesagt jetzt?“
Die Grünhaarige kicherte adrett. Es war der liebliche Klang von Unschuld, welcher nun durch das Zimmer hallte. Plötzlich änderte sich ihr Charakter wieder, schwang von unschuldig und süß zu dämonisch und gefährlich um. Metall presste sich gegen seine dünne Haut, wollte sie durchbrechen und einen Damm aus rotem Blut losreißen. In ihren Iriden glitzerte der blanke Wahnsinn.
„Du!“, zischte sie wie eine Schlange, verstärkte den Druck an seiner Luftröhre. Er spürte wie die Klinge durchs seine Haut schnitt wie zartfeine Butter.
„Erneut ein falscher Ton von dir. Irgendetwas und du-“
„Nēsan!“, fiel ihr ihr jüngerer Zwillings ins Wort, kümmerte sich nicht darum, dass Nay gerade dabei ihm die Kehle durchzuschneiden.
„Lass ihn sofort los!“
Er war noch nie so froh gewesen die Bluenette zu sehen. Hätte er gekonnt, wäre er ihr dankbar um den Hals gefallen und hätte ihr tausend Küsse gegeben. Sie traute sich wenigstens sich der Naturgewalt namens Lunatic - auch als ihre ältere und psychotische Schwester bekannt - in den Weg zu stellen, statt sich einfach klammheimlich zu verduften. Bei solchen Freunden brauchte man keine Feinde mehr! Später würde er erfahren, dass sie in höchster Eile losgezogen waren um besagten Blauschopf zu holen. Nay lockerte den Griff, doch die Klinge blieb nur minimal von seinem Hals entfernt. Ihre Augen personifizierten das Tor zur Hölle. Sie beugte sich zu seinem Ohr vor und beendete den Satz, welchen sie begonnen hatte, ohne auch nur einen Piep darauf zu geben, was Yuna da gerade gesagt hatte. Ein düsteres Versprechen.
„Ja du wirst Geschichte sein.“
Unbewusst berührte er seinen Hals. - Wie immer, wenn er an dieses Geschehen dachte. Yuna hatte ihn vor schlimmeres bewahrt. Etwas wofür es bis heute ihr noch dankbar war. Nach dem Zwischenfall hatte er sie für eine Weile wie die Pest gemieden. Ewig hatte er ihr natürlich nicht aus dem Weg gehen können. Die Arbeit bei dem Umbras konnte er schließlich nicht wegen so etwas ruhen lassen oder gar gleich an den Nagel hängen. Dafür hatte er zu verbissen trainiert und gekämpft. Schnell hatte sich herauskristallisiert, als was sie ihn ansah. Ihm kam nämlich die unrühmliche Aufgabe zuteil als Vergnügungsspielzeug für sie zu fungieren. Wann immer sie Luft dazu verspürte ihn zu Demütigen, einen Schock fürs Leben auszulösen oder aber einfach nur darauf aus war ihn zu necken, weil sie es konnte, war er das Opfer ihrer perfiden Spielchen.
„In einer halben Stunde sind wir bei der Grotte“, tönte es plötzlich durch die Lautsprecher. Leth war müde. Man hörte es aus seiner Stimme heraus. Ares konnte dem voll und gut nachvollziehen. Der Pilot war erst kurz vor dem Kachastanauftrag von einer anderer Mission heimgekommen und sofort in den Nächsten beordert worden, da Uranus zu diesem Zeitpunkt nicht verfügbar gewesen war. Neben besagter Person war Leth der Einzige, welcher ein solches Gefährt fliegen konnte.
Ares schreckte auf. Er war wohl eingenickt. Neben ihm hörte er gleichmäßiges Atmen. Lightning döste mit dem Kinn auf der Brust friedlich vor sich hin, hatte die Ansage gar nicht wahrgenommen. Seine Hände waren ineinander verschränkt in seinem Schoss und zu seiner Seite lagen die Unterlagen, welche er zuvor dem Schwarzhaarigen gegeben hatte. Dem Älteren seinen Schlaf nicht nehmen wollend, beließ er es dabei das Missionsziel später - nach der Landung und nachdem Light aus seinem Schlummer aufgewacht war - wieder sein Eigen zu nennen.
„Auch schon wach“, kam es leise von vorne. Swift saß aufrecht in seinem Sitz und sah aus dem Rundglas neben sich. Es war stockdüster draußen.
„Uhhmm“, gähnte Angesprochener und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Warst du die ganze Zeit wach?“
„Ebenso wie Nay.“
Der Halbitaliener nickte mit seinem Kopf zu dem einzigen Mädchen der diesmaligen Gruppe. Sie war in derselben Pose in welcher Ares sie vor seinem kleinen Nickerchen gesehen hatte. Gelangweilt aus dem Fenster neben sich blickend, Shuriken in der Hand zwirbelnd. Wie aufs Stichwort ruckte ihr Kopf zur Seite. Augen aus dunklem Blut bohrten sich in seine eisblauen Tiefen. Schwarze Fäden ihres Tattoos umspielten schmeichelnd ihre linke Gesichtshälfte bis in weitere Tiefen hinab. Ein unschuldiges Lächeln tauchte auf ihren Lippen auf. Er erschauderte Widerwillen. Den Wurfstern in ihrer Hand langsam zu ihrem Hals führend, erlaubte sie sich ein engelsgleiches Kichern. Irgendwo in seinem Hinterstübchen da oben war ihm natürlich bis zu einem gewissen Grad bewusst, dass sie gerade mit ihm spielte, wie eine Katze mit ihrer hilflosen Beute, aber der Großteils seines Hirns hatte sich just in diesem Moment verabschiedet und überließ ihn seines Schicksals.
„Willst du spielen?“, hauchte sie fast lautlos mit einem Grinsen, welches er nur zu oft gesehen hatte. Es war ihr berüchtigtes Spieler-Grinsen. Eines, welches sie für ihre Opfer reservierte. Für ihn. Ares schluckte so hart, dass sein Adamsapfel hüpfte. Sie drückte das Metall gegen ihre Kehle und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Sein Blick fiel auf ihren Hals. Der Druck wurde beträchtlich stärker und- Plötzlich lachte jemand, brach den hypnotisieren Bann, welchen sie um ihn gelegt hatte, augenblicklich. Er blickte verwirrt nach vorne.
„W-was?“, fragte Ares stammelnd, kam langsam zurück in die Wirklichkeit. Swift trug ein breites Grinsen.
„Sie hat dich immer noch“, ertönte es in Singsang-Tonlage von dem Hünen. Es brauchte kein Genie um zu wissen, auf was der Hüne da anspielte.
„Halts Maul!“, blaffte der Grünhaarige, warf verstohlen ein Blick auf sie zurück. Nay war erneut in ihrer desinteressierten Haltung gefangen und horchte keinen Moment lang auf. Hatte er sich das alles nur zusammenfantasiert? - Nein. Er schüttelte den Kopf. Zum einen, damit sie endgültig aus seinen Gedanken verschwand und zum anderen, weil er wusste, dass er das eben nicht geträumt hatte. Ares wollte nicht, dass sie ihn so leicht manipulieren konnte und ihn mit den simpelsten Tricks dazu brachte nach ihrer Pfeife zu tanzen. Alles in ihm sträubte sich gegen eine solche Unterwürfigkeit, doch schlussendlich erlag er ihr jedes Mal auf Neue, konnte den Respekt, welchen er vor ihr hatte, nicht so ohne Weiteres herunterspielen. Nicht nur das, sondern auch weil sie ihm bewiesen hatte, was ihm blühte, sollte er sich nicht zügeln können. Versteckt hinter einer Maske der unbehelligten Unschuld, war ein Wesen verborgen, welches zweifellos nicht zu den himmlischen Geschöpfen gehörte, von welchen in der Bibel gesprochen wurde. Unbeugsam. Verspielt. Sadistisch bis ins Mark. - Ihr Charakter war das Spiegelbild ihres Benehmen und ihre effektivste Waffe im Kampf gegen alles und jeden. Wie die ISAAC sie unter Kontrolle hielt, ohne haufenweise Gräber auszuheben, war ihm ein völliges Rätsel. Wieso konnte sie nicht mehr wie ihre Zwillingsschwester sein? Er hätte liebend gerne einen Auftrag mit Sane erledigt, anstatt mit ihre instabile Schwester zusammenzuarbeiten. Wenn es nach ihm ginge, dann wäre Nay längst in der am besten bewachten geschlossenen Anstalt, die diese Welt zu bieten hätte und ohne Aussicht darauf jemals wieder in Freiheit zu leben.
„Sind wir schon da?“, nuschelte ein schlaftrunkene Stimme. Swift wollte gerade zu einer Antwort ansetzten, als Leths Stimme durch die Lautsprecher dröhnte:
„In fünf Minuten sind wir zu Hause. Verpisst euch, bevor ich aus dem Cockpit steige.“ - So freundlich wie eh und je: Das war Leth.
„Nett, nicht wahr?“, bemerkte Lightning trocken und reckte sich ausgiebig, bedacht darauf den verletzten Arm zu schonen. Ares nickte.
„Machen wir uns daran fertig zu werden. Ich will nur noch unter die Dusche und dann ins Bett.“
Gemeinsame Zustimmung von Swift und Lightning. Eine heiße Dusche und ein warmes und kuscheliges Bett waren genau das, was sie jetzt brauchten. Nay - so schien es - hatte nichts wahrgenommen. Das Messer wirbelte ununterbrochen in ihrer Hand und ihre Augen waren so blank, wie einen weißen Blatt Papier.
Stonevalley, Nacht
Lautlos ging hinter ihr die Tür ins Raster zurück. Sie blinzelte dem Licht entgegen, welches sie begrüßte, sobald sie einen Schritt in ihre Räumlichkeiten getan hatte und verweilte einen Augenblick lang mit geschlossenen Lidern an der kühlen Wand, ehe sie sich von ihr löste und sich daran machte ihre Garnitur auszuziehen. Zuallererst wanderten ihre filigranen Finger über die Gurte, welche überkreuzte ihre Brust und Schulter gingen und ihre Katanas beherbergten und befreite sich von diesen. Getrocknetes Blut brach vom Leder auf und rieselte auf den schwarzen Marmorboden hinter. Den Dreck milde betrachtend, ging sie zu ihrem Bad, dessen Tür sich ebenso lautlos öffnete wie der Eingang zu ihrem, und schlüpfte hindurch. Schwerter hängte sie an die extra für sie vorbestimmten Haken und entledigte sich ihrer weiteren Waffen. Messer um Messer kam zum Vorschein. Fein säuberlich legte sie jedes einzelne Stück auf die Kommode und wanderte leichtfüßig zur Dusche. Auf dem Weg dorthin nahm sie sich zwei Handtücher. Bedacht darauf keine Blutreste auf den flauschigen nachtblauen Teppich zu verteilen, tänzelte sie schließlich, sodass es einer Ballerina das Herz gebrochen hätte, zur linken Ecke. Die schmutzige Kleidung vom Körper schälend, hopste sie elegant in die Eckdusche und genoss heißes Wasser auf dreckiger Haut. Das Wasser war rot vom vielen Blut. Eine viertel Stunde später trat sie aus dem dampfenden Gehäuse. Erfrischt und sauber. Lediglich mit einem Handtuch umschlungen ging sie in ihr Zimmer zurück. An ihrem U-förmigen Kleiderschrank vorbeitretend, fischte sie sich eine schwarze Schlafgarnitur heraus und zog sie sich schnell an, bevor sie zurück ins Bad glitt, um ihre Schwerter zu säubern. Nachdem sie ihre beiden wertvollsten Stücke neben sich aufs Bett gelegt hatte, schlüpfte sie unter dunkle Bettwäsche. Das Licht löschte sie mit einer leichten Berührung des Schalter aus und entspannte dann ihre Glieder. Schlaf wollte allerdings nicht zu ihr finden. In ihren Kopf war es zu wirr, als das sie ruhen konnte. Sie starrte die Decke regungslos an und während sie so dalag, zeichnete sich ein Bild vor ihrem inneren Auge ab. Ein Mann, circa 1 m 89 cm groß mit schulterlangen braunen Haaren und mit markantem Kinn stand vor ihr. Er trug die typische Standartkleidung der ISAAC und lächelte sie warm an.
Verräter.
Die Dunkelgrüne ballte ihre Fäuste so stark, dass ihre Innenhandflächen bluteten. Sie zischte mit Abscheu. Er war schlimmer als Fernando. Viel schlimmer. Fernando war kein ISAAC, kein TEF gewesen. Der Spanier hatte keinen Hochverrat begannen. Nicht wie er. Er hatte sie alle eingelullt mit seinen Worten und dem charmanten Lächeln, um sie dann nacheinander in den Tod zu schicken. Listig verpackt unter dem Deckmantel von Einzelmissionen. Zu spät hatten sie seine wahren Absichten erkannt.
Zu spät.
Eine einzelne Träne rollte aus ihren Augenwinkeln. Sie hatte einen Freund verloren. Sie hatte ihn verloren, der Einzige, der sie besser kannte, als ihre eigene Schwester. Der eine, den sie stolz ihren großen Bruder nannte, entgegen ihrer nicht vorhandenen Blutsverwandtschaft.
Adrien...
Stonevalley, Morgens
„Morgen“, strahlte ein Blauschopf. Ihr Lächeln machte der Sonne Konkurrenz. Es brachte jeden dazu ihre Geste widerzuspiegeln. Selbst wenn der- oder diejenige nicht dazu in der Stimmung waren, sie schaffte es jedes Mal auf Neue jeden mit mit ihrer guten Laune anzustecken. Meerblaues Haar fiel ihr in Bob-Optik über die Schultern. Die Längste Strähne hörte auf mitten ihrer Brust auf. Die kürzesten Stoppeln waren knapp zwei Zentimeter lang und an ihrem Hinterkopf zu finden. Eine verzerrte Form dieser Frisur. Kleidungstechnisch wirkte sie wie ein Farbball. Ein weißes Top mit bunten Mustern, eine sehr weite mitternachtsblaue Hose, farbiger Schmuck war ihr Aussehen und wie so immer trat sie barfuß auf. Obgleich sie sich sehr farbenfroh anzog, es passte stets zusammen.
„Morgen“, kam es im Chourus zurück und sie setzte sich zu einem Weißblonden an den Tisch. Nicht viele waren im Essall. Das Team der späten Abendmission schlief wahrscheinlich noch und der Rest war sonst wo im Stonevalley verteilt. Stonevalley. - Ein Name. Ein Begriff. Für sie war einfach nur ihr zu Hause.
„Habt ihr meine Schwester schon gesehen?“, fragte sie in die Runde, während sie sich ein Erdbeerbrötchen schmierte. Schulterzucken kam von allen Seiten.
„Sorry Yuna, Selbst falls sie hier gewesen war, wenn Kuraiko nicht gesehen werden will, wird sie nicht gesehen.“
„Ich weiß“, seufzte Yuna und biss von ihrem Brötchen ab. Kuraiko konnte vor alles und jeden unsichtbar sein. Wenn sie wollte. Selbst Yuna hatte manchmal Probleme ihren Zwilling zu erspähen. Dabei hegten sie - im Gegensatz zu machen anderen Geschwisterpaaren - eine sehr enge Freundschaft. Natürlich gab es hin und wieder Zoff – in welcher guten Beziehung gab es diese den nicht? - doch dieser wurde sorgfältig hinter geschlossenen Türen ausgetragen, anstatt ihn in die Öffentlichkeit zu ziehen, wo es auch wirklich niemanden etwas anging. Ansonsten waren sie wie siamesische Zwillinge an den Hüften miteinander verbunden und ein Herz und eine Seele. Andererseits lag das Wort Geheimnisse über ihren Köpfen wie ein Damoklesschwert. Von daher wurde jedes anvertraute Wort und jede noch so kleine Geste wie ein wertvoller Schatz behandelt. Aufmerksamkeit war der Schlüssel. Nur so hatte man eine Chance Kuraiko zu verstehen. Man musste lernen hinter ihre Fassade zu blicken. Nicht alles von ihrem Verhalten war gespielt, aber es war auch nicht alles so, wie sie ihnen mit außergewöhnlicher Bravour vorgab. Es war eine Beleidigung für sie als die einzige Schwester auf solche Tricks zurückzugreifen, doch was hätte sie sonst tun sollen? Jahrelang waren sie voneinander getrennt gewesen. Die gelegentlichen Briefe und Fotos konnten nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass Kuraiko nicht mit ihr ausgewachsen war. Ihnen wurde die gemeinsame Kindheit eiskalt weggenommen. Ohne eine einzige Erklärung. Und als ihr Zwilling zu ihnen gekommen war, hatte Yuna sie nicht mehr wiedererkannt. Die Grünhaarige war verändert und verwandelt in etwas, was sie bis heute nicht verstand, zu ihr zurückgekehrt. Nicht einmal sie konnte genau sagen, ob die Wahnsinnige Ader von Kuraiko lediglich einer schauspielerischen Meisterleistung zu Grunde gelegen war, oder ob sie wirklich so mental instabil war, wie sie den Anschein pflegte. Nichtsdestotrotz vertraute sie ihrer Schwester blind. Jeder hatte Dinge von denen man nicht erzählen wollte. Davon schloss sich Yuna nicht aus. Der Sonnenschein der Einheit hatte ebenfalls Erinnerungen, welche sie am liebsten aus ihrem Kopf ausradieren wollte. Die Farbenfrohe konnte ihrem Zwilling demnach nur zu gut nachempfinden, doch warum waren ältere Geschwister bloß so kompliziert und nahmen die Hilfe, die einem freiwillig angeboten wurde, nicht an?
„Morgen“, gähnte Ares, kam schlurfend durch die Tür herein und wuschelte sich durch sein giftgrünes Haar. Ein Verband zierte seinen linken Oberarm. Das weiß lugte unter seinem kristallblauem Shirt hervor. Leichter Muskelkater suchte ihn beim Ausstrecken seiner Arme heim. Die letzte Mission hatte ihn mehr verausgabt, als er sich eingestehen wollte. Mit einer verschlafenen Miene pflanzte er sich neben der Bluenette auf einen Stuhl. Die Blauhaarige war das komplette Gegenteil zu dieser Wahnsinnigen, welche ihre direkte Blutsverwandte war. Freundlich. Zuvorkommend. - Wie eine strahlende Sonne. Das Verhältnis zwischen ihnen war ebenfalls um Meilen besser als das, welches er mit dem grünhaarigen Monster, welche sich auch bekanntlich Yunas Schwester schimpfte, hatte. Wäre er komplett bei Bewusstsein gewesen, anstatt in seinem Dämmerschlaf umherzuwandern, wäre ihm sicherlich aufgefallen, dass er wegen dieser Art von Beleidigung auch gut ins Raster gepasst hätte und nicht nur Kuraiko.
Sich im Raum umsehend, griff er nach zwei gebratenen Eiern mit Speck. Daneben legte er sich eine Scheibe Brot.
„Wo issn der Rest?“, fragte er nachdem er einen Bissen hinuntergeschluckt hatte.
„Rainbow ist im Chamber. Cane bastelt an ner neuen Substanz rum soviel ich weiß. Genius macht sonst was in seiner Werkstatt. Dein Team von gestern müsste noch pennen und was den Rest angeht: Keine Ahnung“, antwortete ihm ein Mädchen in Bundeswehrkluft und schnappte sich eine Banane aus dem Obstkorb. Ares verzog sein Gesicht.
„Du erinnerst mich daran, dass ich die Unterlagen noch zu Mister Hermes bringen muss, Alma.“
Bock hatte er wenig dazu, allerdings was getan werden musste, musste getan werden. Das Einzige was er hasste, wenn ihm die Rolle des Einsatzleiter zuteil wurde, war Berichte zu schreiben. Der Fluch eines jeden. Da wäre ihm Kuraiko - Nay - fast lieber. Betonung lag hierbei auf fast. Nichts würde ihn je dazu bringen Bürokartenarbeit weniger zu mögen als einer außer Kontrolle geratene eiskalte Killerin. Selbst wenn sie in ihrer beherrschten Form sein sollte. Selbst dann nicht. Alma nicht ihm geistesabwesend zu. Ein kleines Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. Da war wohl noch wer nicht ganz aus dem Traumland aufgewacht.
Jetzt stellte sich nur noch die Frage, ob Mister Hermes im Haus oder Auswärts unterwegs war. Der Mitte Dreißiger war seit Ares denken konnte der Hauptkorrespondent zwischen der Umbra und dem Führungshaus der ISAAC. Er gehörte praktisch schon zum Inventar und war für seine herzliche Art bekannt und auch sonst sehr geschätzt. Mit seinem Charme und Humor war er in jedermanns guten Schuhen. Es gab von daher niemanden, der den blonden Schönling nicht mochte und auf sein Aussehen achtete der Mann auf jeden Fall. Sogar ein, zwei Späßchen konnte er sich bei Kuraiko erlauben, ohne dass er sofort mit Messer und Dolch angegangen wurde. Was wohl auch vielmehr damit zusammenhing, dass sie jeder Konversation, welche nicht von ihr ausging, einem das Gefühl gab nicht wirklich aufzupassen, als dass sie sich ehrlich für die Belange eines anderen interessiert hätte.
Nach und nach füllte sich der Essraum. Sogar Rainbow konnte ein gutes Frühstück dazu bewegen sich aus dem Kontrollraum, welches inoffiziell wegen der vielen Computer auch das 'Chamber' genannt wurde, aufzuraffen und den 'langen' Weg zur Halle anzutreten.
„Was Neues Bow?“, fragte Ares, als Genannter sich zu ihnen an den Tisch setzte.
„Ein Briefing steht für heute Nachmittag an. Zwei Einzelmissionen sind zurzeit im Gang. Uranu und das Mädl.“
„Was?! Der ist schon wieder auf ner verfluchten Solo? Warum gibt’s hier dann nicht mal mehr Piloten, außer uns zwei?“, beschwerte Leth sich laut über dieser Unverfrorenheit. Er saß am Tisch nebenan und hatte dem Gespräch still beigewohnt. - Bis jetzt. Jemand räusperte sich dezent.
„Sorry, Alma, aber du zählst nicht. Ein Kampfjet ist was anderes als ein Personenflugzeug“, wand er sich kurz an eben Genannte.
Man sollte ihn nicht falsch verstehen. Seit seiner Kindheit hatte er davon geträumt Pilot zu werden. Bis sein Wunsch letztendlich in Erfüllung ging, waren Jahre ins Land gegangen. Jahre des harten Arbeitens und des Lernens. Es hatte sich für ihn ausgezahlt an seinem Traum festzuhalten, wie ein Ertrinkender. Es gab nichts atemberaubenderes im Leben, als tausende Meter über den Wolken zu schweben und weit und breit bloß den blauen Himmel zu sehen. Man konnte dieses Gefühl nicht in Worte beschreiben und schon gar nicht dem Fahren eines rasanten Autos vergleichen. Jets waren schneller.
„Weil du neben mir der Einzige bist, der durch einen voll aufdrehenden Taifun fliegen kann, ohne die Kontrolle zu verlieren. Deswegen“, antwortete ihm ein leicht kanadischer Akzent. Uranu, bei welchem gerne das 's' weggelassen wurde, stand mit verschränkten Armen in der 'Türangel', denn im gesamten Gebäudekomplex gab es fast ausschließlich nur automatische Schiebetüren, und starrte zu seinem Flugkollegen hinüber. Er trug eine dunkelblaue Jeans und ein simples weißes Shirt. Seine rechte Schulter war bis zum Ellenbogen einbandagiert und ein dünner Kratzer zierte seine makellose sanft gebräunte Wange von der Schläfe bis zum Kinn.
„Außerdem war ich seit Freitagabend auf Solo. Nicht erst seit Gestern. - Da gibt es einen Unterschied“, mäkelte er ohne ehrlichen Hohn und ließ sich an einem anderen Tisch nieder. Eigentlich kamen sie gut miteinander aus, doch was sie nicht leiden konnten, - und da waren sie sich einig - war wenn jemand sie nach einer anstrengenden Mission schräg von seiner Seite an- oder schlecht über sie sprach. In ein Paar Stunden würde das schon wieder ganz anderes aussehen und die beiden im oberen Hangar des Stonevalley über einigen Karten brütend, gefunden werden. - Flugstrategien austauschen.
„Weist du zufällig wann Nēsan zurückkommt?“, richtete Yuna sich über den Tisch hinweg an ihn. Die Frage kam nicht von ungefähr. Kuraiko und Uranu verband eine Freundschaft ohnegleichen. Langsam und stetig hatte sie sich über die Jahre hinweg aufgebaut. Die Blauhaarige wusste nicht wann genau deren Freundschaft ihnen Anfang genommen hatte, doch es sicher zu vermuten, dass es in der Zeit gewesen sein musste, in welcher ihr Zwilling außer Landes war. Von ihr getrennt war. Die Fundamente ihrer außergewöhnlichen Beziehung hatte allerdings etwas mit dem nordamerikanischen Kontinent zu tun, musste etwas damit zu tun haben. Beide waren dort zuletzt stationiert gewesen. Genauere Information zu dem wann, wie, warum und wo sich sich kennengelernt hatten, waren ihr jedoch nicht in die Hände gefallen, da sie dafür keine Freigabe erhalten hatte. Was im Umkehrschluss zu bedeuten hatte, dass egal was Kuraiko und Uranu auf amerikanischen Boden zu tun gehabt hatten, niemand davon etwas zu erfahren hatte, welcher Stufe vier oder darunter war. Die meisten bei den Umbras hatten Stufe vier doch Yuna hatte Stufe drei. Eine Erklärung warum sie keine Erlaubnis erhalten hatte und noch immer nicht erhielt, war bis heute unbeantwortet. Ihre Eltern wichen der Frage geschickt aus oder machten es wie die oberste Führungsriege der ISAAC und ignorierten es rigoros. Jahre! Kuraiko war ihre Schwester! Ihre Nēsan! - Dennoch waren sie Jahre voneinander getrennt gewesen. Wäre es nicht für das Versprechen, welche sie ihrem Zwilling gegeben hatte, so hätte sie längst alle Prinzipien über Bord geworfen und diesen alten Säcken und Damen genau gezeigt, warum sie auf mit Kuraiko auf gleicher Höhe war.
„Denn ich habe nicht gewusst, dass sie nach der Gruppenmission noch einen Einzelauftrag hat.“
Uranu's magisch blauen Augen, dessen er seinen Namen zu verdanken hatte, fanden die Ihrigen. Yuna hatte seine Pupillen schon immer als faszinierend erachtet. Die verschiedenen Blautöne waren in einem harmonischen Farbwechsel ineinandergeschoben und gaben lediglich ein Zehntel seines mysteriösen Charakter preis. Vor eineinhalb Jahren war er offiziell den Läufern vorgestellt worden.
„Hey Nay! Kennst unseren neusten Piloten schon?“, fragte ein Hüne mit olivfarbener Haut das Mädchen, welches soeben mit Sohlen das Zimmer betreten hatte und klopfte dem Neuling auf die Schulter. Blutiriden flackerten erst zu dem, welcher gesprochen hatte und dann zu besagter Person neben ihm. Ihre typisch desinteressierte Miene löste sich für einen winzigen Moment auf und setzte zu einem halben Lächeln an.
„Ranu“, hauchte sie. Alle Anwesenden dachten sie sahen und hörten nicht richtig, als die Grünhaarige ohne mit der Wimper zu zucken den Neuen umarmte und schon beinahe liebevoll einen Spitznamen für ihn murmelte. Noch abstruser wurde die Geschichte als sie schlussendlich ihren Kopf an seiner Schulter verbarg und einfach in dieser Position verharrte, während um sie herum die Hölle ausbrach. Ares fiel aus seinem Sessel und sein Antlitz war zu einer ungläubigen Fratze mutiert. Es schockierte ihn die residierende Topkillerin so... menschlich zu sehen, dass er das Bild vor seinen Augen für eine Fata Morgana hielt. Doch woher die Wüstenerscheinung ohne Wüste?
„Willkommen.“
Das Duo ignorierte alles und jeden um sich herum, ansonsten wären ihnen die heruntergefallenen Kinnladen der anderen aufgefallen oder die ungläubigen Gesichter, welche sie zogen. Diese Art von Reaktion hatte der Hüne nicht erwartet. Ein blanker Blick vielleicht ein leichtes Nicken. - Mehr nicht und schon gar nicht so etwas! Es war für ihn, ebenso wie jeden anderen in diesem Raum nicht erfassen, was in diesem Moment gerade vor sich ging noch wollten sie es verstehen. Irrsinn, dass war es in ihrem Augen und unmöglich wahr. Yuna traute dem Geschehen vor ihren nicht eine Sekunde lang. Nicht zuletzt weil es untypisch, höchst untypisch von ihrer Nēsan war körperlichen Kontakt zu fördern, sondern auch weil Yuna diesen Neuen nicht einschätzen konnte. Was war so besonders an diesem Jungen, dass ihr Zwilling ihn umarmte? Woher kannten sie sich? Woher kam diese offensichtliche enge Bindung? Woher?
„Schön hier zu sein, Kuri.“
Kuri. - Bis heute hatte sie aus seinem Mund nicht ein einziges Mal den Namen Kuraiko gehört. Immer nur diesen verniedlichenden Spitznamen. Es passte nicht zu ihrer älteren Schwester. Kuraiko war ihr Name und würde es bei ihr auch auf ewig so bleiben.
„Hmm“, machte der Angesprochene und schüttelte seinen Kopf. Selten sprach Uranu viel, beschränkte sich lediglich auf die nötigsten Wörter und dennoch sprach er in manchem Situationen mehr als man es ihm je zugetraut hätte. Meist nur bei Kuraiko oder über sie, doch bei Letzteres musste man gewaltig aufpassen. Er konnte ziemlich schnell sauer werden, sollte man ein unliebsames Wort über die Glutäugige verlieren.
„ Nicht wirklich, aber normalerweise müsste sie am frühen Nachmittag spätestens zurück sein.“
Unbekannt, früher Morgen bis Mittag
Der Mann sah zu der kaltblütigen Killerin. Es war das Erste und mit großer Wahrscheinlichkeit letzte Mal, dass er sie zu sehen bekam. Entsetzt stellte er fest, dass es ein junges Mädchen von höchstens 17 oder 18 Jahre war, welche vor ihm stand. Er konnte es nicht fassen. So jung und schon so geübt darin Menschen umzubringen! Expressionslos und dennoch mit Wahnsinn in den endlosen Tiefen ihrer unnatürlichen Orben starrte sie ihn an. Die Tätowierungen in ihrem Gesicht trugen einen nicht unerheblichen Teil dazu bei, sie gefährlicher wirken zu lassen, als sie es ohnehin schon war. Sie machte einen bedächtigen Schritt auf ihn zu. Die blutverschmierten Katanas lagen erhoben in ihren Händen. Automatisch beugte er sich nach hinten, wollte soviel Distanz wie möglich zwischen sich bringen.
„Sag, kennst du Thomas Morgan?“
Der Name entkam ihr als sanftes Flüstern, während sie mit stechender Kälte ihn in ihren Blick gefangen hielt, wie einen Tiger. Sein Hals wurde spürbar trockener. Er hatte Probleme seinen Herzschlag zu regulieren. Schweiß brach auf seiner Stirn aus, rollte in kleinen Perlen seine Schläfen hinab.
„Nein?“, fragte sie zuckersüß und hob eine perfekt geschwungene Braue. - Stille. Sein Mund weigerte sich zu funktionieren. Sie legte ihren Kopf schief.
„Aber die im anderen Raum hatten erwähnt, du wüsstest mehr über ihn.“
Der Ton in ihrer Stimme bereitete ihm wahnsinnige Angst, mehr noch als die qualvollen Schreie seiner Kameraden, welche er gehört hatte. Wie ein Feigling hatte er sich daraufhin im hintersten Zimmer versteckt und gehofft dass sie ihn nicht finden würde. - Vergebens. Er schluckte. - Es war unsäglich laut in seinen Ohren.
„Ich- Ich ke-kenne kei-nen Tho-thomas M-morgan“, versuchte er mit armselig gebrochener Stimme zu formulieren. Ihre Pupillen verengten sich. Ihre spielerisch lockere Haltung verschwand auf einen Schlag, wurde ersetzt mit etwas unmenschlichem.
„Lüg mich nicht an“, zischte sie. Das Blut ihrer Iriden gefror zu Höllenfeuer. Glich der Medusa, nur ohne der Schlangen als Haar. Mit einem Mal bedrohlich näher gekommen, resultierte es in einem empfindlichen Aufschrei seinerseits und mehreren Schritten rückwärts gegen die Wand. Armselig. Die Klingen näherten sich seiner Kehle. Er glaubte, dass kalte Metall auf seiner Haut zu spüren. Ohne Zweifel war sie bereit ihn zu köpfen.
„Sprich. Die Wahrheit. Sofort.“
Die Todesdrohung vor sich spürend, begann er zu reden. Und wie er anfing zu reden! Wie ein Wasserfall sprudelte es aus ihm heraus. - Schlussendlich umsonst.
Unterricht, Schule
„Mister Gebhart!“, donnerte eine männliche Stimme durch den Raum. Genannter schlug langsam seine Augen auf. Sein Kopf war auf verschränkten Armen gebettet. In typischer Manier lümmelte er auf seinem Tisch, welchen er aufgrund der ungeraden Schüleranzahl alleine beherbergte. - Nicht, das es ihn großartig gestört hätte. Allein und ohne nervenden Sitznachbarn ließ es sich ohnehin besser schlafen. Hellblauen Orben, wie ein halb in Wolken verhangener Morgenhimmel sahen müde zum Lehrer nach vorne an die Tafel. Die Kraft sein Haupt zu heben, hatte und wollte er auch nicht aufbringen. Es war so doch viel gemütlicher...
„Ja....?“, gähnte er und hielt sich die Hand vor dem Mund. Sein unziemliche Verhalten nicht als solches anerkennend. Missbilligend beäugte der Lehrer ihn, ehe er sich seufzend zu den anderen Schülern wandte. Herr Lain hatte schon vor langer Zeit aufgeben den jungen Finnen zu mehr Motivation zu animieren. Eine Schlappe, welche ihm nicht leicht gefallen war zu akzeptieren. Niemand in seinem Unterricht sollte vor Langeweile einschlafen. Der Mann wurde in dieser Hinsicht allerdings 'beruhigt', da verschiedenste Kollegen ihm die Rückmeldung gegeben hatten, dass der Schüler Gebhart in ausnahmslos jeder Stunde zu Schlafen schien. Ein schwacher Trost für den ambitionierten Lehrer!
„Kann jemand anderes die Frage beantworten?“
Während die Stunde seinen gewohnten Gang weiterlief, waren Momo wieder die Lider zugefallen. Für Schule hatte er sich nie begeistern können. Wozu auch, wenn er die ersten Jahre seiner 'Schullaufbahn' in der Wildnis bei seinem Onkel in Einzelunterricht verbracht hatte? Er schrieb Noten im angemessenem Mittelfeld, bis auf hin und wieder Ausreißer entweder nach oben oder unten der Richterskala. - Was wollte man mehr? Er war zumindest zufrieden mit seinem Leben, wenn da nicht das 'kleine' Problem große Schwester wäre. Bei Gott, wenn sie nicht seine Schwester wäre! Familie war nämlich für ihn heilig. Für diese würde alles tun, sogar bis ans Ende der Welt reisen und sich durch Stock und Stein schlagen. Es gab neben einem gemütlichen Faulenzplatz nichts wichtigeres. Niemals.
Irgendwann gongte es, holte ihn aus seinem leichten Schlummer. Träge richtete er sich auf und stellte fest, dass die Pause begonnen hatte. Merkwürdig, warum hatte ihn deren nervende Mathematiklehrerin nicht mit Pauken und Trompeten aufgeweckt? - Es ihm sowieso egal erscheinend, trat er mit langsamen Schritten aus dem Zimmer. Den Rucksack lässig um die Schulter geworfen. Sich mit einer Hand durch das mit weißen Highlights versehende blonde Haar fahrend, hielt er die andere vor seinem gähnenden Mund.
„Auch mal wieder wach?“, feixte jemand mit metallgrünem Haar, sobald Momo zu ihnen geschlurft kam. Ares war unübersehbar. Selbst für jemden wie ihn, der fast durchgehend mit geschlossenen Lidern durch den Tag läuft. Seine Vorliebe für... Neonfarben in Kombination mit schwarzes Jeans war blendend. Genannter nickte verschlafen, entsagte sich dem Augenkrebs auf zwei Beinen und warf sich in den freien Plastikstuhl. Den Rucksack warf er achtlos daneben.
„Wie... wars bei... euch?“, fragte er zwischen dem Gähnen. Ares zuckte mit den Schultern.
„Langweilig. Wenigsten war de Videlt ned da gwesen.“
Ah, deswegen war es also in der zweiten Stunde so erholsam still gewesen. Frau Videlt war krank. Plötzlich vibrierte es in seiner Hosentasche. Nach einem Lehrer Ausschau haltend, zog er schnell sein Handy aus der beigen Hose hervor. Schnell las er die Nachricht durch, dann verschwand das schwarze Ding schon und war zurück in sicheren Gefilden und außer Reichweite von habgierigen Erwachsenen. Er griff nach seiner Tasche und erhob sich.
„Teilt Bow oder nem anderen aus meiner Klasse mit, dass ich Fischen bin“, sagte er zum Abschied und hob eine Hand, wartete keine Antwort ab. Sich durch die Schülermassen ohne ehrliche Hast drängend, verschwand der schmal gebaute Hüne durch den Haupteingang. Fischen war sein Codeword dafür, wenn er einen wichtigen Informanten treffen musste. Meist sofort. Da war Schule nebensächlich. Es interessierte ihn so oder so nicht ob er wichtigen Unterrichtsstoff verpasste. Das was man mal wirklich im späteren Leben brauchte, wurde einem eh nicht in der Schule beigebracht, sondern musste mühevoll selbst erlernt werden.
Wie wunderbar! Jetzt musste er sich auch noch um die Belange anderer kümmern! Als ob er nicht schon genug an der Backe hatte! Nichtsdestotrotz sah Ares sah sich pflichtbewusst in der Halle nach einem regenbogenfarbenden Kopf um. So schwer war das nicht. Leicht übersehen, konnte man ihn nicht. Gesuchte Person in einer andere Ecke neben einer italienisch Aussehenden findend, begab er sich dorthin.
„Hey Rainbow. Sophia“, nickte er dem Mädchen zu.
„Hypno hat sich gerade abholen lassen. Ihm gings nicht so gut. Hat irgendwas von schlechtem Fisch zum Abendessen gelabert.“
Hypno. - Ein Namen, welcher passend zu seiner Einstellung war. Rainbow fing den Hintergedanken ohne mit der Wimper zu zucken auf.
„Geht klar.“
Es klopfte. Weniger als zwei duzen Köpfe sahen von ihren entsprechenden Unterlagen auf und lenkten deren Augenmerk zur Tür. Herr Lain, montags ein doppelt gesehener Gast, stoppte in seinem trockenen Vortrag und bat herein.
Das Portal öffnend, trat ein Mädchen in den Rahmen. Das ungewöhnlich dunkelgrüne Haar fiel ihr wasserfallartig über die Schultern. Sein Blick folgte ihr von dem Moment an, an dem sie den Raum betreten hatte. Ihr schwarzes Tattoo rankte sich die linke Schläfe hinunter über ihren Hals und umschlang ihre Schultern ehe der Rest von dem Kleid verdeckt wurde, welches sie trug. Ihre einfach gestrickte Frisur war zugleich zeitlos wie elegant. Der satte Rotton ihrer trägerlosen Sommerkleides betonten die gleichfarbigen endlosen Tiefen ihrer Pupillen. Ihre wahre Augenfarbe hatte man nicht nie zu Gesicht bekommen. War sie wie bei ihrer jüngeren Schwester von Zweifarbigkeit gekrönt oder komplett anders? - Er wollte dieses Geheimnis wissen. Der Einzige war er nicht in diesem Vorhaben. Erfolg dagegen hatte noch niemand davon getragen. Jedenfalls erzählte keiner etwas davon. Oder der- oder diejenige konnte es eher gesagt nicht mehr.
Die dunkle Tasche trug sie federleicht über ihrer Schulter, als wäre sie mit Luft gefüllt und nicht mit schwerem Schulmaterial. Ihre Haltung anmutig und dennoch gelangweilt von der Szenerie vor ihr.
„Ich bin bis Anfang 4ter Stunde entschuldigt gewesen“, füllte ihre Stimme den Raum. Emotionslos, wie ein Puppe, trotzdem war etwas an ihr, was ihn magisch anzog wie Motten das Licht. Es war angenehm ihrer sanften wie teilnahmslosen Stimme zu lauschen. Vor allem weil die Herausforderung darin bestand ihre jeweilige Gefühlslage zu erraten. - Ein Unterfangen was nur mit Mutmaßungen zu bewältigen war. Es war beinahe unmöglich es abzulesen, ohne irgendwelche Vermutungen hineinzuwerfen. Lediglich wenige konnten es ohne jegliche Hilfe, aus dem Stand heraus. - Wie ihre Schwester. Wie Uranus. Letztgenannter war ihm ein tiefes Dorn im Auge. Der Schwarzhaarige hatte eine besondere Stellung bei ihr inne und war - wenn er nicht bei Leth oder im Hangar sein Unwesen trieb - stets in ihrer Gegenwart zu finden. Wo der Kanadier sich aufhielt, war auch sie zu finden. Umgekehrt war das natürlich derselbe Fall. Sie sah man allerdings nicht so oft wie ihn. Was nicht automatisch hieß, dass sie nicht nicht anwesend war, lediglich, dass sich lieber im Verborgenen aufhielt, anstatt die Öffentlichkeit mit ihrer Anwesenheit zu beglücken. Nicht umsonst war ihr Lieblingsort der Schatten und ihre Fähigkeit sich außerhalb des Licht wie ein Geist zu bewegen die Besonderheit, welche vielen nicht geheuer war. Wer empfand es schon als angenehm, wenn plötzlich eine 172 cm große und bewaffnete junge Frau neben sich wie aus dem Nichts auftauchte? - Uranus. Als Feinde konnte man ihn und den Dunkelhaarigen nicht direkt ansehen, allerdings waren sie auch keine echten Freunde. Sie hatten eine unausgesprochene Distanz zwischen ihnen, die keiner, sollte es nicht unbedingt nötig sein, überschreiten wollte.
Herr Lain entließ sie wortlos mit einem Nicken auf ihren Platz und fuhr mit seinem Stoff fort. Er folgte ihren Bewegungen. Zu ihrer Bank tänzelnd, ließ sie ihren Blick schweifen. Scheinbar belanglos. - Er wusste es besser. Der regenbogene Schopf, welcher ihr Ziel war, ebenfalls. Sie suchte dessen Aufmerksamkeit mit spöttischen Gesichtszügen. Eine perfekt hochgezogene Augenbraue und die Lippen leicht gekräuselt, vermittelten den Eindruck von amüsierter Verachtung. Er brauchte sich nicht umdrehen um Rainbows Reaktion zu sehen. Das leise Aufstöhnen war Indiz genug, dass sie an Bow's Substanz ging. Nicht verwunderlich, wenn man berücksichtigte, dass sie bei längeren Solos selten ihm persönlich über einen kurzfristigen 'Zwischenfall' in Kenntnis setzte, sondern zumal Uranu als Boten zweckentfremdete, anstatt selbst mit der Onyx Kontakt aufzunehmen. Logisch war es nicht und eher umständlich. - Doch was war denn je an ihrem Handeln verständlich gewesen? Sie bewegte sich in ihrer eigenen Liga. Ohne Grenzen und ohne Regeln. Rationalität war nichts, was mit ihr in Verbindung gebracht werden konnte. Genau dies, diese Verquertheit hatte ihn in ihren unerklärlichen Bann gezogen, bevor er es hätte verhindern können, hätte sollen.
„Was wirst du tun?“, fragte eine in schwarz gehüllte Person. Das Gesicht uneinsehbar geschützt von der Kapuze. Er kniete vor der Gestalt, hob sein Antlitz und starrte direkt in das dunkle Loch, wo der Kopf war. Hielt den Augenkontakt aufrecht. Der Blick unbeugsam. Sein Mund öffnete sich. Der Ton rau und hart.
„Das was ich tun muss.“
Entgegen all seiner Vernunft hatte er sich in ihrem Charakter verloren wie ein Ertrinkender auf hoher und stürmischer See. - Jetzt war es zu spät. Er bereute nichts, - wie konnte er auch? - gleichzeitig machte dies es schwieriger, wird es schwieriger machen. Sie...
Der Moment mit Rainbow kam abhanden. Ihr Blick ging über genannte Person hinweg - als wäre er nichts - zum Lehrer, ehe sie sich schwungvoll niederließ.
Sie war kein perfekter Engel, nein sie war der leibhaftige Tod. Eine zeitlose Schönheit, ungeachtet ihres andersweltlichen Stils. Eine kalte Killerin mit verstecktem Herz, von welchem er wusste, sie besaß es, lediglich tief in sich vergraben und unter Mauern aus Schutt und Asche. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen, dass sie keinen besaß. Jeder Engel hatte ein Herz. Ein mystisches Wesen, welches auf die Erde geschickt worden war, nur um ihn zu verunsichern.
„Ja?“
Der Blickkontakt zu ihr verschwand. Auf Zack sah er zum Lehrer auf. Sein Hintermann leierte desinteressiert die Antwort herunter. Anschließend starrte Jonas ohne auf Herr Lain zu achten aus dem Fenster. Was war die Frage gewesen? Wann hatte der Lehrer den bitteschön eine Frage an Jonas gerichtet? - Nichts hatte er mitbekommen. Rein gar nichts. Seine Gedanken war zu verstrickt gewesen. Gedanken um alles, um sie...
Er bemerkte nicht wie der dunkelgrüne Schopf sich leicht bewegte. Hätte er sich erneut in ihrer Schönheit verfangen, hätte er die Blutiriden gesehen, welche ein kaum erdenklich sanften Ton angenommen hatten als sie sein Antlitz erblicken. Hätte er bloß.
Unbekannt, früher Nachmittag
Etwas nasses rann ihre Wange hinab als sie über die toten Körper ohne Anteilnahme hinweg stieg. Schwertklingen lagen leichtfertig in ihren Händen. Nach unten zeigend, ritzten sie die kalten Leichen weiter auf, während sie Schritt für Schritt dem Ausgang entgegnen ging. - Es kümmerte sie nicht. Weder die Toten noch das warme Blut, welches wie Wassertropfen an ihrer Wange hinunterfiel. Alles war bedeutungslos. Es zählte nur das angestrebte Ziel.
Der Mann hatte kaum nützlichen von sich gegeben, bevor das Licht in seinen Augen durch einen gezielten Doppelstich erstorben war. Nichts, was sie im Vorhinein schon gewusst hatte und dennoch ging sie nicht gänzlich ohne leere Hände nach Hause. Ein weiterer Name. Ein weiterer Zwischenstopp auf dem Weg zu ihm. Hoffentlich hatte der Nächste mehr Selbstachtung aufzuweisen und bettelte nicht so wie dieser hier um sein Leben, ehe er sich innerhalb eines Wimpernschlags umentschied und sie mit all seiner Macht zum Teufel geschickt hatte. Sich so jämmerlich und entwürdigend zu verhalten. - Wie konnte man sich danach bloß im Spiegel ansehen und nicht vor Scham im Boden versinken? Darüber hinaus war das absolut respektlose Benehmen gegenüber dem, welcher die Fäden in der Hand hielt, ein sofortiges Todesurteil. Im Grunde genommen konnte es ihr egal sein. Sie verfolgte ein viel größeres Ziel. Er würde ihr nicht entkommen und wenn sie dafür jeden einzelnen, welcher ihr im Weg stand, töten musste. Es machte keinen Unterschied für sie mehr. Sie war längst verloren.
Thomas Morgan. - Kuraiko schnaubte verächtlich auf. So ein alltäglicher Name. Es passte zu diesem Bastard.
Sie blickte nach vorne. Licht blendete die Grünhaarige, als sie aus dem Gebäude trat. Eine Hand an die Stirn als Schattenspender haltend, blickte sie sich in der Einöde um. Niemand war weit und breit zu sehen. Wie auch, wenn die Patrouille erstochen unter irgendeinem verdorrten Baum lag? Die Katanas unbekümmert wegsteckend, zog sie eine unscheinbare schwarze Sonnenbrille aus ihrer Hosentasche hervor. Leichten Druck auf einen winzigen Knopf auslösend, stellte sie eine Verbindung her.
„Kuri?“, kam es fragend über einen kleinen Lautsprecher am Brillengestell einige Momente später.
„Sag Rainbow es dauert länger. Bis morgen 11 Uhr circa.“
Es blieb lange still am anderen Ende des Funkgerätes.
„Hast du was gefunden?“, wollte er schlussendlich von ihr erfahren. Die Stimme hart.
„Ja...“, hauchte sie.
„Der Grund, warum ich die eigentliche Mission noch nicht angetreten habe.“
„Brauchst du Hilfe?“, bot er sich an. Aus seiner Stimme war Sorge herauszuhören. Sie erlaubte sich ein winziges Lächeln. Ranu. Der Einzige, welcher wusste was geschehen war. Seine Fürsorge war das wunderschönste Geschenk, welches er ihr machen konnte. Er war jemand, der sie verstand und das Letzte was ihr geblieben war... nach Adriens Tod.
„Nein. Bemühe dich nicht. Wir wissen beide, dass du erst von einer zweitägigen Solo zurückgekommen bist. Ruhe dich aus, Ranu. Bis morgen.“
Ihr Ton war endgültig. Sie wollte nicht, dass er sich überanstrengte. Seine alten Verletzungen war noch nicht ganz verheilt und nagte an seiner Ausdauer. Es wäre unverantwortlich von ihr ihn in dieses Land zu bestellen für so einen mickrigen Auftrag, wie dieser es hier war. Sie kam gut alleine klar. Er sollte sich mehr um seine Gesundheit kümmern, anstatt sich um sie zu sorgen.
„Bis morgen“, flüsterte er ergeben, wissend, dass sie Recht hatte. Die Leitung erstarb. Störgeräusche füllten seinen Platz aus. Sie schaltete das Gerät ab und bewegte sich gen Sonne. Hinter einer flachen Steinformation parkte ein schäbiges Auto. Bei Aufträgen in solchen Gebieten durfte man unter keinen Umständen auffallen. Durch ihre Aura, die sie vermittelte, stach sie ohnehin aus Menge heraus. Unschuldig wie ein Engel. Die Seelenspiegel kälter als Eis. Das leichte Lächeln eine groteske Mischung aus Brutalität und Verzückung. Sie war... anders.
Stonevalley, Nachmittag bis später Abend
„Hat wer von euch dieses vermaledeite Mädl gesehen?“
Rainbow. - Daran gab es keine Zweifel. Lediglich er nannte Kuraiko so.
„Du... willst mich sprechen?“
„Verdammte Scheiße!“, fluchte der regenbogenfarbene Schopf und wirbelte zu der Quelle herum. Konnte sie nicht einmal wie ein normaler Mensch benehmen, anstatt wie ein Geist zu kommen und gehen, wann es ihr beliebte? Wie konnte man bei ihr denn nicht einen halben Herzkasper kriegen, wenn alles was sie tat das genaue Gegenteil von dem ist, was man von ihr möchte?
Mit großen Augen sah sie ihn nachdenklich an, so als wäre er ein interessantes Studienprojekt. Angst kroch seine Glieder langsam hinauf, sowie ein widerwilliger Respekt für sie sich in seinen Augen einnistete, wie ein Parasit. Rainbow mochte diese Gefühle nicht. Kein Stück. An ihr war vieles, was einen an eine Figur aus dem Gruselkabinett erinnerte, doch niemand war Manns genug dies auch offen zuzugeben. Dementsprechend war es nicht gerade leicht mit ihr umzugehen. Er war da nicht der Einzige, welcher in dieser Hinsicht Probleme mit der Grünhaarigen hatte. Im Gegensatz zu den anderen hatte er allerdings mit seiner Aufgabe als Kommunikations- und Informationsstelle den undankbarsten Job überhaupt gezogen. Wie sollte man auch als unsichtbarer Schatten helfen können, wenn man eiskalt ignoriert wurde und ein gottverdammter Pilot den Vortritt bekam? Man durfte ihr jedoch nicht nachsagen, dass sie sich seiner Nützlichkeit gänzlich entsagte. Sie kontaktierte ihn, sollte die Notwendigkeit bestehen,allerdings war es sehr selten der Fall, dass sie auch tatsächlich auf seine Fähigkeiten zurückgriff.
„Kannst du nicht einmal-!“, fing er an, unterbrach sich aber selbst Sekunden später und seufzte schließlich langgezogen.
„Vergiss es.“
Langsam beruhigten sich seine wallenden Gemüter. Es hatte keinen Sinn sich noch weiter damit zu beschäftigen. Spätestens beim nächsten Auftrag würde das Mädl ihn wieder zur Weißglut treiben. - Dessen war er sich sicher.
„Ich brauche deinen Bericht. Ne Erklärung wäre auch nicht schlecht. Wie konntest du fast nen ganzen Tag zu spät sein? Und warum hast du erneut Uranu Bescheid gegeben, aber nicht mir?“, führte er die lange Liste an, die sich bei ihm angestaut hatte. - Obgleich er bezweifelte, dass sie ihm Rede und Antwort stehen würde. Autoritätsperson war für sie ein Fremdword. Er war nicht per seh jemand, welcher über ihrer Stufe war - wohl eher unter - doch ein bisschen Respekt erwartete Rainbow dennoch von ihr.
„Schreibtisch“, gab sie unbeeindruckt von der gespannten Ladung zwischen ihnen von sich.
„Der Rest...“
Sie drehte sich elegant um die eigene Achse. Das dunkelgrüne Haar schimmerte im Licht.
Er saß in einer Ecke. Nicht unweit des Geschehen, welches sich abspielte. Wie am Vormittag folgten seine Augen ihrer Bewegungen wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Sie war... unglaublich. Unglaublich anders.
„Wer bist du?“, fragte die dunkle Gestalt.
„Die Ausgeburt der Dunkelheit. Ein Jäger.“
Er ballte seine Faust. Er durfte nicht... doch sein Widerstand bröckelte wie nichts, war nie dagewesen. Nicht bei ihr. - Es war längst ohne Bedeutung.
„Ist nicht relevant... für dich.“
Mit diesen Worten öffnete sich die Schiebetür lautlos und ließ die Glutäugige hindurch. Rainbow stand mit verdatterter Miene blöd da und sah ihr nicht minder überrascht nach.
„Hat sie gerade...?“, fragte er tonlos und zeigte mit linkem Daumen zum Portal. Nicht fähig mehr Wörter zu formen. In seinem Gehirn herrschte kurzzeitiges Chaos. Es war zu wirr in seinem Oberstübchen, als er richtige Sätze verfassen konnte.
„Jub, hat sie“, bestätigte ein Hüne von einem dunkelhaarigen Teenager mit olivener Haut grinsend und lehnte sich in seinem Sessel gemütlich nach hinten. Swift. Seiner Schnelligkeit im Bogenschießen verdankte er seinen Namen. Seine Passion seinem älteren Bruder. Als sie noch sehr klein waren, hatte dieser ihm einen selbst gebastelten Bogen geschenkt und damit die Geburt einer der weltbesten Bogenschützen eingeleitet.
„Ehrlich, was erwartest du von ihr? - Das sie alles brühwarm verzählt? Das ist immer noch Ku-rai-ko von der wir hier labern. Die ist nicht so. War sie noch nie. Wird sie nie sein.“
Ein entnervtes Stöhnen war zu hören und Hände, die sich über einen Kopf zusammenschlugen.
„Ich weiß doch, aber kann sie nicht ein einziges Mal Regeln befolgen? Sie kann von mir aus sich in Schweigen hüllen, lediglich mich soll sie mal in Kenntnis setzen, sollte was sein. Nicht immer Franklin!“
Man könnte nach dieser Deklaration mit der Meinung aufkommen, Rainbow wäre eifersüchtig auf genannte männliche Person. Zu einem gewissen Grad war demnach auch so, jedoch nicht auf die romantische Ader. Nein danke! Mit so einer wollte er in dieser Hinsicht rein gar nichts zu tun haben! Alles was er wollte, war, dass sie mit ihm kommunizierte. - Dieser simple Wunsch blieb ihm die meiste Zeit verwehrt. Sie legte sich ihre eigenen Regeln zurecht, anstatt sich nach den bestehenden zu richten. Sowie sie lieber Franklin Boten spielen ließ, als sich selbst darum zu kümmern! Frustriert raufte er sich die Haare. Immer das selbe mit ihr! Wie konnte sie nur mit deren Sonnenschein Yuna blutsverwandt sein, welche er seit Jahren kannte? Wie? Wie, wenn deren Charakterzüge die Gegenpole eines Magneten waren? Wie, wenn sie töten konnte ohne mit der Wimpern zu zucken? Yuna mochte das Töten nicht und machte es nur wenn es unbedingt erforderlich und nötig war und selbst dann versuchte es sie so schnell und schmerzlos wie möglich zu machen, egal was ihr Gegenüber für abscheuliche Taten gegangen hatte. Kuraiko hingegen... war sie Mensch oder mehr Maschine?
„Wenigsten redet sie... bloß nicht mit dir. Mach dir nicht draus, Bow. Mit uns labert sie auch fast kein Stück“, stellte Swift trocken fest und nahm einen Schluck von seinem Getränk.
Rainbow massierte sich lediglich müde seine Schläfen.
„Ich weiß“, stieß er von neuem aus.
„Ein Wunder wenn...“
Der Rest ging in unerkennbares Gemurmel über, während er ohne weiteres aus dem Raum lief; die kleine Truppe komplett ignorierend, welche sich in einigen Sesseln und auf einem großem gemütlich wirkenden Sofa niedergelassen hatten.
Swift drehte sich zur Seite, nachdem der Arme durch die Tür verschwunden war. Ein breites Grinsen auf seinen Lippen.
„Wie lange glaubt ihr dauert es, bis er zurückkommt und sich erneut über Sweetheart Nay aufregt?“
Es roch gut. Italienisch, vermutete sie. - Ihre Nase täuschte sie selten.
„Yuna!“, rief jemand, sobald sie durch die automatische Schiebetür getreten war. Sie sah nach links. Ein Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Zu der bunt gemischten Gruppe joggend, hob sie ihre Hand zu Gruß.
„Hey Leute.“
Sich neben einer in Bundeswehrkluft niederlassend, besah sie sich der gut riechenden Speisen auf dem Tisch. Nach dem Nächstbesten greifend, fing sie ein Gespräch mit ihrer Sitznachbarin Alma an. Neben Leth und Ranu war sie die dritte im Bunde, welche eine volle Pilotenausbildung hinter sich hatte, allerdings hatte sie keinen Schein für das Fliegen von Personenflugzeugen, sondern war einzig und allein für das Bedienen eines 1-Personen Jets ausgebildet worden. Anders als ihre beiden Kollegen wurden ihre Dienste in der Luft fast ausschließlich nur in Kriegsbereiten benötigt, sollte eine Mission sie in solch gefährliche Gegenden führen. Auch wenn ihre Flugfertigkeiten nicht oft benötigt wurden, so gehörte die Eaglet - ein kleines und nur für sie konstruierter Kampfjet - trotz alledem zu den Themen, welche ihr am allerliebsten waren. Alma vergötterte den Jet genauso stark wie sie ihre Vorliebe für die Bundeswehr auslebte. Nicht verwunderlich wenn man dabei bedachte, dass sie von klein auf in einem Militärhaushalt aufgewachsen war. Ihr Vater, General beim Bund und ihre Mutter ehemalige Bundeswehrsanitäterin. Der Weg war praktisch vorausgesetzt gewesen, dennoch hatte ihr Vater ihr die Wahl gelassen, ob sie auf einer staatlichen Schule unterrichtet werden wollte, oder lieber den Gang in Militärakademie wagte. Obgleich die Frage für eine damals Fünfjährige übertrieben wirkte, so war Alma sich sicher gewesen - damals wie heute - , genauso wie ihr Dad zu werden. Sie war in jeder Hinsicht das klassische Papa-Kind.
„... und deswegen brauche ich unbedingt einen neuen Lederbezug. Hmm... muss wohl Hypno fragen wenn er zurück ist...“, die Brünette verlor sich in ihren Gedanken.
„Sorry“, sagte sie plötzlich peinlich berührt und hatte den Anstand leicht zu erröten. Yuna kicherte und winkte lässig ab. Es war typisch Alma.
„Kein Plan. Ich weiß ja, wie vernarrt du in diesen Jet bist.“
„Vernarrt? - Vergöttern passt da schon eher. Du betest des Ding an wie eine Maya ihren Göttern huldigt“, mischte sich Bow in das Gespräch ein. Sein farbiges Haar hing ihm nass am Kopf. Vereinzelt sah man Wassertropfen an den Haarspitzen kleben, ehe sie zu Boden fielen.
„Sagt der, der lediglich in Computeralgorithmen denken kann. Ein Wunder, dass du überhaupt täglichen Bedürfnissen nachgehst, so wie du manchmal aussiehst“, schoss die Bundeswehrliebhaberin scharf zurück, ein betont freundliches Lächeln auf den Lippen.
„Touché“, grinste das Computergenie und ließ sich neben ihr nieder.
„Weist du wann der wandelnde Schlafbeutel zurück ist?“, fragte Alma und zupfte sich ihr weißes Top zurecht.
„Uh...“
Er kratzte sich am Hals. Eigentlich hatte er vorgehabt seine halbstündige Pause in Ruhe zu genießen und sich nicht mit Arbeitsrelevanten Sachen zu beschäftigten, allerdings hatte da oben mal wieder jemand etwas dagegen ihm die wohlverdiente Rast zu gönnen.
„Der kommt erst morgen wieder. Irgendwann um fünf Uhr in der Früh. In den Unterricht geht der wohl kaum, also kannst du spätestens nächsten Abend mit ihm sprechen. Wieso?“
„Hab bemerkt, dass die Innenausstattung bei der Eaglet eine Überholung nötig hat, aber die kann warten bis er wieder zurück ist“, antwortete sie ihm und schob ihren Teller zurück.
„Bin dann mal weg. Falls was ist, geht auf den Funker. Bis später Leute“, verabschiedet sie sich bei allen und bekam ein herzliches 'Bis später' zurück. Wie immer aß die Deutsche mit tschechischen Wurzeln keinen Nachtisch. Man würde sie ohnehin später in der Speisekammer rumoren hören auf der Suche nach einem süßen Mitternachtssnack.
Zehn Minuten später piepte etwas in Yunas Nähe auf. Sie sah von ihrem Obstkuchen hoch.
„Muss dann mal weg, Ciao.“
Schon war der regenbogenfarbene Schopf durch die Schiebetür verschwunden. So wie sie ihn kannte, waren lediglich neue Informationen reingekommen, die er unbedingt überblicken wollte. - Wahrscheinlich sogar eine Nachricht von dem 'wandelnden Schlafbeutel' wie er liebevoll von Alma immer genannt wurde. Das Mädchen machte einen Volkssport daraus jeden der Schattenläufer individuelle Spitznamen zu geben. Wandelnder Schlafbeutel war bloß eines von vielen Namen, welche sie im Petto hatte.
Niemand außer ihr war sonst noch auf der Matte, da keiner sich traute der grünhaarigen Exotin in einem Übungskampf gegenüberzutreten. Wären stumpfe Waffen im Spiel gewesen, so hätte man sich noch eher dazu durchgerungen ihrer Schwester im Kampf zu begegnen, allerdings machte Kuraiko selbst im Training keine halben Sachen und hantierte mit ihren scharfen Katanas, anstatt es ruhig anzugehen. Was sie mit ihren Klingen vollführte, war nicht mit wahllos gesetzten Hieben und Stichen vergleichbar, nein, es waren Figuren mit einer fast schon künstlerischen Note. Lautlos, elegant und nicht zu vergessen: Tödlich. Die perfekte Symbiose zwischen Schwert und Tanz. Das war ihr Zwilling. Ein Engel, wenn es der Täuschung bedarf. Ein Genie, was der Kampfkunst anbelangte. Ein Monster, wenn es ums Töten ging.
Kuraiko wirbelte um ihre eigene Achse, machte eine Ausfallschritt nach vorne, ehe sie ihren Tanz ohne Weiteres fortführte. Das offene und lange Haar floss mit, umkleideten ihr Gesicht wie ein Schleier bei den arabischen Frauen alles verhüllte. Ein schlichtes schwarzes Top kleidete ihren Oberkörper. Die Beine steckten in einer kurzen, gleichfarbigen Hose. Plötzlich änderte sie ihre Richtung. Mit einer schnellen Bewegung waren beide Katanas in einer Hand und ein leichter Wink nach außen, außerhalb der Matte geschickt. Dieser eine Moment bot ihr genug Zeit ein einziges Wort zu wispern:
„Komm.“
Ein dunkles Lachen ertönte. Männlich. Yuna sah von ihrer grazilen Schwester zur Geräuschquelle. Sie kannte dieses Lachen. Ein Junge mit tief blauen Augen wie der Planet, dessen Namen er trug, stand mit gelassener Haltung da und grinste ihren Zwilling an. Seine Kleidung glich der ihrer Schwester, doch anstellte des schwarzen Tops trat ein dunkelbraunes. In seiner Hand lag ein wundervoll gefertigtes Tachi mit dunkelblauem Schaft. Ungezogen. Ein Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus, während er langsam auf Kuraiko zuging. Im Gehen zog er die Waffe aus seiner Hülle und ließ diese achtlos zu Boden fallen. Es erklang ein dumpfer Ton als sie niederging. Eine Gravur war auf der Klinge versehen, so ineinander verwoben, dass es mehr wie ein Kunstwerk aussah als einfache Wörter. Es zog sich über die komplette Schwertscheide und blieb lediglich dort blank wo die Waffe geschliffen worden war. Da sie ebenso wie ihre ältere Schwester in eine traditionelle japanische Familie hineingeboren war, konnte sie leicht den Unterschied zwischen zwei verschiedenen Waffentypen erkennen. Aus einem geglaubten Katana wurde so mit einem kurzen und geübten Blick auf die prunkvoll verzierte Saya ein Tachi.
„Ich verliere so oder so“, merkte Uranu an, während er sich eine Ausgangslage wand.
„Woher willst du das wissen?“, fragte ihr Zwilling mit klarer Stimme und hob ihre Schwerter auf die Schultern.
„Bist du ein Hellseher?“
Ihr Ton war frei von jeglichen Emotionen. Ein Anblick, bei welchem man zu lachen anfangen wollte und wäre es nicht daran gelegen, dass es sich hierbei um Kuraiko handelte, so hätte es vielleicht sogar dazu kommen können.
„Nein“, kam es in selber Manier von ihm zurück. Er wurde jedoch im nächsten Moment wieder Ernst.
„Aber ich bin immer noch leicht angeschlagen“, verwies er auf seine bandagierte Schulter. Besorgnis blinkte für den Hauch einer Sekunde in den roten Orben ihres Zwillings auf. Es faszinierte Yuna jedes Mal auf neue solch affektive Empfindungen ihrer älteren Schwester in der Blüte einzufangen. Es machte Nēsan... echter, lebendiger und menschlicher. Diese raren Momente bewiesen, dass sich mehr hinter der gefühllosen Killermaschine oder dem Engel aus Porzellan, welchen sie wie keine Zweite mimte, versteckte, als sie den Anschein vorgab.
„Ich gehe es leicht an.“
Man hörte jemanden im Hintergrund schnauben. Die Bluenette verwettete ihr geliebtes Nodachi Tsuki dafür, dass es Ares dieser inkompetente Idiot war, welcher sich zu solch einer offenen Zurschaustellung seiner Gefühle hatte hinreisen lassen. Da es nicht in ihrer Natur lag längere Zeit einen Groll gegenüber jemanden aufrechtzuerhalten, hatte sie dem Giftgrünen - anderes als ihr Zwilling - seine unhöfliche und arrogante Haltung ihr gegenüber verziehen. Kuraiko hingegen machte ihm seit deren desaströsem ersten Aufeinandertreffen das Leben sprichwörtlich zur Hölle. - Jedenfalls hatte Ares es einmal als solche definiert. Hölle. Fünf Buchstaben. Ein Mädchen. Ein Ziel. - Ihn ins Elend stürzen. Es machte ihrer Schwester sichtlich Spaß diesen 'Traum' zu verwirklichen. Das konnte sie ihr ansehen. Es war nicht so, dass dieser selbstgefällige Idiot nicht hin und wieder eine Zurechtweisung verdient hätte, allerdings war ihr Zwilling immer so ernst und gleichzeitig doch so verspielt, wenn sich mit ihm oder irgendjemand anderes in dieser Hinsicht befasste.
Kuraiko entspannte ihren Kopf mit einer Drehbewegung und ließ gleichzeitig beide Arme lustlos gen Untergrund fallen und zwar so, dass die Klingenspitzen ihn gerade so berührten. Ein seltsames Funkeln trat in ihre roten Tiefen und warnten einen vor dem nahenden Unheil.
„Dann lass es uns testen, wie lange du aushalten kannst, Ranu.“
Sie täuschte einen Angriff von rechts an und wie erwartet versuchte er seine verletzte Seite zu schonen, indem er mit links antwortete. Augenblick zog sie mit der anderen Klinge nach, doch erneut war die Glücksgöttin zur Stelle und er wich der Spitze um eine Haaresbreite aus.
Jedes Mal wenn sich ihre Schwerter kreuzten, war es, als würde man Donner mit Donner bekämpfen. Sie prallten aneinander ab, nur um Sekunden später wie geölte Blitze wieder aufeinanderzutreffen. Ein ewiger Kampf um Dominanz. Es war nicht nur das Handwerk und Können, welches der Kanadier aufbot, sondern auch die Tatsache, dass er sich gegen einen der berüchtigten Zwillinge mehr als eine halbe Stunde in einem reinen Schwertkampf ohne Hilfsmittel behaupten konnte, die ihn zu einem gefährlichen Gegner machte. Niemand hatte geahnt, dass er neben dem Pilot sein ein anderes Metier kultivierte noch, dass er so gut darin war. Nun, stille Wasser waren eben tief und genau dieses Sprichwort traf auch hundertprozentig auf Uranu zu. Sein Kampfstil hatte nichts mit roher männlicher Gewalt zu tun, weder mit dem verführerisch tödlichem Klang von Kuraiko, noch mit der sanften Note, welche Yuna mit sich führte. Es war die ideale Symphonie aus allen drei.
Entgegen seiner leichten Verletzung hielt er sich relativ gut, allerdings nicht gut genug. Mit seinem schwachen Schulterarm parieren müssend, konnte er der Wuchtigkeit ihres nächsten Hiebs kaum etwas entgegenbringen. Der Dunkelhaarige wankte gewaltig nach diesem harten Schlag von ihr. Eine Gegebenheit, welche ihre tätowierte Schwester sofort ausnutzte. Mit einem kräftigen Fußkick schlug sie ihm das Tachi aus der Hand. In der Drehung wirbelte sie sich die Katanas zurecht. Kaltes Metall berührte seinen Hals. In bedrohlicher Kreuzoptik lagen die Klingen vor ihm, allzeit bereit ihm die Kehle durchzuschneiden. Blau traf auf rot. Uranu blickte in Pupillen wie flüssiges Blut.
Yuna sog scharf die Luft ein. Egal wie oft sie diese kritische Stelle schon miterlebt hatte, so raubte es ihr doch jedes Mal aufs Neue den Atem. Der Beweis, dass obgleich sie Freunde ja beste Freunde - waren, Nēsan ihn jederzeit töten könnte. Einfach so. Ohne mit der Wimper zu zucken.
Letztendlich durchbrach die Grünhaarige die gespenstige Stille mit gewohnt reservierter Tonlage.
„Gut gekämpft.“
In einer flüssigen Bewegung hatte sich erst nach unten gebeugt nur um dann mit seiner japanischen Waffe in der einen und ihren Schwertern in der anderen Hand wieder aufzutauchen. Mit einem Geisterlächeln auf den Lippen übergab sie ihn das Tachi, welches er ohne Widerspruch annahm und sahen sich anschließend eine gefühlte Ewigkeit an. Stumm und ohne Worte kommunizierten sie miteinander, dann tänzelte ihr Zwilling ohne den Blick schweifen zu lassen zu den weiblichen Duschräumen und verschwand hinter der zugehenden Schiebetür ins Nichts. Ein Stöhnen holte Yuna aus ihren Gedanken. Augenblicklich sah sie nach rechts. Uranu rieb sich seine demolierte Schulter, verkniff sich gerade so ein weiteres Aufkeuchen. Im Nachhinein hätte er Kuraikos Aufforderung vielleicht doch ablehnen sollen, denn eines musste man ihr lassen: Ihre Kraft konnte man so schnell nichts entgegensetzten. Nicht wenn diese in Kombination mit ihrer außergewöhnlichen Schnelligkeit gespielt wurde. Er sah schon mental vor sich die Doc, wie sie ihn mit ihrer Ich-hab-dir-doch-gesagt-du-sollst-dich-nicht-überanstrengen-Miene missbilligend anstarrte und dann kopfschüttelnd ihn zu sich her winkte.
„Urgh...“
„Was ist?“, fragte Yuna, Besorgnis kroch sich in ihre Stimme. Auch wenn der Kanadier sich gut - zu gut - mit ihrer Schwester verstand, so sorgte sie sich immer noch um jeden Einzelnen bei der Umbra. Die ISAAC mit der Führungsriege hingegen konnte ihr getrost am Arsch vorbeigehen. Er blickte sie prüfend an.
„Doc“, lautete schließlich seine einsilbige Antwort. Typisch. Er sprach nie viel und sah es wahrscheinlich sogar als Verschwendung seiner kostbaren Atemluft an mehr als vier Sätze am Stück zu reden. Nicht ganz die Wahrheit und doch nicht traf man bei dieser Vermutung nicht völlig ins Schwarze. Es stimmte zwar das er vom vielen Reden nichts hielt, aber nur wenn er nicht mit seinem engsten Freundschaftskreis zusammen war. Außerhalb dieses kleinen Gremiums war es schwer mehr als ein paar Zeilen aus ihm herauszukitzeln. Uranu war eben... eine private Person.
„Oh.“
Yuna verzog ihr Gesicht in Sympathie. Was hätte sie schon großartig darauf antworten können? Jeder kannte die werte Dame, welche in in ihrem Arztkittel zum richtigen Biest werden konnte, sollte sie es als angebracht und nötig erachten. Die Frau meinte es ja gut, allerdings schoss sie öfters mit ihren ehrlichen Absichten übers Ziel hinaus. Besonders Lightning war ein oft gesehener 'Gast' in ihrem bunt koloriertem Krankenflügel. Sehr zu Docs Missfallen, welches sie auch gern zum Ausdruck brauchte. Insgeheim glaubte Yuna jedoch, dass sie längst aufgeben hatte den 19-Jähringen zu belehren, jedoch es aus Gewohnheit immer noch tat.
„Sag ihr, dass sie mich auf meinem Zimmer finden kann“, richtete Uranu sein Wort zum ersten Mal direkt an Yuna und wand sich zum Gehen. Je eher er bei der Doc war, desto schneller konnte er hinter sich bringen.
„Natürlich“, nickte sie ihm zu, während er sich ungeduscht und verschwitzt auf dem Weg zum Krankenflügel machte. Wenn er nicht mal erst für sein unhygienisches Auftauchen gerügt werden würde...
Eine neue Stimme drang an ihr Ohr.
„Leicht? - Das ich nicht lache! Die Wahnsinnige ist ihn so hart wie immer angegangen!“, höhnte Ares ohne Scham und wischte sich nebenbei das nasse Gesicht mit einem Handtuch ab, während er den Dunkelhaarige aus dem Raum wirbeln sah und trat an sie heran. Yuna rümpfte die Nase. Ares roch im wahrsten Sinne des Wortes einfach umwerfend. Kein Wunder, wenn der seit einer gefühlten Ewigkeit ohne Pause in der Fitnessecke am schuften gewesen war und sich erst jetzt eine längere Rast gönnte.
„Ich würde das nicht behaupten“, ergriff Yuna die Defensive für ihren Zwilling. Er schnappte sich eine Flasche und trank daraus, ehe er den Rest über seinen verschwitzten Kopf kippte. Sein ärmelloses Shirt verfärbte sich an den nassen Stellen dunkel. Eisblaue Orben blickten sie zweifelnd an. Als ob Kuraiko überhaupt jemanden sanft angehen würde! Dieses Mädchen war durch und durch ein Fall für die Klapse. Eine Psychopathin wie sie im Buche stand.
„Sie hat fast ausschließlich einfache Figuren genutzt. Jemand wie du, welcher zumeist Schusswaffen gebraucht-“
„würde das niemals verstehen“, beendete eine weibliche Stimme Yunas Satz. Kuraiko Nēsan. Ihre Schwester hatte sich still und heimlich zu ihnen gesellt und dem Gespräch in gewohnt passiver Manier beigewohnt, ehe sie den passenden Moment zum Unterbrechen wie auf einem Silbertablett serviert bekommen und genutzt hatte. Von ihrem Haar perlten vereinzelt Wassertropfen hinunter. Ihre schlichte Trainingskleidung war einer schwarzen Korsage mit passender Hose und Gürtel gewichen und ihre Katanas – sicher verwahrt in deren entsprechenden Schwerthüllen – waren locker mit einer Hand umgriffen.
„Wo ist Ranu?“, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Jüngere, ignorierte Ares für den Moment völlig.
„Bei der Doc. Du kannst später bei ihm vorbei schauen, hat er gesagt“, antwortete Yuna ihr wahrheitsgemäß und fuhr sich durch die Spitzen ihres Haars. Kuraiko nickte gedankenverloren.
„Ah. Ah. Ah“, sagte die Grünhaarige plötzlich und legte einen Arm um den Hals des Flüchtenden. Ares schluckte als er ihren heißen Atem in seinem Nacken spürte. Langsam löste sich der Arm, stattdessen rann nun eine dünne Spitze von seinem Ohr hinab zu seiner Schlagader. - Verbesserte seine Lage nicht gerade, denn es war ein Dolch. Eines ihrer Lieblinge wie er aus den Augenwinkeln feststellte. Jedes Messer hatte nämlich bei ihr eine bestimmte Bedeutung. Das schwarze Metall was ihm entgegen glänzte, war eines ihrer besonders geformten Kunais. Mit drei Zacken keine gewöhnliche japanische Waffe, sondern eine Sonderanfertigung. Selbst entworfen. Gefertigt in einer alten Schmiede irgendwo in den Hochebenen ihrer Heimat Japans. Ein sicheres Indiz, dass sie spielen wollte, denn es war eines ihrer Jagdmesser. Wenn sie ernst machte, war es anders. Verspielter. Kreativer. Nicht zu vergessen tödlich. Er war schon öfters am anderen Ende eines dieser Dinger gestanden. Kein tolles Gefühl. Absolut scheiße passte da eher ins Bild.
„Ares. Ares. Was mache ich mit dir?“, säuselte sie in sein Ohr. Seine Nackenhaare stellten sich bei ihrem süßlichen Ton auf. Yuna überlegte einzugreifen. Er müsste es eigentlich besser wissen und mittlerweile sollte es Ares doch gelernt haben... - Sie hatte seinem Grips wohl zu viel abverlangt. Diese Suppe konnte er jetzt dann auch getrost selbst ausbaden.
„Wie wäre es...“, hauchte Kuraiko und verstärkte den Druck an seiner Kehle.
„...damit...?“
Instinktiv sah er von seinen Unterlagen auf und in Richtung Tür. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Er hatte Recht behalten. Nach Jahren des Zusammenlebens war es ein Kinderspiel für ihn ihre Anwesenheit wahrzunehmen.
„Kuri“, nickte er ihr zu, doch Kuraiko ignorierte es. Sein Stirn legte sich in Falten. Normalerweise sah sie ihn wenigsten an, wenn sie nicht schon mit Worten um sich schmiss. Das sie ihn gänzlich außer Acht ließ, verhieß nichts gutes.
„Er war dort. In Nepal.“
Er fühlte sich wie ins eiskalte Wasser geworfen. Augenblick verhärtete sich sein Blick und er spannte ohne es zu bemerken seine Muskeln an. Sie hatte ihm zwar gesagt, dass sie etwas herausgefunden hatte, doch nicht was. Ohne Umschweife fuhr sie fort, ließ ihm nicht genügend Zeit das Gehörte angemessen zu verarbeiten.
„Dieser Bastard! Er- Der Nächste Stopp lautet Stockholm-“
„Wo ich dabei sein werde“, warf er ruhig dazwischen. Kurze Überraschung huschte über ihr Gesicht, ehe es in Stein gemeißelt zurückkam.
„Schau nicht so. Bis dahin ist diese scheiß Schulter wie neu und bin keine Bürde mehr für dich.“
Wie vorausgesehen war die Doc wenig begeistert gewesen und hatte ihm praktisch gedroht, dass wenn er die nächsten Tage seine Schulter nicht schonen sollte, sie ihn mit aller Gewalt ans Bett fesseln und erst wieder von seinem Matratzengefängnis befreien würde, wenn sie ihn für hundertprozentig gesund hielt. Tolle Aussichten und von daher hielt er sich auch gewissenhaft daran. An der Ehrlichkeit ihrer Worte gab es nämlich keine Zweifel. Lightning war schon vermehrt zu strengster Bettruhe verordnet worden und noch öfters hatte er ihren Zorn auf sich gezogen, weil er mit halb verheilten Verletzungen sich erneut in eine Mission gestürzt hatte. Da konnte der 19-Jährige einem förmlich Leid tun, denn irgendwie schaffte er es immer sich bei einem Einsatz eine unangenehme bis schwere Wunde zu zuziehen. Jedes Mal. Entweder war das göttliche Fügung oder einfach nur verdammt schlechtes Karma. In seiner Haut wollte Uranu jedenfalls nicht stecken.
„Außerdem kann ich dir deinen Rücken stärken. Ich bin nicht umsonst trainierter Nahkämpfer. Das sollte man ausnutzen.“
Das waren nicht die einzigen Gründe. Er wollte nicht länger an der Seitenlinie stehen und mitansehen wie sich Kuraiko in ihren Rachegelüsten langsam aber sicher immer weiter verliert. Der unfreiwillige halbjährige Stopp in ihrer Suche hatte fatale Auswirkungen auf ihren Charakter gehabt. Ein Auftrag jagte den Nächsten und trug ihren Ruf zu neuen und ungeahnten Höhen. Es stellte all ihre davor gewesene Emsigkeit in den Schatten und machte aus ihr einen regelrechten Auftragsjunkie. Besser eine verbissene Kuraiko als der Alternative ins Antlitz blicken. - Doch war das wirklich besser? Eine Antwort darauf wusste er nicht, konnte sie ums Verrecken nicht geben. Natürlich war es nicht gut und für ihre ohnehin geschundene Seele der sichere Weg ins Grab, aber was tun, wenn sie wie ein sturer Bock weitermachte? Uranu wünschte sich nichts weiter als das sie glücklich wurde. Hiermit bezweifelte er es jedoch stark, doch wenn es das war, was sie wollte, dann würde er sie mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, unterstützen. Familie half man und Kuri war Familie. Es zählte keine Verwandtschaft durch Blut wenn die Verbundenheit im Herzen viel größer war.
„Das tut hier jetzt nichts zur Sache. Ranu-“
Sie betonte seinen Namen, gab ihm eine verschwörerische Note.
„Du bist mir kein Klotz am Bein. Warst es niemals und wirst es nie sein.Im Gegenteil! Jeder kann sich verletzten. Selbst ich“, hielt sie ihm feurig entgegen und diese Flammen schlugen auch auf ihre Augen um. Sie baute sich vor ihm auf - schlanke 1 m 72 cmgegen breitschultrige 1m 82 cm - und zwang ihn in ihre Seelenspiegel zu blicken.
„Du bist keine Bürde!“, wiederholte sie eindringlich und starrte ihn nieder.
„Ach ja?“, erwiderte er höhnisch und riss sich von ihrem Anblick los und sah zur Seite. Dort an der Wand hingen Bilder und Fotos vergangener Tage. Zeiten, wo sie noch glücklich waren, wo Kuri noch unbeschwerter war und nicht so verbittert auf ein einziges Ziel hinarbeitete. Er suchte erneut den Augenkontakt.
„Was war mit Shanghai? Was war mit Detroit? - Oder hast du vergessen was in jener Stadt passiert war?“, erwiderte er ebenso heftig, wie sie ihn hatte aufbauen wollen. Immer war er der Leidtragende bei diesen Schauplätzen gewesen. Der Verletze. Der, welcher sie hinuntergezogen hatte, anstatt ihr aktiv beizustehen. Dieses Mal wollte er es nicht so weit kommen lassen. Nein. Er wollte endlich handeln und das Versprechen einhalten, welches er ihm gegeben hatte. Fernerhin glaubte er nicht daran, dass sie allzu gnädig mit dem nächsten Informanten umgehen würde. Der Letzte war ein reinstes Desaster gewesen.
„In jener Stadt wo sie - er - gestorben sind?“
In seinem aufkommenden Zorn hatte er sich zu Worten hinreisen lassen, die unverzeihlich waren. Uranu bereute seine harsche Wortwahl unverzüglich, wissend, was diese Sätze in ihr auslösten, doch was getan war, war getan. Er konnte es nicht mehr rückgängig machen.
Ihr Gesicht verlor jegliche Farbe, vertiefte den Kontrast zwischen Haut und Tätowierungen ins Abnormale und ihre Orben wurden zu glanzlosen Rubinen, in welchen der Schmerz der Erinnerung allgegenwärtig war.
„Wa...s...?“, fragte sie, deutlich in Schock. Einige Minuten der absoluten Stille, dann-
„Wage es ja nicht auf dieser Schiene mit mir zu fahren Ranu! Wage es nicht! Du weißt genauso gut wie ich was uns in dieser Stadt genommen wurde! Beinahe hätte ich euch beide begraben müssen! Euch beide!“, brauste sie auf. In diesem Augenblick war sie alles, was man von ihr seit jeher behauptete. Eine unkontrollierbare Killerin. Ein Monster. Ihre Pupillen waren mit kalter Wut gefüllt und ihre Schultern bebten. Wie konnte er es sich erlauben so etwas in den Mund zunehmen? Wie? Adriens Verlust war schwer genug gewesen, wäre er ebenfalls seinen Verletzungen erlegen - Sie wüsste nicht, was sie getan oder nicht getan hätte. Wusste es bis heute nicht.
„Ich-“, versuchte er sich zu rechtfertigen, fand jedoch keinen Anfang. - Wie auch, wenn sie die Wahrheit gesprochen hatte?Oh Gott verdammt nochmal ja! Er wusste wie viel dieser Ort ihnen genommen hatte. Eine Familie. Einen Bruder. Blutsverwandte hatten dort nicht gezählt. Sie hatten lediglich sich gehabt. Wo waren seine Geschwister zu dieser Zeit gewesen? Seine Eltern? Wo waren die Ihren gewesen? Ihr jüngerer Zwilling? - Nicht da. Es traf sie keine Schuld und doch änderte es nichts an der Tatsache, dass sie diese Zeit seines/ ihres Lebens verpasst hatten.
„Es... es tut mir Leid, Kuri. Ich...“
habe mich verleiten lassen.
„Er ist fort, tot! Adrien ist tot, Ranu. Er ist tot. Er kommt nicht wieder. Er ist tot!“, wiederholte sie unaufhörlich und ihre Tonlage driftete immer weiter ins Hysterische ab. Sein Tod war ein harte Schlag mitten ins Gesicht gewesen. Für alle, doch am aller schlimmsten für sie.
„Scht. Scht“, versuchte er sie beruhigen und legte behutsam eine Hand auf ihre Schulter. Kuraikos einzige Reaktion bestand darin, dass sie ihn fest an sich zog und ihr Gesicht in seiner Brust vergrub. Uranu hätte nicht damit anfangen sollen. Nicht mit diesem Thema. Sie war seit jeher sensibel auf alles was damit auch irgendwie bloß im entferntesten Sinn zu tun hatte. Höchst feinfühlig. Das war ihre andere Seite. Die Fühlende. Die Leidende. Die Liebende. Der Gegensatz zu ihr kalten und herzlosen Ader. Ein Ausriss aus ihrem Größenwahnsinn. Das letzte Fünkchen Menschlichkeit was er in ihr spüren konnte.
„Du weißt, dass Adrien für immer in unseren Herzen wohnen wird“, flüsterte er nach Minuten der Stille und strich ihr übers dunkelgrüne Haar. Der Kanadier war alles was ihr nach jener Nacht geblieben war und die Glutäugige war alles was ihm noch geblieben war. TEF existierte nicht mehr. Diese Splittergruppe der ISAAC war gefürchtet gewesen für ihre Skrupellosigkeit und Effizient, mit welcher sie die Verräter - Runners - verbissen, manchmal bis ans andere Ende der Welt, verfolgten und letztendlich zur Strecke brachten. Es gab dieses Abteil nicht mehr. Nicht seit jener Stadt. Nicht seitdem dieser Bastard sie dort verraten hatte und die gesamte Mannschaft in den sicheren Tod geschickt hatte. Es hatte nicht einmal eine Handvoll der circa gut 20-Mann starken Truppe überlebt. Sie wurde beinahe restlos ausgelöscht. Nur die beiden Jüngsten hatten diesem Grauen knapp entgehen können. Er und sie.
„Ich weiß“, kam es gedämpft durch sein Shirt zu ihm. Ohne Uranuwäre der letzte Glanz in ihren Augen längst erloschen. Egal wie sehr ihre Schwester Yuna dem entgegengewirkt hätte. Ohne ihn würde ein weiterer Bruder in ihrer Mitte fehlen und das hätte sie endgültig zerbrochen. Siegenden Wut kochte in ihr auf.
„Er wird dafür bezahlen“, deklarierte sie harsch. Ihre Finger verkrampften sich in dem Stoff.
„Für alles.“
„Ja das wird er“, stimmte er ihr eisern zu und drückte sie fester an sich. Seine blauen Augen funkelten wie wild.Van Dryar würde nicht damit davon kommen. Nicht solange er unter dem Lebenden wanderte. Dieser Bastard würde seine gerechte Strafe noch bekommen. Dryars Tod würde die Seelen der Gefallenen ruhen und Kuri endlich wieder frei leben lassen.
Unterricht, später Morgen
„Dann sagte sie, dass ich viel zu...“
Yuna blendete ab diesen Punkt alles Gesagte aus, den immerwährenden Redefluss nicht mehr ertragen könnend. Dari war freilich eine gute Freundin von ihr, doch manchmal war das Mädchen schlichtweg anstrengend. Besonders dann, wenn sie ihre gesamten Probleme und/oder den neusten Tratsch bei ihr abladen wollte. - Wie jetzt. Sehnsüchtig beäugte sie die Uhr, den Zeiger bittend auf die volle Stunde zu springen, sodass sie dem Wasserfall an Wörtern ihrer Banknachbarin entkommen konnte.
„Yuna. Yuna?“, jemand stupste sie von der Seite an. Sie sah von ihrem Heft wie von der Tarantel gestochen auf.
„Hu? - Oh sorry. Was hast du gerade gesagt?“
Entschuldigend hörte sich anders an, doch es schien Dari nicht wirklich zu stören, denn sie machte weiter wie zuvor. Sie hatte sogar die Freundlichkeit ihre Frage zu wiederholen. - Immerhin wollte Daria die Meinung der Bluenette dazu unbedingt erfahren.
„Was hältst du eigentlich davon, dass ich in der Wanderwoche feiern will?“, fragte die Braunhaarige vollen Ernstes. Yuna widerstand der Versuchung mit den Augen zurollen tapfer. Dieses Thema hatte Dari in den vergangen Wochen immer wieder durchgekaut. So langsam nervt es nur noch.
„Daaaria! Wir hatten das schon.-“
„Ja, aber ich will trotzdem nochmal deine ehrliche Antwort dazu wissen“, unterbrach sie sie ohne sich darüber im Klaren zu sein.
Im Grunde genommen war es sich nicht die Mühe Wert Freundschaften außerhalb der Umbras aufzubauen. Die ganze Geheimniskrämerei belastete auf Dauer jedes Verhältnis. Überwiegend weil man nicht immer eine stichhaltige Ausrede fabrizieren konnte, warum man kaum am Wochenende präsent war oder lediglich sporadisch zu Nachmittagsunternehmen kommen konnte. Außerdem, wie sollte man die unzähligen Verletzungen erklären, ohne dass man als Opfer Misshandlungen dastand oder die Fehltage/-stunden, die sich manchmal wöchentlich einschlichen? - Trotzdem kultivierten viele Mitglieder ebensolche Beziehungen mit besonders viel Sorgfalt und steckten dort ihre Energie und Fleiß hinein. So auch sie. Daria war per seh kein Zuckerschlecken und nicht selten war die Bluenette versucht gewesen ihr ohne nennenswerte Erklärung die Freundschaft zu kündigen, gerade weil es zu viele Anstrengungen mit sich brachte. Genauso oft hatte sie sich zurückgehalten, da sie im Hinterkopf behielt, dass andere vor ihr dieses Hindernis ebenfalls gemeistert hatten die eine von der anderen Welt zu trennen.
„Mach das, was du für richtig hältst Es ist dein Geburtstag, oder nicht?“, raunte Yuna ihrer Sitznachbarin zu. Das Gespräch war zu ihrem Verdruss nicht zu Ende. Dari machte munter weiter ohne darauf zu achten wo das Augenmerk des Lehrers war.
Prompt wurde sie für ihre Unachtsamkeit gestraft.
„Miss Atàcana attention to me please. Not to your neighbour.“
„I'm sorry, Mister Taven“, beeilte sie sich zu sagen und sah auf ihre Unterlagen.
Eine viertel Stunde später schob die Braunhaarige einen kleinen Zettel auf Yunas Tischhälfte.
„Reden wir in der Pause darüber nochmal?“, stand in sauberen Lettern darauf. Der Zwilling hatte das Bedürfnis sich mit dem Kopf an der Tischplatte zu schlagen. Konnte Dari nicht einmal ein Thema, welches wirklich duzen Male durchgekaut wurde, ruhen lassen? Verstand das Mädchen ein simples 'Nein' etwa nicht, wenn es auf der Hand lag?
„Natürlich.“
Frische Seeluft blies vom Fenster durch ihr Zimmer herein, gab dem Raum eine salzige Note. Die Luft tief einatmend, drehte sie sich auf ihrem Bett zur Meerseite um und öffnete zaghaft ihre Lider. Licht stahl sich durch die Ritzen der Jalousien und tauchten ihr Zimmer in ein Streifenmuster ein. Gähnend stemmte sie sich mit einer Hand von ihrem weichen Untergrund, hielt sich mit der anderen den Mund und setzte sich auf. Jemand war mit ihr im Raum. Sie wollte einen Namen sagen, doch da verschwamm das Bild vor ihren Augen.
Rot. Diese Farbe, war das Erste was sie sehen konnte, nachdem sie ihre Sehkraft zurückerlangt hatte. Überall rot. Blut. Überall Trümmer. Das Gebäude in welchem sie sich befand, war ein einziges Schlachtfeld. An den zerstörten Wänden prangten Spritzer des Lebenselixiers, ebenso wie am Mobiliar und am Boden. Panik begann in ihr aufzuwallen, wie die Ruhe vor dem Sturm. Der Geruch von Rauch drang stechend in ihre feine Nase. Die glühende Hitze der Flammen war nicht mehr weit entfernt von ihrem Standort. Sie setzte ihre Beine in Bewegung und rannte aus dem Raum. Die beiden Personen, die am Boden direkt davor lagen, übersprang sie achtlos. Nichts zählte mehr für sie, außer eines: Ihre Brüder finden. Für das Pärchen war es ohnehin schon zu spät. Sie waren tot.
„Rian! Ranu!“, schrie sie.
„Wo seit ihr?“
Normalerweise unterdrückte sie Emotionen, sah sie als nicht notwendig an ein Umfeld zu verschwenden, welches sie nicht kannte und dessen Bewohner sie keinen Deut vertraute, doch dieses Mal war es anders. Diese Situation unterschied sich von denen, in welchen sie schon gewesen war. Jemand hatte sie verraten. Keine Antwort war zu hören. Der Gang schien endlos in ihren Augen und der Kloß in ihrem Hals wuchs zu einem Frosch heran. Sie versuchte es erneut. - Dieselbe Reaktion. Nichts.
Jemand brüllte. Ihr Herzschlag setzte einen Moment lang aus. Kalter Schweiß packte sie, während sie scharf die Richtung wechselte und dem Lärm entgegen sprintete. Der Rauch, welcher in ihr Gesicht blies, machte ihr zu schaffen. Trotz der Zugluft, welche ihn in diesen Gang trieb, kämpfte sie sich verbissen voran.
„Rian! Ranu!“, rief sie zum dritten Mal, stieg erneut über kalte Leiber hinweg. Dumpf nahm sie wahr, dass es Cadiem und Loreley waren, die da lagen.
„Wo seit ihr?“, rief sie verzweifelt und polterte in den ehemaligen Gemeinschaftsraum. Es war riesiges Trümmerfeld geworden. Schlimmer als auf ihrem Weg hierher die anderen Räume, die sie in höchster Eile passiert hatte. Nichts schien mehr ganz. Die Stühle waren umgeschmissen oder gar ganz zerlegt worden. Die restliche Einrichtung war in keinem besseren Zustand. Schusslöcher zierten das Zimmer wie eine morbide Form der Raumdekoration. Allerdings, dass was sie auf der Stelle gefrieren ließ, war nicht der demolierte Ort, sondern die beiden Gestalten die inmitten der Chaos miteinander ohne sichtbaren Waffen kämpften. Es war eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe ungeachtet der Tatsache das einer von ihnen eine Dekade älter war wie sein jüngerer Kontrahent. Was der Mann mit seiner Kraft und Erfahrung mit einbrachte, machte Rian durch seine Agilität und einzigartige Technik wett, die er für sich selbst und alleine entwickelt hatte. Beide waren lädiert, zeigten die Länge des Kampfes an, dennoch schien niemand nachgeben zu wollen.
„Rian! Pass auf!“, stieß sie plötzlich aus, die Starre behoben und sprintete los. Der Ältere hatte unerkannt einen spitzen Dolch aus seinem Ärmel geschüttelt. Den jungen Mann aus der Gefahrenzone bringen wollend, bemerkte sie nicht wie hinter ihr jemand einen Lauf in ihre Richtung schwenkte; den Zeigefinger auf dem Abzug.
„Kuri!“, schrie eine männliche Stimme desperat aus. Der Schuss löste sich. Sie sah nach hinten, gleichzeitig stoppte der Kampf beider Männer für wenige Wimpernschläge. Eine Kugel flog direkt auf sie zu. Zeit war bedeutungslos in diesem Moment geworden.
„Kuri!“, gellte Rian auf. Hoffnungslosigkeit in seinem Blick als er mitansehen musste, wie sie ihrem Tod ins Antlitz blickte. Es war zu spät für sie auszuweichen. Zu spät für ihn etwas auszurichten.
Ihre Augen weiteten sich. Sich zur Seite drehend, wusste sie, dass der Schuss unausweichlich war. Auf einmal rammte sie etwas, nein jemand so hart zu Boden, dass ihr die Luft zum Atem wegblieb. Schützend schirmte er sie ab und rettete somit ihr Leben, indem er sein Eigenes nach hinten stellte. Ihre Lider aufreißend, entließ sie einen markerschütternden Schrei...
Erinnerungen, sie verfolgten einen bis ans Ende der Welt und darüber hinaus. Entgegen all deiner Bemühungen sie abzuschütteln blieben sie hartnäckig bis zum bitteren Schluss an deiner Seite. Fluch wie Segen zugleich. Niemand konnte ihnen entkommen, so sehr man es sich auch wünschen mochte. Sie fanden immer einen Weg. Immer.
Auffällig blinzelte Kuraiko einige Male, ehe die Bilder vor ihrem inneren Augen endlich ins Nichts verblassten. Zurzeit wurde sie wieder öfters von solchen Rückblenden heimgesucht. Wie rachsüchtige Geister überfielen sie ihre Gedanken und tauchte ihre Welt in düstere Traurigkeit und unbändigen Zorn. Damals... ja damals war sie so schwach gewesen. Hilflos. Genau so hatte sie an jenem Tag, in jener Stadt gefühlt. Mehr Hindernis als eine Unterstützung. Eine Belastung. Bei der Ironie die hinter diesem Wort steckte, lachte sie zynisch auf. Ranu hatte das selbe behauptet. Er, der jenen tödlichen Schuss abgefangen hatte. Jener Schuss, welcher ihr gegolten hatte. Bereitwillig hatte er sich in die Schussbahn geworfen und ihr damit ihr erbärmliches Leben gerettet. Dieser dummer dummer Junge! Er war viel mehr wert als sie. Warum hatte er also dann getan? Warum war er freiwillig in seinen sicheren Tod - diesem war er wahrlich nur knapp entronnen - gegangen? Früher war ihr die Relevanz seiner Tat nicht bewusst gewesen. Anstatt ihm zu danken, hatte sie ihm, als er aufgewacht war, die schlimmsten Beleidigungen unter der Sonne an den Kopf geschmissen, ehe sie sich in seine Arme warf - dabei seine Schmerzen geflissentlich außer Acht ließ - und ihm befahl so etwas hirnrissiges und absolute unnötiges nie wieder zu tun. Zu frisch war der Verlust Adriens und zu durcheinander ihr Kopf gewesen, als dass sie daran gedacht hätte, dass Ranu sie schützen wollte, weil er es gekonnt hatte und nicht wegen ihrer wichtigen Funktion in der ISAAC ihr das Leben gerettet hatte. Natürlich hatte sie irgendwann das 'Warum?' verstanden und jetzt, Jahre später gab es nichts wichtigeres für sie als ihre Familie. Familie. - So ein mächtiges Wort. So eine starke Bindung. So eine kraftvolle Bedeutung. Mit ihr war und wird man niemals alleine auf dieser Welt sein. Niemals, denn solange man an dieses kraftvolle Band glaubte, gab es nichts, was man nicht gemeinsam stemmen konnte. Kuraiko war nie allein. Ranu, Yuna, Adrien... - All jene, die hoch in ihrer Achtung lagen; mit ihnen zusammen war sie nicht allein.
Gelassen schwang sie ihr Beine zurück und stand galant auf. Sich von der wunderschönen Skyline nicht einfangen lassend, drehte sie vom Rand des mehrstöckigen Gebäudes weg. In den Nachthimmel blickend, verflog auch der letzte Anflug an Nostalgie, welcher sie befallen hatte und machte Platz für ein kalte Maske der Gleichgültigkeit. Schwäche war nämlich etwas, was ihr nicht erlaubt war zu zeigen.
Weit entfernt im berüchtigten Chamber zog Rainbow sprichwörtlich gesehen an einigen Fäden. Die letzten Vorbereitungen getan, löste er die Entertaste aus um sein Werk wirken zu lassen. Dieses Mädl würde es sowieso nicht anerkennen, doch deswegen machte er seine Arbeit nicht minder gründlich. Nicht das er ihr Schludrigkeit vorwerfen würde... lediglich hin und wieder unverfrorene Taktlosigkeit wenn es um seine Stellung bei der Umbra ging.
Eine vertraute schwarze Sonnenbrille landete auf der Nase der Schwertkämpferin. Einen weichen Druck ausübend, stellte sie die gewünschte Verbindung her und tänzelte zum kleinen Häuschen am anderen Ende des Daches. Lautlos öffnete sie die Tür. - Unverschlossen. Wie töricht.
„Jetzt Rainbow“, hauchte sie süffisant, während sie das Treppenhaus ein Stockwerk hinunter sprintete. Kamerabestückt, doch keine zoomte zu der weiblichen Gestalt mit den auffälligen Katanas auf ihrem Rücken. Personal oder Gäste des Etablissement kamen ihr zu deren eigener Sicherheit und Glück nicht entgegen. Das Hotel war zu dieser späten Stunde wie ausgestorben.
„Längst erledigt“, seufzte es vom anderen Ende der Leitung.
„Ich weiß“, kicherte sie und bog in die Zieletage ein. Achtlos rannte sie an den Kameras vorbei, wissend das sie unentdeckt bleiben würde, wie zuvor im Treppenhaus. Ihre Orben wanderten nach links und rechts. Die Zahlen an den Zimmertüren ablesend.
„W-wieso...? - Vergiss es! Mach einfach deinen Job.“
Seine Antwort war ein Piepen, welches ihm den Abbruch der Verbindung signalisierte. Verdammtes Mädl! Fluchend schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Leider traf er dabei direkt auf die Tastatur.
„Shit! Shit! Shit!“, wiederholte er harsch und hob die herunter gerutschte Brille zurück auf Augenhöhe. Finger flogen nach dieser Geste sofort über die Tasten, darauf bedacht den Fehler zu beheben, bevor Kuraiko von den Wachmännern auf deren Monitoren gesehen werden konnte. Argh! Wie er sie doch hasste. Alles ihre Schuld! Alles die Schuld dieses vermaledeiten Mädls!
Schule, Morgens
Der Unterricht heute war nicht derselbe wie sonst. Jemand fehlte. Sie fehlte. Seit Mittwoch nicht mehr in der Schule, machte eine klare Lücke in den vorderen Reihen auf sich aufmerksam. Ihr Platz. - Ein verwaister Ort. Daneben eine unliebsame Kreatur sitzend. Ihr bester Freund. Verweilte hier, anstatt sich mit ihr - in trauter Zweisamkeit - in Schlachten zu stürzen, wie ein kopfloser Narr.
Er hoffte sie würde die Gängen und Hallen des Valleys diesen Abend von Neuem mit ihrer Anwesenheit entzücken. Hoffen - Mehr durfte er bei ihr nicht, konnte es sich einfach nicht erlauben. Sie- sie war unerreichbar für ihn. Es wäre ohnehin besser, er ließe die Augen von ihr.
Ein klares Lachen. Engelsgleich. Ihr Blick streifte für den Hauch einer Sekunde den Seinen.
Wenn sie ihn nur nicht schon längst mit ihren Blutiriden eingefangen hätte...
„Fehlt heute jemand?“
Frau Shepherds Stimme durchschnitt das bunte Treiben, welches in der Klasse ausgebrochen war, effektiv. Jemand meldete sich.
„Courtney.“
„Ja. Also Kuraiko ist seit Mittwoch krank. Hannah fehlt wegen einem Arzttermin bis einschließlich der dritte Stunde“, antwortete Courtney pflichtbewusst als Absenzenheftführin. Sie lächelte mit übertriebener Freundlichkeit und schob sich eine verirre Strähne aus dem Gesicht. Das Lächeln was so falsch wie ihre karamell gefärbten Haare an dessen Ansatz man die schmutzig blonde Naturfarbe nachwachsen sah.
„Danke Courtney.“
Mit diesen Worten begann der trockene Unterricht. Es war bei weitem nicht langweilig mit Frau Shepherd und ihren zumeist lockeren Stunden, doch das heutige Thema konnte niemanden großartig begeistern Lustsprünge zu absolvieren.
„Ja. Helen.“
Bis auf einige wenige Ausnahmen natürlich. Helen war schlau. Das residierende weibliche Genie in deren Klasse. Ihr blondes Haar trug sie offen. Es fiel ihr über die schmalen Schultern und ein wenig in ihr Gesicht, verbargen zum Teil die intelligenten blauen Augen, welche sie besaß.
„Goethe wurde 1749 in Frankfurt am Main geboren und starb 1832 in Weimar.“
Biografien. - Ein lästiges Unterfangen sie zu lernen. Schlimmer noch: Sie zu können.
„Richtig, Helen. Machen wir weiter.“
Im Schneckentempo ging das Unterfangen Deutschstunde weiter. Zu dem einschläfernden Stoff kam die unerträgliche Hitze, welche seit Tagen das gesamte Land plagte. Da schwitzte man schon beim Nichtstun Rotz und Wasser. Ein Brünetter mit einer einzelnen roten Strähne lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wischte sich mit der flachen Hand über die Stirn. Hinter der schwarzen Brille versteckten sich tiefliegende bitterschokoladenfarbige Augen. Das kantige Kinn mochte auf dem ersten Blick deplatziert wirken, stellte sich jedoch im weiteren Verlauf als passend heraus.
Hatte dieser gequirlte Scheiß von Ministerium noch nie was Hitzefrei gehört? Flammen waren zwar sein liebstes Spielzeug, doch das hier war doch nur noch die reinste Folter. Eine langsame und grausame Folter den armen Schülern etwas in diesen Tropentemperaturen beibringen zu wollen. Loki verfluchte Kuraiko für ihr Glück heute nicht Dasein zu müssen. Liebend gerne hätte er mit ihr den Platz getauscht, anstatt seine ohnehin schon kostbare Zeit in diesem Gefängnis absitzen zu müssen.
„Wenns so weitergeht, geht mir bald der Schweiß aus“, witzelte der Brünette. Sein Banknachbar lachte leise bei dieser Aussage.
„Keine Späße. - Ich werde noch nie so froh sein, wenn wir am Valley sind, wie heute.“
„Oh ja, dort gibt es wenigsten die dringend benötigte Abkühlung, die wir alle brauchen“, pflichtete er seinem Kumpel seit Kindheitstagen zu. Dieser kannte ihn besser als jeder andere, besser sogar noch als seine eigenen Eltern. Was nicht schwer war. Sie wussten nichts von der ISAAC. Nichts von der Umbra. - Wenn man es genau nahm, hatten nur diejenigen Eltern Kenntnis von dieser Organisation und seinem riesigen weltweiten Netz, welche selbst in direkter Verbindung dazu standen. Die Eltern von Yuna und Kuraiko beispielsweise waren hoch renommierte Forscher jener Vereinigung, in welcher auch ihre gemeinsamen Töchter tätig waren und hatten somit ihr zu Hause im Wissenschaftlerblock der ISAAC gefunden. Anders als deren Kinder. Offensichtlich, denn diese fühlten sich in einer der aktiven Splittergruppen - Umbra - sichtlich wohl. Nun, wenigstens bei Yuna konnte man das so ohne weiteres sagen. Bei Kuraiko hingegen war er sich nicht so sicher, ob man diese Behauptung ohne ehrliche Konsequenzen aufstellen konnte. Die Zwillinge waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Während die Ältere alles war, was man sich unter einer Psychopathin mit Engelsgleichen Zügen vorstellte - manchmal vergaß man fast was sich hinter diesem Gesicht verbarg, so eingelullt war man von dessen Sanftheit - , so konnte die andere mit ihrer weltoffenen Ader und ihrem großen Herz jeden für sich gewinnen, wenn sie es versuchte und wirklich wollte. Yuna war ein Sonnenschein ohnegleichen und mit ihrer Hippielebensweise lediglich eine von vielen der außergewöhnlichen Persönlichkeiten, welche man bei ihnen finden konnte. Himmel nochmal! Die Umbra beherbergte - neben ihm natürlich - bestimmt die merkwürdigsten und auffälligsten Jugendlichen dieser Welt. Yuna... ja, wenn man sich sie ansah, dann wusste man wie besonders die Menschen bei den Schattenläufern sein konnten.
„Vielleicht kommt sogar die alte Computereule aus seinem Nest raus.“
„Meinst du?“, fragte er zweifelhaft. Der Schalk blitzte in seinen Augen. Wissend, dass Bow sie hören konnte.
„Hmm... nah, der doch nicht. Alma hat schon Recht, ein Wunder wenn der überhaupt mal nen Fuß aus seinem Nestchen setzt“, bemerkte der Dunkelblonde mit gesichtspaltenden Grinsen, eines welches nicht seine Augen erreichte.
„Die 'alte Computereule' kann euch hören!“, zischte es einige Reihen hinter ihnen bedrohlich. Loki und der Blonde sahen sich einander an, blinzelten einige Male, ehe sie beide ihn völliges Gelächter ausbrachen. Frau Shepherd drehte sich überrascht zu ihnen. Ihr zu tiefst langweilender Monolog über Goethes Werke in seinem letzten Lebensjahren war vorübergehend auf Eis gelegt.
„Was ist denn jetzt schon wieder so lustig, ihr Zwei?“
Stonevalley, um die Mittagszeit herum
„Cane sieh dir das einmal an. Ich brauche deine Expertenmeinung hierzu.“
Genannter ließ vor Schreck die Phiole mit Salpetersäure fallen, welche er eigentlich vorsichtig zu seiner Mischung hatte hinzu mischen wollen. Eine schwarz behandschuhte und zierliche Hand schnellte hinter ihm hervor und fing die Säure, bevor diese auf dem Boden zerschellen konnte, auf.
„Himmel Arsch und Zwirn! Ich war gerade beschäftigt! Verdammt Scheiße nochmal!“, fluchte Cane kräftig und nahm ungeachtet seiner aufbrausenden Ader das Reagenzglas entgegen, welches ihm geduldig ausgestreckt wurde. Da er sich durch seinen eigenwilligen Charakter und der Tatsache, dass sein Mundwerk schlimmer sein konnte als das eines rauen Seefahrers, einen Namen gemacht hatte, wurde er seit jeher mit äußerster Vorsicht angegangen. Zudem war er der residierende Sprengstoffmeister und Chemiker der Umbra. Ein Amt, was in Kombination mit seinem Gemüt als eine gefährliche Mischung angesehen wurde. Wenn man dazu noch in Betracht zog, wie viel er in seinen jungen Jahren schon auf dem Kerbholz hatte, so war es unverständlich warum er immer noch auf freiem Fuß war, anstatt hinter schwedischen Gardinen sein Dasein zu fristen. Das er nicht längst eingebuchtet in einer Jugendstrafanstalt saß, lag lediglich daran, dass er für die ISAAC - entgegen seines noch so jungen Alters - unersetzlich war. Kein zweiter war so kreativ und gut darin Bomben und weiteres zusammenzubasteln, von seinen außergewöhnlichen Chemiekenntnissen mal ganz abgesehen. Es war schlichtweg verantwortungslos jemanden mit solch explizitem Wissen frei herumlaufen zu lassen, sodass die Führungsriege sich dazu verpflichtet gefühlt hatte ihn sicher zu 'verwahren'. - Ob ihm ein Labor und freie Handlungen zu genehmigen dazu beitragen sollte die Gesellschaft vor ihn zu schützen, war dahingestellt. Eines konnte hingegen mit Gewissheit gesagt werden, nämlich dass sein Platz in der Mors tacita nicht unbegründet war.
„Pass das nächste Mal besser auf deine Umgebung auf, dann passiert so etwas kein zweites Mal“, kam ihre Antwort. Ihr Ton ungerührt von seiner harschen Deklaration. Er stieß Unverständliches aus. - Profanitäten wahrscheinlich. Während er die Flüssigkeit mit sichtlich heruntergefahrenen Gemütern sicher verwahrte, legte sie ihm einige dünne Ordner auf den mit Kacheln verkleideten Tisch. Die Ausbeute ihrer neusten Mission. Ein simpler Job. Ihrer Fähigkeiten unwürdig, nichtsdestotrotz hatte sie den Auftrag angenommen. Anders als bei einer personenspezifischen Mission, hätte die Möglichkeit durchaus bestanden abzulehnen, allerdings hatte sie ein winziges Detail in der Auftragsbeschreibung misstrauisch werden lassen, weswegen sie nun hier war. Bei ihm. In Sachen Chemie war Cane ihr erster Ansprechpartner. So gut sie in diesem Fach auch sein mochte, an seinem außerordentlichen Wissen kam keiner so schnell heran.
Cane wischte sich seine Finger an seinem abgewetzten weißen Laborkittel ab und griff nach den Unterlagen. In dem Kleidungsstück sah er mit seinen durch trainierten Muskeln mehr als deplatziert aus. Sein bunt tätowierter rechter Arm plus zugehöriger Schulter vervollständigten das merkwürdige Bild, welches sich bot. Eines, welches nicht zu einer üblichen 'Laborratte' passen wollte. Anderseits musste man sich fragen, warum sollte es?
Mit geübtem Augen überflog er die Blätter, blieb hin und wieder bei einigen Absätzen hängen, vertiefte dort sein Interesse, bevor er weiter machte. In der Zwischenzeit stand sie teilnahmslos daneben. Ihre Iriden allerdings waren wachsam auf alles und doch nichts gerichtet. So unordentlich er außerhalb seiner geheiligten vier Wände war, in seinem Labor herrschten andere Sitten. Nicht selten hantierte er mit gefährlichen Chemikalien, da war ein aufgeräumter Arbeitsplatz das A und O, sonst wäre womöglich längst die Bude in die Luft gesprengt worden. Seine Leidenschaft für explosive Materialien war immerhin legendär und berüchtigt und der Zorn, welchen er - wie einen Sturm - blitzschnell heraufbeschwören konnte, der Grund, warum er Hurricane getauft worden war.
Die Kerbe auf Canes Stirn vertiefte sich zunehmend, gemurmelte Worte drangen an ihr Ohr. Die Grünhaarige sah zurück zu ihm. Äußerlich unbeeindruckt, doch innerlich sehr wohl interessiert.
„Wie ich gedacht hatte... Du bestätigst meine Befürchtungen. Es ist... kontraproduktiv“, stellte sie nüchtern fest und zwirbelte gedankenversunken eine dunkelgrüne Strähne zwischen ihren Fingern.
Seine Wirbelsturmpupillen sahen auf. Grimmig war sein Blick, während er das eine Notizbuch niederlegte.
„Kontraproduktiv?! - Pest und Cholera! Da ist die Kacke mächtig am Dampfen, Schwester!“
Ihre Mundwinkel zuckten verdächtig bei seinem Ausruf. Er ignorierte es rigoros. - Einer der wenigen, die das konnten.
„Hmm... Da war doch mal was gewesen...“, murmelte er abwesend, war plötzlich wieder völlig in seinem Element. Der Tätowierte setzte sich in Bewegung. Sekunden später hörte man ihn in einer kleinen Kammer nebenan rumoren. Der Nebenraum diente als Ablage aller gesammelten Forschungsergebnisse. Das galt für seine wie auch für die auf Missionen mitgenommenen Unterlagen.
Ungeduldig ging er die Etiketten der unzähligen Ordern durch, die sich alphabetisch anordneten. Wo war nochmal diese verdammte...
„Hab ich dich!“
Triumphal zog er einen dünnen farblosen Ordner hervor. Eilig betrat er sein Labor von Neuem.
„Ich bin zwar kein Biologe - auch wenn viel Chemie in diesem Wissenschaftsfeld vorhanden ist - und mit Genetik wenig vertraut...“
Er blätterte durch die Seiten. Gelegentlich schweifte sein Blick zum aufgeschlagenen Notizbuch, um einige Strukturen abzugleichen, ehe er sie als unstimmig deklarierte und zum Nächsten überging. Ihr schien die Ignoranz seinerseits nicht großartig zu stören. Kuraiko stand einfach da und wartete. Was hätte sie sonst tun sollen? Sie brauchte sein Wissen und nicht umgekehrt.
„...aber die Beschreibung und Erklärung eines dieser Modelle, die du mir gebracht hast - Ha! Da ist es!“, rief er freudig aus. Die Glutäugige beugte sich vor um so besser auf seinen Fund sehen zu können.
„Vor zwei Jahren haben wir ein Labor in den Tropen hochgehen lassen. Deine kleine Schwester war so frei und hat alles mitgenommen, ehe ich mit Karacho den Dschungelverein in die Luft gesprengt habe... - ein süßes Feuerwerk es doch gegeben hatte...“
„Ja?“, bohrte sie ungeniert nach und unterbrach damit seine Träumereien. Das Fußtippen hatte gefehlt, um das Bildnis einer Wartenden gerecht zu malen, doch... Kuraiko und ungeduldig wippen? - Eine Vorstellung, die man nicht mit ihr in Verbindung bringen konnte.
„Jedenfalls haben diese armen Schweine die dort in der brüllenden Hitze hatten schuften müssen, eine neue Form der Genmanipulation gefunden. Naja davor hatten sie mit diesen menschlichen Bestien rumgespielt ehe sie ein neues Kapitel angefangen hatten. Eines, mit welchem nich zu spaßen ist. Wenn das wahr ist was in diesen Forschungsergebnissen steht, was du stibitzt hast – Wie viele Tote eigentlich?“, fragte er nebenbei. Seine Augen glänzten bei dieser Frage unnatürlich auf. So wie er bei ihr mit seinem Vokabular davonkam, hatte auch sie den ein oder anderen Vorteil, von welchem andere bloß träumen konnten. Unterbrechen ohne Konsequenzen war eines davon.
„- Dann sind die Nachfolger nach jetzigem Stand kurz vorm Durchbruch – oder eher gesagt: Sie haben bald Prototyp eins.“
„Die Folge?“, fragte sie ruhig nach. Cane lehnte sich in seinem Drehsessel zurück und verschränkte seine Hände hinter seinem Kopf.
„Wandelnde menschliche Panzer, oder Säurebomben. Je nachdem ob sie in letzterer Branche weitergeforscht haben. Eigentlich ist so etwas nach dem wissenschaftlichen Stand der Dinge überhaupt nich möglich. Man kann einzelne Zellen genetisch verändern, doch wir sprechen hier von einem kompletten Organismus. Menschen. So einfach wie es das Papier hier sagt, ist es in Wahrheit natürlich nich. Wir reden hier von jahrelanger - wahrscheinlich sogar von jahrzehntelanger - Forschung! Und jetzt haben sie anscheinend die letzte Komponente gefunden, um Zellen auf molekularer Ebene so zu verändern, dass sie auch in diesem Zustand bleiben und sich nich gegen ihren ihre unnatürliche Form wehren und absterben, wie es die Natur eigentlich vorhergesehen hatte.“
„Mutation ist gewünscht, doch nur die natürliche“, erhob sie das Wort. Soviel aus dem Biologieunterricht hatte sie mitnehmen können, um zu wissen, dass erzwungene Veränderungen auf lange Sicht nichts Gutes hervorbrachten.
„Genau. Deswegen ist das hier“
Cane wedelte mit der Mappe in der Luft herum.
„auch so verdammt Scheiße! Warum musst du auch immer die ganz harten Brocken an Land ziehen?“
Kuraiko legte ihren Kopf schief und wäre es nicht für diesen blanken Blick in ihren Augen, wäre es sogar... süß gewesen. Ihr Gegenüber machte eine wegwerfende Handbewegung daraufhin und zeigte Augenblicke ein breites Grinsen.
„Vergiss es. Macht ohnehin mehr Spaß, wenns schwerer ist! Da kann ich mehr kaputt machen.“
„Suche alles zusammen was du für nötig hältst und mit dieser Sache zu tun hat und komm auf dem schnellsten Weg zur Zentrale“, sagte sie. Der Befehlston war unüberhörbar. Das Mädchen zog eine schnelle Beseitigung des Problems vor, war von vornherein kein Mensch, welcher alles mit sich herumschleppte, wenn es innerhalb von wenigen Minuten erledigt sein könnte.
„In der Zwischenzeit gehe ich zu ...“
Hier kräuselten sich ihre Lippen zu einem amüsierten Lächeln.
„... Rainbow und gebe ihn den Bericht für meine Mission ab. Nebenbei unterrichte ich ihn über diese Entwicklung und lasse ihn alles andere in die Wege leiten.“
Sie hatte zwar die Befugnis und das Recht sich allein um alles weitere, was mit diesem Auftrag zu tun hatte, zu kümmern, doch sie ahnte, dass mehr im Spiel war als das es bis jetzt den Anschein gab. Zudem hatte sie weder Zeit noch Geduld, denn was auf sie wartete, war wichtiger als jeder Auftrag dieser Welt. Es war ein Versprechen und sie war nicht bereit es zu brechen. Niemals.
„Vorsicht, nicht das ihm das Herz stehen bleibt“, grinste Cane vergnügt. In seinen Gedanken zeichnete sich das Bild eines Jungen, dessen Augen so weit geöffnet waren, dass sie Untertassen glichen und dessen Kinnlade zu Boden gefallen war, während er dennoch zweifelhaft versuchte aus dem sinnlosen Gebrabbel, welches aus seinem Mund floss, richtige Sätze zu bilden. Das Verhältnis von Rainbow und Kuraiko untereinander war ein offenes Geheimnis. Keiner sprach und doch wusste jeder Bewohner des Stonevalley davon. Die Grünhaarige ignorierte Rainbows Stellung in der Umbra und alles was dazu gehörte rigoros. Sie machte es so, wie es ihr beliebte, während er tatenlos daneben stehen musste, denn von wollen konnte keine Rede sein! Kuraiko hieß nicht umsonst dieses vermaledeite Mädl.
„Bow wird wahrscheinlich denken, dass die Apokalypse über ihn herein gebrochen ist.“
Sie schenke ihm ein verzücktes Kichern.
„Wer sagt... das sie es nicht längst schon ist?“
Ein dröhnendes Lachen erklang.
„Wo du Recht hast, hast du Recht“, antworte er. Kein Nicken. Nichts. Die Grünhaarige wirbelte einfach um ihre eigene Achse und ging. An der Tür angekommen drehte sie sich mit halben Oberkörper nochmals zu ihm zurück. So schwungvoll, dass ihm erst jetzt das wallendes Kleid auffiel, welches sie trug. Sie hatte schon immer einen Faible für Dunkles gehabt und besonders schwarz hatte es ihr angetan. Solange er sich erinnern konnte... noch nie hatte er die Blutäugige ohne diese bestimmte Farbe gesehen. Noch nie.
„Acht.“
Leise schloss sich hinter ihr das matte Glas. Das Leuchten kehrte zurück in seine Seelenspiegeln. Sich erneut in seinem Sessel zurücklehnend, pfiff er.
„Nich schlecht, Schwester. Nicht schlecht.“
Waldgebiet, Unbekannt
Ihr gefiel das nicht. Ganz und gar nicht. Diese Ruhe... sie war zu nervenaufreibend. Etwas stimmte hier nicht. Sie bewegte sich ein wenig nach rechts, versuchte das dumpfe Gefühl in ihrer Magengegend geistig auszublenden. Durch die Bäume konnte man schlecht zielen und obgleich die Lichtung auf der das Zielgebäude stand alles andere als klein war, so hatte sie kaum geraden Schusslinien. Im Fall eines Hinterhalts wäre sie von daher keine große Hilfe. Einen anderen Platz gab es leider nicht. Dieser hier war der Beste, den sie auftreiben konnte ohne von den patrouillieren Wachmännern sofort entdeckt und eliminiert zu werden. Durch ihr Visier verfolgte sie ein Trio, welches im Uhrzeigersinn seine Runden um das abgezäunte Gebiet drehte. Allein die Tatsache, dass lediglich ein duzen Männer unterwegs waren, stimmte sie zu höchstem Misstrauen. Es lautete seit je her ihre Devise, siehst du weniger als 15 Mann auf dem Feld stehen, stinkt es gewaltig nach falschem Spiel. Natürlich hatte sie schon mal danebengegriffen mit dieser Vermutung, doch seit Algerien ging sie kein Risiko mehr ein, wenn es um die Sicherheit ihres Teams und gleichzeitig auch ihrer Freunde ging.
Seufzend nahm sie die stützende Hand vom Gewehr und drückte sanft am Brillengestell ihrer Onyx auf eine Stelle. Nicht einmal Atemzug später war das vertraute Freizeichen zu hören, gefolgt von leisem Stimmengewirr am anderen Ende der Verbindung. Es dauerte einen weiteren Augenblick, dann antworte ihr jemand.
„Ja, was ist los? Gibt es irgendein Problem?“
„Nein. Hört sich bei euch aber ganz anderes an“, antwortete sie leicht amüsiert der weiblichen Stimme.
„Du kennst sie doch.“
Das Lächeln im Ton ihres weiblichen Gegenübers war leicht herauszuhören.
„Einer schlimmer als der andere. Ein ganze Kindergartentruppe wäre einfacher zu handhaben als bloß einen dieser Riesenbabys.“
Das empörte
„ Hey! Was soll das schon wieder bedeuten!“
entlockte ihr ein breites Grinsen, dennoch wurden die drei Männer in schwarz nicht einen Moment von ihr aus den Augen gelassen.
„Zeig ihnen wo der Hammer hängt.“
Danach wurde sie allerdings ernst.
„Weswegen ich dir eigentlich gefunkt habe, ist, dass ihr jetzt anfangen könnt. Seit trotzdem vorsichtig. Mir gefällt die Sache hier nicht und ich habe keine geraden Schusswinkel, um euch als Sniper wirklich behilflich zu sein.“
Ein glockenklares Lachen erklang auf der anderen Seite der Verbindung.
„Du gehörst zu den fünf besten Scharfschützen der ISAAC, womöglich zu einer der besten auf der gesamten Welt. Mach dir nicht immer so viele Gedanken, Vis. - Wenn jemand das kann, dann bist du es.“
Oder Swift, vervollständigte Vis ihren Satz in Gedanken.
Doch der war für dieses Mal nicht eingeteilt gewesen.
Es wäre auch mehr als unfair ihn erneut schuften zu lassen, nachdem sie nach langer Genesungszeit endlich wieder komplett gesund und einsatzbereit war. So langsam hätte sie das ewige Stillsitzen und Nichtstun nämlich auch nicht mehr ausgehalten. Swift war ihr ärgster Rivale bei dem Umbras. Mit dem Bogen war er geschickter, als sie es je bei einem anderen Menschen gesehen hatte. Eine Präzision, die der ihrigen auf dem Scharfschützengewehr alle Ehre machen konnte. Es war egal ob altertümliche Waffe oder moderner Schnickschnack. Das was zählte, war der Schütze und sein einmaliges Geschick. Nichts weiter.
„Okay, aber mir gefällt es trotzdem nicht, Sane.“
„Du liebst eben die Perfektion“, kam es trocken von anderen Ende. Vis fühlte sich ein wenig ertappt. Glücklicherweise erwä#hnte Sane nicht weiter und beließ es bei ihren Worten.
„Bis später.“
Vis spiegelte Sanes Abschiedsformel, rückte die Brille zureicht und richtete dann ihr Augenmerk zurück auf das Zielobjekt. Mit dem Gewehrlauf folgte sie einem anderen Wächtertrio. Der Finger lag - allzeit bereit - auf dem Abzug.Ihr gefiel es nach wie vor nicht, aber wenn es hart auf hart kommen sollte: Sie war für ihre Freunde da.
Sane nahm die Finger von ihrer Onyx.
„Ihr habt Vis gehört! Wir können anfangen“, scheuchte sie die Gruppe, stellte sich in Position und beugte sich wie zum einem Lauf leicht nach vorne. Blaue Strähnen rutschten in ihr schmales Gesicht. Sie sah über die Schulter hinweg zu ihrer Linken.
„Bereit?“, richtete sie ihr Wort an einen Jungen in ihrem Alter. Sein Mopp an pinkem Haar stand im totalen Kontrast zu den tief blauen Augen mit dem Hauch von grau, welche hinter den dunklen Linsen der Onyx wie Nebelschwaden wirkten. Er hob seine Arme seitlich an. Armschienen aus gehärtetem Stahl glänzten ihr entgegen. Lederbestückte Finger lösten auf beiden Seiten gleichzeitig einen Mechanismus aus. Scharf gezackte Klingen - drei an der Zahl - schnappten aus dem Metall, wie eine Taschenmesserklinge aus ihrer Hülle. Nun grinste der Angesprochene breit und fuhr sich mit einer Hand durch seine unkontrollierbare Mähne, ehe er eine leichte Verbeugung andeutete.
„Natürlich, Mylady“, antwortete er ihr im höflichen Ton. Der Blauschopf verdrehte müde ihre Orben bei seiner typisch scharmanten Art. Seine Manieren kamen nicht von ungefähr und waren keinesfalls gezwungen, wie man sonst eigentlich vermuten würde, sondern das Produkt einer tadellosen Erziehung nach der alten Schule. Es erklärte auf jeden Fall warum der Name Noble wie auf ihn zugeschneidert war.
„Also 'gehört' hat die Kleine grad keiner von uns, außer dir“, warf jemand neckisch ein. Sie sah zu ihrer Rechten. Ein junger Mann löste lässig mit einem Zug die Sicherungen seiner Maschinengewehre. Das daraus resultierende Klicken brachte sie für einen Moment dazu ihr Augenmerk nach unten zu richten, ehe es den Weg zurück zu seinem Gesicht antrat. Darunter trug er ein mit dünnen Platten verstärktes langärmliges Shirt. Dasselbe Spiel spiegelte sich bei seiner Hose wieder, welche an den Saumenden sauber in Kampfstiefel gesteckt war.
„Was nur daran liegt, dass ihr - besonders du Light- den Mund nicht halten könnt, oder habe ich da Unrecht?“, erwiderte sie mit einem zuckersüßen Grinsen.
„Brauchst nicht gleich deine Krallen ausfahren, Miss Captain.“
Er nickte auf seinen Nachbar und verzog spitzbübisch seine Lippen.
„Noble hat schon ein Set davon parat.“
„Vorsicht Mister“, mahnte sie in einem belehrenden Tonfall, allerdings schien es nicht so, als fühlte sich Noble von Lights Worten angegriffen, was nicht hieß, dass seine Bezeichnung für sie nicht auf taube Ohren gestoßen war.
„Ein Kompliment, auch wenn es nicht als solches gedacht war“, sagte Noble.
„Doch du hast sie lange genug aufgehalten. Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass wir abmarschbereit sind, Sane.“
Sie war dem Pinkschopf einen freundlichen Blick zu, ehe sie ihren Kopf zurück nach vorne drehte. Hinter ihr hörte man Kleidung rascheln, während sich jeder auf seiner Position fertig machte. Die Bäume über ihr rauschten im Wind. Eine idyllische Ruhe, welche nun gestört werden würde.
„Dann wollen wir mal! LOS!“
Stonevalley, Nachmittag
Das Chamber war Rainbows Heiligtum. Hier fühlte er sich zu Hause.
Hightech füllte jeden Quadratzentimeter bis auf seine Vollen aus und ließ gerade soviel Platz für einen gemütlichen Sessel und den U-förmigen Schreibtisch, auf welchem sein dreigeteilter Hauptrechner thronte. Kabel hingen in Massen von der Decke. Es war nicht ersichtlich wohin welcher Draht gehörte. Die duzen Bildschirme um seinen 'Thorn' herum waren keinesfalls eine makabere Art der Raumgestaltung und das Werk eines Überwachungsfanatiker, sondern zeigte die unterschiedlichsten und wichtigsten Informationen bezüglich einer laufenden Mission an. Sollte es die Situation erfordern, so konnte er mit wenigen Mausklicken alle erforderlichen Daten auf die große Glasleinwand hinter sich werfen, um einen Gesamtüberblick zu erhalten, anstatt alles auf separaten Bildschirmen zu haben. Zudem war er mittels eigens programmierten Funkanlage dazu im Stande sich mit jeder aktiven Onyx zu verbinden und so den Standort jedes Mitglieds eines agierenden Teams ermitteln. Vorausgesetzt, man unterbrach das Signal nicht. So wie ein gewisses Mädl.
Eine kleine Luke in der Decke verband seinen bevorzugten Aufenthaltsraum mit seinen privaten Räumlichkeiten. Wenn er nach oben wollte konnte er eine kleine Leiter herunterziehen und sich durch das Loch nach oben begeben. Es gab einige hartnäckige Gerüchte, welche behaupteten, dass das Chamber sein Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer zugleich war. Da Bow nie dabei gesehen wurde, dass er seine privaten Zimmer auf natürliche Weise durch die Glastür verließ, sondern stets vom Chamber aus durch den Zentralraum seinen Weg in andere Teile des Valleys antrat, gab das natürlich den gewünschten Nährboden für weiteres Gerede. Zweifelslos war er hier jederzeit anzutreffen, sollte er gebraucht werden, doch das hieß noch lange nicht, dass er 24 Stunden am Tag seine Zeit in diesem viereckigen Kasten totschlug.
„Rainbow.“
- Wenn man vom Teufel sprach.
„Jaaa?“, fragte er argwöhnisch und drehte seinen Kopf halb zu ihr nach hinten. Es sah der Grünhaarigen nicht ähnlich ihn mit ihrer Anwesenheit im Chamber zu beehren, sollte er selbst anwesend sein. Sie zog es nämlich vor ihre Berichte genau in den wenigen Minuten abzuliefern, wo er außer Haus war - wie man so schön sagte. Es verwunderte ihn schon lange nicht mehr, nach dem Gang zum stillen Örtchen oder nach einer Essenspause eine einsame Mappe auf seinem Stuhl vorzufinden. Sein Blick glitt nach unten zu ihrer linken Hand, in welcher ein dünner Ordner lag. Sofort verengten sich seine Pupillen zu Schlitzen. Bei jedem anderen wäre es ihm egal, doch da es sich hierbei um Kuraiko handelte, die bekanntlich einen Scheiß auf seine Autorität gab, kam er nicht umhin augenblicklich ihr Verhalten in Frage zu stellen.
„Was willst du?“
Sie starrte ihn unentwegt an und blinzelte einige Male auffällig, ehe sich eine Veränderung in ihrer Haltung manifestierte.
„Fang.“
Noch bevor er richtig registrieren konnte, was ihre Antwort zu bedeuten hatte, musste er auch schon seine Auffangkenntnisse unter Beweis stellen, indem er schnell seine Arme ausstreckte und irgendwie die dünne Mappe auffing, die in seine Richtung geworfen wurde.
„Was soll der Scheiß?!“, stieß er aus und warf achtlos die elektronisch verfassten Schriften neben sich auf den Tisch.
Keine Antwort.
Zwecklos wie eh und je war der Versuch etwas in ihren Augen abzulesen. Ihr Gesicht war eine steinerne Maske. Ohne Regung. Plötzlich ein Riss, welcher sich zu einem spöttischen Grinsen verzog.
„Was? - Ich dachte dich erfreut es, dass ich meine Sachen pünktlich abliefere.“
Schön und gut, dass sie ihren Bericht abgab, doch es war, wie erwähnt, nicht ihre Art ihm die Arbeit zu erleichtern. Es sein denn-
„Etwas ist faul, nicht wahr?“, hakte er nach, reagierte ausgesprochen gelassen, wie die Ruhe vor dem Sturm.
„In all den Jahren, hast du nie, nie auch nur einen Bericht persönlich abgegeben, welcher nicht zu einer Katastrophe gigantischen Ausmaßes geführt hatte!Nie! Ich muss es ja wissen!“, brauste Rainbow auf und gestikulierte dabei aufgebracht mit den Armen in seine eigene Richtung.
„Ist es denn zu viel verlangt? - Nein!“, beantwortete er sich seine Frage selbst und verfiel in eine weitere Tirade, während sie ihn weiterhin mit einer passiven Miene beobachtete. Plötzlich stoppte er und wirbelte seinen Kopf so schnell herum, dass man es knacken hörte.
„Du!“, knurrte er. Hellgraue Augen mit einem Schuss grün funkelten sie zornig an.
„Ja?“
Sie zog ihre Lippen amüsiert nach oben.
„Ich?“
Kuraiko mimte die Unschuld in Person. Ha! Unschuld? - Selten hatte er so viel gelacht. Er fixierte sie mit seinem Blick. - Zwecklos. Schließlich schnaufte er entnervt aus.
„Was willst du?“, wiederholte er im harschen Ton.
„Was ich will, kannst du mir nicht geben, doch was ich brauche, kannst du sehr wohl“, sagte sie. Ihr Ton war im Gegensatz zu vorhin kalt und hart.
„Ultimativa. - Such die Daten dazu raus. Alles.“
In seinem Kopf ratterte es ein wenig, bis er fündig wurde.
„Die Genexperimente in den Tropen.“
„In der Tat“, bestätigte die Grünhaarige und ließ ihren Blick kurz nach rechts schweifen.
„Ich bin an Unterlagen gekommen, welche mit den Experimenten von damals Ähnlichkeiten aufweisen.“
Bow erschauderte. An manche Mission erinnerte man sich nicht gerne zurück, war es nun wegen einem verlorenen Teammitglied, der schieren Grausamkeit, welche einem begegnet war oder eine traumatische Nahtoderfahrung. Im Fall Ultimativa war das Zweite. Freilich war er nicht vor Ort dabei gewesen, doch er hatte alles hautnah über die Onyx, da diese über Videoübertragung verfügte, miterlebt. Eine Gruppe Genforscher hatte sich einen einheimischen Stamm im Amazonas als Experimente gehalten, um an ihnen unmenschliche Genmanipulationen durchzuführen.
Man hatte die Ureinwohner solange mit Genmaterial von Raubtieren bearbeitet, sodass es eine gravierende Veränderung in ihnen hervorgerufen hatte. Sie wurden zu Bestien umgepolt. Ihr menschliches Gespür wurde komplett von den tierischen Instinkten überrannt. Ihre Menschlichkeit war quasi nicht mehr vorhanden gewesen.
„Bow zieh dir das rein“, keuchte Ares in seinen Funker und sah direkt vor sich. Das Geschehen dauerte nicht einmal drei Sekunden, dafür war es an roher Gewalt kaum zu übertreffen. Der Mann, nein, die Bestie riss die Frau auseinander, ohne das Ares irgendwie eingreifen konnte. Mit einem ekeligen <<Ratsch>> war der gesamte linke Arm vom Körper getrennt worden. Die Frau schrie qualvoll auf, ehe den Lauten mit einem Biss in die Kehle Einhalt geboten wurde. Das Nächste was Rainbow über die kleine Linsenkamera mitbekam, war wie der Grünhaarige mit Schnellfeuer dem Ding den Gar ausmachte, ehe der Junge sich mit Schwung um die eigene Achse wirbelte und eine neue Salve an Kugeln rieseln ließ.
Selbst wenn man es geschafft hätte den Effekt rückgängig zu machen, so hätte es nichts an dem Umstand geändert das es keine echten Menschen mehr waren. Nichts. Sie waren zu Killern verwandelt worden und nichts hätte das je mehr ändern können. Diese Bilder- bis heute hatte er sie nicht vergessen können. Zu brutal. Zu unmenschlich. Zu surreal war es ihm vorgekommen. Die traurige Wahrheit stand jedoch dahinter: Es war wirklich geschehen.
„Ähnlichkeiten? - Oder doch identisch?“
Er hatte nicht gelogen, als er sagte, dass Kuraiko stets dann nur persönlich vorbeikam, wenn sie eine Katastrophe in der Luft witterte. Damals wie heute war sie es gewesen, die auf etwas aufmerksam geworden wurde und es ihm unverzüglich - nachdem ihr Verdacht sich verhärtet hatte - mitteilte. Natürlich wäre es ihm lieber, sie würde mit diesem ganzen Mist von ihm fernbleiben, denn genug Probleme mit ihr allein hatte er ja schon, doch sie machte ihre Arbeit und nur das zählte in diesem Moment.
„Ähnlichkeiten.“
„Das heißt, es gibt noch andere Experimenttypen als die menschliche Bestie?“, fragte er fassungslos, wollte es nicht glauben. Ein kaltes Lächeln tauchte in ihrem Gesicht auf.
„So ist es“, antwortete sie ihm.
„Cane spricht von menschlichen Hybriden. Die eine Art unkaputtbar, während die andere mit Säure modifiziert wurde.“
„Ach du heilige-“
Bow führte seinen Satz nicht zu Ende, denn ein neue Gedanke machte sich in seinem Kopf breit.
„Bitte sag mit nicht, dass die Hybriden schon einsatzbereit sind.“
„Wie Cane aus den gesammelten Unterlagen auf die Schnelle herausfiltern konnte, ist die zweite Variante noch nicht fertig ausgereift, dafür allerdings hat die Erste fertige Prototypen vorzuweisen“, erklärte sie. Bow verzog das Gesicht.
„Wäre auch zu schön gewesen... - Ach scheiße! Warum auf dieser Mission? Hat mich eh gewundert, dass du die angenommen hast. Ist ja sonst nicht deine Art dich mit so was unwürdigem auseinanderzusetzen.“
Ganz klar ein Seitenhieb von ihm. Keine Antwort. Wäre auch seltsam gewesen, hätte sie ihm eröffnet, warum sie diese Mission überhaupt angenommen hatte. Sie war nicht spezifiziert gewesen, deswegen ging man nach dem gängigen Muster vor, dass derjenige der Anwesenden mit der meisten Erfahrung als Erstes gefragt werden würde und das zog sich dann ebenso solange durch, bis sich einer bereit erklärt die Mission anzunehmen, oder es wurde ausgelost, sofern sich keiner freiwillig finden ließ. Letzteres kam eher selten vor. Es fand sich eigentlich immer jemand. Als ihm Mister Hermes dann mitgeteilt hatte, dass das Mädl diesen Auftrag durchzog, hatte er sich doch schwer gewundert, allerdings sich keine weiteren Gedanken dazu gemacht. Woher sollte er den wissen, was in ihrem Hirn alles wahnsinnige vor sich ging? Der Signalton für eine Nachricht ging auf seinem Rechner ein. Kurz sah er auf seinen Bildschirm. Vis hatte gerade grünes Licht für Sane und ihr Team gegeben. Bow tippte schnell etwas fürs Protokoll ein und drehte sich anschließend zu Kuraiko wieder um.
„Nun da ich mich eh drum kümmern muss-“
Er war allein.
„War ja klar!“, stieß er aus und warf theatralisch die Hände in die Luft.
„Danke Rainbow für deine Mühen und Sorry, dass ich so einfach reingeplatzt bin", murmelte er sarkastisch zu sich selbst, während er sich ans Werk machte und schob seine Brille zurecht. War es denn nicht immer so? Sobald ihre Pflicht getan war, verschwand das Mädl sang und klanglos ohne sich in keinster Weise zu verabschieden oder gar zu warten. Es könnte ja sein, dass er noch etwas zu sagen hätte.Er fuhr sich fahrig durch die bunte Mähne. Das Headset rückte er dorthin, wo es auch hin sollte.
„Vermaledeites Mädl!“
Waldgebiet, Unbekannt
„Wir sind gerade an Punkt B vorbei und nähern uns Punkt A. Was kannst du uns sagen?“
Im Hintergrund war schwach das Knacken von Ästen zu hören, während das laute Atmen der anderen, inklusive Sane, mit welcher sie in Kontakt stand, in den Vordergrund rückte. Vis sah durch ihr Visier. Mit dem Gewehrlauf zielte sie auf den Kopf einer der Männer, welcher der Ostseite am Nächsten waren. Von dieser Richtung aus, wollte ihr Team nämlich angreifen. Vor einiger Zeit war ihr eine bisschen bessere Stelle aufgefallen und war somit ihrem Hausrat - bestehend aus Gewehr und Koffer - umgezogen. Natürlich lautlos. Von hieraus konnte sie den zu überblickenden Radius vorteilhafter beobachten. Zufrieden war sie allemal nicht, doch einen günstigeren Platz wird es nicht mehr geben. Es hätte sie beinahe Hemd und Kragen gekostet überhaupt hierher umzusiedeln.
„Eine Gruppe aus drei wird euch sobald ihr aus dem Wald seid, begegnen und augenblicklich das Feuer eröffnen. Eine andere Gruppe wird deren Standort in spätestens sechs Minuten kreuzen. Solange habt ihr Zeit, ansonsten seid ihr zwei gegen eins. Macht was draus.“
„Geht klar“, antwortete ihr Sane.
„Gut“, gab Vis zurück und die Verbindung wurde erneut auf Standby gestellt. Ihr Gewehrlauf verfolgte - wie wenige Minuten zuvor an einem anderen Platz - unentwegt ihrem Ziel. Die Stille kehrte zurück und bis auf das Waldleben hörte sie nichts. Nichts ungewöhnliches. Nichts, was sie dazu zwingen könnte ihre Stellung aufzugeben. Nichts, was ihre Deckung preisgab. Die Ruhe vor dem Sturm. - Ein kritischer Moment. Sie trog oft und schickte einen gerne mit einem verzückenden Lächeln in den Tod. Von daher war Geduld das oberste Gebot für einen Schützen, denn war man es nicht, so ging man restlos in der Menge unter.
Die Dunkelhaarige atmete tief ein und schloss dabei ihre Lider. Langsam zählte sie im Kopf von drei rückwärts nach unten.
Drei.
Jemand schrie. Es wurde laut und der erste Schuss fiel. Ein Doppelter. - Lightning. Die Scharfschützin lächelte mit geschlossenen Augen.
Zwei.
Ihr Grinsen wurde gehässiger mit jeder weiteren verstreichenden Sekunde. Ein hitziger Schusswechsel entbrannte, doch Vis drückte weder ab, noch öffnete die ihre Augen. Noch nicht. Eine weibliche Stimme rief über den Lärm hinweg mehrere Befehle. Sie kannte diese Stimme.
Eins.
Gedanklich sah sie jede erdenkliche Einheit nach Osten strömen. Die Waffen erhoben und schussbereit für den Kampf. Der richtige Augenblick war zum greifen nah. Die Hektik, welche zu ihren Ohren drang, bestätigte dies.
Null.
Schlagartig öffnete sie ihre Orben, visierte an und schoss. Das Projektil durchschnitt die Luft wie Butter und landete mit unübertroffener Vollendung mitten in der Brust eines Mannes. Dieser fiel um wie ein Sack Kartoffeln, riss klar eine Lücke in die rennende Wachtruppe. Wie erwartet stoben sie auseinander wie aufgescheuchte Hühner. Sie schoss ziellos umher, doch so würden sie sie nicht finden. Vis grinste und der Gewehrlauf folgte dem nächsten Ziel.
Langsam veränderte sich die Umgebung und der Wald lichtete sich zu deren Füßen. Die Spannung war zum greifen nah. Konzentriert lief die Bluenette an der Spitze vorweg. Da sie keine Lust hatte überrascht und unerwartet von einer Patrouille angegriffen zu werden, ließ sie ihren Blick im Sekundentakt in jede Richtung schweifen. Einen halben Meter versetzt hinter ihr waren Light und Noble. Schlusslicht bildete der selten außerhalb seiner Werkstatt gesehene Genius. Er war in dieser Hinsicht genauso schlimm wie Bow, doch dieser ließ sich wenigstens noch zu den Mahlzeiten blicken. Genius macht ja nicht einmal das. Er war seit je her ein schräger Vogel und so mancher schob es auf den unheimlich großen Wissensvorrat, welchen er sein Eigen nennen konnte. Schließlich hatten die brillantesten Köpfe vergangener Zeiten stets einige Schrauben mehr locker als Otto-Normalbürger. Einstein, Da Vinci,... - Jeder von ihnen hatte die ein oder andere Macke, welche sie in den Augen anderer als sonderbar gar befremdlich erscheinen ließ, jedoch nicht über deren einzigartige Brillianz hinwegtäuschen konnte. Es könnte zumindest die unmögliche Kontaktlinsenfarbe erklären. Und seit wann war Grau eine Modehaarfarbe? Von seinem eigentümlichen Kleidungsgeschmack mal ganz abgesehen! Ehrlich jetzt: Wer trug zu einem Einsatz schon dunkelrote Hosen, ein paar tannengrüner Springerstiefel - von welchen Sane sich bis heute fragte, woher er diese Dinger aufgetrieben hatte - und ein oranges Shirt und darüber eine grüne Flakweste mit unzähligen Taschen, welche eigentlich für Polizisten war? Vielleicht sprach da nun die Frau aus ihr, aber so konnte man sicher nicht Farben kombinieren! Gut sie war mit ihrem Hippiestyle auch nicht gerade um Meilen besser, doch zumindest hatte sie eine Stilrichtung, welcher sie - einigermaßen - folgte!
„Zuhören!“
Sane verlangsamte ihr Tempo und schlich die letzten Meter zu Lichtung auf leisen Sohlen heran. Sie waren locker im Zeitplan und konnten damit den Überraschungsangriff ohne Weiteres ausführen. Es gab ihr zudem noch die Möglichkeit letzte Anweisungen zu geben und bei diesem Haufen - eigentlich war damit ja nur Light gemeint - war das auch nötig!
„Gleich sind wir bei Punkt A und dann sofort im offenen Gelände. Ihr wisst den Plan? - Gut hier noch mal die Kurzfassung: Wir ziehen, sobald wie durch die Bäume sind, die Aufmerksamkeit auf uns. Light, du und Genius seit die Ablenkung, während Noble und ich uns ins Innere schleichen. Ihr gebt mit Vis Deckung. Ist das klar?“, fragte in einem leisen aber dennoch fordernden Ton und sah dabei dem Ältesten direkt in die Augen.
„Jaja Miss Captain“, winkte der 19 Jährige ab und grinste wie ein Clown.
„Also wirklich! Die behandelt uns ja wie Kinder!“
„Nur dich, Light. Nur dich“, murmelte sie und diesmal ließen ihn seine Luchsohren im Stich. Er hörte es nämlich nicht, ansonsten wäre deren Deckung durch seine Unachtsamkeit sicherlich entblößt gewesen.
„Natürlich, Sane.“
Noble. Natürlich fiel die Wahl auf ihn, als die Frage aufkam, wer sie begleiten sollte. Nicht etwa, weil sie Light oder Genius nicht genügend Vertrauen entgegen brachte, nein dem war ohne Zweifel nicht so! Es lag vielmehr damit zusammen, dass die Bluenette ihn von allen, die aus dieser Mission dabei waren, am längsten kannte und deren Kampfstil sich deswegen beinahe schon im Schlaf ergänzten.
„Klar und deutlich, Sane“, gab der ihr Dritte und bisher stillste im Bunde - Genius - zur Kenntnis und verfiel dann in erneutes Schweigen. Er war kein Mann von großen Worten, denn lieber beobachtete er die Welt und bastelte an neuen Erfindungen, als das er in das reale Geschehenumihn herum geschah, eintauchte.
„Gut.“
Vorsichtig spähte der Blauschopf durchs Gebüsch. Die Wachmänner einige Meter vor ihnen machten nichtsahnend ihre Runden. Keinem von dem Trio wäre im Traum eingefallen einen Blick in das Unterholz zu werfen. Die Patrouille kam näher. Sie zog zwei Kunais aus ihren Gürtel,spannte zeitgleich ihre Muskeln an. Die Meter schwanden dahin. Das Mädchen machte eine Geste in Genius' Richtung, als die Gruppe nah genug an sie herangetreten war, ohne überhaupt zu bemerken, in welcher Gefahr sie eigentlich schwebten. Lautlos holte er einige unscheinbare Kugeln aus einer Seitentasche seiner Weste hervor und warf sie auf die Lichtung. Die runden Objekte schimmerten leicht metallisch und waren aus zwei Hälften, die zusammengekoppelt wurden und sich nun im Fahrwind durch einen Mechanismus öffneten und explosionsartig dünne und dennoch stabile Netze ausbreiteten. Einer der Männer warf in die Falle tappt, taumelte zu Boden und schrie. Zwillingsschüsse ertönten im selben Augenblick und trafen den Wachmann einmal in der Brust und ein weiteres Mal an der Schulter. Lightning sprang wie ein Irrer aus dem Gebüsch und eröffnete, so blitzschnell, wie sein Name es vermuten ließ, das Feuer. Dicht hinter ihm traten nun auch die anderen aus dem Schutz des Waldes und begannen den Kampf. Die Kompagnons des toten Wächters sannen auf Blut und schossen scharf zurück. Schnell tummelten sich auf der Lichtung eine Flut an feindlichen Männern. Sane und ihr Team gelangten ins Fadenkreuz des Gefechts und hatten das unglückliche Pech, dass die Wachmänner eine gute Ausbildung genossen hatten. Was sie nicht stören sollte. Sie griff mach hinten und zog mit beiden Händen ihr Nodachi hervor. Das japanische Langschwert war ein Zweihänder, was eigentlich die Bewegungsfreiheit einschränkte, aber dennoch konnte sie in Sachen Schnelligkeit mit den Besten ihrer Zunft mithalten. Jemand rannte auf sie mit erhobenen Gewehr zu. Warum er nicht abdrückte, war ihr unbegreiflich. War der Angreifer weiblich, so ging keine ernsthafte Gefahr von ihm aus und man würde das verängstigte Weib schon mit Geschrei und Herumfuchteln in die Flucht schlagen? - In welchen Jahrhundert waren den die? Die Zeiten wo Frauen am Herd standen, kochten und für die Kinder sorgen war längst vorbei. Manche hohlbirnige Exemplare des männlichen Homo sapiens haben das wohl noch nicht verstanden. Es überstieg ganz klar ihren Horizont. Die Bluenette kümmerte sich nicht weiter darum und drehte sich stattdessen um ihre eigene Achse. Er kam näher und dann... war es vorbei. Die silberne Klinge schnitt durch seine Halsschlagader, wie durch feinste Butter. Ein schneller Tod. Egal, wie gut sie auch waren; sie, die Umbras hatte die bessere Ausbildung.
„Haltet die Stellung!“, gab sie per Funk weiter und wich gleichzeitig einem Bleigeschoss aus. Zehn Fuß links von ihr sprang ein pinker Schopf einem direkten Angreifer aus den Weg und rammte ihm hinterrücks die Zacken seiner Dolche in den Rücken.
„Noble! Zu mir!“, sagte sie weiter. Genannter riss sich von dem toten Leib los, wirbelte herum und sah direkt in ihre zweifarbigen Augen. Mit unübertroffenem Geschick überbrückte er die letzten Schritte zu ihr und schlitzte währenddessen einen von links Kommenden den halben Oberkörper auf.
„Schon da, Sane.“
Sie nickte, löste eine Hand vom Griff, zog ein Kunai vom Gürtel und warf den Dolch an Noble vorbei.
„Pass auf deine Deckung besser auf.“
„Wir sind ein Team. Wir stärken jedem den Rücken“, lautete seine schlichte Antwort. Ein sanftes Lächeln tauchte auf ihren Lippen auf.
„Das tun wir.“
„Das tun wir“, stimmte er ihr zu. Adrenalin pumpte durch seine Adern, wie bei einem 100m Sprinter, doch er blieb fokussiert und ließ sich von seiner ansteigenden Spannung nicht mitziehen. Sanes Augen suchten die Seinen. Er verstand sie ohne Worte.
„Auf drei“, gab sie allen über die Onyx Bescheid und rannte mit Noble im Schlepptau los.
„Eins.“
Vom Westen her kamen mehr Männer. Es wurde hektisch. Light war längst zu offensiven Taktiken geschwenkt und schoss mit geballter Härte über die gesamte Fläche. Genius arbeitete viel mit seinen Überraschungskugeln. Gleichzeitig verteidigte er sich mit einer halbautomatischen Waffe gegen direkte Angreifer. Sane wich aus, während ihr Partner mit einem geklauten Maschinengewehr ihren Rücken deckte.
„Zwei“, setzte Noble fort. Sie grinsten sich an, drückten leicht gegen das Brillengestell ihrer Onyx und sahen nach vorne. Eine Lücke wurde in die kommende Männermauer geschossen. - Vis. Plötzlich detonierte etwas, tauchte alles um die Beiden herum in Nichts. Kein Sprengstoff. Nein, es war Rauch. Genauer gesagt: Eine Rauchbombe, welche in Genius' kleinen Kügelchen verpackt war.
„Drei.“
Man konnte nichts sehen, doch für sie war die Sicht kein Hindernis. Einmal mehr war es Rainbow zu verdanken, welcher dieses komplexe Stückchen Technik erschaffen hatte, dass sie sich im Vorteil gegenüber feindlichen Truppen und Gruppierungen befanden. Sie sprinteten als gäbe es keinen Morgen mehr, während die Wachmänner um sie herum vergeblich versuchten sich in der weiß-gräulichen Masse zurecht zu finden. Der Nebel würde nicht ewig bleiben, jedoch bot es ihnen genügend Zeit sich in die Räumlichkeiten zu gelangen, während Light und Genius sich daran machten die Wachmänner unschädlich zu machen. Man hörte die gezielten Schüsse über das Chaos hinweg wie als wären es Kanonenschüsse. Die Rauchschwaden wurden an den äußeren Ringen dünner. Hier konnte man wieder den Forst erkennen, ohne dass man sich an sein Gedächtnis klammern musste wie ein Ertrinkender. Sane tauchte aus der weiß-grauen See auf und hinein in die bekannte Welt aus grün und braun. Dicht hinter ihr folgte Noble ihren Schritten. Wie alle Nahkämpfer trug auch er offene und bewegungsfreie Kleidung anstatt sich mit schwer gefütterten Stoffen zu schmücken. Jemand wie er war auf Schnelligkeit und Präzision ausgelegt, nicht auf geballte Schusskraft ohne Rücksicht auf Verluste.
„Mist!“, fluchte die Blauhaarige nachdem sie einen Blick nach hinten riskiert hatte. Sie zog ein Kunai von ihren Gürtel - die Entfernung war zu weit und sie würde nicht schnell genug mit ihrem Schwert sein - und zielte. Einer der Wachen hatte bemerkt wie sie an ihnen vorbeigehuscht waren und hatte das Gewehr auf sie gelegt. Der Wurf ging ins Leere, denn eine Bleikugel hatte den Mann direkt zwischen den Augen getroffen. Ein sauberer Schuss. Sie verschwendete keine weitere Zeit mehr und setzte sich erneut in Bewegung, zollte aber ihren Dank, indem sie kurz ein
„Danke, Vis.“
über die Onyx verlauten ließ. Sane sah Noble seelenruhig am offenen Eingang warten. Es ertönte keine Antwort, lediglich das Nachladen eines Gewehrs war zu hören. Um Noble herum lagen zwei Männer, welche er mit den letzten Schüsseln des geklauten Gewehrs den Gar ausgemacht hatte, und die benutzte Waffe daneben.
„Ladys First“, sagte er und schwenkte mit seiner Hand ins Innere des Betonklotzes. Sie erlaubte sich ein Augenrollen und während sie unentwegt weiterlief - Zeit war kostbar und sie hatten schon genügend von ihr verloren -, legte sie zwei Finger an ihre Sonnenbrille und rief eine Karte der Räumlichkeiten vor sich auf den Schirm. Das Duo passierte eine mehrere Zentimeter dicke Stahltür, welche in der Eile aufgerissen worden war, um Männer aus dem Kern den Weg nach Draußen zur Verteidigung zu ermöglichen. Nun dies vereinfachte deren Mission natürlich zunehmend. Misstrauisch wurden sie erst, nachdem sie die zweite Stahlmauer überwunden hatten und der Strom an Männer immer weniger wurde, so als ob man da drinnen keine weiteren entbehren konnte. Was waren das für Forschungen, die hier getrieben wurden und dessen sie sich entledigen und die Ergebnisse mitnehmen sollten, dass es solche Sicherheitsstufen benötigte? Sane gefiel das Gefühl nicht, welches von ihrem Magen besitzt ergriff wie der Tod einen Menschen.
„Lass uns weiter gehen.“
Aber vorsichtig, hing unsichtbar zwischen seinen Worten in der Luft. Sane ließ sich das nicht zweimal sagen und hob den Arm mit ihrem Nodachi schützend vor sich. rgendetwas war hier faul. Nicht im Sinne von einem Hinterhalt. Nein, nicht das. Eher wie die Ruhe vor dem Sturm. Und das gefiel ihr überhaupt nicht.
„Ich gehe voran.“
Labor und Testräume, Unbekannt
Missbilligend biss er seine Zähne zusammen und zog eine silbrige Lösung in eine Spritze hinein. Niemand hatte ihn je ernst genommen! Er war ein Absolvent von Oxford gewesen, einer der fünf Besten seines Jahrgangs und doch hatte man ihn eiskalt ignoriert. Ihn. Einen Mann der Forschung und des Fortschritts.
Kritisch begutachtete er die Flüssigkeit mit einem Auge nach Verunreinigungen, ehe er sie als akzeptabel abstempelte. Nein! Diese ideenlosen Würmer gingen sogar soweit ihn als Spinner zu bezeichnen und ihn als größenwahnsinnig abzustempeln. Doch das war er nicht! Nein, war er nicht! Seinen Ideen waren sehr wohl realisierbar und ganz und gar nicht wahnsinnig, wie sein alter Chef behauptet hatte.
Mit der Spritze in der Hand ging zu einen der Testprobanden, welcher die erste Injektion überlebt hatte. Er hätte lediglich Zeit und die finanziellen Mittel benötigt, doch diese Dinge hatte die Forschungseinrichtung in seinem Heimatland England ihm nicht geben wollen. Im Nachhinein musste er sagen: Zum Glück! Denn hätten sie ihn nicht abgewiesen und rausgeschmissen, so wäre ihm die Gelegenheit entwischt ohne Einschränkung und Befehlen an das zu arbeiten, was sich als sein Meisterwerk herausstellen sollte. Sein Lebenswerk. Egal was er brauchte, ob seltene Ressourcen, die neusten Methoden oder teure Maschinen - Er bekam jeden noch so irrwitzigen Wunsch von seinem privaten Wohntäter erfüllt mit der einen Bedingung, welcher aber auch jedes Forscherherz höher schlagen lies: Forschen. Experimentieren. In neue Bereiche eintauchen.
Seine schlammbraunen Pupillen leuchteten, als er an die Versuchsperson herantrat. Eine Dekade später war er am Ziel seiner Träume angelangt. Er war dem Durchbruch noch nie so nahe gewesen!
Nummer sieben war ein stattlicher junger Kerl und nahezu perfekt für sein Vorhaben gewesen. Blondes Haar, meerblaue Augen und die Statur eines Kriegers. Ein Jammer, dass der Mann jetzt, Stunden nach der ersten Injektion von Mercury, nicht mehr ganz so frisch und dynamisch war, geschweige denn so gesund aussah, wie am Anfang, aber Opfer mussten gebracht werden, um das Große und Ganze zu erreichen! Forschungen brauchten Opfer. Freiwillig oder nicht? - Wo ist da schon der großartige Unterschied? Wenigstens sah er um Meilen besser aus als die Restlichen neun, welche mit ihm die Verabreichung des Mittels überlebt hatten. Von den Testprobanden hatte gerade einmal ein Sechstel geschafft sich von den höllischen Schmerzen nicht erdrücken zu lassen. Mickrige zehn aus so vielen. So viele... tot. Er wischte diesen Gedanken hinfort wie eine lästige Fliege, die nicht locker lassen wollte. Kurz glitt sein Blick über die anderen Überlebenden. Nummer 23 und 43 befanden sich an der Schwelle zum Tod. Er konnte den Tod praktisch schon aus ihren Poren sickern sehen. - Zwei weitere Fehlschläge. Er schüttelte den Kopf und seufzte.
„Traurig...“, murmelte er, niedergeschlagen hörte er sich allerdings nicht an.
„Solch armselige Kreaturen...“
Nummer sieben lag mit mehreren festgezurrten Ledergurten auf einer Pritsche und blickte ins nichts. Auf der Stirn des Blonden stand der Schweiß meterhoch und durchtränkte das Haar bis zu den Wurzeln. Doch als er sich dem 'Gefängnis' näherte, schnappte sein Kopf herum. Meerblaue Augen starrten ihn hasserfüllt an. Er ignorierte den verachtenden Blick und machte sich stattdessen daran einen Knopf an der Seite des Stuhl zu drücken. Mit einer hydraulischen Bewegung wurde die Versuchsperson in eine aufrechte Postion gefahren.
„Wie geht es uns den heute?“, fragte er mit falscher Freundlichkeit und sah betont fürsorglich in das glänzende Gesicht des Blonden.
„Oh, entschuldige. - Mein Fehler.“
Der Forscher entfernte den Knebel aus seinem Mund. Er war durchtränkt mit Blut. Angeekelt warf der Mann den Fetzen in eine Ecke.
„Besser?“
Er bekam keine Antwort. Übertrieben gestürzt seufzte er und zuckte mit seinen Schultern.
„Dann eben nicht.“
Es blieb erneut still. Der Wissenschaftler zuckte mit den Schultern und wand sich dem rechten Arm des Gefangenen zu.
„Wie du willst“, sagte er und rammte ungerührt die Spritze in den Unterarm des Wehrlosen. Fast schon gelangweilt drückte er den Inhalt in dessen Adern und bobachtete verzückt die augenblicklich folgende Reaktion mit einem wahnsinnigen Lachen. Das ihn die anderen Versuchsobjekte einschließlich einiger Lakaien befremdend anstierten schien ihn nicht zu kümmern. Der Blauäugige wand sich gequält in seinen Fesseln. - Soweit es ihm eben möglich war. Seinen Kopf schwang er von der einen zu anderen Seite in Marter. Plötzlich riss er - es nicht mehr entbehren könnend - seinen Mund zu einem gepeinigten Schrei auf. Der Laut hallte im ganzen Raum wieder. Schmerzvoll und langgezogen. Einige Laboranten zuckten zusammen und sahen beschämend weg, doch niemand kam dem leidenden Mann zur Hilfe.
„Sch-wei-n“, würgte der Blonde heraus und spukte Blut.
„Doch nicht auf das gute Hemd!“, entrüstete sich das betitelte Schwein und trat einen Schritt nach links. Abrupt verstummte das unmenschliche Geschrei. Nummer sieben bäumte sich gegen die Gurte auf. Das Leder spannte sich wie die Sehne eines Bogen an. Die Blutspritzer verfehlten ihn um Haaresbreite. Während er sich unsichtbaren Staub vom Oberteil wischte, rief er zwei an der Tür wartenden Soldaten - Söldner - herbei.
„Neue Fesseln! Stärkere! Ich fürchte unser Vögelchen will uns verlassen.“
Die Schreie setzten von Neuem ein. Klagender und herzzerreißender als zuvor. - Es ließ ihn vollkommen kalt. Erst wanderte eine dunkle Verfärbung den infizierten Arm hinauf, ehe das Dunkle matt glänzende Züge annahm, dennoch nichts metallisch an sich hatte, sondern eher die organische Struktur behielt, in welches es hineinwuchs. Er bestaunte fasziniert diese Entwicklung.
„Na los!“, zischte er ungeduldig.
Ein Duo von stämmigen Männern rannte an ihm vorbei und fixierte den Gefangenen wieder an seinen Stuhl. Dieses Mal mit schweren Eisenketten. Auch diese spannten sich unter der schier unendlichen Kraft an, die Nummer sieben angesammelt hatte und waren nahe dran zu bersten. Das war unmöglich, doch es war genau die Reaktion, auf die er die ganze Zeit gehofft hatte.
„Nur noch ein bisschen“, flüsterte er. Die Verfärbung hatte sich weiter ausgebreitet, zierte nun beinahe den halben Oberkörper einschließlich der beiden Schultern und den gesamten rechten Arm. Die Verwandlung von Fleisch in metallische Materie lag nicht weit dahinter. Er klatschte verzückt in die Hände, konnte nicht mehr an sich halten vor Freude.
„Mon-ster. I-hr seit ein-“
Der Blonde konnte nicht zu Ende sprechen, da ein neuer Schrei aus seiner schon genug geschundenen Kehle drang. Trotzdem war es bemerkenswert, wie er entgegen der Schmerzen hörbare Worte aus seinem Mund pressen konnte.
„Verbietet ihm den Mund“, ordnete das nun benannte Monster mit zusammengekniffenen Augen an. Diesen Moment konnte und wollte er sich nicht von einem undankbaren Bauern nehmen lassen, welcher glaubte sein Geschenk nicht annehmen zu wollen. Was wusste dieser Trampel schon? Die paar Schmerzen. Das bisschen Leiden. - Was waren sie im Vergleich zu dem was erreicht werden konnte?Peanuts! Nichts! Man folgte der Anweisung sofort. Einer der Söldner riss einen Streifen aus seiner Kleidung und stopfte es unsanft in das laute Organ. Der Blauäugige würgte. Die Schreie ebten in erstickende Schalle ab.
„Ahhh... Viel besser. Danke meine Herren.“
Die Männer nickten und gingen zurück auf ihre Posten vor der Tür, hatten jedoch ein wachsames Auge auf Proband sieben und die Fesseln gerichtet. Er grinste und wand sich anschließend nach links.
„Schukow!“
Jemand mit Brille trat unsicher heran.
„Ja. Ihr wollt mich sprechen, Sir-“
„Ja. Ja. Ja. Lassen wir das, hmm? Hol mir eine neue Nadel“, winkte er ab, so als wäre es ihm lästig und zeigte anschließend auf einen durchsichtigen Behälter mit der silbrigen Lösung.
„Und bring mir das“, diktierte er.
„SOFORT!“
Schukow zuckte empfindlich zusammen.
„Na-Natürlich, Sir“, beeilte dieser sich zusagen und ging eiligen Schrittes davon; seine Aufgaben erledigen.
„H-hier, S-Sir“, stotterte Schukow und reichte dem Forscher die gewünschten Gegenstände. Dieser pflügte die Dinge aus Schukows schmächtigen Fingern, blendete gekonnt die andauernden Schreie - schwächer, doch immer noch hörbar - von Nummer sieben aus und ging zur nächsten Person über. Nummer 23 war ein kleines Mädchen. 14 oder 15. - So glaubte er zu wissen. Ein Waisenkind. Plagegeister der Städte. Wie Ratten füllten sie die Straßen und Gassen auf der Suche nach etwas zu Essen, einer Unterkunft. Verabscheuungswürdige Dinger! Der Teenager sollte sich glücklich schätzen, dass sie seinem Projekt beiwohnen dürfte, anstatt in den Straßen zu versauern wie weggeworfene Milch. Die Kleine war neben einem Mitte 60-Jährigen die am schlechtesten Bestellte. Ihre Pupillen waren glasig und ihre Wahrnehmung ging gen Null. Sie wirkte mehr tot als lebendig. Was ihn insofern nicht weiter interessierte, außer das sie noch am Leben war. Noch. - Wie gesagt: Opfer mussten gebracht werden. Völlig entkräftet, starrte sie ihn bloß mit großen Orben an. - Ob sie ihn wirklich sehen konnte, war unwahrscheinlich.
„S-sir?“
„Jaaa? Was ist Schukow?“, erklang die harsche Stimme Georges, welche deutlich implizierte, dass er beschäftigt war.
„Wä-wäre es nicht rat-sam Mercury jemanden anderen z-zu geben“, eröffnete er seinem Vorgesetzten mit mehr Mut zum Ende hin.
„I-ich meine, sie ist schon s-so schwach da-“
Schlammbraune Iriden funkelten ihm an. Der Laborant schluckte. Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Vielleicht hätte er doch nicht...?
„Wer hat hier das Kommando Schukow: Sie oder Ich?“
Schukow schrumpfte sichtlich unter seinem abschätzenden Blick zusammen. Ihm wurde mulmig in der Magengegend. Er konnte nicht verhindern, dass ihm die Schmerzensschreie seines ehemaligen Kollegen Kalinin, der welcher durch seine Verweigerung selbst als Testperson geendet war, durch seine Ohren rauschten wie stürmischer Wind.
„S-Sie Sir“, deklarierte er kleinlaut und duckte sich weg. Halb in Erwartung mit der Spritze getroffen zu werden, die sein Boss mit seinen Fingern fest umklammerte. Ebendieser Mann starrte ihn lange unentwegt an, ehe er sich wegdrehte und seine Aufmerksamkeit dem Waisenkind schenkte.
„Gut“, sagte der Wissenschaftler und setzte die Nadel an dem Arm des Mädchens an. Der Angestellte erlaubte sich ein erleichtertes Aufatmen und huschte schnell von dannen, bevor der Forscher es sich anders überlegen könnte.
„Schwächling!“, schnaubte er dem Jungen - in seinen Augen - hinterher, während er die silbrige Lösung in das Blutsystem drückte. Wie so jemand überhaupt alle Semester bestehen konnte, war ihm ein komplettes Rätsel. Zu seiner Zeit wäre jemand wie der Dunkelhaarige wegen seiner feigen Art hochkantig rausgeschmissen worden oder gar nicht erst aufgenommen worden.
Oh wie tief war die Wissenschaft nur gefallen?
Stonevalley, Nachmittag
Nicht einmal eine Stunde nachdem ihn Kuraiko so überaus freundlich besucht hatte, rauschte auch schon der Nächste in seine heiligen Quadratmeter und trug Chaos und Kopfschmerzen zu ihm.
„Pass doch auf!“, erzürnte sich Rainbow und schwang im Sessel um die eigene Achse. Hurricane war wie sein Namensvetter durch die automatische Glastür gewirbelt und hatte einen Stapel Ordner und Schnellhefter haarscharf neben seine Tastatur gedonnert.
„Was?“, fragte der Chemiker verständnislos.
„Sie hat doch gesagt, dass ich komme und du hast mir durchgegeben, dass du die Unterlagen so schnell wie möglich haben willst.“
Cane schweifte mit einer Hand beiläufig über die ebengenannten Gegenstände.
„ Hier sind sie. Sogar mit ner Lieferung frei Haus.“
„Es gibt da etwas, was sich E-mail mit Anhang nennt“, sagte Rainbow müde zu dem Chemiker und rieb sich die Schläfen. Seufzend wand er sich ab. Stress mit Cane war das Letzte, was er jetzt wollte. Davon hatte er nämlich an diesem Nachmittag schon mehr als genug abbekommen.
„Sei mal ein bisschen dankbarer, du Stück Hardware auf zwei Beinen!“
„Das nächste Mal, dann“, knurrte der Buntschopf und nahm den obersten Ordner vom Stapel. Detaillierte Zeichnungen komplexer Gleichungen sprangen ihm entgegen. Er blätterte. Weitere Skizzen kamen zum Vorschein. Darunter Notizen in säuberlicher Kleinschrift. Wer immer diese angefertigt hatte, war ein kleiner Kontrollfreak. Das konnte man an der Art sehen wie die Buchstaben aufs Papier gebracht worden waren. Hundertprozentig konnte er es nicht sagen, - Grace war die Profiler, nicht er - doch das wusste er zumindest. Er sah mit Fragezeichen in den Augen auf.
„Unglaublich nich wahr? Im ersten Moment hab ich mich auch gefragt, wie diese ganzen Moleküle zusammenpassen können, ohne dass sie durch ihre Gegenseitigkeit eine negative Reaktion hervorrufen, doch als ich mich dann weiter in die Materie gelesen habe... - Scheiße, der Mann ist ein Genie. Also wenn er wirklich das schafft, was auf diesen Blättern steht, dann... Respekt.“
Jemanden so zu loben gehörte nicht zu Canes Art, auch wenn es entfernter Wissenschaftlerkollege von ihm war. Genetik - soviel hatte er sich von Kuraikos dürftiger Erklärung zusammenreimen können - war nicht gerade Chemie, auch wenn diese beiden Forschungszweige nahe verwandt miteinander waren.
„Willst du denn Mann etwa für die Entdeckung heiraten, oder warum benimmst du dich gerade wie ein kleines Mädchen, welches von ihrem großen Schwarm träumt?“
Hatte er nicht erst vor wenigen Minuten sich dafür entschieden, dass er keinen Streit mit Huricane suchen wollte?
„Schau dich an, Hardware. Ich bin es nich, der feuchte Träume bekommt, wenn er an eine neue Software denkt.“
Cane war stets bereit genau so dreckig - wenn nicht sogar dreckiger – zurückzuschießen, wie er serviert bekam. Rainbow macht den Mund auf und schloss ihn wieder mit einen hörbaren Klacken. 1:0 für den gemeingefährlichen Chemiker. Schließlich räusperte er sich.
„Ich glaube wir driften vom Thema ab.“
Wenigstens wurde er nicht versammelter Mannschaft gedemütigt. Das war Pluspunkt.
„Mit erschaffen - meinst du damit die Hybriden?“
Cane bedachte ihn mit einem Blick für geistig Unterentwickelte.
„Grundgütiger! Hat dir Kuraikos persönliches Auftauchen etwa die Schaltplatten durchgeschmort, oder warum benimmst du dich grad wie weggeworfene Scheiße?“, fragte er den Buntschopf und beleidigte ihn in einer Tour fort.
„Natürlich meine ich Unzerstörbar und Säurehybrid! Pest und Cholera!“, fluchte er ohne Unterbrechung weiter.
„Ich glaub, sie hat es endgültig geschafft und dich ins Lala-Land geschickt.“
Also jetzt ging es ihm allmählich zu weit.
„Kommen wir auf den Boden der Tatsachen zurück. Ja, sie hat mir persönlich alles vorbeigebracht, nicht darauf gewartet, dass ich für einen Moment nicht im Chamber bin und auch nicht ihren höchstpersönlichen Leibwächter geschickt.“
Der schmeichelhaft betitelte 'Leibwächter' war niemand geringeres als Uranu, deren Chefpilot. Man konnte den Kanadier so etwa wie ihre bessere Hälfte verstehen. Freunde. - Ein absurdes Wort, wenn man in Verbindung mit Kuraiko gebrauchte, doch anderes konnte man deren außergewöhnliches Verhältnis nicht beschreiben. Manch einer von ihnen - die, die lebensmüde waren - machten sich ihre Späße daraus. An vorderste Stelle war dabei das Großmaul von Ares. Es glich einem verdammten Wunder, dass er nicht schon längst die Radieschen von unten ansah.
„Wär auch nich möglich gewesen. Der ist unterwegs. Hab ihm neue Kisten mit meinem Sprengstoffmischungen gebracht. Deswegen weiß ich, dass er nicht da ist und wenn ich mich nicht irr, dann ist Zwilling Nummer zwei auch mit von der Partie. Verdammt! Das schlimmste was sie einsetzt, ist Incaedium und davon auch nur soviel, dass es grad mal für ein keines Feuerchen reicht! Das macht doch keinen Spaß, wenn man nichts in die Luft sprengt!“
„Nicht jeder ist wie du, Cane“, erwiderte Bow trocken. Was Cane als Spaß verstand, war für einen Großteil der Bevölkerung das Werk eines geisteskranken Terroristen. Der Brünette zuckte mit den Schultern.
„Was kümmert mich das? Sollen die mich doch mal! Und der Typ hat eindeutig ne Schraube locker.“
Also jetzt kam der Buntschopf nicht mehr mit.
„Wer?“, fragte er deswegen sofort nach, wissend, dass sein Gegenüber ihm gleich einen Blick zuwerfen würde, welcher seine Intelligenz ernsthaft in Frage stellte.
„George Donahue. Auch bekannt als das krankte Arschloch, welcher die Hybriden erschaffen will und es ihm Fall von Unzerstörbar vielleicht sogar zu diesem Zeitpunkt schon hat.“
Jegliche Bewunderung, die Cane zuvor gehabt hatte, war aus seiner Stimme gewichen.
„Die Unterlagen sind streng datiert und der letzte Eintrag von Montag letzter Woche. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon die Prototypen für den ersten Hybridtyp fertig. Wer weiß wo Donahue jetzt – fast zwei Wochen später - ist. Scheiße verflucht! Ich habe ab den ersten brauchbaren Prototypen für Instinctio bis hin zum Ausgangsprodukt nicht einmal sechs Tage benötigt. Donahue hatte das Doppelte! Wenn er nur halb so ein Genie ist, wie es seine Notizen vermuten lassen, dann kann der jetzt mit seinen Forschungen sonst wo sein! Seine 'Freiwilligen'“
Hier malte Cane Gänsefüßchen in die Luft.
„sterben ihm Reihenweise davon, was ihn natürlich nicht davon abhält sein 'Meisterwerk' zu vollenden. Der Scheißer hat jeden aufgeschrieben, der 'leider Gottes von den Engeln geholt wurde'. Als Nummer!Wenn du mich fragst, der Typ hat eindeutig Stunden beim Onkel Doktor nötig“, sagte er und seine Stimme dröhnte dabei über Bows Ohrenmuscheln hinweg, wie Paukenschläge. Ein Sturm zog auf und dieses Unwetter hörte auf den Namen Hurricane.
„Soweit ich das überblicken kann, spritzt er denen irgendwelche Metall-DNA-Cocktails. Die Stoffkombinationen sind wahnsinnig und ewig kompliziert obendrein! Einzeln sind diese ganzen Stoffe und Molekülketten wie gesagt inkompatibel und können sich obendrein sogar negativ äußern, aber Donahues Überlegungen sind möglich. In der Theorie. Damit er es Praktisch realisieren konnte, brauchte es vor allem einen riesengroßen Batzen Geld, das feinste und beste, was man an Gerätschaften in der heutigen Zeit auftreiben konnte und Zeit. Verdammt viel Zeit. Man kann so was nicht von heute auf Morgen machen. Schon gar nicht, wenn es sich um so etwas komplexes handelt“, erklärte der Bombenbastler mit kaum unterdrücktem Zorn.
„Ich bin hauptsächlich Chemiker, kein Biologe und schon gar nicht Genetiker. Das Beste wir ziehn Tox hinzu. Tox wird dir alles das sagen, wo ich als Chemiker meinen Hut davor ziehen muss. Des Mädl ist ein verdammter Bio-Crack noch eins! Ich kann in dieser Sache höchstens noch meine Kenntnisse für Stoffe und Verbindungen mit einbringen.“
Es musste ihm schwer gefallen sein zuzugeben, dass er an den Grenzen seines Wissens angelangt war. Gleichzeitig zeigte es jedoch, dass er den Mut und den Charakter dazu hatten seinen Stolz hinunter zu schlucken, um Hilfe anzufordern und sie anzunehmen, sollte sie ihm dargeboten werden.
„Donahue ist ein geschissener Scheißkerl! Wurmzerfressen und mit nem IQ unter alle Sau. Verdammte scheiße nochmal! Hat der den keine Wissenschaftlerehre? Der gehört-“
„Woau, woau, woau. Das Chamber ist nicht explosionssicher, ja?“, unterbrach ihn der bunte Farbtopf und hob beschwichtigend die Arme. Wenn Cane so weiter machte, dann war nichts und niemand mehr vor ihm sicher. Nein danke! Natürlich verstand er seine Wut, dennoch war er nicht gerade erpicht darauf als verkohlter Fleischklumpen enden. Anders wiederum wollte er ebenso nicht, dass das Chamber in Schutt und Asche gelegt wurde. Also stellte er sich eher dem unbändigen Zorn, anstatt seine heilige Niederkunft aufs Spiel zu setzen.
„in ne Zwangsjacke gesteckt und weggesperrt. Nein, noch besser: Lassen wir unseren süßen Engel mit ihm doch mal ne Runde schmutzige Wäsche spieln. Danach wird Donahue sich wünschen, niemals den Gedanken zu seinem 'Meisterwerk' weitergerührt zu haben. Doch dafür wird es dann zu spät sein, denn zu diesem Zeitpunkt wird er längst mausetot sein!“
Cane verstand keinen Spaß, wenn man mit Menschen experimentierte. Gar keinen. Es war in gewisser Weise ein Widerspruch in seiner Art selbst. Er liebte es Dinge, Menschen in die Luft zu sprengen, doch an ihnen herumdoktern war ein rotes Tuch für ihn. Lachhaft! Einfach bloß lachhaft! Trotzdem war es der Beweis für seine Moral; unerklärlich, verwirrend und im gleichen Atemzug Sinn ergebend: So war er. Hurricane, der Berseker. Die unbezwingbare Naturgewalt, sollte er seine gesamte Kraft entfesseln. Ein Mann mit Methode und einem Gewissen. Wie klein es auch sein möge.
Der Chemiker rauchte sprichwörtlich aus allen Poren. Seine Bitterschokoladenaugen verfärbten sich schwarz und wirkten wie die unheimlichen Tiefen der Nacht. Düster und hochgradig gefährlich.
„Mach dich nützlich, Vier-Auge!“, schnauzte Cane ihn plötzlich an.
„George Donahue. Englisch von Namen her. Vielleicht sogar Engländer. Such den Arsch.“
Bow ließ sich das nicht zweimal sagen. Canes wallender Zorn beruhigte sich und er würde einen Teufel dafür riskieren der Tropfen zu sein, der dieses Fass endgültig zum überlaufen brachte. Ein Funke, ein jämmerliche Funke und der Edeltechniker hatten ein rasenden Flächenbrand am Hals, welchen zu löschen er wahrscheinlich nicht zu können vermochte.
Geschwind tippte er den Namen in seinen Rechner. Vielleicht spukte die elektronische Blechbüchse irgendwas brauchbares aus. Jemand mit diesem Intellekt musste normalerweise an einer hoch renommierten Universität studiert haben und diese haben bekanntlich Listen aller Studenten, welche je ihre Einrichtung besucht haben und wenn er Glück hatte - verdammt viel Glück - dann vielleicht sogar mit einem Foto. Mit legalen Mitteln suchte er nicht wirklich nach dem Mann, doch wenn kümmerte es? Er war einer der Tophacker auf diesem Planeten, wenn er einen einzelnen mickrigen Forscher nicht finden konnte, wer dann?
Der Computer spuckte drei Seiten aus, welche sich automatisch in Extrafenstern öffneten. Der Erste und der Letzte passten nicht ins Profil, also musste es der -
„Bingo!“, murmelte Rainbow und schnippte mit den Fingern.
Auf der Oxforder Hompage war er im Archiv fündig geworden. Eine Gruppe Männer und Frauen standen in scheußlichen Abschlussmonturen vor einem Gebäude. Unter dem Bild stand:
John L. K., Ilona B., Mary C., George D. und Sebastian W. - Die fünf besten Absolventen aus dem Bereich aller Naturwissenschaftler
George D. George Donahue. Das war sein Mann. Etwas weiter unten im Fließtext konnte man den Berufszweig herauslesen. Biogenetik. Definitiv der Mann, den sie suchten.
„Das ist er?“, fragte Cane und schaute dem Buntschopf über die Schulter, während dieser sich spielend leicht durch die Firewalls der Oxforder Datenbank manövrierte. Für eine Universität, die nun wirklich einen sehr guten Ruf besaß, war deren Sicherheitslücken mehr als nur desaströs. So etwas konnte ja jeder mit ein bisschen Ahnung knacken!
Ein paar weitere Klicks und ehe man sich versah war er drinnen. Ein kurzer Blick auf seine Uhr. 23 Sekunden. Hmm... er wurde langsam. Musste wohl daran liegen, dass Kuraiko ihm mit ihren Besuch beinahe einen Herzinfarkt verpasst hatte. Genau! Von diesem Schock konnte man sich eben nicht so leicht erholen, wie von anderen.
„Viel macht der ja nicht her. Schaut im Grunde genommen aus wie ein Arbeitsloser auf Drogen.“
Bow hatte die Akte von Donahue geöffnet. Zu Tage kam ein 25 Seiten Ungetüm von seinen akademischen Leistungen bis hin zu seinen Lebensumständen. Trockene Lektüre. Wie... spannend. Er scrollte nach unten, zu den Informationen, welche wirklich zählten und landete bei George Donahues außerordentlichen Kenntnissen der Biologie und Genetik. Die mehrere Seiten umfassende Lobeshymne konnte er sich auch noch später in Ruhe durchlesen oder gleich an Grace übergeben, so dass er sich weiter nach unten arbeitete. Langweilig. Langweilig. Ah, da war was! Bows Pupillen leuchteten.
„Der Gute litt unter milden Depressionen in seiner Studentenzeit. Ich verwette das Chamber dafür, dass das nach seiner Zeit in Oxford schlimmer geworden ist, sonst würden wir den Typen jetzt nicht als wahnsinnigen Wissenschaftler an der Backe haben“, eröffnete er seinem Gast feierlich, so als habe er die Wurzel allen Übels gefunden. So unwahrscheinlich, wie es klang, war es in Wahrheit gar nicht. Viele Genies, welche auf die falsche Bahn geraten waren und wahnsinnig wurden, hatten in ihren jungen Jahren ein großes Problem mit Depressionen, Schlafstörungen und anderweitigem. - All das, was zu einem gestörten Geist führen konnte, wenn man dem nicht Herr wurde.
„Bei der Sache wet' ich nich gegen dich, Hardware“, grinste der Bombenbastler. Der Brillenträger erwiderte diese Geste mühelos.
Etwas piepte. Laut und schrill.
„Komplikationen“, meldete keinen Wimpernschlag später eine männliche Stimme durch die Lautsprecher an Bows Hauptrechner. Im Hintergrund hörte man das Getriebe eines Flugzeugs auf Hochtouren arbeiten.
Auf dem riesigen Bildschirm in der Mitte ging ein Fenster auf. Ein Gesicht sprang ihm entgegen.
„Etwas ist schiefgelaufen. Vis hat mich gerade an gefunkt. Sie kann Sane und Noble nicht mehr erreichen. Anscheinend ein Störsignal.“
Verwirrt suchten Bows Augen einen bestimmten Rechner.
„Aber ich habe noch ein Signal“, sagte er, tippte gleichzeitig schnell auf seiner Tastatur und lehnte sich anschließend im Drehstuhl zurück, um einige Knöpfe zu drehen.
„Sane?“, versuchte er es.
„Noble? Kann mich einer von euch hören?“
Nichts.
„Shit!“, fluchte Bow.Kein Mucks. Kein Tuten. Nichts was auf eine aufrechte Verbindung hindeutete, aber er konnte Sane und Nobles Standort noch immer ermitteln. Sprich: Er wusste wo sie waren, nur mit ihnen reden war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Das Computerass starrte auf das offene Fenster links von ihm mit dem Plan von dem Gebäude, welches die Gruppe hochnehmen sollte. Sein Hirn stand unter Strom.
„Aber da Vis dich erreichen konnte - ich nehme mal an sie ist nicht im Gebäude, oder? - dann betrifft das Störsignal nur das alte Lagerhaus und nicht auch noch die Umgebung darum herum. Sag ihr, dass jemand versuchen soll ins Innere zu gelangen. Wir haben es wahrscheinlich mit einem Störsignal zu tun, welches nur auf die Kommunikation von Außen nach Innen und umgekehrt Einfluss nimmt und nicht wenn einer im Inneren mit jemand anderes, welcher ebenfalls sich dort aufhält, Kontakt aufnehmen möchte.“
„Verstanden“, nickte der junge Mann im Bild.
„Und Uranu!“
Blauen Augen, so facettenreich, wie der Planet, nach welchem er benannt wurde, bohrten sich in seine graugrünen Tiefen.
„Sag sofort - sofort! - Bescheid, wenn du Neuigkeiten hast. In der Zwischenzeit versuche ich zu Sane und Noble durchzukommen“, sagte Bow, fest entschlossen das Gesagte auch Wirklichkeit werden zu lassen.
„Wird gemacht“, und mit diesen Worten unterbrach der Kanadier die Funkübertragung. Der Edeltechniker ließ sich erschöpft in seinem Sessel zurückfallen. Warum, warum in aller Gottes Namen hatte er diese Chaos nur verdient gehabt, welches wie ein ICE ohne Kurswechsel direkt auf ihn zugerast kam?
„Ich hasse es...“, stöhnte Bow und legte seinen Kopf zurück. Jemand gluckste.
Cane!
„Tja, Vier-Auge. Ich würd mal sagen: Dein Bier.“
„Vielen Dank für deine Anteilnahme. Sie wurde zu Kenntnis genommen und jetzt verpiss dich!“, knurrte der mit 'Vier-Auge' schmeichelhaft benannte Brillenträger und deutete mit einer Hand zum Ausgang.
„Wie freundlich! Da fühlt man sich doch gleich wie zu Hause!“
„Cane!“
Dieser hob beschwichtigend seine Hände.
„Ruhig, man. Sonst könnte der Eindruck bestehen, dass du ein Aggressionsproblem hast.“
Er grinste bei jedem seiner Worte wie ein kleines Kind, dass gerade dem unliebsamen Geschwisterchen einen Streich gespielt hatte. Denn eigentlich war er es, der das größere Aggressionsproblem von ihnen beide hatte. - Nicht, dass er das jemals laut zugeben würde! Langsam ging er zur Tür.
„Aber da eh ein Experiment im Labor auf mich wartet, werde ich unsere überhitzte Hardware mal wieder alleine lassen. Da man dir im Moment nicht trauen kann, kümmere ich mich auch um unsere kleine Aussteigerin. Viel Glück beim runterkommen!“
„Du gottverdammtes-“
Bows wüste Beschimpfung nahm ein jähes Ende, als sich mit einem Piepen Vis ankündigte und seine Konzentration für einen Moment über den Haufen warf.
„Bow? Uranu hat mich gerade eben kontaktiert. Er ist in einer viertel Stunde da und holt uns ab. Ich hab Sane und Noble immer noch nicht erreichen können und schick jetzt Light hinein.“
Der Buntschopf stöhnte zum wiederholten Mal an diesem Tag gequält auf, raffte sich allerdings binnen Wimpernschläge wieder auf und setzte sich aufrecht hin, die Finger auf seiner Tastatur. Zum Fluchen war später noch Zeit. Jetzt ging es erst einmal darum alles wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Geht klar Vis. Ich schick Uranu gleich die neusten Daten und Satellitenbilder.“
Labor und Testräume, Unbekannt
Auf die Minute genau nachdem er seinen letzten 'Patienten' behandelt hatte, heulten Warnsirenen los und lösten eine kollektive Panikattacke unter den Laboranten und Helfern aus. Er - ganz der Forscher - ließ sich von dem Lärm nicht aus dem Takt bringen. Es zeichnete einen Mann von großer innerer Stärker aus und das war er auch. Jeder, welcher etwas anderes behauptete, log wie gedruckt.
„Weitermachen!“, herrschte er die emsigen Männer und Frauen an und zog aus einer kleinen Flasche die transparente Flüssigkeit mit der Spitze an. Es sah aus, wie aus der Leitung gewonnenes Wasser, doch wirkte es vollkommen anders, als das durstlöschende Nass. Es war die Vollendung seiner göttlichen Schöpfung.
„Aber Sir!“
Jemand gestikulierte aufgeregt in Richtung des einzigen Ausgangs. Fünf bewaffnete Männer, die die gleich nachdem ihre restlichen Kollegen durch die Tür marschiert waren, alles verbarrikadiert hatten, stellten sich auf für ein ein Gefecht.
„Wir werden angegriffen!“
Er wischte den Einwand hinweg, wie ein lästiges Insekt.
„Reine Vorsichtmaßnahme. Ich bin mir sicher, es handelt sich wie die beiden anderen Male um einen falschen Alarm. Also zurück an die Arbeit! Wehe einer von euch verlässt seinen Posten!“
Die Frau, welche geschrien hatte, wurde immer hysterischer und hyperventilierte an Ort und Stelle. Ein Kollege jagte ihr kurzerhand eine Beruhigungsspritze, welche normalerweise für die Testprobanden bestimmt war, in den Oberarm. Kurz darauf war die Blondine kaltgestellt.
„Meinen Herzlichen Dank! Diese unnötige Panik stört lediglich unsere Gäste. Und wir wollen ihnen es ja so angenehm wie möglich machen“, richtete er seine Worte noch einmal an alle und sah jeden einzelnen in die Augen.
„Ihr macht weiter ohne euch nur im geringsten Gedanken über die Umstände außerhalb dieser Wände zu machen. Hat doch die letzten Male auch tadellos funktioniert.“
Stille. Betretende Gesichter. Niemand wagte es ihn darauf hinzuweisen, dass die anderen Male keiner der Soldaten den Raum verlassen hatten, weder sich für ein harten Feuerwechsel bereit machten.
„VERSTANDEN?“, fragte der Wissenschaftler eindringlicher und sah zur Einschüchterung zu einen der freien Liegen. Einer nach dem anderen wunde käseweiß im Gesicht, als sie eins und eins zusammenzählten.
„Ja Sir!“, hallte es einheitlich zu ihm herüber. Er nickte zufrieden und wand sich Nummer 44 zu. Die nächsten zehn Minuten hörte man nichts, was auf einen Angriff hindeutete. Einerseits tat diese Tatsache Wunder für die blanken Nerven der Angestellten, doch andererseits befand man sich tief unter der Erde und würde, sollte über ihnen ein Kampf ausbrechen eh nichts mitbekommen, außer die Angreifer schafften es durch die Panzertüren und an den über 30 Soldaten bis hier herunter. Da sich jedoch nichts vor der zentimeterdicken Tür tat, was auf ein Blutvergießen außerhalb der sicherer Mauern hinwies, normalisiere sich so langsam wieder die Lage.
Hatte er es nicht gesagt? Fehlalarm. Der Dritte, seitdem sie dieses Labor bezogen hatten. Gerade als er zu einer bissigen Bemerkung ansetzen wollte, ertönten Schüsse auf der anderen Seite des Eingangs. Panik brach aus. Wenige Momente später wurde die Tür mit Wucht aufgerissen. Sofort eröffnete das Quintett an Soldaten das Feuer, doch keines ihrer Projektile traf auf ein Ziel. Etwas dünnes und wendiges stürmte herein, wich dem herannahendem Mann mit einem einfachen Schritt zur Seite aus und rammte ihm einen Gegenstand - wahrscheinlich ein Messer - eiskalt ins Genick. Den Nächsten schaltete die Person mit einem geworfenen Dolch aus und wirbelte anschließend um ihre eigene Achse und sah direkt in einen Gewehrlauf. Bevor der Schütze jedoch den Abzug bestätigen konnte, wurde er von einer weiteren unbekannten Person niedergestreckt und anschließend wurde das Gewehr dazu genutzt Soldat Nummer vier zu töten und der letzte dazu gezwungen bei seiner Ausweichaktion direkt in das wartende Schwert, welches wie aus dem Nichts in der Hand der ersten Person aufgetaucht war, zu rennen. Sie jagte die lange Klinge weiter in seinen Brustkorb, schloss ihre Augen für einen Atemzug - ihre Lippen bewegten sich dabei - und zog dann in einer fließenden Bewegung das Metall aus dem toten Leib. Bedauernd sah sie auf den Körper hinab, ehe sie sich umdrehte und die dünne Spitze in Richtung der Anwesenden zeigte, welche wie zu Salzsäulen erstarrt auf die junge Frau blickten, welche gerade mit ihrem männlichen Kollegen innerhalb von wenigen Sekunden mehr als ein Duzen ausgebildeter Männer ausgeschaltet hatte.
„Du hättest warten sollen und mich klopfen lassen“, tadelte der junge Mann seine Partnerin mit einem Kopfschütteln. Er machte eine ausladende Geste.
„Siehst du! Wir haben diese armen Menschen völlig verschreckt. Das passiert, wenn man nicht höflich ist.“
„Ach ja? Hätte ich warten sollen, bis die raus gekommen wären und uns über den Haufen geballert hätten?“, fragte sie giftig wand sich ihm zu.
„Es ist höflich, Sane. Höflich. - Außerdem ist es unsittlich unangekündigt ein Gebäude zu stürmen“, erläuterte er nebensächlich, so als wäre es das natürlichste der Welt vor einem Angriff seinen Feind von seinen Absichten zu informieren.
Sane wusste es besser als sich mit ihm in diesem Punkt zu streiten und beließ es deswegen bei folgenden Worten:
„Komm mir aber dann nicht angerannt, wie ein weinerliches Baby, wenn du ein paar Kugeln in die Brust bekommen hast!“
Er erwiderte das Gesagte mit einem leisen Lächeln.
„Wie die Miss befehlt, so soll-“
Er stoppte mitten im Satz und wich einem Mann mit Spritze aus, welcher auf ihn zugerast kam wie ein Wahnsinniger. Aus der Drehung schlitzte er ihm den Rücken auf und beförderten ihn anschließend mit einem züchtigen Tritt zu Boden. Sich das Blut, was er abbekommen hatte, vom Kinn wischend, schüttelte er seinen Kopf.
„Es ist unhöflich jemanden zu unterbrechen. Besonders wenn sich dieser jemand sich gerade unterhält. Will es vielleicht noch einer versuchen?“, fragte er in die Menge und hob zur Warnung seine blutgetränkten Klingen ins Licht. Man wich respektvoll vor ihm zurück. Gegen das Duo hatten sie nicht den leisesten Hauch einer Chance.
Empört sah der Forscher zu seinen Angestellten, die wie geprügelte Hunde dastanden und ihren Kollegen hatten ausbluten lassen. Was für Feiglinge! Makorv hatte wenigsten Mumm in den Knochen gehabt, doch diese Bande von Einfaltspinseln... Nichts konnte man seinen Leuten in diesen Tagen mehr abverlangen! Nichts! Alles musste man selbst in die Hand nehmen!
An die 20 Unbewaffnete. Mehr als ein halben duzen Menschen unterschiedlichster Altersklassen waren Liegen festgeschnallt. Bei manchen bekam man den Eindruck, als wären sie an der Schwelle zwischen Leben und Tod angelangt und wussten nicht recht ob sie nun zur anderen Seite wechseln sollten, oder sich dem qualvollen Kampf weiter stellen wollten.
Sane presste Ober-und Unterkiefer aufeinander. Das alles erinnerte sie zu sehr an den Auftrag von vor einigen Jahren im Amazonas. Menschen waren dort wie Versuchsratten behandelt worden. Niedrige Lakaien hatten die Drecksarbeit erledigt, indem sie die Leichen derer fortschafften, die den Experimenten nicht stand gehalten hatten und verscharrten sich irgendwo im brasilianischen Dschungel während während die Verantwortlichen genüsslich eine Spritze nach der anderen in ihre hilflosen Opfer rammten. Was hier fehlte, war der Käfig mit den Überlebenden, welche wie ein Rudel Wölfe die Zähne fletschten und jegliche Menschlichkeit eingebüßt hatten.
„Der Leiter dieser Forschung“, zischte sie durch ihre Zähne hindurch und war kurz davor ihrer Schwester nachzueifern, indem sie sich von jeder Moral, die sie besaß, lossagte und sich einfach von ihrer Wut berauschen ließ.
„Wo ist er?“
Noble spürte ihren wachsenden Zorn und legte eine lederbestückte Hand auf ihre Schulter. Eine Geste, welche Sane sehr an ihm schätzte. Sie sah kurz zu ihm herüber und versuchte dabei zu lächeln. Es misslang ihr kläglich.
„Ihr habt die Miss gehört“, schaltete er sich ein und fuhr scheinbar ohne Belang mit seinen Fingerspitzen über die blutigen Klingen seines linken Armes. Hörbares Schlucken von allen Seiten. Er hasste es zu solchen Mitteln greifen zu müssen, doch irgendwann war selbst bei jemanden von seiner Schule Schluss mit höflichem Geplänkel. Und so dreist war auch wiederum nicht. Nur ein bisschen... direkt.
„Er ist-“
Der Mann wollte auf eine bestimmte Person zeigen, doch wurde von einem Kollegen mit Schnauzer durch einen Hieb in den Magen aufgehalten.
„Sei still!“, flüsterte er harsch, doch jedermann hörte seine Worte. Ein Wurfstern landete in der Brust des Bärtigen. Die geschärften Seiten waren grün durchtränkt. Gift. Der Mann fiel auf die Knie. Das Gift wirkte augenblicklich. Unkontrollierte Zuckungen durchfuhren ihn, wie Peitschenhiebe. Seine Atmung setzte immer wieder aus, ehe er schlussendlich nach vorne zu Boden fiel. Tot.
„Sie dürfen weitersprechen. Also bitte.“
Es war keine Bitte, was da aus ihrem Mund floss wie Seide. Plötzlich ein kam ein Schrei von links. Den Bruchteil einer Sekunde später hörte man wie etwas gegen eine Wand geworfen wurde, wie ein Sack Kartoffeln. Knochen knackten und nicht einem Moment später fiel ein Frauenkörper in sich zusammen wie ein Kartenhaus und blieb reglos liegen.
„Natascha!“, schrie jemand und Panik brach aus und ergriff die Menge wie eine stürmische Welle. Sane wich einem hysterischem Mann aus nur um einen Atemzug später erneut einen Schritt zur Seite zu betätigen und die flache Seite ihres Schwertes hart gegen den Kopf ihres Angreifers zu schlagen. Knockout. Sie sah auf und bemerkte wie ein Jugendlicher von hinten auf Noble zukam, allerdings konnte sie ihn nicht mehr rechtzeitig davor warnen. Ihr Partner wurde mit einem kräftigen Stoß aus seinen Schuhen gehoben und krachte keinen Moment später in einen Tisch voller kleiner gläserner Behälter mit farbigen Flüssigkeiten. Das Glas brach in tausend Stücke. Scherben regneten, während sich eine farbige Pfütze zu seinen Füßen ausbreitete und er - sichtlich benommen - versuchte sich wieder aufzurichten. Metall flog auf den Jugendlichen zu, während die Bluenette ihre Ablenkung dafür nutzte, um zu Noble sprintete und ihm ihre Hilfe anzubieten. Doch anstatt, dass er ihren ausgestreckten Arm annahm, wurde sie unsanft am Handgelenk gepackt und zur Seite geschleudert.
„Wa-!“
Die empörte Erwiderung blieb ihr im Hals stecken, als keinen Moment später eine Faust neben ihr die Arbeitsplatte des umgeworfenen Tischs durchlöcherte wie Schweizer Käse. Ihr blieb keine Zeit zum Verschnaufen, da wurde sie erneut wie ein Spielball behandelt und fand sich hinter Noble wieder. Dieser bückte sich gerade rechts nur um gleich wieder aufzutauchen und den Schwung für einen Hieb auszunutzen. War er denn von allen guten Geistern verlassen? Er war doch normalerweise auch nicht so... zerstörerisch aufgelegt. Sein oberstes Gebot war niemals einen Zivilisten zu verletzten. Egal ob willentlich oder unwissentlich. Was war nun mit dieser vermaledeiten Regel? Anstatt auf Fleisch zu treffen und eine klaffende Wunde zu reißen, kratzten Nobles Klingen an der Haut des Jugendlichen wie ein Tonabnehmer welcher am Ende einer Schallplatte über dessen Rillen lief. Geistesgegenwärtig wich er einem weiteren direkten Schlag aus und versuchte es mit einen kräftigen Fußkick. Zwecklos. Der Junge bewegte sich kein Stück.
„Ruf wen!“, rief er und lockte den Teenager von ihr weg, damit sie die dringend benötigte Hilfe herbeordern konnte. Jemand lachte wie Irrer. Keiner meldete sich. Frustriert schrie sie auf. Ein Rauschen grüßte ihre Ohren egal wen sie kontaktierte. Scheiße! Mit was wurde hier verdammt noch eins herum experimentiert? Das Hyänengegacker wollte gar nicht aufhören. Zweifarbige Orben visierten einen Mann mit Vollbart an, welcher eine Spritze in seiner Hand hielt und ließen für einen Moment alles, was sich im Hintergrund abspielte, zu einer homogenen Masse verschwimmen.
„Ja! Greif an meine Schöpfung! Greif an! Lass nicht zu, dass du zerstört wirst! Zermalme sie!“, schrie der Bärtige wie von Sinnen und tanzte ausgelassen im Kreis. Mit einem Mal verstummten die vor Wahnsinn zerfressenen Laute. Schlammaugen starrten mit vor Schreck geweiteten Pupillen in feurige Tiefen. Das Höllenfeuer selbst loderte aus ihnen. Eine scharfe Klinge lag unmittelbar an seinem Hals.
„Was wird hier gespielt, Mann“, spie Sane verächtlich aus, musste sich zusammenreißen ihm nicht sofort den Kopf abzusäbeln. Wut war mächtig, doch berechenbar und machte somit einen angreifbar. - Nichts was sie jetzt wollte, egal wie sehr das unerklärliche Verlagen in ihrem Inneren sich danach verzehrte.
„Also bitte!“, entrüste er sich, die Gefahr, in welcher er schwebte nicht erfassend.
„Ich bin ein Genetiker. Der beste Genetiker auf Erden! Ich werde unsterblich sein! Unsterblich!“
Er lachte aus vollem Hals. Angewidert verzog sie ihr Gesicht. Nichts. Er war nichts, außer ein Stück Dreck. Eine armselige Seele ohne Aussicht auf Rettung.
„Was wird hier gespielt?“, wiederholte sie, eine Spur bissiger. Was Nay konnte, war auch ihr nicht verweht. Selbst wenn sie normalerweise auf die Diplomatie setzte. Im Einschüchtern war das Geschwisterpaar Weltmeister.
„Nicht gespielt! Erschaffen! Sind sie nicht wunderbar?“, fragte er und machte eine ausladende Geste mit seinen Armen.
Sie?
Ihr rutschte das Herz in die Hose, als zwei weitere dieser Erschaffenen einen Weg zu Noble suchten, welcher mit dem einen schon genug zu schaffen hatte und überdies mit jeder weiteren Sekunde näher an seine körperlichen Grenzen gebracht wurde.
Nicht gut! Nicht gut! NICHT gut!
„Noble! Hinter dir!“, schrie sie. Gerufener wich im letzten Moment nach links aus. Er landete hart auf seinen Rippen. Schmerzhaft zog er sein Gesicht zusammen, rappelte sich dennoch unter offensichtlichen Schmerzen auf und rannte im Zickzacks über den Betonboden und hielt sich dabei die Seite. Das Trio an was-auch-immer war ihm dicht auf den Fersen.
„So wunderschön! Die Mischung war der reinste Glückstreffer! - Oh wie danke ich dem lieben Gott dafür, dass er mir diese Eingebung geschickt hatte“, brabbelte der verrückte Forscher munter weiter. Hatte sie vorhin seine geistige Zurechnung angezweifelt, so konnte sie sich nun sicher sein, dass er völlig übergeschnappt war.
„Zusammen mit meinen süßen Säuremenschen werden sie mir das Ticket in die Ruhmeshalle der größten Wissenschaftler aller Zeiten lösen! Ich werde berühmt!“
Säuremenschen?!
Sane versuchte erneut jemanden anzufunken, zu allen Göttern dieser Welt dabei betend, dass jemand von ihrem Team sie erhörte.
„Sane?“
Danke! Danke! Danke!
Noch nie war sie so froh gewesen, Genius' Stimme zu hören.
„Experimente“, stieß sie hervor, gab ohne Luft zu holen in einem ziemlich einseitigem Gespräch, mit Wörtern, die nicht einmal in Hurricanes Sprachgebrauch auftauchen würden, die Situation durch und befahl ihm, seinen Hintern so schnell wie möglich hierunter zu bewegen, am besten mit allem, was er an explosiven Material an sich hatte.
„Ja so berühmt, dass man mir eine riesige goldene Statue nachempfinden wird!“, lallte der Bärtige trunken von dem Gefühl der Macht, welches ihn durchströmte. Er brabbelte und brabbelte, gab jedes noch so kleine Detail seiner Forschungen preis. Freiwillig! Ihm war wahrlich nicht mehr zu helfen! Sie ließ ihn achtlos stehen, klaubte alles, was sie zwischen die Finger bekam zusammen und stopfte es in die mitgebrachte Hängetasche. Spritzten, Blätter, Mappen, Phiolen. - Alles wanderte in den schwarzen Schlund und was nicht mehr hineinpasste, verschwand in den unzähligen Taschen ihrer flaschengrünen Hose.
„Captain!“
Sie sah auf. Seine Hände waren voll mit verschiedfarbigen Kügelchen. Viele waren es nicht mehr, doch sie mussten genügen. Die Bluenette hoffte nur, dass von den Roten welche übrig waren. Da erblickte Genius seinen Teamkameraden. Seine Augen weiteten sich bei dem Anblick der tobenden Gruppe, die sich hinter Noble fast selber die Köpfe einschlugen, statt den stark in mitleidenschaftgezogenen Jungen zu verprügeln. Er pfiff. Ach du scheiße!
Sofort schmiss er eine Rauchkugel, stellte seine Onyx um und sprintete zu dem Pinkschopf, welcher nun, arg gebeutelt, kaum mehr wirklich Laufen konnte und zog ihn ohne Rücksicht auf Verletzungen über umgeworfene Aktenschränke, Bürostühlen und Liegen.
„Komm.“
Noble legte seinen rechten Arm um die Schulter seines Freundes und ließ sich widerstandslos mitziehen. Gemeinsam stolperte sie in Richtung Ausgang. Sane wartete dort schon ungeduldig. Vom Nebel war nichts mehr übrig.
„Idiot!“, knurrte sie aufgebracht.
„Was hast du dir dabei gedacht gleich alle drei auf dich zu lenken! Hast du Todessehnsüchte! Von meiner Schwester hätte ich das ja erwartet, aber nicht von dir!“
Hinter ihnen vernahmen sie den Zusammenprall mehrerer Körper. Es hörte sich wie dumpfer Donner an. Der Nahkämpfer lächelte müde und hob ein bisschen seinen Kopf an.
„Ein wahrer Gentleman hilft einer Dame immer aus der Patsche. So hat es mir mein Großvater beigebracht“, entgegnete er erschöpft und verlangte seinen Körper alles ab um sein Gewicht nicht gänzlich auf seinen Partner zu verlagern. Wäre sie nicht so unglaublich froh, dass dieser hirnverbrannte Idiot noch am Leben war, hätte das Mädchen mit den zweifarbigen Augen ihm gehörig eine gescheuert.
„Zu gut für diese Welt. Zu gut“, murmelte sie kopfschüttelnd und nahm Genius das Gewicht ab. Genius verlor keine Zeit und warf seine Kugeln in die Luft. Bis diese am Boden auftreffen würden, blieben ihn nicht mehr als 15 Sekunden – im Höchstfall!
„Weg hier!“, rief er überflüssigerweise und griff sich den anderen Arm des arg zugerichteten Teamkollegen. Das letzte Geräusch was zu ihnen gelangte, war das wahnsinnige Lachen des verrückten Wissenschaftlers, ehe ein ohrenbetäubender Knall hinter ihnen eruptierte wie ein Vulkan und die Druckwelle sie vom den Socken haute. Lampen barsten und der Gang erzitterte, doch er blieb intakt. Staub und Putz rieselte auf sie hinunter und bedeckte das Trio mit einer grauen Schicht. Sane wischte sich den Schmutz aus ihrem Gesicht. Ihre Hose war an einer Stelle feucht geworden. Die Phiolen waren zerbrochen.
Verdammt!
Mit gemeinsamen Kräften halfen sie und Genius den Verletzten zurück auf die Beine, ehe sie sich erneut in Bewegung setzten. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie, als sie ihren linken Oberarm ausstreckte und den langen, blutenden Schnitt entdeckte, welcher mit Dreck kontaminiert war.
„Scheiß Tag!“
„Würd ich auch meinen“, sagte plötzlich jemand nah an ihrem Ohr.
„Ich nehme mal an, ihr habt das Störsignal gebrochen?“
„Welches- du meinst, das war verantwortlich dafür, dass ich keinen von den anderen oder dich erreichen konnte, Bow?“
„Ja. Konnte es von hier aus nicht lösen, weil es ein externes System und somit nicht an das Netz angeschlossen war. Ich kann vieles, doch zaubern kann ich nicht.“
Es entlockte ihr kleines Kichern.
„Nah dran bist du aber“, erwiderte sie. Das Trio passierte den Eingang und traten nach draußen ins Freie. Dort warteten schon Lightning und Vis ungeduldig. Die Beiden hatten aus Sicherheitsgründen Genius nicht folgen können, denn was wäre gewesen wenn der Feind noch irgendwo außerhalb Truppen postiert hätte? Beim Anblick des Trio wurde ihnen blass um die Nase.
„Oh scheiße. Durch was für nen Fleischwolf haben die dich den gedreht?“, stieß Light aus und stemmte die Hände in seine Hüften.
„Die? – Gar nicht. Das war sein heldenhafter Versuch ein Gentleman zu sein“, fauchte der Blauschopf und nahm dem Gefragten seine Antwort ab. Der Schwarzhaarige hob beschwichtigend die Hände.
„Ganz ruhig Miss Captain. Er lebt doch noch. Außerdem kannst du ihm das nicht herausprügeln. Noble hat das in seinem Blut so zu sein, wie er eben ist. Da kann mach nichts machen“, kam Light dem Armen zu Hilfe, innerlich zuckte er allerdings bei ihrem Ton zusammen.
„Doch kann man!“, erwiderte sie unwirsch und funkelte ihn aus ihren zweifarbigen Tiefen an.
Autsch.
Wenn die Bluenette erst einmal so anfing, dann gab es meist kein Halten mehr. Dabei war es eigentlich ihre Art zu sagen, dass sie sich richtig Sorgen um einen machte. Trotzdem... Sie konnte mit diesem Gemüt jeden Bären in die Fluch jagen.
„Wie ist die Lage?“, richtete Sane ihre Frage an ihre weibliche Mitkollegin. Light war wie ein übergroßes Kind. Den brauchte sie nicht zu fragen. Er konnte zwar vernünftig sein, doch die meiste Zeit zog der 19-Jährige es vor die unverantwortliche Seite aus ihm heraushängen zu lassen.
„Hier oben ist alles reibungslos verlaufen. Nachdem ihr verschwunden seit, haben wir uns um den Rest gekümmert. Gute Gewehre haben die. Nachdem wir euch nicht mehr erreichen konnten, habe ich erst RUranu und dann Bow kontaktiert. Anschließend habe ich Genius hineingeschickt. Wäre er mit euch nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten aufgekreuzt, hätte ich Light nachgeschickt - auch wenn es die Sicherheit von uns allen erheblich gefährdet hätte.“
„Ich wäre bis dahin längst da gewesen, Vis. Vergiss das nicht.“
Uranu. Natürlich, wie hatte sie ihn vergessen können?
„Wann kommst du?“
„Eine, höchstens noch zwei Minuten, Miss Captain“, antwortete ihr der Kanadier.
„Schön euch wieder erreichen zu können“, spielte er auf die technischen Schwierigkeiten an, welche sich erheben hatten und das Duo vom Team gänzlich abgeschottet hatte. Noble keuchte auf und biss sich hart auf seine Lippen. Besorgt sah Sane ihren Teamkollegen an.
„Beeile dich.“
Stonevalley, früher Abend bis Nacht
Jeder Schritt konnte ein Donnerschlag sein und jeder Schlag war ein Laut, der durch die Stille peitschte wie ein Hieb und ihr das Geborgene raubte, welches sie umgab. Egal, wie leise man zu sein versuchte, es gab immer etwas, was gehört werden konnte. Der sanfte Wind, welcher nichts als ein Verräter sein konnte, sollte er sich entscheiden deine Kleidung mit kaltem Gesicht zu umspielen. Ein Rascheln, welches deinen Tod besiegeln konnte. Das Klirren von Waffen, welche nichts als die beginnenden Töne deines Trauermarsches sein konnten, sollten sie dein Totenlied singen wollen. Das natürlichste auf dieser Welt war zugleich auch das tückische, was es jemand geben wird. Der Atem. Ein Zug zu tief. Ein Zug zu laut. Ein Zug zu hektisch. - Und alles konnte vorbei sein. Alles. Hören, man musste zuhören, um zu verstehen, was um einem herum geschah. Horchen und Lauschen, denn ansonsten war man verloren. Außer man verzichtete auf das, was einen am Leben erhalten konnte - Deckung - und warf sich ins Getümmel wie ein Derwisch ohne Rücksicht auf das eigene Wohl. Ein düsteres Grinsen tauchte auf ihren Lippen auf. Selbstmordgefährdet. - So nannte man diese Art von Menschen, doch sie war nicht so. Nicht einmal ansatzweise. Sie war lautlos, schnell, tödlich. Der perfekte Killer, doch ohne den egoistischen Selbsterhaltungstrieb, welchen so viele ihrer Zunft angeboren war. Der stille Tod in Form eines stillen Killer, eines Assassinen. - Das war sie. Ein Mensch, der nicht gehört werden konnte, sollte er es nicht explizit wollen. Sie trug mehr Waffen am Leib, als es eigentlich möglich sein sollte und dennoch war sie so lautlos wie ein Schatten. Mit leichten Schritten ging sie die Treppe hinunter und durchquerte anschießend die Kantine um zum Aufenthaltsraum dieser Etage zu kommen. Diese bestimmte Angelegenheit hätte sie schon vor Wochen erledigen sollen. Das Zimmer war gut besucht. Ein Giftgrüner Schopf machte sich unweigerlich kleiner, als er den Blick einfing, welchen sie ihm entgegen warf. Sie lächelte. Sein Teint wurde einige Nuancen heller und er schluckte spürbar den Kloß hinunter, welcher sich gebildet hatte. Ihr Lächeln entfaltete sich zu ein blühenden Grinsen. Es ließ den Jungen weiter in den Wahnsinn abdriften.
„Hallo Ares.“
„Kuraiko“, nickte er ihr nervös zu und wartete darauf das die Apokalypse über ihn hereinbrach. Ein Funkeln trat in ihre Iriden. Ares machte endgültig einen Satz nach hinten, indem er tiefer in die Polster sank. Ein Kichern entkam ihren Lippen.
„Ich brauche ein-“
Sie pausierte einen Moment lang.
„Zwei Tickets. Am besten der inoffizielle Weg.“
„Für wahhnn?“, gähnte der Angesprochene weißblonde Hüne und streckte sich ausgiebig. Hypnos hatte es sich neben Ares in einem Sessel gemütlich gemacht und tat, was ihm von der Natur des Menschen gegeben wurde: Schlafen.
Er würde keinen Finger rühren, wenn es nicht äußerst dringend war. - Augenblick mal. Nicht einmal dann. Außer es ging um seine Freunde, denn da verstand er keinen Spaß.
„Freitag. Nach der Schule.“
„Soll ich die Rückreise auch arrangieren?“, fragte der Weißblonde und setzte sich aufrecht hin. In seiner Hand Stift und Papier, welche er - weiß Gott wo - zu Tage befördert hatte.
Doch Kuraiko hatte immer gute Gründe. Gründe, die ihre Eigenen waren. Außerdem war es eh erst für nächste Woche angesetzt. Kurz vor Donnerstag alles zu regeln war da ein Klacks für ihn.
Warte mal! War da nicht etwas für nächste Woche angesagt gewesen? - Hmm, er konnte sich bei bestem Willen nicht erinnern. Wird wohl nicht so wichtig sein...
„Nein.“
Sie legte ihm einen Schnipsel in die Hand und beugte sich zu ihm vor.
„Stockholm. Die genau Adresse ist auf dem Zettel“, wisperte sie so still wie der sanfte Wind.
„Geht klar“, murmelte er verschlafen zurück. Sie verzog kaum merklich ihre Mundwinkeln. Ihr Äquivalent zu einem Danke.
„Areees?“, zog sie Ares' Deck- gleichzeitig Spitznamen süffisant lang, ohne das Gesicht in geringster Weise zu verziehen. Im nächsten Moment sirrte etwas durch die Luft und traf die Wand neben Ares auf den Millimeter genau. Der japanische Dolch spaltete das harte Gestein. Spinnenwebrisse suchten sich ihren Weg von der Eintrittstelle aus in alle Richtungen, während Ares mit weit aufgerissen Augen dasaß und scheinbar das Atmen eingestellt hatte. Mit dem Zeigefinger fuhr Kuraiko gelassen über die geschliffene Seite eines Kunais, welches sie wie das andere wie aus dem nichts gezaubert hatte und fixierte ihn mit blanken Augen.
„Jemand, welcher von männlicher Abstammung ist, lästert nicht wie ein unbefriedigte Hausfrau.“
Jemand begann zu heftig zu husten.
„Merke dir das.“
Sie gab sich nicht einmal mehr Mühe ihre Scharade mit einer Unschuldsmiene abzurunden, sondern lächelte ein kaltes Versprechen, welches ihm sprichwörtlich alle Haare zu Berge stehen ließ.
„Loki pack deine sieben Sachen und beweg deinen Arsch zum Krankenflügel. Aber Pronto!“
Rainbows gehetzte Stimme drang durch angebrachte Lautsprecher an den Wänden zu ihnen. Sein Ton war alles andere als freundlich. Eigentlich benutzte er für die Kommunikation die Onyx, doch wenn es pressierte, dann war dem Buntschopf diese Taktik eindeutig lieber. Sehr zum Missfallen vieler, wenn sie in der Trainingshalle mitten in einem Übungskampf unterbrochen werden und damit ihren Sieg leichtfertig aus der Hand gaben. In dieser Situation war Bows Unterbrechung jedoch die Erlösung für Ares Leiden, denn jeder konzentrierte sich auf Rainbows gestressten Ton.
Loki erhob sich eilig aus einer anderen Ecke des Zimmers. Die einzelne rote Strähne stach unter seiner brünetten Haarpracht hervor wie ein Klecks Farbe auf schneeweißem Untergrund.
„Die Pflicht ruft Leute“, seufzte er theatralisch. Da Doc heute verhindert war, blieben alle ärztlichen Angelegenheiten an ihm hängen. Freilich hatte jeder in der ISAAC und dementsprechend der Umbra eine Schulung in Erster Hilfe absolvieren müssen, doch er war, anders als der Rest, ein ausgebildeter Rettungshelfer und drauf und dran Mediziner zu werden.
„Wir sehen uns.“
Er hob seinen Arm zu einer halbfertigen Abschiedsgeste und ging. In den Krankenflügel ging man nur, weil es das Standartprozedere nach einer Mission war, oder man wurde dorthin getragen, weil es einen so deftig erwischt hatte, dass die Engelchen schon riefen und ansonsten vermied man es in Docs Obhut zu gelangen. Wurden Lokis Dienste tatsächlich benötigt, dann musste gewaltig was schiefgelaufen sein.
Keine 10 Sekunden später erklang erneut Rainbows Stimme. Genervt.
„Kuraiko, Mr Hermes will dich sprechen. Briefingroom 2.“
Das 'Sofort' war selbsterklärend. Es hatte seine Vorteile Lautsprecher und Kameras überall auf den Gängen und wichtigen Zimmern stationiert zu haben. Jedoch selbst mit seinen 'Extraaugen' war es unmöglich die Tätowierte zu finden, wenn sie nicht gefunden werden wollte.
Keine Reaktion von der Grünhaarigen.
„Kuraiko!“
Erneut schien er auf taube Ohren anzutreffen. Nach einer gefühlten Ewigkeit sah sie auf, direkt in eine Kameralinse und grinste ihr typisch spöttisches Grinsen mit solch einer Belustigung, wie er es nur selten bei ihr gesehen hatte und bewegte sich dann in Richtung Ausgang. Die Ansage konnte deutlicher nicht sein: Niemand kontrollierte sie. Absolut niemand.
Er beobachtete wie sie auf das Portal zuging, immer näher und plötzlich war sie fort. Wie vom Erdboden verschluckt. Dabei hatte er bloß ein einziges Mal geblinzelt! Die Glastür schloss sich gerade wieder, doch er konnte keinen Schatten davon huschen sehen. Weniger als eine viertel Sekunde und sie hatte es geschafft ihm erneut zu entwischen!
Vermaledeites Mädl!
Er massierte sich die Schläfen, schloss seine Lieder und gönnte sich einen Augenblick Pause. Der Tag war sprichwörtlich ein Desaster. Angefangen vom Morgen, wo er in einen dreckigen Jogurtbecher getreten war bis hin zu dem Zeitpunkt an welchem besagtes Mädl in sein Heiligtum spaziert war. Nach ihren 'Besuch' begann die Talwärts Fahrt in einem raschen Tempo gar die Überhand zu nehmen. Cane bestätigte die anbahnende Katastrophe mit Pauken und Trompeten. Uranus machte munter weiter und teilte ihm mit, dass die eigentlich aufgeklärte Mission mit fiesen Fallen gespickt war, doch Sane hatte den Abschuss freigegeben. Kaum, dass er endlich wieder eine Verbindung zu ihr herstellen konnte, kam die Hiobsbotschaft: Mehrere Mitglieder ihres Teams verletzt und Noble hatte es am schlimmsten erwischt. Soweit sie ertasten konnte, war es ein bis mehrere gebrochene Rippen. Ein Meisterin war sie ja nicht. Also hatte er augenblicklich Loki in Doc's Domäne beordert, damit wenigstes das dringendste seiner Probleme vom Tisch war. Die Kommunikationskomplikationen genauer unter die Lupe zu nehmen, wäre eigentlich seine zweite Tat gewesen, doch zu allem Überfluss hatte Mister Hermes ausgerechnet jetzt das Bedürfnis mit der Wurzel allen Wahnsinns zu sprechen. Alles andere musste warten. Kuraikos Unterlagen, welche sie so liebevoll bei ihm angegeben hatte. Canes eigener Senf, den er dazugeben musste. Sanes Missionsunterlagen, deren erneute Überprüfung es nun wirklich nötig gehabt hätten! - Einfach alles!
„Ahhh!“, stieß er aus. Der Verzweiflung nahe. An Tagen wie diesen verfluchte er den lieben Gott im Himmel, dass er die Schlüsselstelle zwischen Läufern und Missionen war. Es war hektisch. Chaotisch. - Ganz und gar nicht sein Stil. Er mochte geregelte Bahnen, balancierte jede Seite immer bis zur Perfektion aus. Das hier war hundertprozentig nicht geordnet und ausbalanciert!
Ein Piepen brachte ihn aus seinen wüsten Verwünschungen. Arrgh! Er starrte das rote Lämpchen an, welches signalisierte, dass ihn jemand über die Onyx sprechen wollte, als wäre es der Teufel höchst persönlich. Was war denn jetzt schon wieder los?
„Ja!“, blaffte er unfreundlich. Hätte er eine Sekunde aufgepasst, anstatt sich in seiner Rage zu verlieren, wäre ihm aufgefallen, dass es sich um Sane handelte, die ihn da erreichen wollte.
„Sei nicht gleich so zickig!“, zischte der Zwilling zurück, selbst nicht gut gelaunt.
„Wir sind in fünf Minuten da. Ist Doc bereit?“, erkundigte sie sich. Im Hintergrund hörte er ein leises Stöhnen. Huh?! Er sah auf seine Armbanduhr. Wo war die Zeit hingegangen?
„Doc nicht. Die ist heut' nicht da. Loki ist im Flügel. Er wird sich um dein Team kümmern. Wie schlimm steht es um Noble?“, fragte er, hörbar besorgt. Der Junge war schnell. Ein leichtes Ziel war er dementsprechend nicht. Es rauschte für einige Wimpernschläge.
„Es geht. - Soweit. Die Rippe ist das eigentliche Hindernis.“
„Sonst welche Beschwerden?“, fragte er aus reiner Routine.
„Lightning hat sich an der Schulter treffen lassen. - Glücklicherweise war dieses Ding so sehr von der Explosion geschädigt, dass dessen Schlag, 'wie ein Baseballschläger' gewirkt hatte. Klartext: Volle Wucht und seine Schulter wäre zertrümmert.“
Ach du scheiße!
„Mein linker Arm und mein Bein hat es erwischt. Genius und Vis haben bis auf Kratzer und kleinere Schürfwunden nichts vorzuweisen“, vollendete sie ihre Aufzählung und holte tief Luft am anderen Ende der Leitung. Er vernahm erneut ein schwaches Stöhnen.
„Wie seit ihr mit diesem Ding - was war es? Menschlich hört sich das nicht an - fertig geworden?“
Ihre Antwort wurde durch das Signal eines eintreffenden Flugobjekts in den Hangarbereich verzerrt.
„Gar nicht“, wiederholte sie trocken.
„Wir mussten Incaedium einsetzten, um sie auszulöschen.“
Bow verzog das Gesicht. Incaedium, die Flächenbrandbombe.
Danke liebes Schicksal!
Der Tag wurde sogar noch schlimmer.
„Incaedium?“, fragte zur Sicherheit nach. Er war zu seinem und ihrem Erstaunen relativ gelassen.
„Ja?“, erwiderte sie leicht zweifelnd, nicht wissend, was sie sonst hätte antworten sollen. Er bedankte sich artig, wünschte allen eine gute Besserung und kappte die Verbindung ohne abzuwarten. Der farbige Lockenkopf stand auf, ließ alles Stehen und Liegen und marschierte schnurstracks in die Kantine, welche direkt den Gang hinunter lag. Jeden ignorierend, den er begegnete, stapfte er in die Küche. Vorbei an den namenlosen Köchen, die das Abendessen zubereiteten, war sein Ziel letztendlich der gekühlte Bereich der Speisekammer, wo die Getränke aufbewahrt wurden.
„Ich brauch nen Drink“, murmelte er völlig fertig mit der Welt und griff nach der Flasche Jägermeister.
Verübeln durfte es man dem armen Kerl nicht.
In der einen Hand die Glasflasche und in der anderen ein Schnapsglas, ging er zurück in die Kantine, setzte sich an einen Tisch und füllte sich den Schnaps ein. Taktvoll ließ man ihn in Ruhe. Mit einem Schluck war der Jägermeister die Kehle hinter. Es brannte ein wenig. Das er keine 18 war... - Darauf pfiff Bow in diesem Moment. Er genehmigte sich noch einen.
Stonevalley, Hangar bzw. Krankenflügel
Sane biss die Zähne zusammen und gemeinsam mit ihrem Team hievten sie Noble vorsichtig auf eine Trage. Bei jedem Schritt protestierte ihr Fuß lautstark, trotzdem kämpfte sie sich tapfer weiter. Sie ignorierte auch das Brennen in ihrem Arm geflissentlich, indem sie wüste Verwünschungen vor sich hinmurmelte und die Welt und ihre Bewohner zum Teufel wünschte. Vor der Eingangstür zum Krankenflügel stand eine circa 1.80 m große und männliche Person in einem weißen Arztkittel. Muskulös im richtigen Maß, nicht zu viel oder zu wenig. Eine Flammensträhne rann durch sein dunkles Haar. Loki. Er wirkte wie auf glühenden Kohlen. Sobald er den Treck erblickte, kam er ihnen mit starken, aber schnellen Schritten entgegen. Sein Ausdruck war missbilligend.
„Ihr zwei dürftet gar nicht mithelfen“, tadelte er Sane und Lightning, ehe er kurzer Hand der Bluenette die Last abnahm.
„Nichts da!“, mahnte er mit seiner 'offiziellen' Arztstimme.
„Dein Gezeter kann man schon im ganzen Valley hören. Du bist offensichtlich verletzt und solltest du noch länger diese Belastung auf dein Beins ausüben, dann wird es sich drastisch verschlimmern.“
Bitterschokolade traf auf zweifarbige Tiefen. Sie schloss ihren Mund wieder und seufzte geschlagen. Loki in seinem Rettungshelfer-Mantel widersprach man nicht, egal wie sehr es einem gegen den Strich ging. Er meinte ja nur das Beste für einen und sie war verletzt. Wobei das Bein ihr erst aufgefallen war als sie schon im Jet waren und ein Viertel des Waldes hinter ihnen in Flammen aufgegangen war.
„Ich nehme an, ich soll dich begleiten?“, fragte sie und versuchte mit ihnen mitzuhalten. Es scheiterte schon allein daran, dass das Gehen bei ihr, jetzt, nachdem sie der zusätzlichen Last entledigt worden war, eine Mischung aus Hinken und gequälten beinhaltete. Nach zwei endlosen Minuten gelangten sie zu Lokis Arbeitsstelle. Doc war kein Fan von klinisch weiß an den Wänden gewesen und hatte kurzerhand ihre Liebe für den afrikanischen Kontinent freien Lauf gelassen und raus gekommen war ein stilvoll, aber buntes eingerichtetes Krankenlazarett.
Die Frage erledigte sich von selbst.
„Natürlich“, erwiderte er unwirsch und dirigierte die Gruppe zu einem freigeräumten Behandlungstisch. Der Brünette schälte Noble vorsichtig aus seiner Kleidung und betastete behutsam seinen rechten Thorax. Währenddessen verabschiedeten sich Genius und Vis mit dem Versprechen später wiederzukommen, da ihre Verletzungen nur von Oberflächlicher Natur waren und keiner dringenden Behandlung benötigten. Loki nickte gedankenverloren, konzentrierte sich vollkommen auf die Arbeit vor sich.
„Sechste Rippe... gebrochen“, murmelte er, während der Patient empfindlich zusammen zuckte. Er sandte einen entschuldigenden Blick in Nobles Richtung.
„Siebte Rippe... angeknackst. Hmm...“, fuhr er dann laut fort.
„Sonst kann ich nicht feststellen. Wahrscheinlich ist, dass die fünfte und achte Rippe auch betroffen sind. Leicht. Wir müssen dich röntgen, damit ich weitere Knochenfrakturen ausschließen kann. Außerdem bleibst du mir anschließend so lange da, bis ich sicher ausschließen kann, dass du keine inneren Blutungen hast. Die Lunge ist nicht verletzt, sonst hättest du Blut gespuckt.“
Selbst wenn er gewollt hätte, in diesem Zustand konnte Noble sich nicht bewegen ohne vor Schmerzen aufzustöhnen, geschweige denn einen Fuß vor den anderen setzen.
„Was ist eigentlich passiert, dass er in dem Zustand zurückgekommen ist?“, richtete Loki die Frage an Sane, da sein Patient beschäftigt damit war, der nächsten Schmerzwelle zu trotzen.
„Drei genmanipulierte Menschen und sein Versuch, ebendiese von mir abzulenken, damit ich mich um den Drahtzieher kümmern konnte“, knurrte die hübsche Nahkämpferin und murmelte etwas was sich verdächtig nach
„Verdammter Pinkschopf und sein Großvater!“
anhörte.
„Wie manipuliert?“, umging der Aushilfsdoktor ihre Bemerkung geschickt und bedeute mit einer Hand Light, dass er einen Rollstuhl holen soll, während er den Patienten auf das Röntgen vorbereitete. Noble empörte sich keine Sekunde lang darüber, dass er wie eine Glaspuppe behandelt wurde. Wie immer nahm er es mit typischer Manier zur Kenntnis und lächelte charmant, obgleich ihm der Schmerz anzumerken war.
„Es waren Monster. Keine Menschen mehr. Willenlos und mit einem Schwerthieb direkt auf lebenswichtige Organe nicht totzukriegen.“
Mit vereinten Kräften halfen die beiden jungen Männer den Verletzten in das fahrende Gefährt. Indessen griff die Bluenette nach einer Schere und schnitt alles Stoff unterhalb ihres Knies vorsichtig weg.
„Wir reden später weiter. Wehe dir, wenn du in der Zwischenzeit aus diesem Raum gehst“, warnte er sie ein zweites Mal und begab sich mit Lightning und Noble im Schlepptau in einen Nebenraum. Sie schnaubte belustigt und machte sich an die Arbeit vorsichtig ihre Wunden zu säubern. Es war schon immer wieder auf Neue befremdlich einen der Regelbrecher Nummer eins so ernst und streng zu erleben.
„Und?“, fragte Sane, nachdem das Trio nach einer knappen Stunde wieder zurück war.
„Wie schlimm ist es?“
„Wir haben zur Sicherheit seinen gesamten Brustkorb durchleuchtet. Die rechte Seite ist ganz schon mitgenommen. Mit der linken steht alles Besten. Eine Rippe ist gebrochen. Drei angeknackst. Eine davon schwer.“
Gebrochene Rippen. Das bedeutete, dass er für die nächsten 4-6 Wochen ausfiel. Je nachdem vielleicht noch länger. Das hieß, er konnte sich Klettern, Fußball und sonstige sportliche Aktivitäten abschminken.
„Dir ist klar, was das bedeutet.“
„Abgesehen davon, dass du Sportjunkie für mindestens eineinhalb Monate die Füße still halten musst und bis du wieder vollständig einsatzbereit bist noch einmal vier Wochen vergehen könnten?“
Noble verzog das Gesicht.
„Danke, dass du mich jetzt schon daran erinnern musst“, erwiderte der Pinkschopf trocken. Er liebte Sport. Ein viertel Jahr kein oder nur eingeschränkt diesen zu betreiben, kam einem Todesurteil gleich. Er würde vor Langeweile sterben, dessen war er sich sicher.
„Ich war noch nicht fertig!“, funkte sie dazwischen. Loki nahm einen respektvollen Schritt nach hinten.
„Du! Du hirnverbrannter Idiot! Du verpasst unsere Wanderwoche und weißt du was? - Ich glaube das geschieht dir sogar Recht!“
„Yuna“, sagte Loki eindringlich, beschwor damit den rauschenden Zorn der Blunetten Schwertkämpferin auf sich.
„Nichts Yuna! Er hätte sterben können! Wie kann jemand nur so unglaublich dumm sein und Tod quasi zur Tür hereinbitten?“
Noble öffnete seinen Mund, doch sie winkte ab.
„Halt. - Antworte mir lieber nicht darauf. Ich will es nicht hören“, fuhr Yuna ihn an, dann stemmte sie ihre Hände in die Hüften und beugte sich zu ihm nach vorne.
„Dafür was anderes. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“
Noble sah mit halb geschlossenen Lidern zu ihr auf. Loki hatte ihm ein Schlafmittel gespritzt, welches allmählich zu wirken begann.
„Komm schon, Miss Captain. Lass ihn sich ausruhen. Du kannst ihm morgen noch eine Predigt vom Feinsten halten, doch jetzt ist es besser ihn Schlafen zu lassen“, wiederholte der stellvertretende 'Arzt' und legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Es ist ohnehin höchste Zeit mich um deine Wunden zu kümmern“, versuchte er es weiter mit ruhigem Ton. Sie blickte ihm einen Moment lang in seine Augen, ehe sie sich abwandte und langsam erhob.
„Hmm...“
Der junge Mann inspizierte gerade die schlimme Verletzung am Bein, welche er zuvor noch einmal gründlich mit Desinfektionsmittel gesäubert hatte und legte seine Stirn in Falten. Er hob seinen Kopf an.
„Also wenn ich...“
Der Satz verhallte auf seiner Zunge. Yuna starrte ins Nichts und schien ihn nicht wahrzunehmen.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Incaedium. - Wir mussten es einsetzten“, flüsterte sie. Diese... willenlosen Hybridmenschen waren darauf aus gewesen sie und ihr Team auszulöschen. Es waren Menschen gewesen. Davon welche sogar in ihrem Alter. - Doch sie hatte keine Wahl gehabt und wäre Genius nicht auf die glorreiche Idee gekommen es mit Incaedium zu versuchen, dann wäre ein noch viel größeres Chaos entstanden, hätten es diese Hybriden in die kleine Stadt, nicht unweit des Waldgebietes, geschafft. Sie hätte sogar härteren Sachen zugestimmt, allerdings konnte sie schlecht Caligo Tenebrosa oder gar Exstinctio in der Nähe eines Wohngebiets einsetzten. Es wäre schlichtweg falsch gewesen. Zugleich konnten diese beiden Spezialgemische nicht so einfach hinter den Teppich gekehrt werden wie Incaedium. Schließlich waren flächendeckende Waldbrände zu dieser Jahreszeit in Rumänien keine Seltenheit.
Die Bluenette kniff ihre Augen zusammen und griff sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel. Kräftige, männliche Finger berührten ihre Hand und zogen sie weg. Überrascht wanderten ihre Pupillen nach rechts. Bitterschokoladen fingen sie ein, wie ein zarter Schmetterling. Der Schalk blitzte in ihnen unaufhörlich auf, gedimmt, aber dennoch vorhanden. Anders kannte sie ihn nicht. Anderes würde sie ihn wahrscheinlich nicht erkennen. Nicht einmal wenn er direkt vor ihr stehen würde.
„Denk nicht so viel darüber nach. Es wäre zu Schade wegen dem hübschen Gesicht.“
Da war es wieder. Das spitzbübischen Grinsen, ohne welches er ansonsten so viel ernster wirkte.
„Wenigsten kann ich denken. Im Gegensatz zu gewissen anderen Menschen“, erwiderte sie harsch.
„Gut, dass nicht ich damit gemeint war“, sagte er selbstsicher und holte sauberes Verbandszeugs aus einer Schublade. Sie schnaubte belustigt auf.
„Natürlich.“
Yuna sog scharf die Luft ein, während er ein Gel vorsichtig auf ihre Wunde auftrug. Es fühlte sich wie kaltes Eis und kühlte ihre geschundene Haut wohltuend.
„Geht's?“, fragte Loki besorgt nach. Er konnte sich nicht entsinnen, dass er ihr jemals so nah gewesen war. So nah, dass er ihren Atem spüren konnte und den Geruch von Sandelholz und Rose in seiner Nase spürte. So nah, dass er in ihre einzigartigen Augen blicken konnte, welche ihn, seit er denken konnte, in ihren Bann gezogen hatten. Wann war er ihr jemals so nah gewesen, um die kleinen, feinen hellgrauen Äderchen zu sehen, welche sich über ihre linke Pupille ausbreiteten wie ein Spinnennetz?
„Geht schon.“
Sie befeuchtete ihre Lippen, lockten seine Aufmerksamkeit auf diese unwichtige Geste wie Honig einen Bären. Dieser eine Moment reichte aus, um ihn erinnern zu lassen:Wo sie waren. Wer dieser Engel mit dem blauen Haar war. Wer er war. Was seine Aufgabe war.
„Dann... sollte ich mich wohl wieder an die Arbeit machen“, murmelte er und senkte den Kopf. Kein einziges Mal erlaubte er sich aufzusehen. Zu groß war die Versuchung sich erneut in ihren mystischen Tiefen zu verlieren. Er musste es nicht noch herausfordern. Er legte ihr schließlich einen weißen Verband an und machte dabei den törichten Fehler aufzublicken. Yuna hatte sich zu ihm vorgebeugt, so nah, dass ihre Nasenspitzen einander fast berührten. Braun traf auf schwarz und blau. Die Zeit blieb für ihn stehen. Noch ein bisschen. Ein Paar Millimeter und er würde ihre Lippen auf den Seinen spüren.
„Hey Loki. Ich-“
Der 19-Jährige stoppte mitten im Satz. Seine Augen weiteten sich bei dem Anblick, welches sich ihm bot. Ein schelmisches Grinsen tauchte in seinen Mundwinkeln auf.
„Ohlala... das is ja mal ne interessante Entdeckung“, sagte er anzüglich und wackelte mit den Augenbrauen. Das glaubte ihm keiner! Die farbenfrohe jüngere Schwester der residieren Topkillerin und der Scherzkeks mit der Lizenz zum Heilen. Wer hätte das gedacht?
Sie stoben wie vom Blitz getroffen auseinander. Große Iriden fixierten ihn fassungslos.
„Was? Nein!“, stieß die Bluenette aus, während der 19-Jährige sich ihnen langsam näherte. Ihr Kopf hochrot.
„Wir sind doch nicht-“
„Keine Sorge“, entgegnete er lässig und unterbrach sie in ihrem Redefluss. Er griff nach einer kleinen Tube - Schmerzmittel - und ließ diese in einer Hosentasche verschwinden, ehe er sich wieder zum ungleichen Paar umdrehte.
„Ich komme später wieder und lass euch zwei Hübschen jetzt allein. Viel Spaß, Miss Captain.“
Nach diesen Worten flüchtete er schnell aus dem Krankenflügel. Gerade so verpasste ihn ein nach geworfener Stiefel. Die Miss Captain hörte noch sein lautes Lachen, ehe dieser Mistkerl von einem Teamkollegen den Gang hinunter war.
„ So ein – So EIN-!“, fauchte sie. Wütend fuhr sie herum.
„Du!“, knurrte sie leise, bemüht darum den schlafenden Noble nicht zu wecken und zeigte mit ausgestreckten Finger auf Loki, welcher die ganze Zeit über tatenlos dagehockt war.
„Warum hast du nicht gesagt?“
Beschwichtigend hob er die Hände.
„Ganz ruhig Yuna.“
Sie war zu erregt, als das sie auf den leicht traurigen Ton in seiner Stimme geachtet hätte.
„Es ist ja nicht so als wäre etwas passiert.“
Sehnsucht füllte seine Bitterschokoladentiefen, ehe mit einem Blinzeln die alte Ordnung wieder hergestellt worden war und das Funkeln eines Schabernack treibenden Jungen ans Tageslicht kam.
„Außerdem bist du ja gut allein mit ihm fertig geworden.“
Sie entsann sich eines Besseren, als jetzt auf ihn loszugehen. Immerhin war er der diensthabende 'Arzt' und sie eine verletzte Patientin. So sehr es ihr auch zuwider war.
„Nun Mister Arzthelfer, dann versuch einmal damit fertig zu werden.“
Sie wies auf ihrem Arm hin. Während ihr Bein bis einige schlimmere Kratzer kaum blutete, dafür allerdings farbenfrohe Blutergüsse ihre Haut zierten, war ihr Arm nicht so 'glimpflich' davon gekommen. Sofort wich der Schalk aus Lokis Zügen. Ungewöhnlicher Ernst spiegelte sich in seinen Iriden wieder. Er fluchte.
„Sag das doch gleich!“
Loki griff nach dem Desinfektionsmittel und legte sich schon einmal Salbe und eine neue Verbandsrolle bereit. Danach machte sich eilig ans Werk.
Stonevalley, erstes Stockwerk
„Was ist geschehen?“, begrüßte ihn sobald er aus dem Bad getreten war. Die Geräuschquelle kam von seinem Lieblingssessel. Kuraiko. Ihr Kopf ruhte auf ihrer Hand und ihr Arm wiederum auf der linken Sessellehne. Das dunkelgrünes Haar floss an beiden Seiten ihrer Schläfen hinab, wie der Wasserfall vor deren Haustür.
„Kuri“, sagte er und machte einen Schritt in ihre Richtung. Die Badtür ging automatisch hinter ihm zu. An seinen schwarzen Strähnen hingen letzte Wassertropfen, die sich nun langsam lösten und auf seinen nackten Oberkörper fielen. Eine karierte Shorts war das Einzige was er am Leib hatte. Selbst die Socken fehlten auf dem kalten Marmorboden. Ihre Augen, so rot wie Blut, fixierten ihn mit Langeweile, während sie mit der freien Hand ihr wallendes Kleid zurecht strich. Sein unangemessener Kleidungsstil war nichts, was sie nicht schon an ihm gesehen hatte.
„Wie lange bist du schon hier?“, wollte er von ihr erfahren, überging ihre Frage zunächst, fischte aus seinem Kleiderschrank, gleich gegenüber von ihr, ein dunkelblaues T-Shirt heraus und streifte es sich über. Egal welcher von ihnen beiden die Mission auszuführen gehabt hatte, früher oder später tauchte sie bei ihm auf. Meist früher als später.
„Nicht länger als eine viertel Stunde.“
Für einen Ausstehenden war der Ton in welchem sie sprach emotionslos. Für ihn allerdings, welcher sie seit nunmehr als ein Jahrzehnt kannte, war es Kinderspiel ihre wahre Gefühlslage herauszuhören. Fügte man hinzu, dass sie vor wenigen Tagen erst einen mentalen 'Durchhänger' hatte, - wohl eher schon einen kleinen Zusammenbruch - dann war es nicht verwunderlich, dass sie angespannt war. Angespannt und besorgt. Er rechnete die Zeit in seinen Gedanken durch. Sie hatte etwas die Hälfte seiner im Badezimmer verbrachten Minuten hier gesessen und sich keinen Stück von der Stelle bewegt, so wie er sie kannte und war, wie so oft, im stillen Denken vertieft gewesen.
„Wir hatten... Komplikationen. Größeren Ausmaßes“, erklärte er und ließ sich auf seinem gemütlichem Bett nieder. Ranu war fertig mit der Welt. Es fehlte nicht mehr viel und würde auf der Stelle einschlafen. Dabei war es nicht einmal so spät, er war bloß ausgelaugt.
„Langer Rege kurzer Sinn: Menschenexperimente, welche kurz vor der Vollendung standen. Was in der Fakultät genauer vorgefallen ist, solltest du lieber deine Schwester fragen. Ich weiß nur, dass mir ein riesiger Stein vom Herzen gefallen ist, als ich sie und Noble endlich wieder erreichen konnte. Neben Light und Noble wurde auch Yuna verletzt, doch...“
Ranu sah sie an, wartete ihre Reaktion ab und wurde nicht enttäuscht dabei. Die Finger, welche vor wenigen Augenblicken so belanglos an ihrem Kleid gestrichen haben, krampften für den Bruchteil einer Sekunde zusammen.
„das weißt du bereits.“
„Ja.“
Ihre Stimme war nicht mehr als ein bedrohliches Zischen. Ihr kleine Schwester zählte zu den Dingen in ihrem Leben, die unersetzbar waren. Ohne Yuna... - Wenn er ehrlich mit sich selbst war, dann wollte er diesen Satz nicht einmal zu Ende denken. Er hatte mitansehen müssen, wie sie an Adriens Tod zerbrochen war. Erneut würde sie dies nicht mehr 'unbeschadet' überstehen. Unbeschadet. - Was für ein lächerliches Wort! Die Kuri, welche er gekannt hatte, gab es schon lange nicht mehr. Nur noch verschwommene Spiegelungen ihrer Selbst.
„Es gab ein kurzes Gefecht. Von den wenigen Eindrücken, die ich gewinnen konnte, waren diese Menschen wandelnde Metallböcke oder so etwas ähnliches. Ich nehme mal an, dass Hitze ihnen wie jeder normale Mensch noch etwas anhaben konnte, denn deine Schwester gab den Befehl Incaedium einzusetzen. Du weißt wie destruktiv es sein kann. Hinter uns ging der Wald in Flammen auf.“
Diese Mischung war nichts. womit man leichtfertig umgehen sollte. In den falschen Händen war es eine Massenvernichtungswaffen ohne Gleichen. - Wie alle tödlichen Kreationen Hurricanes. Dieser Junge war zwar im wahrsten Sinn des Wortes ein absolutes Chemiegenie, doch im gleichen Atemzug auch ein kaltblütiger Killer mit den richtigen Gaben ausgestattet, um die gesamte Welt in Angst und Schrecken zu versetzten.
„Natürlich“, sagte sie und kräuselte ihre Lippen zu einem Schattenlächeln.
„Cane... liebt die Zerstörung.“
Ranu lachte.
„Wohl wahr, wohl wahr“, stimmte er ihr zu und wuschelte sich durchs halbtrockene Haar. Das Gespräch, welches nun angefangen wurde, war weitaus belangloser, als das Vorhergegangene und um einiges entspannter dazu. Sie blieb eine Weile bei ihm, ehe es sie woanders hinzog. Kuri berührte sanft seine Wange.
„Bis später“, wisperte sie. Für Außenstehende war dieses Bild das eines sich liebenden Paares, jedoch bedeutete es bei diesen Beiden etwas völlig anderes. Familie. Er war Familie und solche sollte man wertschätzen und ehren. Genau das drückte ihre Geste aus.
„Was ist in dem Umschlag?“, fragte er, als sie einen grauen Umschlag neben ihn legte und er streckte seine Hand danach aus. Etwas blitzte in ihren Augen auf. Ein Versprechen von Rache...
„Sieh selbst,“ entgegnete Kuri ihm kaltherzig und ging. Die Tür rastete ein, sobald sie durch den Steinbogen gegangen war und ließ ihn allein. Ranu nahm den Umschlag kritisch in Augenschein. Den Gewicht nach zu urteilen, lagen mehrere Karten darin. Schließlich seufzte er und öffnete ihn. Mehr als ein halbes duzen rechteckige Blätter fielen heraus. Er nahm das, was verdächtig nach einem Flugzeugticket aussah in die Hände und studierte es. Eines stach ihm unverzüglich ins Auge. Stockholm. Der Zielflughafen war in Stockholm.
Er schlenderte den Gang gemütlich herunter, während er seine Hände in den Hosentaschen vergrub und seine Gedanken kreisen ließ. Sie tauchte wie aus dem Nichts auf.
„Ist dir bekannt, ob meine Schwester sich noch in der Obhut deines Freundes befindet?“
Nein, er wusste genau woher sie kam. Erschrocken wirbelte er herum
„Wa-“
und verlor sich augenblicklich in ihren roten Tiefen.
Schwäche, flüsterte etwas in seinem Kopf.
Du zeigst Schwäche.
Er ballte eine Faust, starrte sie mit Trotz an. Die grünhaarige Schönheit blieb gelassen. Sein Gesicht spiegelte sich in ihren klaren Augen wider. Sie blinzelte und mit dem nächsten Lidschlag nahm er seinen Arm, den, welchen er als Verteidigung erhoben hatte, herunter.
„Ent-entschuldige“, stotterte er und fühlte sich dabei wie ein kleines Kind, welches beim verbotenen Naschen erwischt worden war. Plötzlich kam alles wieder zu ihm zurück.
„Äh... ich denke schon“, sagte er angebunden. Sie nickte - eine kaum zu erfassende Geste - und verschwand im Nu. Aus reinem Impuls rief er ihr ein
„Warte!“
hinterher und joggte ihr nach.
„Ich muss eh noch zum Krankenflügel. Etwas mit Loki besprechen“, gab er an, redete wie ein Wasserfall, obgleich sie nichts tat. Vielleicht tat er es genau deswegen. Reden, als gäbe es keinen Morgen mehr.
„Ich meine, dann können wir doch-, also ich... muss in dieselbe Richtung wie du...“, beendete er seinen peinliches Gestammel und zog seinen Kopf ein, wartete darauf, dass sie ihn ohne wenn und aber stehen ließ. Nein, er erhoffte es sich sogar von ihr.
Sie blieb.
Überrascht sah er auf. Sie musterte ihn eigenartig, jedoch ging dieser Gesichtsausdruck wieder so schnell wie er gekommen war und ließ die blanke Maske des Desinteresses zurück. Aber warum war sie dann nicht weitergegangen? Ihr Blick lag teilnahmslos auf ihm und im nächsten Moment war er auf den Gang vor ihr gerichtet. Schließlich setzte sie sich erneut in Bewegung, ohne verneint oder bejaht zu haben. Er folgte ihr, wenn auch zögerlich. Seine Gedanken rasten. War es eine Einladung oder war es ihr schlichtweg egal? - Welches von den Beiden war es? Die Grünhaarige sagte kein Wort, die ganze Zeit über nicht. Und er, er wusste nicht wo er anfangen sollte, ob er anfangen sollte. Sie stoppten am Steinbogen zum Krankenflügel. Jede Schiebetür im Valley war in eine circa einen Meter breite massive Steinwand eingebettet.
Er wollte etwas sagen, irgendwas, doch sein Hals war trocken und er brachte nichts aus seinen Lippen was annähernd einem Wort entsprach.
Dann ging sie hindurch. Einfach so. Und ließ ihn wie im Regen stehen. Er sah ihr hinterher, bis das milchigtrübe Glas sie voneinander trennte. Was hatte er großartiges erwartet? Was? Sie hatte nie viel miteinander zu tun, noch hatten sie oft miteinander gesprochen. Warum erwartete er überhaupt etwas?
Er ging auf das Portal zu. In seinem Gesicht lag kalte Verbitterung. Es öffnete sich und er durchquerte es ohne Mühen. Sie war längst bei ihrer keinen Schwester angelangt. Noble lag nicht unweit entfernt in einem Bett und schlief seelenruhig.
Das heute war eine einmalige Sache. Etwas, was er nicht wiederholen sollte. - Aber wollte er das wirklich?
Er fand den, den er wollte.
Ein letztes Mal sah er zurück zu dem Mädchen im wallend schwarzen Kleid. In seinen Augen trat ein untypischer Glanz. Sie legte gerade eine Hand an die Schulter ihres Zwillings.
Nein. Er wollte nicht, dass es eine Ausnahme blieb. Doch er hatte keine Wahl.
Er wand den Blick ab und ging auf den Brünetten mit der Flammensträhne zu, welcher mit dem Rücken zu ihm an einem Waschbecken stand und sich Blut von den Fingern wusch.
Der junge Mann zwang sich ein Grinsen ins Gesicht und gab seinem Kumpel eine freundschaftlichen Klaps.
Sie war bedeutungslos, nein musste es sein. Musste es.
Stonevalley, früher Morgen
Yuna rieb sich die pochenden Schläfen. Sie schlurfte den kurzen Weg hinunter zur Kantine und betrat diese mit übellauniger Miene. Was sie jetzt brauchte, war ein anständiges Frühstück und danach ein flauschig, weiches Bett. Mehr als zwei Stunden im Center, dem Zentralraum der Umbras, zu verbringen kam der Wasserfolter gleich, besonders wenn man sich nach einer kurzen Nacht und mit Schmerzen für die Befehle während des Auftrags am gestrigen Tag auch noch rechtfertigen musste, da gewisse Personen die Kurzfassung nicht schlüssig genug war. Rainbow sah so erfreut aus wie sie, als er ihr in aller Herrgottsfrüh die feierliche Nachricht überbrachte, sie wäre auf ein Rendezvous mit dem Regierungs-; Sicherheits- und Militärchefs Rumäniens, dazu der eigenen Führungsriege herzlich eingeladen. Zu guter Letzt hatte er sogar soviel morgendliche Frische auftauen können, dass er ihr ein 'Mein Beileid' bekundete, ehe er sich ins Chamber zurückzog und sie ihrem Schicksal überließ. Zu dem Stapel Unterlagen, welchen er ihr in die Hand drückte, kam die schlechte Laune also wie von selbst hinzu.
„Morgn Yu-“
Ihr Name blieb Ares im Hals steckten, so finster fixierte sie mit ihrem Blick. Dem Jungen schmeckte ganz und gar nicht, dass sie in diesem Moment eine beängstigend große Ähnlichkeit mit ihrer gestörten Schwester gemein hatte. Verdammt! Warum musste er sich seinen Morgen mit diesem Gedanken schon wieder selbst kaputt machen?
„Was ist denn dir über die Leber gelaufen?“
Wenn Yuna das Buttermesser weiter so fest umkrallte, dann sprängen ihr bald alle Knochen hervor. Sie haute das Messer nur so auf den Tisch, dass es schepperte, wie als gingen tausende Teller zu Bruch.
„Martell“, knurrte sie und kam dabei richtig in Fahrt, während sie die weiteren Namen runter ratterte wie eine Dampflok.
„Berchert, O'Brian, Dupont, Frost, García, De Luca und Evensted.“
Den letzten Namen spie sie förmlich aus. Es gab soviel böses Blut zwischen ihr und und Lexton, dass es mit einfachen Worten nicht mehr zu beschreiben war.
Oha.
Alles Namen der Führungsriege. Kein Wunder, dass sie so angefressen war.
„Wie ist es ausgegangen?“, fragte er mitfühlend. Yuna war ein herzensguter Mensch und konnte eigentlich mit jedem gut auskommen. Eigentlich. Doch aus einem irgendeinen Grund, welchem er durchaus nachempfinden kann, hatte besonders die Dame mit graumeliertem Haar und strengem Dutt das Fett bei ihr weg.
„Wunderbar!“
Ihre Stimme triefte nur so vor Sarkasmus.
„Nicht nur, dass ich mich zu einer unmöglichen Zeit habe rechtfertigen müssen. - Nein! Ich hab mich vor so einem frauenfeindlichen Arsch von einem Sicherheitschef verteidigen müssen, der in jedem zweiten Satz ''Frauen sind unfähig'' erwähnt hat. Ganz klar auf mich bezogen.“
In Puncto Kälte machte ihr Tom dem Nordpol deutlich Konkurrenz.
„Rumänien war natürlich sauer, aber nachdem ich endlich aussprechen konnte, habe ich alle Frage mit Freundlichkeit und Bravur über mich bringen können. Der Sicherheitschef wäre beinahe explodiert, so rot war der geworden, als ich ihm unter diese Nase gerieben habe, dass er und seine Abteilung bei der Sicherheit ihres Landes auf ganzer Linie versagt haben. Wären sie den mysteriösen Verschwinden nachgegangen und hätten nicht erst nachdem der Sohn eines lokalen Politikers verschwunden war, eingegriffen, wäre dieses Chaos in diesem Ausmaß nie passiert.“
„Yuna!“, entrüstete Ares sich, lächelte allerdings dabei und sah belustigt zu ihr.
„Die arme Putzfrau, welche den ganzen Dreck beseitigen müsste! Also, da würde ich sofort kündigen, wenn ich meinen Chef vom Boden aufwischen müsste.“
Ihm glückte der Versuch die Stimmung aufzulockern vortrefflich. Yuna gluckste.
„Mission: erfüllt. Und du hast mich nicht im mindesten körperlich angegriffen. - Ein Erfolg“, grinste er sie breit an. Sie schlug ihm spielerisch gegen die Schulter.
„Klar ist das einer“, erwiderte sie ohne echte Häme und schnappte sich was vom Frühstückskörbchen.
„Übrigens“
Das Mädchen schmierte sich seelenruhig ein Marmeladenbrötchen.
„Rainbow will eine Order einberufen. - Hat er mir vorhin gesagt, als er mit einer Laune von sieben Tage Regenwetter mir vom meinem unfreiwilligem Rendezvous berichtete.“
„Ganze Nacht durch gezockt, oder wie?“, fragte der Grünhaarige feixend.
„Nein, hat er nicht. Rainbow hat die Nacht damit verbracht sich durch meterhohe Unterlagen zu wälzen.“
Matt ließ Rainbow sich auf einen freien Stuhl neben Ares fallen. Die schlaflosen Stunden war ihm wie ins Gesicht tätowiert. Augenringe so tief wie der Pazifische Ozean hingen unter seinen Augen. Sein Gähnen war so gewaltig, dass man es mit ein Nilpferdmaul verwechseln konnte. Der Junge gehörte eindeutig ins Bett.
„Bow“, sprach sie den neu Hinzugekommenen an, ohne den Kopf zu heben. Selten wurde er noch bei seinem richtigen Namen genannt. Rainbow oder bloß Bow hatte sich eingebürgert, wie das tagtägliche Nutzen eines Mobiltelefons. Ihn machte das nichts aus. Im Gegenteil. Sein wahrer Name war ihm zuwider geworden, wie so fast allen, die hier wohnten.
„Was ist dabei raus gekommen? Neue Erkenntnisse?“
„Das kannst du glauben! Es gibt einen Zusammenhang zwischen deinem und dem Auftrag deiner Schwester.“
„Kuraiko?“, fragte Yuna überrascht. Davon hatte sie nichts bei ihrem gestrigen Besuch erzählt. Nun vielleicht hatte Kuraiko etwas in diese Richtung erwähnt, doch sie war wohl schon zu müde bei diesem Gespräch gewesen, als dieses bestimmte Detail zu erfassen.
„Hast du noch eine Schwester, die Kuraiko heißt?“, fragte Rainbow pampig und rückte mit bedachten Bewegungen einer Semmel auf die Pelle.
„Kuraiko ist in den Besitz von umfassenden Unterlagen zum Thema Hybridrasse Mensch gekommen. Der Verfasser war George Donahue, ein Biogenetiker, welcher in Oxford studiert hatte. Diese Unterlagen sollten an eine - bis jetzt noch - unbekannte Person weitergeleitet werden. Wahrscheinlich sein Förderer und Auftragsgeber. Mehrere Standorte gilt es ab jetzt zu überprüfen, da diese in dem Zentimeter dicken Schinken namentlich erwähnt wurden, doch einer sticht dabei besonderes ins Auge: Rumänien.“
„Rumänien? Sag mir nicht, dass-“
Sie stoppte und sah ihn an. Matt versuchte er sie anzulächeln. - Es ähnelte einer grotesken Fratze.
„Mus dich leider enttäuschen Yuna.“
Das hatte ihr gerade noch gefehlt!
„Pass auf, sonst schneidest du dir noch in die Hand“, wies sie ihn auf das Messer hin, welches bedrohlich nahe an seine Innenhandfläche schnitt.
„Huu?“, kam es geistreich von Bow.
„Oh. Ach das meinst du“, gähnte er, legte die silberne Klinge zur Seite und schnappte sich stattdessen ein paar Scheiben Käse, um diese in seine zu stecken. Die Bluenette beneidete ihn wahrlich nicht um seinen Job. Sie war genug bedient mit ihrer Arbeit als feste Teamleiterin, doch den ganzen Haushalt mit all seinem Mist planen, wie der Buntschopf es tat? - Da würde sie ja innerhalb von wenigen Wochen eingehen, wie eine Pflanze ohne Wasser und Licht.
„Das mit der Order werden wir wohl verschieben müssen“, sagte die Bluenette leise, während sie ihren Blick über die schlafende Gestalt des Computergenies schweifen ließ. Ihm das angebissene Käsebrot aus den Fingern nehmend, schüttelte sie besonnen ihren Kopf. Rainbow war tatsächlich im Stuhl eingenickt.
„Wehe du weckst den armen Kerl“, ermahnte sie Ares mit gehobenen Zeigefinger und stand lautlos auf. Dieser verneinte, sah selbst zu dem im blau-weiß karierten Hemd. Bows Atem ging gleichmäßig und ruhig. Seine Hände lagen schlaff auf seinem Schoss, nahe dran runter zufallen.
„Ein bisschen Schlaf schadet ihm gewiss nicht.“
Schule, später Morgen bis Mittagszeit
Gelangweilt spielte Yuna mit dem Füller in ihrer Hand herum, während sie halbherzig den Erläuterungen ihres Lehrers lauschte, welcher darum bemüht war ihnen Geschichte irgendwie schmackhaft anzurichten. Er konnte einem fast Leid tun. Betonung lag hierbei auf 'fast'. Im Grunde genommen war sie der Auffassung, dass jeder Lehrer selbst Schuld sei an seiner Misere, hatte er oder sie diesen Beruf doch freiwillig gewählt.
Daria neben ihr war heute seltsam still. Nicht das die Blunette es nicht begrüßen würde, allerdings kam es nicht sehr oft vor, dass die Brünette nichts zu erzählen hatte. Nun, sie wollte dieses rare Glück nicht auf die Probe stellen und behielt deshalb ihre Worte bei sich. Ihre Freundin würde früher oder später eh mit der Sprache herausrücken, da brauchte sie nicht auch noch nachhelfen.
Pünktlich zum Gong packte sie ihre Sachen zusammen und trottete lustlos aus dem Zimmer. Aus dem Raum nebenan strömten bekannte Gesichter. Bunte Haare in Kombination mit einem kariertem Hemd und einfacher Jeans. - Rainbow. Eine unmögliche Farbzusammenstellung aus grünblauer Shorts und gelbem T-Shirt mit Aufdruck,... Manchmal war ihr Genius' Modebewusstsein oder eher gesagt: Der Mangel von diesem nicht geheuer. Jedem, wie es ihm beliebte. Ihr gefiel es nicht.
„Yuna.“
Das verzierte Gesicht ihrer Schwester gelang in ihr Blickfeld. Glatt fiel ihr das grünes Haar offen über die Schultern. Heute trug sie ein hübsches Ensemble aus dunklem Seidentop, kurzem Plisseerock und schwarzen Römersandalen, dessen Bänder bis unter ihre Knie verliefen. Ihr anmutiges Gesicht, welches durch das Tattoo nicht von ihrer Schönheit einbüßte, sondern es sogar untermalte, war der Blickfang vieler männlicher Wesen auch wenn selbstverständlich negative Kommentare und Blicke ihr ebenfalls folgten. Dennoch wahrte man - egal, welche Ansicht man vertrat - eine gewisse Distanz zu ihr, so als wüsste man instinktiv, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Manchmal wünschte sich Yuna das dieser natürliche Abwehrmechanismus auch bei ihr auftrat, anstatt, dass sie sich im Mittelpunkt des Geschehen wiederfand.
„Du wirkst... abwesend“, stellte ihr Zwilling teilnahmslos fest und schob sich die Armbänder zurecht. Unter dem Leder blitzte es silbern auf.
„Wirst du es nie Leid sie zu tragen?“, fragte der Blauschopf und wies subtil auf die versteckten Messer hin. Im Treppenhaus herrschte reges Treiben. Kuraiko sah ohne echtes Interesse auf ihre Handgelenke, während sie die Stufen hinab tänzelte.
„Nein. So wie du niemals dein Duzen Shuriken vergessen würdest, die verteilt unter deiner Kleidung und in den Sohlen deiner Schuhe liegen“, erwiderte die Rotäugige mit leicht verzogenen Mundwinkeln.
„Dem hast du Recht“, grinste die Bluenette und zupfte sich das farbenfrohe Top zurecht, welches sie am Leib trug. In der Pausenhalle war es noch hektischer als zuvor in den Gängen. Kuraiko war von einem Moment auf den anderen in der Masse verschwunden und tauchte neben einem schwarzhaarigen Jungen wieder auf. Ein besonnenes Lächeln tauchte auf ihre Lippen auf. Es war seltsam, wie leicht sie in alte Gewohnheiten zurückfallen konnten, wenn sich der letzte halbe Monat wie eine kleine Ewigkeit angefühlt hatte, in welcher ihre Gespräche sowie auch ihre sonstige gemeinsame Zeit ein limitiertes Gut gewesen war.
„Hey Leute“, grüßte sie die Gruppe schon von weitem und stellte ihre Tasche ab. Den Ordner warf sie achtlos daneben.
„Hat wer von euch für Englisch gelernt?“
Wer auch immer die Idee hatte die Umbras in getrennte Klassen zu stecken, gehörte gemeuchelt. Zwar erleichterte es beispielsweise das 'Verschwinden' - besser bekannt unter dem Begriff krank - mehrere gleichzeitig immens, doch was nutzte eine Einheit, wenn sie nicht zusammen war?
„Glaubst du etwa die schreibt heute ne Ex?“, kam die Gegenfrage von Ares. Sein giftgrünes Haar war mit viel Gel aufgestellt worden und zog Aufmerksamkeit förmlich auf sich. Es konnte natürlich auch an seiner Neonshorts liegen, aber mit solchen Haarspaltereien wollte Yuna nicht anfangen. Sie waren alle - was deren Aussehen betraf - etwas... eigen, um es elegant auszudrücken.
„Wer weiß“, zuckte sie mit ihren Schultern. Im Nachhinein eine schlechte Idee. Durch die ruckartige Bewegung wurde sie einmal mehr daran erinnert, dass ihre Verletzung längst nicht auskuriert und nach wie vor in einigen Bereichen eingeschränkt war.
„Zutrauen würde ich es ihr ja.“
„Selbst wenn das der Fall sein sollte. - Es gibt wichtigeres zu tun, als sich über Englisch Gedanken zu machen.“
„Genau“, pflichtete jemand Rainbow bei und legte seinen farbig tätowierten Arm locker um die Schulter des Computergenies. Erst nach vielen endloses Stunden, in welcher sich Mister Hermes und unzählige andere von der ISAAC den Mund fusselig geredet hatte, war das Direktorat bereit gewesen Hurricane wieder in die Schule aufzunehmen. Diese hatte er nämlich vor drei Wochen 'unfreiwillig' verlassen müssen, nachdem er erneut in eine Schlägerei auf dem Schulhof verwickelt gewesen war. Das er bis zum Schuljahresende durchhielt, sich anständig zu benehmen, war reines Wunschdenken. Es war nicht sein erster Fehltritt gewesen und würde sicherlich nicht sein Letzter sein. Cane war eine tickende Zeitbombe.
„Zum Beispiel, dass wir alle heute Abend ein Date mit der Videoleinwand haben.“
„Richtig. Tox hat sich durch das Datenmonster gekämpft, welches ich ihr geschickt habe“, erklärte Rainbow und griff in seine Hosentasche. Yuna rümpfte abfällig die Nase. Tox. Was sie bei ihrer gebetenen Versetzung in die Umbra gedacht hatte, war Yuna bis heute noch ein vollkommenes Rätsel. Sie hätte im Research and Science Departement - kurz RASD - bleiben sollen, anstatt sich als aktive Agentin zu versuchen. Ausdauer und Kampfgeschick waren nie ihre Stärken gewesen und das Herz notfalls zu töten, hatte sie gleich dreimal nicht.
„Warum müssen wir alle dahin?“, maulte Ares und verschränkte lässig seine Arme.
„Reicht es nicht, wenn die die an der Mission beteiligt waren sich damit beschäftigen, anstatt dass sich jeder von uns damit rumlagen muss?“
„Erstens, weil es nicht nur die Rumäniengruppe betrifft, sondern mit Kuraikos Auftrag direkt in Verbindung steht und daraus sich ableitet, dass mehr dahinter steckt, als zu Anfang irrtümlich angenommen. Zweitens will die Führungsriege, dass alle informiert werden und drittens, weil ich es so sage. Kapiert soweit?“
Der Buntschopf steckte das Handy wieder weg und sah auf.
„Und jetzt kein weiteres Wort mehr, oder ich stopf' dir das Maul.“
Leider hatte Bows unterirdische Laune hatte das Wochenende überdauert und strafte jeden, der auch nur einen Millimeter aus der Reihe tanzte. Einerseits war das gut, da nun alle sich bemühten keine allzu große Kindergartentruppe zu sein und andererseits war es schlecht, weil ein Rainbow mit kurzen Geduldsfaden ein unausstehlicher Kotzbrocken war.
„Bow? Was gibt es eigentlich Neues?“, fragte die Blunette und versuchte die Stimmung aufzulockern, indem sie das Thema geschickt auf etwas anderes lenkte. Yuna verstand sich schon immer als Schlichterin, da für sie eine intakte Gemeinschaft das Allerwichtigste war. Außerdem konnte sie ein schlechtes Klima in der Umbra nicht ausstehen, da es früher oder später auf andere überschwappte und ihr die ganze Freude am weitermachen nahm.
„Bei Hypno ist alles im grünen Bereich. Er ist vor einer halben Stunde zum Zielort aufgebrochen und meldet bis jetzt keine Störungen. Das die Schlafmütze überhaupt mal auf Mission geht, ist schon einen Oskar wert“, sagte er zu ihr, dabei war sogar ein kleines Lächeln auf seinen Lippen. Yuna spiegelte seine Geste, erfreut darüber, dass ihr die Aktion gelungen war.
„Ich denke nicht, dass er sich dazu aufraffen würde den auch entgegenzunehmen“, erwiderte sie belustigt und kicherte.
„Auf dem Premierball hatte er sich ja auch nicht blicken lassen. Die Hälfte der Mädchen waren bitter enttäuscht gewesen, dass der 'süße Finne' nicht aufgekreuzt war.“
„Ehrlich?“, fragte Ares und zog seine Augenbrauen hoch. Der Gong übertönte das lautstarke Durcheinander, welches in der Pause vorherrschte und trieb die Massen zurück zu dem Klassenräumen.
„Und was ist mit mir? Bin ich denn nicht heiß genug?“, wollte er wissen und schenkte ihr anzügliches Grinsen. Sie lächelte ihn kokett an. Es war immer wieder aufs Neue verwunderlich, dass er für sein Ego kein ganzes Haus mieten musste.
„Pass auf, dass du dir bei diesen Temperaturen keinen Hitzeschock erleidest. Das kann nämlich zu Wahnvorstellungen und Trugbilder führen.“
Bevor er sich für ihre charmanten Worte revanchieren konnte, war Yuna auch schon im Treppenhaus verschwunden. Vorerst.
Stonevalley, Nacht
Ein Messer durchschnitt die Stille, wie die Schwingen eines Adlers und landete schließlich mit einem dumpfen Geräusch an der gegenüberliegenden Wand. Der Raum ähnelte vom Aufbau her einer modernen Schießanlage, mit dem Unterschied, dass hier mit scharfer Munition geworfen anstatt geschossen wurde. Erneut holte die junge Frau aus und ließ los. Während Kunai um Kunai in Richtung Wand flog, flossen die Minuten dahin, wie Eis in der glühenden Mittagssonne und raubten die letzten Sekunden bis zur vollen Stunde. Sie war allein. Niemand erlebte ihren Kampf gegen den unsichtbaren Gegner mit, welcher sie mit seiner bloßen Anwesenheit verspottete. Der Feind war ihr eigener Verstand und die Bilder, welcher er anstelle der Zielscheiben vor ihrem innere Auge heraufbeschwörte. Jeder Wurf war ohne Ausnahme perfekt gesetzt. Mitten ins Herz jeder einzelner Schießkarte. Es war das Bild eines Mannes, welches sie immer wieder sah. Das Gesicht eines Bastardes. Sie schleuderte das letzte Messer mit einer gewaltigen Wucht von sich und hob anschießend eine Plastikflasche vom Boden auf. Ihr Blick fiel auf das Ziffernblatt links neben sich, als sie gierig trank. Wenige Minuten vor Mitternacht. Wasser rann ihre Kehle hinab, linderte ihren Durst und dann ging sie ohne auf das Ergebnis zu achten aus dem Raum. Ein Rausch der Gefühle ergriff ihr Herz und vernebelte ihr den Verstand, während sie spielerisch ihre Schritte in Richtung Center setzte. Es war lange her, dass sie einer aktiven Spur folgen konnte. Zu lange. Die letzten Tage, Wochen, Monate waren ein gewaltiger Kraftakt zwischen Wahnsinn und Realität gewesen. Diesem Stress zu erliegen, war nie eine Option gewesen. Dafür war sie zu verbissen und hatte einen zu starken Willen, als das sie sich durch Druck zermürben ließ, wie ein schwacher Geist. Bis zum Ende dieser erst begonnenen Woche zu warten, war ein Kinderspiel im Gegensatz zu den vorhergegangenen Monaten des ewigen Nichts. Gleichzeitig mit einem Hünen betrat sie das Center.
„Man, wo bleibst du denn?“, nörgelte jemand und winkte mit der Hand zu sich. Swift zuckte mit den Schultern.
„Bin ja jetzt da, oder etwa nicht?“
Er überquerte den Raum und ließ sich neben Ares nieder. Indessen verließ sie den Schutz seines großen Schattens, um sich blitzschnell und unentdeckt in den hinteren Teil des Zimmers zurückzuziehen.Das Center war in zwei grundlegende Bereiche eingeteilt: Die vordere Hälfte war mit an den Wänden eingelassenen gigantischen Leinwänden und mehreren Schreibtischplätzen mit Computern und anderem technischem Schnickschnack bestückt. Der hintere Bereich beinhaltete hauptsächlich ein breites Regal mit unzähligen Ordnern und einen großen ovalen Konferenztisch, an welchem alle Mitglieder der Umbra Platz hatten. Rainbow saß an seinem Stammtisch vorne links, eine aufgeschlagene Mappe lag neben ihm, seine Finger flogen, während er die bekannten Gesichter zählte, über die Tastatur. Das behaupte einer, dass Männer nicht Multitaskingfähig waren!
Unvollständig.
„Nun, da ihr die Güte habt, endlich aufzukreuzen...“, richtete der Buntschopf sein Wort an die drei Neuankömmlinge, welche gerade eben das Center betraten. Sein Blick lag jedoch auf einer einzelnen Person, nämlich dem Jungen rechts mit dem schwarzen Haar.
„Wo ist sie?“
Es lag auf der Hand, wen der Buntschopf mit 'sie' meinte.
„Es ist verpflichtend und dass weiß das Mädl auch. Sie hat diesen Stein überhaupt erst ins Rollen gebracht, deswegen-“
Jemand unterbrach ihn.
„Solltest du dich eher dankbar erweisen, anstatt gegen mich zu wettern.“
Der Sprecher trat aus den Schatten.
„Das globale Netzwerk aus verschiedenen Geheimlaboren ist viel zu komplex aufgezogen worden, als das es einzig und allein durch die von meiner Schwester mitgebrachten Unterlagen erkannt worden wäre. Vergiss das nicht“, erinnerte sie ihn mit kalter Gelassenheit an ihren Verdienst, ohne welchen die Ermittlungen wahrscheinlich eine Weile sich im Kreis gedreht hätten.
„Das machst du doch mit Absicht!“
Sie grinste. Ein überhebliches Grinsen.
„Ich denke, es ist Zeit“, umging sie seine Anschuldigung ohne wirkliches Interesse und sah betont auffällig in Richtung einer Uhr.
„Wir wollen sie doch nicht warten lassen?“
„Vermaledeites Mädl!“, murmelte er unverständlich, tat allerdings - wenn auch nicht aus reiner Herzensgüte - seinen Part. Mit einem Schlag erschien ein Mädchen mit hellbraunen Haaren auf der zuvor grauen Videowand in der Mitte. Tox. Biologin extraordinär und ein ehemaliges Mitglied. Das Leben als Agent der Spezialeinheit Umbra war zwar hart und verbunden mit vielen Entbehrungen, dennoch hatte keiner zuvor diesen Schritt bereut. Einmal Schattenläufer, immer Schattenläufer. Bis auf sie, die einzige Person, welche je freiwillig aus der Umbra ausgetreten war. Es war zwar ihr gutes Recht, allerdings bei ihren Teamkollegen nicht hoch angesehen gewesen, war sogar als eine große Beleidigung aufgefasst worden.
„Rainbow, schön dich zu sehen. Schön euch alle mal wieder zusehen“, richtete sie ihr Wort an die gesamte Runde und strahlte sie kollektiv mit Lächeln an. Sie hatten sich nicht im Guten voneinander getrennt. Ein heimliches Bittgesuch an die Führungsriege war eben nicht die feine englische Art, noch das stille Verschwinden von heute auf Morgen. Vielleicht wären die Reaktionen von einigen nicht so ablehnend gewesen, hätte Tox im Vorfeld nur ein einziges Wort über ihr Vorhaben oder ihre Beweggründe fallen gelassen.
„Auch wenn unser gemeinsames Wiedersehen per Webcam stattfinden muss und der eigentliche Grund dafür nicht gerade erfreulich ist.“
„ In der Tat, ist er nicht. Du hast geschrieben, du bist mit den Unterlagen durch?“, fragt Rainbow und schob sein Headset zurecht. Tox blätterte in ihren Sachen herum.
„Entschuldigt“, sagte sie.
„Ich hatte heute nach keine Zeit mehr alles zu sortieren. Doch um auf deine Frage zurückzukommen: Ja, bin ich. George Donahue hat etwas geschaffen, was eigentlich unmöglich sein sollte, nämlich eine Veränderung der DNA-Struktur durch das Anfügen komplexer Molekülstrukturen ohne, dass es seine Funktion verliert und verkümmert, sobald man es in eine neue Zelle schleust. Es ist im Grunde genommen wie mit einer Reaktion zwischen zwei oder mehreren Stoffen vergleichbar. Wir mischen Stoff A mit Stoff B und erhalten ein Endprodukt namens Stoff C", fing sie sofort und ohne lange drum herum zu reden an.
„Ist es von Entscheidung, wo die Mutation an den DNA-Strang angefügt wird oder kann das vernachlässigt werden? - Wobei ich das persönlich ja bezweifle.“
„Ähmm.“
Blätterrascheln war zu hören.
„Bestimmt Abschnitte werden bevorzugt, andere werden außer Acht gelassen. Sind 'noch inkompatibel' und 'neue Strukturen müssen noch entwickelt werden' wie Donahue schreibt“, beantwortete sie Genius' Frage. Ein grübelnder Ausdruck trat ihm ins Gesicht. Man konnte die Zahnräder förmlich in seinem Oberstübchen rattern hören, wie das Laufwerk einer Uhr.
„Was für und ob das eine signifikante Rolle spielt, kann ich dir frühesten in einer Woche sagen, wenn ich mich selbst ans Mikroskop gesetzt habe und alles, was ich von euch geliefert bekam, analysiert habe. Es ist zwar schön und gut, dass George Donahue alles so akribisch aufgeschrieben hat, aber ich kann am 'lebenden' Objekt alles viel besser studieren, als mich auf Bilder vom Lasermikroskop zu stützen.“
„Was kannst du uns zu den beiden Typen sagen, an denen hauptsächlich geforscht wurde?“
„Du meinst Typ Oxonium und Typ Mercury? - Mercury ist das, was euch in Rumänien begegnet ist. Und es ist nicht das Element Quecksilber. Donahue nannte es bloß so, weil die Flüssigkeit, in welcher die mutierten Zellen enthalten war, silbern schimmert. Aber worauf ich jetzt eigentlich hinaus will, ist, dass die mutierten Zellen - Stoff C - eine Zusammensetzung vieler Metallmoleküle ist, eher gesagt bestimmte Eigenschaftsstrukturen der Metalle. Beispielsweise die Dichte oder die Siedetemperatur. Stoff C verhält sich sobald es in einen großen lebenden Organismus injiziert wird wie ein Virus und 'befällt' die 'gesunden' Zellen blitzartig. Das war der einfache Teil. Denn nun fängt eine flächendeckende Modifikation von 'normalen' zu mutierten Zellen statt, welche die meisten Versuchsopfer nicht überleben. Stellt es euch wie eine Überdosis Drogen vor. Entweder du stirbst oder überlebst es haarscharf, jedoch nicht ohne irreversible Schäden davonzutragen. In diesem Fall sind die Schäden jedoch keine langanhaltenden Hirnschäden oder anderes. Diejenigen, welche die Tortur überleben, haben ihre menschliche Hülle eingebüßt. Anstelle von Fleisch, Muskeln und Sehnen besteht ihr Körper nun aus lebendigem Metall.“
„Also haben sie wie der Silver Surfer aus dem Marvels Universum eine neue Gestalt bekommen“, kam da eine dumme Zwischenbemerkung von Ares.
„Natürlich“, erwiderte Rainbow unwirsch und sah Ares zweifelnd an.
„Sie kommen wie der Silver Surfer aus dem All und haben als Meister ein gottähnliches Wesen, welches ganze Planeten auslöscht.“
Fahrig griff er sich durchs lockige Haar. Langsam aber sicher wurde er zu alt für diesen Kindergartenkram. Konnte eine Order nicht einmal ohne irgendeine sinnlose Unterbrechung über die Bühne gehen? - Anscheinend nicht.
„Sei nicht gleich so eingeschnappt. Wollte doch nur die trockene Stimmung etwas auflockern!“, entrüstete sich Ares und warf kurz seine Hände in die Luft.
„Es ist kurz vor halb eins in der Nacht, Anwesenheit ist Pflicht und das Thema für den Großteil von uns hier sterbenslangweilig und obendrein noch hochkompliziert. - Da wird man doch Mal vom eigentlichen Thema abschweifen dürfen ohne gleich schief angepflaumt zu werden?“
Ein zustimmendes Murmeln kam von allen Seiten. Keiner hatte Luftsprünge gemacht, als ihnen die verpflichtende Teilnahme an dieser Veranstaltung mitgeteilt wurde. Zu jeder anderen Zeit wäre es ja noch halbwegs mit Akzeptanz aufgenommen worden, aber um Mitternacht mit einer voraussichtlichen Dauer von mindestens einer Stunde? - Nein. Man hatte besseres zu tun, als mit seinen vier Buchstaben am Stuhl festzukleben. Schlafen beispielsweise!
Bevor die Diskussion weiter ausarten konnte, schritt jedoch Tox beherzt ein:
„Vom Prinzip her hast du mit deiner Aussage nicht ganz unrecht, Ares: Die Menschen bekommen eine neue Gestalt, aber ihr 'Meister'-“
Hier sah sie kurz zu Rainbow.
„ist kein 'höheres' Wesen, sondern ein Größenwahnsinniger mit einem Gottkomplex. Und apropos kompliziert: Eben weil ich weiß, dass die Meisten von euch mit lauter Fragezeichen im Gesicht dahocken würde, habe ich versucht das Ganze hier auf einem einigermaßen noch verständlichem Niveau anzusiedeln“, erklärte Tox und rückte den aufgeschlagenen Ordner vor sich zurecht.
„Also nochmal: Wir haben es hier mit mutierten Menschen zu tun, welche zwar extremst robust und widerstandsfähig sind, aber immer noch mit dem Feind eines jeden Metalls kämpfen müssen, nämlich der Temperatur.“
„Deswegen haben meine Explosivkugeln und Incaedium etwas ausrichten können. Die Hitze hat sie zum... Schmelzen gebracht“, sagte Genius perplex. Neben Hurricane war er wohl so ziemlich der Einzige, welcher mit Tox's Ausführungen etwas anfangen konnte. Etwas fehlte dem intelligenten Jugendlichen aber noch bei ihrer Argumentation.
„Warum haben sie uns verfolgt? Deiner Erklärung nach hat sich ihr Erscheinungsbild geändert, eine neue 'Rasse' - wenn man es so sagen kann - erschaffen, doch das ändert nichts daran, dass es noch Menschen sind. Warum also sind sie wie willenlose Puppen auf uns losgegangen?“
Warum war es so, dass Rainbow die Antwort auf diese Frage nicht beantwortet haben wollte?
„Gehirnwäsche auf die chemische Art. Ihnen wurde ein Mittel verabreicht, welches sie zu Marionetten macht. Einmal ein Befehl ausgeteilt, kann dieser von nichts und niemanden mehr revidiert werden. Es ist als programmiert man eine Software und vergisst dabei eine Stopptaste mit einzubauen. Sobald man auf Enter tippt, läuft das Programm ohne das die Möglichkeit besteht es vorzeitig abzubrechen. Genau so war es bei euch. Selbst wenn sie gewollt hätten, wäre es ihnen nicht möglich gewesen aufzuhören. Sie mussten weitermachen. Selbst dann noch, als-“
„sie sich schon halbtot noch durch die Gegend schleppen mussten? - Ja, das ist uns sehr deutlich aufgefallen“, warf Yuna kalt dazwischen. Noble war für längere Zeit als untauglich erklärt worden, Lightning mit nur einer funktionierenden Schulter mehr Belastung als eine Hilfe und sie auf dem halben Weg dahin Noble in den sterilen vier Wänden Gesellschaft zu leisten.
„Was Yuna damit sagen will, ist, dass ihnen genau diese Tatsache schwer zu schaffen gemacht hatte“, beeilte sich Rainbow seinen Senf beizusteuern. Er warf einen warnenden Blick zur humaneren der beiden Zwillinge, welche diesen geflissentlich ignorierte. Diese fixierte die Aussteigerin stattdessen mit kalten Augen, während ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst worden waren. Yuna hatte Tox toleriert, war aber ansonsten nie wirklich mit ihr warm geworden. Mit dem feigen Bittgesuch verpuffte jener Respekt jedoch innerhalb von wenigen Sekunden wie Staub ins Nichts. Männer schlugen sich wie primitive Urzeitmenschen die Köpfe ein, doch Frauen waren viel... intelligenter und kreativer wenn es darauf ankam eine Sache untereinander zu regeln und hoben es auf ein geradezu künstlerisches Niveau empor. Das Ende vom Lied war jedenfalls, dass man es seit dem Zwischenfall in Briefingroom 1 tunlichst vermied die beiden Mädchen aufeinandertreffen zu lassen. Sollte es der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass Tox persönlich im Valley vorbeischauen musste, dann war es im Interesse aller sie aneinander vorbei zulosten ohne von der Existenz der anderen ein Wort zu verlieren. Manchmal ließ sich das allerdings nicht umgehen. - So wie jetzt, auch wenn es 'nur' eine Begegnung auf dem Bildschirm war.
Tox warf zu ersten Mal seit die Verbindung hergestellt worden war einen Blick auf die Bluenette, welche mit verschränkten Armen vor der Brust dasaß und ihr direkt ins Gesicht starrte. Ihre Pupillen schmälerten sich.
„Man sieht es“, erwiderte Tox herablassend. Ihr Blick wanderte spöttisch an Yuna herunter. Die Spannung zwischen den Beiden war zum greifen nah. Es fehlte nicht viel und es würden mehr als nur Funken regnen. Nicht einmal die Tatsache, dass über tausende Kilometer zwischen ihnen, konnte deren Antipathie ändern.
Argh!
Der Farbschopf wollte sich die Haare raufen.
Diese Beiden!
Wo zur Hölle war die rationale Vernunft, welche man der weiblichen Schöpfung anrechnete? - Genau. Dort wo sie nicht sein sollte. Warum die Mädchen dieses Theater veranstalteten und das jedes Mal von Neuem, obwohl beide mit Professionalität gesegnet waren, war ihm unbegreiflich. Verstand einer mal die Frauen!
„Tooox!“, ermahnte er die Brünette. Sie wirkte übernächtigt und ausgelaugt, dennoch nicht fertig genug, um den kleinen Privatkrieg mit Yuna momentan auf Eis zu legen. Womit hatte er das nur verdient?
Er sah sich verstohlen um. Die anderen enthielten sich ausnahmslos. Feiglinge! Warum blieb alles an ihm hängen? Hatte er etwa 'Streitschlichter' auf der Stirn tätowiert, oder was?!
„Versucht wenigstens zivilisiert miteinander umzugehen. Meine Güte! Ihr seit nicht mal auf dem selben Kontinent!“
Auch wenn sie nicht körperlich aufeinander losgehen konnten - zum Glück! - , so war er zu dieser Stunde nicht darauf erpicht einem verbalen Schlagabtausch beizuwohnen.
„Falsch. Der spezifisch richtige Term für den gesamten Kontinent ist Eurasien. Man differenziert sie lediglich in Europa in Asien aufgrund eines alten historisch-kulturell Hintergrunds.“
Rainbow starrte den Sprecher in Grund und Boden.
„Nicht hilfreich, Genius“, knurrte das Computerass den Genannten an. Dieser zuckte nur mit den Schultern.
„Wenn es aber stimmt!“, verteidigte er sich und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Das wandelnde Lexikon auf zwei Beinen. Manchmal war er froh, dass es ihn gab, doch in diesem Augenblick wünschte er sich ihn zum Mond und noch viel weiter. Bow verdrehte die Augen und winkte ab.
„Also?“, wand er sich zurück an die beiden Mädchen.
Moment Mal!
Saß das vermaledeite Mädl nicht vor wenigen Augenblicken noch neben Uranu und starrte teilnahmslos ins Nirgendwo?
„Wie wollt ihr es handhaben?“
Am Rand bekam er mit, wie Cane das Geschehen, wie als wäre es ein guter Actionstreifen, interessiert und aufmerksam verfolgte. Seltsamerweise war er bis jetzt der Ruhigste von allen gewesen. Ein Tatsache, die Bow nicht ganz geheuer war. Canes Lauen waren so unberechenbar wie das Wetter. Entweder er war gut drauf und richtete 'nur' minimalen und geradeso noch vertretbaren Schaden an, oder aber er wurde zu dem Sturm, dessen Namen er trug und löschte innerhalb eines Atemzugs ganze Landstriche aus.
Die restliche Gruppe waren in Anbetracht der Tatsachen da schon etwas subtiler als der Chemiker. Ares beispielsweise war mit sich im Zwiespalt, ob er sich denn zu Wort melden oder sein stilles Schweigen wahren sollte. Einige dösten sogar schon halb auf dem Tisch, während gewisse andere Personen nicht einmal mehr die Güte hatte, ihre desinteressierte Ader zu verbergen und stattdessen provokant in seine Richtung sahen.
„Zivilisiert. Immerhin ist die Uhrzeit auch nicht mehr die Jüngste, wenn du verstehst“, sagte Yuna zuckersüß und lächelte adrett ihr Gegenüber an. Ihre Augen sprachen dahingegen eine völlig andere Sprache. Sie stierten einander an, wie hungrige Wölfe. Eine jede suchte nach einem Fehler in der Deckung der Anderen.
„Natürlich, die Zeitverschiebung ist mir durchaus bewusst. Seltsam, dass bei euch jetzt Nacht ist. Bei mir fängt in einigen Stunden die Schule wieder an.“
Nach diesen Worten richtete Tox sich ausschließlich an Rainbow und Genius, die Einzigen, welche noch wach und motiviert genug waren aktiv an ihren Ausführungen teilzunehmen. Die Bluenette wurde zu einer Randperson. Das vermaledeite Mädl saß wieder an ihrem üblichen Sitzplatz, jedoch nicht ohne zuvor einen langen Blick mit ihrer Schwester ausgetauscht zu haben. Bow versuchte erst gar nicht zu verstehen, warum sie Yuna nicht aufgehalten hatte, sondern eine bloße Beobachterin des Spektakels gewesen war. Bei ihr war Malz und Hopfen längst verloren gegangen. Da kam man mit gesunden Menschenverstand nicht wirklich weiter.
Was ihn jedoch ein bisschen besser stimmte, war die Tatsache, dass sie dem anbahnenden Streitgespräch entkommen konnten. Es war eine trügerische Ruhe, welche sie da erneut über sie ausgebreitet hatte, denn niemand wusste, wann sie erneut eskalieren würde.
Schule, kurz vor Unterrichtsbeginn bis Mittag
Ein König. Der Klerus. Der Adel. Die Geschäftsleute und Handwerker. Zu guter Letzt: Das einfache Volk. - Das war einer von vielen Variationen, doch übertrug man dieses Hierarchiemodell auf eine andere und tiefer gelegene Ebene, so konnte man das Konzept einer normalen Schule erhalten. Ein Schulleiter an der Spitze mit seinem Direktorat und seinen Angestellten, den Lehrern als direkte Untertanten. Die beiden Stufen darunter konnte man dann schon zusammenfassend als den Schülerkörper bezeichnen, allerdings gab es hierbei erneut eine hierarchische Unterteilung, von welcher jeder wusste, dass es sie gab und deswegen von Seiten der Lehrer auch versucht wurde zu unterbinden. Zwecklos. Es haftete an jeder Institution wie unsichtbarer Staub in der Luft. Im Zentrum stand immer sie, die eine Gruppe, welche sich praktisch alles erlauben konnte, ohne Konsequenzen zu erfahren, welche ein freundliches Gesicht für jeden auflegte und doch im Inneren stets nur unter sich verkehrte, keinen Außenstehenden reinließ, wenngleich dieser in der Rangordnung eigentlich keinen sichtbaren Unterschied zu ihnen aufwies. Es waren beispielsweise die Sportler, die Intellektuellen oder die beliebten beider Geschlechter, welche versuchten an sie ran zukommen. Dann kam das große Feld der Mitläufer mit ihren unzähligen kopflosen Mitglieder, welche nicht eigenständig reagierten, sondern für welche gedacht wurde. Als Letztes kamen die Außenseiter, einsamen Wölfen und Freaks unter den Freaks. Schüler, die man sofort nach dem ersten Treffen vergaß oder einen weiten Bogen um sie spannte, um nicht mit ihrer 'Unnatürlichkeit' in Berührung zu kommen.
Ein Lachen entkam seinen Lippen, während er langsam die Stockwerke hinauf in den Musikpavillon wanderte. Schiefe Blicke wurden ihm entgegen geworfen.
Er gehörte zu den Stillen. Unsichtbaren. Einzelgängern. Man mied ihn. Eigentlich. Läge es nicht an einer grundlegenden Tatsache, so wäre er ein einsamer Wolfes unter vielen gewesen.
„Was geht'n bei dir ab?“
Er sah den Fragesteller an. So wie er, gehörte dieser zu ihnen. Umbra. Wegen dieser Zugehörigkeit war es ihm nicht vergönnt worden, sein Leben als strikter Einzelgänger weiterzuleben, sondern er musste sich mehr oder weniger damit anfreunden im Mittelpunkt der Schulgesellschaft zu stehen.
„Nichts“, winkte er lässig ab. Das Grinsen lag ihm noch immer auf den Lippen. Er wusste nicht, wie sie sich diesen Ruf aufgebaut hatten, denn das Einzige, was er wissen musste - wissen wollte -, war, dass sie ihn inne hatten und er automatisch von diesem Status gebraucht machen konnte, ihn, wenn man es genau nahm, schon hatte, noch bevor er von dieser still und doch eigentlich sehr offen geregelten Rangfolge unter den Schülern in Kenntnis gesetzt wurde.
„Wie du meinst.“
Sein Lichtblick in dieser neuen und verworren Welt, in welcher er plötzlich nicht mehr die Unsichtbarkeit ausnutzen konnte, war Kuri. Neben ihrer gemeinsamen Vergangenheit, welche nun schon vor fast einem Jahrzehnt seinen Lauf genommen hatte, verband sie ebenfalls die Gemeinsamkeit nicht von Anfang an der Umbra angehört zu haben. Beide waren zu unterschiedlichen Zeitpunkten in diesen besonderen Zweig der ISAAC eingetreten. Sie drei Jahre früher als er. Es war merkwürdig gewesen wieder plötzlich ein festes Umfeld zu haben. Wenn man seinen Standort bis dato circa alle sechs Monate gewechselt hatte, war es also nicht verwunderlich, dass eine Umgewöhnung nur schleppend voranging und bis heute noch nicht abgeschlossen war. Warum war es denn so, dass er mehr Flüge flog als sein Kollege? Nicht nur, weil er mehr Praxis und Erfahrung auf dem Buckel hatte, sondern auch weil er seine Füße einfach nicht ruhig halten konnte und irgendwie musste er ja dieser inneren Unruhe Herr werden. Bei Weitem war er nicht der Einzige, welcher diese Probleme hatte, obgleich bei Kuri noch andere Faktoren hinzukamen, so war auch sie vom Tatendrang getrieben und konnte nicht still herumsitzen.
„Bereit für ein bisschen musikalische Darbietung?“, fragte er plötzlich.
„Natürlich“, erklang es glockenklar hinter ihm. Wie so oft war ihr Timing einsame Spitze. Einige Augenblicke später und er wäre das Opfer unliebsamer Gesellschaft geworden.
„Der Neue“, murmelte jemand zu seiner Rechten. Viele Schüler waren nicht mehr auf den Gängen. Die meisten Lehrer hatten ihre Klasse schon eingesammelt und die Klassenräume verfrachtet. Bis auf zwei. Bei seiner und und der Parallelklasse im nächsten Zimmer war die Lehrkraft noch immer absent. Er drehte den Kopf ein wenig, um der laufenden Konversation über sich besser lauschen zu können.
„Aus Kanada. - So sagt man.“
„Scht. Dari, ich glaube er kann uns hören.“
Ein wissendes Grinsen erschien auf seinen Lippen, unerkannt von den beiden Mädchen, die sichtlich für die Gerüchteküche beitragen würden. Wenn sie schon über ihn reden mussten, warum dann so offensichtlich, dass es auch jeder Depp mitbekommen konnte?
„Ich denke, da hat jemand Groupies“, feixte jemand. Er blickte den Sprecher an. Cane. Dafür, dass er zig Verweise und Verwarnungen auf dem Konto haben sollte, war er ein recht anständiger Kerl. Sein berühmt berüchtigter Zorn, welcher auch in der Schule schon einen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte, wurde allerdings jeder Vorwarnung gerecht. In Kombination mit den Tattoos, welche den Brillenträger schmückten, ihn wie einen Pitbull unter lauter kleinen, fiesen und kläffenden Chihuahuas wirken ließ und seinem provozierendem Kleidungsstil - angemessen kam ihn seinem Vokabular wohl nicht vor - war er einer der Schüler, denen man nicht zu nahe kommen möchte. Freiwillig sowohl auch Unfreiwillig. Für ihn jedoch war Cane wie jeder andere, denn jemand, der so lange mit anderen Größen der Mors tacita zusammengearbeitet hatte, wie er, wusste, wann es Zeit war die Grenzen zu ziehen und den Rückzug anzutreten.
„Ich weiß“, seufzte er und hielt nebenbei Ausschau nach einer bestimmten Person. Lange hatten sie sich nicht mehr gesehen und noch länger war es, dass sie gemeinsam in einer Einheit gedient hatten. Es war seltsam gewesen sich zu der Gruppe zu gesellen, allerdings gefiel ihm die Variante 'allein' ebenso wenig. Besonders, weil er sich dann auf nervliche Belästigung hätte einstellen müssen, die ihm noch weniger zusagte, als eine Konversation unter 'Freunden'.
„Hört, hört! Er hat gesprochen!“
Ein simples Verdrehen seiner Augen und damit verabschiedete er sich aus deren 'Gespräch'. Ein familiäres Gefühl eroberte seine Zellen, wie ein rasender Sturm über das Land fegte.
„Ranu.“
Sie war bei ihm, ehe der Ton auf ihren Lippen verhallte. Sein Grinsen verwandelte sich in ein strahlendes Lächeln. Cane war vergessen und nur noch ein blasse Erinnerung der Vergangenheit. Sein augenblicklich gute Laune wurde von den tuschelnden Mädchen missbilligend zur Kenntnis genommen, was ihn allerdings herzlich wenig interessierte.
„Kuri“, antwortete er ihr. Die beiden Mädchen rechts von ihnen waren seltsam ruhig geworden.
„Sie kennt ihn.“
Das Wort 'sie' mit soviel Missfallen ausgesprochen, dass man die Galle schmecken konnte.
„Lass uns gehen, Dari. Wenn die ihn hat, dann ist er mindestens genauso Psycho wie sie selbst“, spie die Eine praktisch aus und zog an Darias Ärmel. Widerwillig ließ die Brünette sich mitzerren, nicht ohne jedoch einen Satz noch loszuwerden:
„Einen hübschen Arsch hat er aber, dass musst du zugeben Courtney.“
Ein 'hübscher' Junge zu sein, war eine schlechte Voraussetzung, wenn man sich in einer Schulgemeinschaft befinden, die pubertierende Mädchen aufzuweisen hatte. Ranu behauptete keineswegs, dass sein Geschlecht sich nicht minder unterbelichtet in dieser Zeitspanne von circa 12-17 Jahren verhielt, jedoch war es doch reichlich nervig, wenn andauernd Gekicher um einen herum hallte und das nur, weil man gerade zufällig den Gang entlang ging.
Kuri zog an ihm vorbei und drehte sich auf dem vorletzten Stockwerk zu ihm um. Sie wartete bis er zu ihr aufgeschlossen hatte, dann traten sie gemeinsam den Aufstieg zum Musikzimmer an. Er nickte seinem Pilotenkollegen Leth zu, als er mit seinem stillen Kompagnon den Glaspavillon betrat und ließ sich anschließend auf seinem gewohnten Platz nieder. Seine Gedanken wanderten. Freitag war nur noch einen Katzensprung davon entfernt in Angriff genommen zu werden. Er wusste nicht Recht, wie er mit der bevorstehenden Reise umgehen sollte. Kuri arbeitete gründlich und weitaus verbissener, wenn es sich um eine private Angelegenheit handelte. Sie würde sich niemals mit Nichts zufrieden geben und wenn es sein musste, würde sie die komplette Stadt, wenn nicht sogar ganz Schweden nach einem Hinweis absuchen, sollte sie den Bastard schon nicht persönlich zwischen die Finger bekommen. - Eines war er sich nämlich sicher: Van Dryar war längst über alle Berge, dem niemand war so dumm und blieb länger an einen Ort, als es nötig war, wenn man sich auf der Flucht vor alles und jeden befand.
Klaviertöne erklangen. Er sah zur Lehrkraft. Frau Mechair rief zu einer allgemeinen Singrunde auf. Ohne echten Elan an den Tag zu legen, erhob er sich von seinem Stuhl und trottete nach vorn zum schwarzen Klavier. Missmutig gesellte er sich zu Rainbow, welcher genauso erfreut drein schaute wie er selbst. Nachdem sie allen diktiert hatte sich ein Blatt vom Stapel zu nehmen, stimmte Frau Mechair die ersten Töne an.
Uranu widerstand dem Drang die Lippen einfach geschlossen zu halten. Das letzte Mal als die Musiklehrerin jemanden dabei erwischt hatte, musste der arme Kerl anschließend allein vor der Klasse vorsingen. A capella.
Wer gab dieser Frau das Recht Schüler - vorwiegend die Männlichen - zum singen regelrecht zu zwingen?
Die schiefen Töne zu Mad World von Gary Jules füllten den Raum langsam aus. Er unterließ ein Seufzen und stieg in das Lied mit ein.
Der heutige Tag war stillos. Es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht schon längst aufstanden und einfach so gegangen war. Ihren Noten und auch ihr konnte es egal sein. Wozu brauchte sie Schule, wenn ihre gesamten menschlichen Interaktionen auf - gerade einmal - einen minimalen Bruchteil des gesamten Schüler- und Lehrerkörpers hinauslief?
Sie verzog abfällig ihre Brauen. Wozu der Versuch sich einzugliedern, wenn sie vor Jahren ihren Weg gewählt hatte? Es gab kein zurück. Nicht mehr. Vielleicht wäre alles anderes verlaufen, wenn an jenem Tag sich nicht das ereignet hätte, was sie letztendlich zu dem gemacht hatte, was sie nun war. Ein Mensch, welcher lediglich ein einziges Ziel verfolgte: Rache. Rache an einzigen Mann: Van Dryar, der einstige Abteilleiter der TEF und jetzig sich auf der Flucht befindender Verräter.
Blut. Überall Blut. Verzweiflung, welche heiß wie Lava in ihren Venen floss, übertrumpfte ihre sonst so makellose Professionalität, während sie tatenlos daneben stehen musste. Kein Laut des Entsetzten drang mehr aus ihren Lippen. Dieser Moment war unwirklich, unbegreiflich. Sie war leer. Ihre Gedanken waren wie weggefegt vom Wind. Ihr Gesicht war ohne Regung. Ihre Gefühle waren, wie auf Knopfdruck, einfach abgeschaltet.
Das Einzige was sie sah, war wie Adrien immer wieder auf dem kalten, verdreckten Boden aufschlug. In einer Endlosschleife.
Sie fühlte nichts.
Kuraiko biss sich hart auf die Zähne. Verscheuchte die Bilder aus ihrem Kopf zurück in die dunkle Ecke, aus welcher sie entkommen waren. Zurück zu den Erinnerungen, welche sie vergessen wollte, es aber niemals schaffen würde sie abzuschütteln. Sie klebten an ihr wie ein unsichtbarer Film. Wie rachsüchtige Dämonen kamen sie jedes mal aus deren Verlies zurück und sorgten für neues Unheil. Immer wieder!
Wo waren sie, als dieser Bastard Mitglied um Mitglied der TEF von dieser Erde tilgte? Wo waren sie? Wo? Wo waren diese Lügner und Feiglinge gewesen, als nichts mehr von dieser glorreichen Einheit übrig geblieben war, außer zwei verstörte und traumatisierte Kinder? Sie waren Schuld. Sie und nur sie allein! Hätten sie... Hätten sie! - Es gab so vieles was die ISAAC hätten tun können, tun sollen, um es irgendwie im Vorfeld zu verhindern. Es im Endeffekt aber nicht getan hatte. - Wie so oft waren die 'Helden' zu spät gewesen, doch wenigsten eines hatten diese Feiglinge miterleben können: Den Verrat ihres Vorzeigeagenten, welcher sich als ein niederträchtiges Schwein herausgestellt hatte, der nur auf seinen eigenen Vorteil aus gewesen war und sich um nichts und niemanden geschert und Loyalität als eine Nichtigkeit angesehen hatte. Zumindest diese bittersüße Genugtuung hatte man ihr geben können, wenngleich es niemals den irreversiblen Schaden wieder gut machten konnte, welchen sie bis zum heutigen Tag davon trug.
„Kuraiko?“
Indem Mister Taven sie aufrief, holte er sie aus der Spirale des Zorns, ehe sie sich ihm völlig hingeben hätte.
„I am... sorry. Can you please repeat the question, Mister Taven?“, fragte Kuraiko und lehnte sich in ihrem Stuhl entspannt nach hinten. Äußerlich entspannt, denn im Inneren wütete noch immer ein Sturm.
Er verlor sich wie so oft in diesen Wochen in den Klang ihrer mystischen Stimme. In der Fremdsprache war diese so viel schöner, als sie es ohnehin war. Diese Macht, die sie über ihn hatte, ohne es zu wissen - es war, als würde er gegen eine Wand anrennen. Immer und immer wieder, doch Entkommen konnte er ihr kein einziges verdammtes Mal. Englisch gehörte zu einer ihrer beiden Muttersprachen, von welchen Japanisch die andere war. Deutsch war demnach die eigentliche Fremdsprache für sie und selbst diese beherrschte sie bis zur Perfektion.
Mister Taven wiederholte seine Frage. Sämtliche Ermahnungen ließ er bei ihr außer Acht, überging es - simple gesagt - einfach. Der Grund hierfür lag auf der Hand. An der Schule gab es einige, welche aus englischsprachigen Ländern kamen und gleich drei mit einer solchen Herkunft gingen in seine Klasse. Darunter sie. Darunter Uranus. - Genau das störte ihn. Es sollte ihn nicht interessieren, wie die beiden zueinanderstanden, doch ebendies tat es. Ihn stören. Wie eine nervende Mücke schwirrte es um ihn herum und ließ ihm keine Ruhe. Verbittert wand er den Blick ab.
„A very good pronunciation as always Kuraiko. Let's move on to number 2b“, sagte Mister Taven, zufrieden mit ihrer einwandfreien Antwort und ließ die Fragestellung von jemand anderen vorlesen.
Kuraiko widerstand dem Bedürfnis ein Messer aus ihrem Handgelenk zu ziehen und damit am Lehrer zu 'spielen'. Es hätte diesen Schultag nicht gar so nichtsnutzig erscheinen lassen. An Tagen wie diesen war es schwer sich der breiten Masse anzupassen, unsichtbar zu sein. Schwerer als sonst sollte man hinzufügen. Vielleicht war es deswegen so, dass Ranu sie schon die ganze Zeit über aus den Augenwinkeln aus beobachtete.
„I think, I was found out“, flüsterte ihr Banknachbar und gab den Schein auf dem Lehrer aufmerksam zu zuhören, indem er seinen Kopf halb zu ihr drehte. Die vereinzelten Haarsträhnen, die ihm ins Gesicht fielen, wirkten wie gewollt und nicht wie in Wahrheit ein Nebenprodukt seines Nicht-kämmens. Ein sanftes Lächeln lag auf seinen Lippen.
„But“
Und hier wechselte vom Englischen ins Deutsche.
„es ist besser Mister Taven weder zu foltern noch zu töten. Schlecht für das Image der Schule.“
Ranu konnte sie so gut lesen, dass es beinahe erschreckend für sie war, wie simple er es erscheinen ließ. Sie grinste ihn jedoch bloß kokett an.
„Ganz gleich wie gut Cane es zu zerstören versucht, manchmal bedarf es weiblicher Raffinesse, um das Ziel zu erreichen“, erklärte sie ihm und ihr Lächeln wurde zu einer Reihe messerscharfer Zähne.
„Nicht hier, doch ganz gleich wo - ich bekomme mein Ziel.“
Natürlich wusste Ranu sofort, um was es hier wirklich ging. Stockholm war zwar nur der nächste Zwischenstopp für sie, aber der Anfang für ihn für eine gemeinsame Jagd. Kuraiko hatte die Dunkelheit mit offenen Armen begrüßt. Er hatte sich von dieser losgesagt und sich stattdessen einer anderen, ehrenhafteren Sache verschrieben - das bis in den Tod.
„Zusammen.“
„Ja“, bestätigte sie mit eisiger Miene. Die Jagt nach dem Bastard hatte erst begonnen.
„Zusammen.“
Stonevalley, Nachmittag bis früher Abend
„Lass deinen Zorn nie Oberhand gewinnen, kämpfe mit ihm, anstatt dich verleiten zu lassen leichtsinnig zu werden“, murmelte Yuna gedankenverloren, während sie Ares dabei beobachtete, wie er langsam genau ebendiesen Spruch in den Sand setzte und mit roher Gewalt sein Gegenüber zu taxieren versuchte.
„Von wem ist das?“, fragte Loki, während er sich zu ihr ans Gelände stellte. Von hier oben hatte man einen guten Überblick über die gesamte Halle. Verglichen mit anderen Trainingsarealen, welche meist nur auf eine einzelne Sportart, beispielsweise eine Schießanlage, ausgelegt war, konnte man bei dieser hier mit gut und Recht behaupten, dass sie mit Abstand die Größte war, welche das Valley zu bieten hatte.
„Meiner-“
„Ach verdammte Scheiße nochmal!“, fluchte Ares, während er sich vom Boden aufrappelte und vor Wut schäumend an seinem Sparringpartner ohne ein Wort zu verlieren vorüberging.
„Nun Ares hat sich offensichtlich verleiten lassen“, sagte Loki mit einem Grinsen in der Stimme und verfolgte Ares mit seinem Blick. Dann von einer auf die nächste Sekunde allerdings...
„Oh sorry, wolltest ja eigentlich noch was sagen, nicht?“
Es war das erste Mal seitdem er sie im Krankenflügel verarztet hatte, dass er mit ihr sprach.
„Ja... wollte ich“, bestätige sie und sah wieder für einen kurzen Augenblick nach unten. Ein dunkelgrüner Schopf verschwand gerade unter ihr.
„Kuraiko. Sie- Nēsan hatte das einmal zu mir gesagt, als ich in einem Übungskampf ohne Waffen gegen sie die Kontrolle verloren hatte.“
Eigentlich war ihr nicht nach Reden mit ihm zumute. Besonderes nicht mit Mister Ich-habe-momentan-die-Fähigkeit-zu-Sprechen-vergessen. Das von letzter Woche nahm sie ihm noch sehr übel, denn er war es nicht, welcher dieses peinliche Missverständnis hatte ausbügeln müssen, sondern sie.
Skeptisch hob er die Augenbrauen an.
„Also ich weiß jetzt nicht was seltsamer ist. Die Tatsache, dass du die Beherrschung über dich selbst verloren hast oder, dass diese Worte aus Kuraikos Mund stammen sollen. Ich meine, wie kennen deine Schwester. So wie sie immer bei Missionen vorgeht, könnte-“
„Und genau da liegst du falsch mit deiner Annahme“, unterbrach Yuna ihn ziemlich unfreundlich.
„Du hast noch nie miterlebt, dass sie die Kontrolle verliert. Nicht einmal ansatzweise. Im Gegensatz zu mir.“
Sie starrte ihm einen Moment lang direkt in die Auge, ehe sie das Gesicht abwandte und ihren Blick senkte.
„Imouto.“
Yuna sah überrascht von ihrem Buch auf. Die Störung war unverhofft gewesen und hatte sie dementsprechend kalt erwischt. Ihr Herz setzte für einem Moment aus. Unglauben schlich sich in ihre Miene. Alle Geräusche traten in den Hintergrund. Es wurde still um sie herum.
„Ku-Kuraiko?“, fragte sie fassungslos. Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Ehe man sich versah, war die Bluenette aus ihrem Sessel und hatte die Arme um die Unbekannte gelegt.
„Onēschan! Du bist hier! Oh mein Gott, du bist wirklich hier!“, flüsterte sie zum Schluss und drückte ihren einige Minuten älteren Zwilling mit aller Kraft.
„Du bist wirklich hier!“
Dieser Tag hatte ohne Zweifel zu den Schönsten gehört, die sie bis dato je erlebt hatte. Denn an diesem Tag hatte sie etwas sehr, sehr wichtiges zurückbekommen: ihre Schwester. Die anfängliche Euphorie verflog jedoch innerhalb weniger Wochen. Es wurde klar, dass Kuraiko nicht unversehrt zu ihr zurückgekehrt war. Viele Verletzungen zierten ihren Körper, doch sie waren nichts im Vergleich zu den unsichtbaren Narben, welche sie in ihrem Herzen davongetragen hatte. Mit viel Fleiß, harter Arbeit und einer Engelsgeduld konnte sie schließlich nach und nach einen klein Teil der alten Kuraiko wiederbeleben, der Großteil ihrer alten Persönlichkeit war jedoch für immer verloren gegangen. An dessen Stelle war etwas anderes getreten. Etwas, was ihr Wesen verdorben hatte. Eine dunkel Finsternis inmitten von Nichts.
„Yuna?“, fragte Loki zögerlich, nachdem es einige Minuten still gewesen war.
„Du-“
„Lass deinen Zorn nie Oberhand gewinnen - Ihre Worte und doch hatte sie sie selbst ohne mit der Wimper zu zucken über Bord geworfen“, sagte sie schließlich und schloss ihre Lider. Ihre Stimme hörte sich leer an. Frei jeglicher Gefühle. Vor ihrem inneren Auge kam die Szenerie einer verlassen und schäbig wirkenden Hütte auf. Der Boden war mit Blut übergossen und die Leichen nichts weiter als dünne Fleischscheiben in der roten Suppe.
„Es war das erste und einzige Mal, wo ich Angst vor ihr hatte.“
Sie lachte bitter auf.
„Armselig, oder nicht? Ich hatte vor meinem eigenen Zwilling Angst gehabt. Meiner Schwester! Später hatte ich ihr für eine Woche nicht unter die Augen treten können. Ich hatte mich für mein Verhalten geschämt.“
Yuna zog instinktiv ihren Kopf ein. Eigentlich hatte sie noch keinem außer ihrem besten Freund davon erzählt. Bis heute. Und das auch noch jemanden, mit dem sie außerhalb von ISAAC-relevanten Sachen wenig bis kaum etwas zu tun hatte.
„Hey“, sagte jemand sanft. Das Mädchen mit den zweifarbigen Augen spürte eine warme Hand auf ihrer Schulter und sah über ihre Linke. Direkt in Bitterschokolade. Warm lächelte es aus ihnen; ohne den charakteristischen Schalk. Sie hielten sie gefangen.
Inmitten des Blutbads stand eine Person mit dem Rücken zu ihr. Ein Windzug kam. Die losen Strähnen des Zopfes schimmerten rostbraun. Langsam drehte sich die Person um. Ihr stoppte der Atem. Große, vor Wahnsinn zerfressende Augen starrten sie an. Das Menschliche in ihnen war nicht vorhanden, stattdessen tobte in den roten Pupillen flammender Zorn.
Yuna blinzelte. Die Stimmung schlug um.
„Ich warne dich, Loki. Höre ich dich auch nur ein Sterbenswörtchen über das, was du gerade gehörst hast, verlieren, dann bist du einen Kopf kürzer“, versprach sie ihm und baute sich drohend vor ihm auf. Niemanden ging die Beziehung zwischen ihr und ihrer Schwester etwas an. Schon gar nicht jemand wie Loki! Seine Akte maß mehr als zwei Fingerbreiten! Bei dem, was er alles mit seinem Freund verzapfte, waren diese knapp vier Zentimeter viel zu tief gegriffen!
„Einfallsreich bist du ja nicht gerade. - Also ich für meinen Teil würde noch etwas an den Drohungen arbeiten. Da bekommt man ja mehr Angst vor seinem eigenen Schatten!“, deklarierte er und grinste sie breit an. Es machte auf sie nicht den Eindruck, dass ihre Worte ihn irgendwie erreicht hätten. Bevor sie ihm jedoch widersprechen konnte, sprach er weiter:
„Für wie blöd hältst du mich? - Halt, warte!“
Loki hob seine Hand, als sie zu einer Antwort ansetzten wollte. Rhetorische Frage hin oder her. - Wer so dumm fragte, brauchte sich nicht zu wundern eben doch eine Erwiderung auf das Gesagte zu bekommen.
„Du antwortest mir jetzt nicht wirklich auf die Frage, geht das klar?! Ehrlich jetzt! Nur weil ich ein Spaßvogel bin, oder was? - Na vielen Dank“, sagte er trocken und steckte sich lässig eine Hand in die Hosentasche.
„Aber wisst ihr was, Miss Captain?“
„Was?“, fragte Yuna zweifelnd. Er wackelte nur verschwörerisch mit den Augenbrauen.
„Euer“, raunte Loki und beugte sich zu ihr hinunter, sodass sich fast ihre Nasenspitzen berührten. Trotzig starrte ihn der jüngere Zwilling an, wich nicht zurück.
„Geheimnis ist bei mir sicher“, wiederholte er exakt dieselben selben Worte, die auch Light benutzt hatte und grinste sie ebenfalls so provokant an, wie der 19-Jähirge es getan hatte. Schlagfertig war sie zwar, doch bei so viel Dreistigkeit blieb auch ihr mal kurz die Spuke weg.
„Werde ja nicht frech, Freundchen!“, erwiderte sie, sichtlich empört.
„Ich glaubs ja nicht – du! Ich denke, das rechtfertigt ein Besuch von Cane.“
Im Nachhinein betrachtet war das nicht gerade einer ihrer besten Combacks, aber selbst sie hatte mal einen schlechten Tag.
„Ohhh...“, machte er und setzte sich langsam in Bewegung.
„Da bekomme ich ja fast schon Angst. Versuche es das nächste Mal lieber mit deiner Schwester, dann klappst auch eher!“, rief er über seine Schulter und ging die Metalltreppe hinab. Im nächsten Augenblick bewies Yuna einmal mehr, wie ähnlich sie ihrer Schwester in gewissen Dingen doch war. Sie zog ein Wurfmesser hervor und warf ohne mit der Wimper zu zucken in Richtung unverschämter Vollidiot. Das Kunai verfehlte ihn haarscharf, prallte stattdessen an der gegenüberliegenden Wand ab und ging scheppernd Boden. Überrascht sah Loki sie an.
„Warum Kuraiko?“, spottete die Bluenette und strich sich das Haar nach hinten.
„Ich kann es ja doch?“
Lokis Gesichtsausdruck änderte sich. Ein tiefes Lachen entkam plötzlich seinen Stimmbändern.
„So gefällt mir das schon besser“, sagte er anerkennend und ging kurz auf Tauchstation.
„Ich behalte das mal, ja?“
Der Brünette schwenkte mit ihrem Messer in der Hand herum.
„Nicht, dass du jemanden noch ernsthaft damit verletzten willst.“
Stockholm, früher Abend bis Nacht
„Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo genau in Stockholm oder eher gesagt in welchem Stadtbezirk er sich aufgehalten hatte“, konstatierte Ranu, als sie sich in einem Taxi einfanden und in Richtung Innenstadt unterwegs waren. Sie hatten knapp zweieinhalb Stunden Flug hinter sich. Wenn man die Zeit miteinbezog, die sie für die Fahrt zum Flughafen und dem Check-in verplempert hatten, kamen sie auf insgesamt mehr als fünf Stunden. Viel zu lang. Mit der Spirit wäre lediglich halb soviel Zeit dabei draufgegangen, allerdings hatte Kuri ihm entgegengehalten, dass sie nichts riskieren wollte und deswegen hatten sie diese Variante der Fortbewegung gewählt.
„Im Süden, Industriegelände. Jedoch haben wir heute etwas anderes vor“, informierte sie ihn und beobachtete den Taxifahrer dabei aufmerksam. Ranu hob die Augenbrauen an. Davon hörte er zum ersten Mal etwas.
„Und was?“, fragte er. Das Taxi hielt an, bewahrte sie davor eine Antwort zu geben. Resigniert ließ er es darauf beruhen und nahm sich vor später das Thema erneut anzuschneiden. Das Duo stieg aus und der Kanadier holte die kleinen Taschen aus dem Kofferraum. Der Fahrer war so freundlich und half ihnen dabei. Er steckte dem Mann das entsprechende Geld zu und folgte Kuri, welche zwischenzeitlich die Straße hinunter gelaufen war. Sie machten einen kleinen Zwischenstopp bei ihrer bescheidenen Bleibe, einem billigen Hotel. Während er ihr in die Innenstadt folgte, beschlich ihn langsam aber sicher das Gefühl, dass sie bereits einmal hier gewesen sein musste. Kuri ging zielstrebig, erweckte zu keinem Augenblick den Eindruck, dass sie sich in dieser Stadt nicht auskannte. Ziemlich bald wurde klar, wohin es ging. Selbst wenn ihr aufreizendes Outfit nicht schon genug Hinweise gegeben hätte - Jetzt war es eindeutig, wohin ihr nächtlicher Ausflug sie führen würde.
„Lass mich raten: Das Partyvietel?“, entgegnete er sarkastisch und wich der dritten leicht bekleideten Frau aus, die ihnen entgegenkam. Ranu verzog das Gesicht. War es zu viel verlangt, einen Rock mit einer anständigen Länge anzuziehen? Nicht, dass die Männer da besser aussahen, die waren jedoch mehr in der Rubrik sturzbetrunken zu finden. Dabei war es nicht einmal richtig dunkel! Die Dämmerung war gerade erst dabei sich auszubreiten!
„Richtig. Hypno hat uns an jemanden verschrieben, der uns vielleicht Hintergrundwissen geben kann“, erwiderte sie unbeeindruckt.
„An wen?“, fragte er mit einer Spur Misstrauen. Auch wenn man den Finnen in Sachen Informationsbeschaffung hundertprozentig vertrauen konnte, von seinen über alle Ecken dieser Welt verstreuten Informanten konnte man das nicht behaupten. Der Großteil von ihnen waren Kleinkriminelle wie Gelegenheitsdiebe, Dealer oder anderes Gesocks, die einen Deal mit Hypno und indirekt der ISAAC ausgehandelt hatten. Mehr oder weniger freiwillig. Genaueres wollte der Kanadier auch eigentlich gar nicht wissen. Ihm gehörte der Himmel und da kannte er sich auch am besten aus. Was den Boden anging, nun das überließ er lieber den anderen.
„Sein Name ist Sky.“
„Origineller Name“, bemerkte er skeptisch. Je länger sie liefen, umso mehr Partysuchende liefen ihnen über den Weg. Mehr oder weniger nüchtern.
„Wenn dir sein wahrer Name lieber ist: Anthony. - Kein schwedischer Name. Er ist ein Ausländer.“
Die Gegend änderte sich allmählich von schäbig und heruntergekommen zu noblen Bars und Diskotheken für die höheren Preisklassen. Vor einem Nachtclub mit dem Namen Laroy hielten sie an.
„Gehört ihm das Laroy?“, fragte er während er sich der langen Schlage besah, die jetzt schon vor dem Eingang stand.
„Nein.“
Kuri tänzelte selbstsicher an den Partywütigen vorbei zum Türsteher. Der bullige Mann hatte soeben eine Gruppe Männer eiskalt zurück in die Reihe geschickt und war im Begriff auch sie abzuweisen, als sie mit der linken Hand sich durchs Haar fuhr. Ohne ein weiteres Wort winkte er sie hindurch. Um diese Uhrzeit war kaum etwas los im Laroy - was wohl eher an den strengen Einlastkriterien liegen mag, als dass es ein ungeliebtes Etablissement war - sodass man seinen Nebenmann/-frau sogar verstehen konnte und sich nicht durch die Menge drängeln musste.
„Was hast du ihm gezeigt?“, wollte Ranu von ihr wissen, als sie sich im Inneren befanden. Er war sich sicher gewesen, dass sie heute jedes einzelne Tattoo überdeckt hatte, bevor sie nach Stockholm aufgebrochen waren. Sie drehte sich zu ihm um. Mit einem Lächeln wiederholte sie die Geste, welche sie auch bei dem Türsteher getan hatte.
„Seit wann hast du germanische Runen?“
Er griff nach ihrem Handgelenk und besah sich der schwarzen Lettern genauer. Ranu war eigentlich der Auffassung gewesen, dass sie neben den japanischen Schriftzeichen keine anderen Sprachen auf ihrer Haut verewigt hatte.
„Gar nicht. Ich habe lediglich bestehende Linien mit den notwendigen Strichen ergänzt und alles andere, wie den Rest, überschminkt“, erklärte sie ihm und entzog ihm sanft ihren Arm.
„Mir gefallen diese Zeichen allerdings. - Was meinst du?“
„Es würde deine Tattoo-Vielfalt sicherlich bereichern, aber bestimmt dein Gesamtkonzept durcheinanderbringen“, antwortete er auf ihre indirekt gestellte Frage. Ihr halber Oberkörper war bereits mit Tinte versehen und alle paar Monate wurde es an bestimmten Stellen erweitert/vervollständigt bis es irgendwann fertig gestellt sein würde.
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir werden sehen.“
Weiß. Braun. Schwarz. Diese Farben zogen sich wie ein rotes Band durch alle Räumlichkeiten des Lokals. Diese war verbunden mit stilvollen und luxuriösen Elementen, dennoch konnte er ihnen nichts abgewinnen. Allgemein sprachen ihn Nachtclubs nicht so an, wie andere aus seiner Altersgruppe. Hin und wieder mit jemandem weggehen - das ließ er mit sich vereinbaren, aber jedes Wochenende? - Das konnte man getrost mit ihm vergessen. Er war kein Partytyp. Nicht im Geringsten.
„Was hat eigentlich der Türsteher gedacht, was er da sieht?“
Kuri warf sich das braune, offene Haar, welches sie nun ihr Eigen nannte, nach hinten. - Temporär verstand sich. Eine Perücke. Zusammen mit den matt grauen Kontaktlinsen und der makellos überdeckten Haut sah sie aus wie ein völlig anderer Mensch. Ein seltsamer Anblick. Normalerweise war er grün und rot von ihr gewohnt, nicht dieses... Normale. Er wiederum war auch nicht wie gewohnt mit schwarzen Haaren und facettenreichen blauen Augen unterwegs. Sein Aussehen glich dem Bild, welches in seinem gefälschten Pass war und ihn gleichzeitig als Kuris Bruder auswies. Alles eine Sache der Tarnung und bei Dryar konnte man nie vorsichtig genug sein.
„Runen, die mich in dieser bestimmten Kombination als ein Mitglied eines illegalen Schmugglerrings ausweisen, welcher von der ISAAC schon seit längerem beobachtet wird“, informierte sie ihn. Ihr gefiel der Club genauso wenig wie ihm. Insgesamt war sie kein Fan von Menschenansammlungen und von Discotheken noch weniger. Männer sahen es hier als Sport an Frauen schamlos anzubaggern und sich mit peinlichen Situation 'Ruhm und Ehre' bei seinen Freunden einzuheimsen. Nun, nicht nur die männliche Spezies. Genügen weibliche Partygänger verschmutzen der Ruf der Frauen ebenso wie die Männer den Ihrigen. Niederes Gesindel. Keinen zweiten Gedanken wert.
Sie ließen sich an der Bar auf zwei Hocker nieder und bestellten sich zwei alkoholfreie Drinks. Der Barmann hatte sie merkwürdig dabei angesehen, allerdings nichts weiter erwähnt und ihnen ihre Bestellungen gemixt. Während sie an ihren Getränken nippten, füllte sich langsam das Laroy und der DJ legte mit seiner Musik auf. Typisch englischsprachige Partylieder hallten von den Wänden wieder.
„Hypno zufolge hält sich Sky jeden Freitagabend hier auf. Bevorzugtes Gebiet ist die untere Tanzfläche. Hier.“
Kurai steckte ihm etwas zu.
„Auch ohne Bild und mit bloßer Beschreibung leicht zu erkennen“, sagte sie.
„Da hast du Recht“, murmelte er und gab ihr das Foto zurück. So langsam füllte sich der Nachtclub. Es wurde enger, stickiger, wärmer. Die Ersten wagte sich auf die Tanzflächen und machten die Nacht zur lebendigen Party mit kreisenden Hüften, verschütteten Drinks und vielen schlechten Anmachsprüchen. Mit einem stummen Nicken in Richtung Toiletten ließ Ranu für einige Minuten allein.
„Hey. My name is Maja and yours?“, rief ihm jemand plötzlich zu. Verwirrt sah er zu der überschminkten höchstens 20-Jährigen Blondine im kurzen weißen Kleid. Noch kürzer und es hätte als Oberteil hergehalten.
„Ian.“
Der Name stimmte sogar. - Jedenfalls zeichnete ihn sein Pass als Ian Louis Dearing aus. Wohnhaft in Atlana, Georgia, USA. Ein typisch amerikanischer Student, welcher gerade die Semesterferien in einem anderen Land genoss. Unauffällig und logisch.
Mit dieser knappen Antwort hatte er gehofft in Ruhe gelassen zu werden, jedoch hatte Maja anderes vor und setzte sich neben ihn auf den verwaisten Hocker.
„You haven't answered at first so I thought I'll try it in English.“
„Yeah... I'm American.“
Richtig enthusiastisch hörte sich das nicht an, doch sie ließ sich nicht davon beirren und machte munter weiter. Gefühlte Stunden später, in welchen die Blondine sich immer weiter zu ihm gebeugt hatte um ihm so ihr Dekolleté vorzuführen, war Ranu am Ende seiner Freundlichkeit angelangt. Diese Frau verstand schlichtergreifend kein 'Nein!'.
„I think it's better for you to go now“, kam ein schneidender Ton von rechts. Überrascht sah die Einheimische auf. Direkt ihn kühle graue Pupillen, die sie abschätzend mustern. Ein dunkelgrünes Kleid mit eingearbeiteter schwarzer Spitze schmiegte sich an ihre Figur wie eine zweite Haut, dennoch wirkte es nicht billig, sondern elegant und zielsicher. Sie konnte ihr Äußeres noch so sehr verändern - ihr Charakter blieb einzigartig.
Die Erlösung! Was hatte Kuri auch nur so lange auf dem Klo gebraucht?
„And why?“, fragte die Blonde herablassend, inspirierte die 'Rivalin' langsam von oben nach unten. Alles eine Frage der Taktik.
„Ian, are you coming? Our friend is here“, richtete sie sich an 'Ian' und ignorierte die Blondine, welche beleidigt die Arme verschränkte, geflissentlich. Dumm nur, wenn die Strategie nicht aufging, sondern sogar nach hinten losging.
„Yeah I'm coming“, sagte er hastig und erhob sich vom Hocker. Alles war besser, als sich weiter den schlechten Anmachversuchen der Blonden auszusetzen. Des Weiteren hatte er eine minimale Regung von Kuris Hand zu ihrer Handtasche aus den Augenwinkeln ausmachen können. In dem Ding waren genügen Waffen um gewaltigen Schaden an Leib und Seelen andere anzurichten. Sie wurde unbeherrscht. Wie sie das ganze Zeug unbemerkt hineinschmuggeln konnte, nun am besten war es, dass man es einfach bei der Tatsache beließ, dass es sich um Kuri handelte. - Alles andere wäre auch zu kompliziert geworden.
Maja hielt ihn am Arm zurück und steckte ihm ihre Nummer zu. Zu der Handgeste kam eine kaum ersichtliche Zuckung in Kuris Gesicht hinzu. Alarmglocken schrillten in seinem Kopf auf, wie hunderte Sirenen auf einmal.
„If you ever want some good company“, erklärte Maja mit einem koketten Wimpernschlag. Kuri machte eine konkrete Bewegung und griff in ihre Tasche.
„Thanks, but I'm comfortable with Kate“, verneinte er ihr 'schmeichelndes' Angebot schnell und gab das Zettelchen zurück. Wie tief konnte man als Frau sinken? In keiner Silbe erwähnte er, dass sie sich hier als Geschwister ausgaben, noch dass sie nicht seine Freundin war. Sollte die Blondine doch denken was sie wollte! Eingeschnappt stapfte die Blondine an ihnen vorbei und rempelte die Brünette absichtlich an. Ranu spannte sich an. 'Kate' schnappte sie blitzschnell am Handgelenk und drehte es schmerzhaft um. Geschockt und mit verzogenen Gesichtszügen starrte Maja auf die Braunhaarige.
„Wha-“
Die wütende Entgegnung blieb der Schwedin sprichwörtlich im Hals stecken. Waren die Augen vorher noch kalt und unnahbar, stachen sie nun mit einer Intensität von tausend sterbenden Sonnen auf die Einheimische ein.
„Behave.“
Sie hielt den Blickkontakt - kalt, drohend und dennoch teilnahmslos - für einige Momente aufrecht, ehe sie achtlos Majas Hand ausließ und sie mit einem abfälligem Schnauben dabei bedachte. Einen Wimpernschlag später war die Blondine in den Massen abgetaucht und verschwunden.
„Gehen wir nun?“, fragte Kuri unschuldig, als sei nichts gewesen und drehte sich zu Ranu um. Er schüttelte lediglich seinen Kopf. Wer sich eben mit der Falschen anlegte, musste für diese Dummheit bezahlen. Ausnahmslos. Wenigstens musste er sich nicht den Kopf über eine Leiche im Laroy zerbrechen.
„Bringen wir es hinter uns.“
Ihr folgend, quetschten sie sich durch die tanzende Menge. Mittlerweile war es ziemlich voll im Nachtclub. Drängeln war nun die einzig sinnvolle Fortbewegungsmethode. In einem bunten Hemd, einfacher Jeans gekleidet und mit auffallendem Goldschmuck am Körper stand ihre Zielperson zwischen drei hübschen Damen und genoss diese Begebenheit sichtlich.
„Are you the one called Sky?“
Kuri trat an die Gruppe heran und unterbrach ihn in seinen Schäkereien. Nicht das sie das großartig störte.
„Who wants to know?“, fragte der dunkelhäutige Informant und schickte seine weibliche Gesellschaft mit einer typischen 'Weg'-Bewegung fort.
„A friend of ours has recommended you to us.”
Der Mann riss von dem Anblick der hübschen jungen Frau los, welche ihn angesprochen hatte und legte stattdessen sein Augenmerk auf ihren männlichen Begleiter. Ein schlichtes dunkelblaues Hemd zu schwarzer Jeans und enganliegendes und ein aufreizendes dunkelgrünes Kleid. Unauffällig gekleidet, jedoch dem Stil der Mode angepasst und ein unmissverständlich amerikanischer Akzent, welcher in der Masse der abertausenden ausländischen Studenten unterging. - Definitiv seine nächsten Kunden.
„Who might this friend of yours be?“
„Hypnos.“
Skys Gesicht verlor jegliche Farbe.
„Damn!“, fluchte er und knallte sein Glas gegen die Tischplatte. Hypnos. - Ein Name. Ein Fluch. Wäre er diesen blonden Milchbub doch nie begegnet und hätte auf sein Bauchgefühl vertraut, anstatt sich auf seinen verdammten Deal einzulassen!
Kleine intrigante... - Sky schluckte seinen verletzten Stolz hinunter und wand sich seinen unerwünschten Gästen zu.
„And your names might be?“, fragte der Dunkelhäutige scharf nach. Sein alter 'Freund' - mieser Erpresser traf eher auf diese linke Bazille zu - hatte sie nicht ohne Grund zu ihm geschickt. Da konnte er genauso gut versuchen, etwas über diese Beiden herauszufinden.
„You can call us Ian and Kate“, sagte Kate nonchalant und nahm eine ihrer braunen Strähnen in die Hand und wickelte sie lasziv um ihren Zeigefinger.
Ian und Kate. - Es gab genügend Ians und Kates da draußen, um eine spezifische Suche nach ihnen zwecklos zu machen. Verfluchtes Pack, alle mitsamt!
„What can I do vor you?“
Professionell und auf dem Punkt gebracht. Hypnos war zwar auf seiner Hitliste sehr weit unten, doch er war nicht wahnsinnig genug Freunde von ihm seine angebotene 'Hilfe' auszuschlagen.
In Kates Orben trat ein dunkler Klang und ihre Haltung veränderte sich völlig. Sie beugte sich nach vorne. - Für Außenstehende mag es wie ein Flirtversuch aussehen. In Wahrheit war es jedoch etwas komplett anderes. Ihre Lippen kräuselten sich zu einem kalten Versprechen.
„Say, do you know something about Thomas Morgan?“
Stonevalley, Unbekannt
Rainbow tippte die letzten Zeilen in den Computer, ehe er sich seine wohlverdiente Pause gönnen würde. Mit einem Klick war die Nachricht versendet und er räumte den letzten Stoß Blätter weg. Es sich in seinem Sessel gemütlich machend, schloss er seine Lider. Für die nächsten Stunden war er 'verhindert' und wehe einer würde ihm seinen kurze Verschnaufpause nehmen! Endlich hatte er den gesammelten Datenberg von letzter Woche aufgearbeitet, da würde er sich seinen Triumph von nichts und niemanden nehmen lassen... außer die Welt würde vor dem Kollaps stehen, aber nur dann! Schlaf war in den vergangen Tagen Mangelware gewesen. Den Großteil der Nächte verbrachte er damit brütend über den Dokumenten und Aufzeichnungen zu hängen, welche er erhalten hatte. Man musste ihn regelrecht dazu zwingen sich für mehr als drei Stunden aufs Ohr zu legen. Irgendwann war es Yuna dann zu bunt geworden und die fürsorgliche Bluenette hatte ihn mit einer List von seiner Arbeit losgerissen. Im Nachhinein hatte er die eine durchgeschlafene Nacht bitte nötig gehabt. Zwischen Schule, Missionen koordinieren und abgelieferten Berichten war es nie immer leicht ein Quäntchen Freizeit herauszuquetschen, doch im Vergleich zum Stress der vergangene Woche, wo Datenberg um Datenberg seine Festplatte und seinen Schreibtisch regelrecht zumüllten und Mission um Mission abgefertigt wurde wie am Fließband, empfand er die Rückkehr - hoffentlich - zu seinem tagtäglichen Geschäft fast schon als eine Art Entspannung. Bis Mister Hermes den an die 60 Seiten fassenden Berichtsschmöker durchgearbeitet hatte - die zusätzlichen Materialien nicht mit einberechnet -, konnte er es sich leisten faul zu sein. Ob dem blonden ISAAC-Korrespondenten wohl sein 'Geschenk' zusagte? Bow lachte herzlich. Vor seinem inneren Auge tauchte ein Bild von Mister Hermes auf, wie er mit immer frustrierender werdender Miene die Textdatei nach unten scrollte; das Ende lange nicht in Sichtweite.
Wohl eher nicht.
„Wie schön zu sehen, dass du dich auf die faule Haut legst, während ich euer Ungetüm von 60 Seiten mir durchlesen muss“, sagte plötzlich Mister Hermes in einem sarkastischen Ton. Rainbow verzog missbilligend seine Lippen, ehe er seine Lieder öffnete und sich erneut aufrecht hinsetzte. Das Gesicht des Übeltäters strahlte ihm aus dem Frontscreen entgegen. Warum nochmal hatte er eine rund um die Uhr verfügbare Videoerreichbarkeit eingerichtet?
„Mister Hermes“, lautete seine karge Entgegnung.
„Was ist nun? Sind Sie etwa von dem Untergrundnetzwerk abgezogen worden und fühlen sich deswegen mit meinem Bericht und den gefühlten tausend Zusatzseiten nicht richtig ausgelastet, oder warum statten sie mir kaum, dass Sie das Seitenungeheuer kriegen einen Besuch per Video ab?“
„Weder noch“, seufzte Mister Hermes. Der glückliche Umstand, durch welchen sie an Informationen über der bis dato unbekannten Untergrundorganisation gelangt waren, markierte den Anfang einer der umfangreichsten Ermittlungen überhaupt in der Geschichte der ISAAC. Nichts war so unberechenbar wie die eigene Ungewissheit. Wenn plötzlich eine Gruppe Individuen auf den Schirm trat, ohne, dass es davor einen Hauch einer Andeutung für deren Existenz gegeben hatte, so fühlte man sich auf jeden Fall in seiner Effizienz als geheime Organisation gegen nicht nur lokale, sondern auch weltweite illegale Machenschaften jeglicher Art herbe gekränkt wenn nicht gar, um einmal ein krasseres Wort in den Mund zu nehmen, verarscht. Besonders die oberste Führungsriege hatte in der Hinsicht ein solch großes Ego entwickelt, dass man sich wirklich fragen musste, wie dieses im Sonnensystem Platz haben konnte. Das Ende vom Lied war jedenfalls, dass seit diesem 'Vorfall' Mister Hermes keine ruhige Minute mehr hatte. Jeder Agent mit einer Sicherheitsstufe vier oder höher wurde, sofern es möglich war und nicht das Ziel seiner Mission oder sein Leben in unmittelbare Gefahr brachte, angewiesen alles nur Erdenkliche zu unternehmen, um an Informationen zu gelangen. Mister Hermes für seinen Teil ging für diese recht offen gestaltete Anweisung alle diejenigen Kontakte durch, von welchem er sich am ehesten Erfolg in dieser Sache erhoffte. Bis jetzt hatte sein Tun zwar noch nicht den erwünschten Fortschritt erbracht, jedoch war er auch erst am Anfang seiner Nachforschungen. Da er sich aber nach wie vor um die Angelegenheiten der Umbra kümmern musste und diese sicherlich kein Zuckerschlecken waren, war er für jede noch so winzige Pause dankbar. Selbst wenn es im Endeffekt nur noch mehr Arbeit für ihn bedeutete.
Betrachtete man rein offiziell den jetzigen Standpunkt der Untersuchung, so war Umbra praktisch nur als eine Randfigur zu betrachten, anstatt sie als die wichtigste Kraft auszumachen. Es kam nicht von ungefähr, dass sie die Zügel so schnell aus der Hand geben mussten, noch bedeutete es, dass sie von nun an nichts mehr mit der Untergrundorganisation und deren dubiosen Machenschaften im Naturwissenschaftlichen Bereich zu tun haben werden. Sie wurden lediglich in den Standby-Modus versetzt. Es gab genügend andere Problemherde, um die sie sich kümmern mussten.
„Ich habe eine neue Mission für euch. Italien. Man hat unsere Hilfe angefordert, speziell euch. Näheres gibt es via Mail.“
„War die Sache mit der neuen synthetischen Droge, oder nicht? Die vor einem halben Jahr?“, fragte Rainbow sicherheitshalber erneut nach.
„Genau die“, bejahte Mister Hermes.
„Der Minister war so beeindruckt von euer Arbeit gewesen, dass er partout niemanden anderen als eure Einheit haben wollte. Am liebsten wären ihm dieselben Leute, ich habe ihm jedoch erklärt, dass dies zurzeit aus verletzungsbedingten Gründen nicht möglich ist und ihm stattdessen ein anderes Team vorgeschlagen. Kannst du dich bitte um die restlichen Einzelheiten, sowie dem Bescheid sagen der einzelnen Teammitglieder?“
Das Computergenie warf ihm einen Blick zu nach dem Motto 'Was denkst du denn ist mein Job?' und machte sich ans Werk. Besser jetzt als später, denn später würde bedeuten, dass er noch missgelaunter sein würde als in diesem Augenblick.
„Ist noch was?“, fragte Rainbow irritiert. Mister Hermes hatte keine Eile gehabt, wie sonst üblich, nach abgelieferter Arbeit die Verbindung zu unterbrechen. Was wollte der Mann noch von ihm? Es war ja nicht so, als würde sich die Arbeit bei Mister Hermes nicht stapeln.
„Wie geht es unserem Invaliden?“
Man hörte echte Besorgnis aus seiner Stimme tropfen. Obgleich Mister Hermes sich wahrscheinlich nie damit anfreunden würde, dass sie in ihren noch jungen Jahren soviel Verantwortung übernahmen, sie in einigen Fällen praktisch auf gezwängt bekommen hatten, waren ihm diese jungen Heranwachsenden doch sehr ans Herz gewachsen. Ein Verlust - egal auf welcher Ebene - hätte ihn zutiefst betrübt.
„Sport kann er für die nächsten Wochen vergessen. Das Kletterturnier kommenden Dienstag kann er auch in die Tonne schmeißen. Ansonsten geht es ihm schon um Meilen besser, als vor einigen Tagen, auch wenn die Schmerzen ein ständiger Begleiter in den kommenden Wochen sein werden. Er ist lediglich geknickt, dass er nicht an der Wanderwoche teilnehmen kann. Dafür müsste er nämlich innerhalb der nächsten knapp eineinhalb Monaten eine Wunderheilung erleben.“
Ohne den pinkhaarigen Vorzeigejungen würde etwas auf der einwöchigen Klassenfahrt nach Südtirol fehlen. Lightning konnte zwar auch nicht mitkommen, doch das lag vielmehr damit zusammen, dass der Schwarzhaarige längst aus der Schule raus war, anstatt an gebrochenen Rippen.
„Was ist mit den anderen?“, fragte Mister Hermes nach.
„Die üblichen Beschwerden, ansonsten ist alles im grünen Bereich. Sonst noch etwas?“
Gut, vielleicht war er etwas unhöflich zu Mister Hermes, aber man konnte es ihm ja auch nicht verdenken. Es war wirklich eine Horrorwoche gewesen.
Die Miene des Mannes wurde nachdenklich.
„Ja. Kannst du Kuraiko bitte sagen, dass sie mich, da ich voraussichtlich ab morgen Nachmittag wieder da bin, dann in meinem Büro aufsuchen soll?“
„Ich war der Meinung, dass jede Auszeit gemeldet werden muss“, erwiderte Rainbow überrascht. Das Mädl war zwar dafür bekannt, besonders bei ihm auf taube Ohren zu machen, was das Ab-und Anmelden per Funk anging oder sonstiges in der Richtung, doch eine kurzfristige Fehlzeit nicht anzugeben? - Das wäre neu.
Mister Hermes lachte.
„Oh nein nein“, beteuerte er amüsiert.
„Sie hat sich und Uranus regelkonform abgemeldet, aber du hast mehr Chancen als ich, sie zu erwischen“, gab der Korrespondent der ISAAC unverblümt zu. Da könnte er recht haben. Kuraiko konnte schwieriger zu finden sein, als einen Sack Flöhe zu hüten! Sowohl sie als auch ihr stiller Freund hatten sich die Freiheit herausgenommen das Wochenende als missionsfreie Zeit zu deklarieren. Das Mädl wusste, wie sie sich bei ihm 'beliebt' machen konnte...
„Darauf würde ich nicht unbedingt wetten“, murmelte Bow in seinen nicht vorhandenen Bart hinein.
„Nichtsdestotrotz werde ich es ihr ausrichten, sobald sie wieder zurück ist. Vorausgesetzt sie verschwindet nicht augenblicklich wieder sobald sie das Valley betritt.Wenn es dringend ist, Mister Hermes: Hypno könnte vielleicht eine Ahnung haben, wohin die Beiden sich verdrückt haben.“
„Hypnos, sagst du? Hmm... nein.“
Mister Hermes schüttelte den Kopf. Er war einer der Wenigen, welcher immer den vollen Namen aussprach, sei es deren Wahrer oder deren andere Identität.
„Nein danke. Ob ein, zwei Tage hin oder her ist auch nicht die Welt“, sagte er.
„Lass mich raten: Über meiner Sicherheitsfreigabe?“
Mister Hermes lächelte ihn charmant an.
„Warum fragst du, wenn du die Antwort schon weißt?“, wollte der Mann von dem Computerass wissen und gleichzeitig nicht wissen. Rhetorische Fragen waren am wirkungsvollsten, wenn sie unbeantwortet blieben.
„Reine Neugierde“, lautete Rainbows karge Entgegnung.
„Ich weiß, dass es ein blutiges Attentat sein wird oder etwas in diese Richtung. Auf die eine oder die andere Art. Im Endeffekt war es immer eines gewesen.“
Das Computerass wusste, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen. Kuraiko war eine Mors und Mors hatten die Grundeigenschaft gefährlich zu sein, brandgefährlich, wie die stürmische See. Wo sie auftauchten, war der Tod nie weit.
„Ich denke es ist an der Zeit, dass ich mich wieder dringlicheren Dingen zuwende.“
Hierbei verzog Mister Hermes kurz sein Gesicht.
„Bis bald. Und vergiss bitte nicht Kuraiko Bescheid zu sagen.“
„Wird gemacht“, brachte Bow noch heraus, ehe das Bild erlosch und er erneut allein in seinen heiligen Gemäuern war. Mit einem Seufzen lehnte er sich in seinem Sessel zurück. Ein blick auf die Uhr genügte, um seine Laune noch weiter in den Keller rutschen zu lassen. Knapp 30 Minuten. Wie wunderbar! Seine Pause hatte nicht einmal eine läppische halbe Stunde angedauert. Missmutig rückte er seine Tastatur zurecht und machte sich daran sich mit der Italienmission vertraut zu machen. Je schneller er fertig wurde, desto mehr Zeit blieb ihm sie endlich sinnvoller zu nutzen. Für lange liegengebliebene Projekte, wie sein Theata-Progamm beispielsweise. Vorausgesetzt: Er wurde nicht erneut gestört. Wunschdenken. - Aber man wird doch wohl noch träumen dürfen?
Stockholm, Unbekannt
Bevor er reagieren konnte, lag eine lange Klinge an seinem Hals und schnitt ihm empfindlich ins Fleisch.
„Was für ein hübsches zu Hause ihr doch habt, Caspar“, säuselte jemand ihm ins Ohr, während das Messer langsam auf Wanderschaft ging und auf seinem Weg nach unten einen blutigen Bach zog. Die Stimme war weiblich und verursachte eine beängstigte Gänsehaut an seinem ganzen Körper.
„Fast schon zu Schade, dass es nun mit Blut besudelt ist.“
Mit Blut...? - Seine Pupillen erweiterten sich. Seine Bodyguards. Aber - wie? Wenn er doch nur seine Hand-
Caspar schrie qualvoll auf.
„Ah, ah, ah“, mahnte die junge Frauenstimme beinahe schon neckisch und zog drehend ihre Waffe aus seinem Körper. Der zusätzliche Schmerz, welchen sie ihm dabei antat, schien sie nicht im Mindesten zu kümmern, denn ein kleines Kichern entkam ihren Lippen. Kalt. Gefährlich. Wahnsinnig.
„Böser Caspar. Wir spielen hier nach meinen Regeln, verstanden?“
Der Ton war unmissverständlich. Eine falsche Bewegung, ein falsches Wort, eine winzig kleine Unachtsamkeit und sein Leben war verwirkt.
„Ich denke, dass er verstanden hat.“
Anders als die Frau, lag dem jungen Mann nichts daran, sich nicht zu entblößen und betrat - wie selbstverständlich - Caspars Blickfeld. Caspar erschrak. Ein junger Mann blickte ihn aus grauen Augen entgegen. Das braune Haar war kurzgehalten und sorgfältig nach hinten gekämmt. Er war in einer schlichten schwarzen Montur gekleidet und hinter seinem Rücken konnte Caspar einen dunklen Schwertgriff sehen. Ein Schwert? Caspars Gedanken rasten mehrere hundert Meilen die Sekunde auf der Suche nach Antworten. Wer hantierte in der heutigen Zeit noch mit einer so veralteten Waffe herum? Die Antworten blieben ihm jedoch verwehrt. Er kannte weder jemanden mit diesem Gesicht noch konnte er sich daran erinnern, einer seiner Kontakte so sehr erzürnt zu haben, dass sie es als gerechtfertigt ansehen ihm Attentäter auf den Hals zu jagen.
„W-wer schickt euch?“
„Niemand.“
Der junge Mann lockerte seine Schultern.
„Aber wir suchen etwas.“
„Antworten“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Heißer Atmen kitzelte an seinem Hals. Das Haar der Frau streifte die Außenlinien seines Kinns. Caspar erschauerte.
„Auf was?“, erwiderte er trotz schleichender Angst fest. Noch konnte er Widerstand leisten. Noch war sein Wille nicht am Boden.
„Antworten“, wiederholte sie in einem hypnotischen Singsang und ließ ihr Messer erneut über seine Haut kratzen.
„Wir suchen Antworten und uns wurde versichert, ihr habt diese.“
Wie nahe sich Caspar und Thomas Morgan standen, konnte Sky nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, allerdings wohl nahe genug, dass er es nennenswert erachtet hatte. Danach hatte Sky ihnen den Straßennamen mehr oder weniger ins Gesicht gespien. Subtil natürlich. Anderes wäre es nicht gut für seine Gesundheit bekommen. Nicht der Erste und er wird garantiert nicht der Letzte sein, der... unterkühlt auf jemanden reagiert, der von Hypno geschickt wurde. Hypno hatte ein Händchen dafür seine teils unfreiwilligen Informanten fest in den Krallen zu halten wie eine Katze seine gefangene Maus. Die Attentäterin drückte absichtlich auf seine blutende Wunde knapp unterhalb seines Schlüsselbeins. Caspar keuchte auf, weigerte sich dieses Mal Schwäche zu zeigen und aufzuschreien.
„Nay.“
Er kannte niemanden mit diesem Namen. Es hörte sich weder bittend, noch belehrend an. Es ging eher in die Richtung von Resignation? Caspar wurde brutal gepackt und aus dem Stuhl gestoßen. Ein harscher Tritt in den Rücken folgte und infolgedessen blieb ihm für einen Moment die Luft weg. Bevor er sich jedoch mit Händen und Füßen verteidigen konnte, wurde er auch schon an einem Arm hochgezogen und zurück in den Stuhl geschleudert. Plötzlich waren filigrane Finger an seinen Händen und fesselte ihn mit einer Plastikhandfessel. Der Kabelbinder schnitt, weil es enger angelegt worden war, als eigentlich nötig gewesen wäre, ihm unangenehm ins Fleisch.
„Tut es weh?“, wollte sie - Nay - wissen und ging beinahe schon zärtlich mit seiner Verletzung um, ehe sie ungerührt mit der geballten Faust draufschlug. Er biss sich seine Unterlippe blutig. Hörte das den nie mehr auf? Braune Haar floss wie Zwillingswasserfälle neben ihren Wangen hinab, umspielten ihr hübsche Gesicht. Sie starrte ihn gelangweilt an, während sie das Blut an ihrer Kleidung achtlos abwischte. Was war sie für ein Monster?
„Kennst du ihn?“, fragte der junge Mann und hielt ihm ein Bild unter die Nase. Es war alt, ein wenig zerknittert und an den Ecken eingeknickt, dem ungeachtet erkannte er die Person darauf sofort. Ihn würde er überall wiedererkennen. Caspar drehte den Kopf zur Seite, weigerte sich zu sprechen. So leicht würde er nicht einbrechen! Er wurde am Kinn gepackt und grob nach oben in die andere Richtung gezogen.
„Kennst. Du. Ihn?“
Erneut kam keine Antwort. Es war die falsche Entscheidung. Ohne mit der Wimper zu zucken rammte ihm die Partnerin des jungen Mannes - das Monster - ein Messer in den Oberarm. Caspar schrie. So laut, dass es in seinen Ohren klingelte.
„Antworte ihm. Kennst du diesen Mann?“, befahl Nay. Eine junge Frau mit dem Gesicht eines Engels und dem Charakter eines Dämons. Wie lange würde diese Tortur noch dauern? Stunden? Tage? Wochen? Beim Leibhaftigen! Caspar wollte, dass es endlich aufhörte. Er war nicht vom gleichen Holz geschnitzt wie er. Hatte es nie für nötig gehalten sich eine hohe Schmerzgrenze anzutrainieren. Nicht zu Letzt, weil er niemand war, der sich am Leid anderer oder an selbst zugefügten Verletzungen ergötzte. Es widerte ihn regelrecht an.
„J-ja!“
Caspar rang nach Atem. Er hatte es herausfordern müssen. Jetzt bezahlte er Stück für Stück für seine Torheit.
„Ich k-kenne ihn!“
„Wie lautet sein Name?“, fragte Nay, weitere Sanktionen gegen sein lieblichen Wohl ließen jedoch auf sich warten. Erleichtert keuchte er auf. Er dankte dem Gott im Himmel für diese kurze Verschnaufpause.
Schwach. Caspar war schwach. So erbärmlich. Sie verabscheute schwache Persönlichkeiten so sehr, wie sie Deserteure hasste. Wie passend, dass ein Versager der Schlüssel zu ihm, dem Verräter sein sollte.
„M-morgan“, beeilte er sich sagen.
„T-thomas Morgen.“
Ihm wurde hart ins Gesicht geschlagen. Blut sammelte sich in seiner Mundhöhle.
„Lügt nicht!“, zischte Nay. In ihren Augen glitzerte der Wahnsinn.
„Es ist nicht sehr förderlich in euer Postion auch noch zu lügen, Caspar“, warnte ihn der junge Mann und berührte seine Partnerin sanft an der Schulter. Es wurden keine Worte gesprochen, doch die Geste allein reichte aus, um ihr den kranken Glanz ein bisschen zu nehmen.
„Du hast Recht. Wir brauchen ihn noch“, sagte sie und fixierte ihn erneut mit ihrem kalten Blick. Mattgrau. Derselbe Ton wie ihr Kompagnon. Plötzlich wurde ihm etwas klar: Geschwister. Sie waren Geschwister! Leider brachte ihn das nicht wirklich weiter. Er kannte keine Attentäter die gemeinsam arbeiteten und Geschwister waren.
„Versuchen wir es von vorne: Wie lautet der Name des Mannes auf dem Foto? Sein richtiger Name.“
Sein Mund war trockener als die Sahara an einem heißen Sommertag.
„Ich-“
Ein Schlag ins Gesicht. Caspar spukte das Blut aus. Ein weiterer Schlag. Langsam wurde ihm schwindelig und schlecht. Sich zu konzentrieren wurde mit jeder weiteren Minuten schwerer. Aus den Gesichtern wurden schemenhafte Konturen.
„ Sagt seinen Namen! Anders seid ihr nutzlos für uns.“
In ihren Orben lag nichts. Kein Gefühl. Absolute Leere. Sie war nicht nur ein sadistische Killerin, sondern auch noch ein kaltblütiges Monster.
„A-allen van D-dryar und-“
Caspar holte tief Luft, hustete Blut und beugte sich dabei nach vorne.
„Und was?“, drängte der weibliche Teil des Brünetten Duos und zog langsam an dem Messer, welches noch immer in seiner Schulter steckte. Caspar zuckte zusammen und schloss seine Lider. Er hatte einen Fehler begangen. Einen törichten Fehler, welcher das Duo bis in die Vollen ausnutzen würde, jetzt da wo sie ihn hatten. Caspar schluckte und zog eine Grimasse, als das Blut dabei mit hinunter in seinen Magen genommen wurde. Er hatte zwei Möglichkeiten, entweder er spielte weiter den tollkühnen Verrückten, nur um wenige Momente später doch einzubrechen oder er kapitulierte sofort und bedingungslos. Beides lief auf dasselbe Ziel hinaus. Egal wie er es anstellte, am Ende würde der Tod mit offenen Armen auf ihn warten. Er war nicht so robust wie er gebaut. Hatte nie eine Folterung durchlebt.
„Er“
Caspar befeuchtete seine aufgeplatzten Lippen. Seine Kraft schwand mit jedem weiteren Atemzug. Er hatte die Wahl und vielleicht dann eine Ohnmacht, sollten die höheren Mächte sich gnädig erweisen.
„er ist- Allen ist mein älterer Bruder...“
„He Kleiner, das hier ist kein Ort für einen jungen Hüpfer wie dich“, rief ihm eine Stimme nach, als er durch die imposante Eingangshalle in Richtung des ersten Stockwerks stapfte. Erstaunt drehte der Junge sich um. Ein Mann - er schätzte ihn auf circa 30 Jahre - kam durch einen Seiteneingang getreten und langsam auf ihn zu. Er hatte, wie der Junge selbst, rabenschwarzes Haar, ihm fiel es jedoch anderes als dem Knirps, welcher es Streichholz-kurz hielt, in leichten Locken bis zu den Schultern. Seine Kleidung bestand aus einer verwaschenen dunklen Jeans und einem simplen einfarbigen Hemd. Auffallend war die lange, diagonale Narbe von der rechten Schläfe bis zum Kinn, da sie durch seinen dunklen Hauttyp noch mehr hervorgehoben wurde als ohnehin schon. Seine Statur zeugte davon, dass er auf Schnelligkeit ausgelegt war und nicht auf rohe Gewalt. Misstrauisch beäugte der 'Kleine' den Mann von oben bis unten, verlagerte dabei seine Haltung etwas.
„Ich denke, das kann ich selbst entscheiden, Mister Cadiem“, erwiderte der Junge mit leicht reservierter Tonlage und starrte trotzig von unten herauf. '
„Soso?“, fragte Cadiem mit hochgezogen Augenbrauen, einem leichten lächeln auf den Lippen und begutachtete den Kleinen von oben bis unten. Schmal und wahrscheinlich sehr flink, wenn man mit in Betracht zog wie leichtfüßig er in den Raum spaziert war. Das er seinen Namen gefiel ihm allerdings weniger. Außerhalb der ISAAC war er praktisch ein Niemand, jemand, der aus den Schatten aus agierte, auf dem Papier zwar existierte, doch kaum öffentlich in Erscheinung trat und wenn, dann erkannte man lediglich seinen Namen und nicht die Person, die dahinterstand. Cadiem, the Huntsman. Einen treffenderen Beinahmen hätte man für ihn nicht finden können. Er war ein Jäger, welcher den Abschaum dieser Welt zur Strecke brauchte und sich dabei nicht immer an die Regeln hielt. Dies hier, die ISAAC im Allgemeinen war kein Ort für ein Kind. Ihnen sollte es vergönnt sein ihre Kindheit auszuleben, anstatt die raue und gefährliche Welt der Intrigen, Morde und Spionage kennenzulernen.
„Bist du nicht noch ein bisschen jung, um hier zu sein?“
Der Kleine hatte hier ebenso wenig was verloren wie der kleine Zwerg, die das Nesthäkchen ihrer verrückt zusammen gewürfelten Einheit war. Auch wenn er zu den Mors gehörte, es bedeute nicht, dass er mehr Befehlsgewalt hatte als seine Vorgesetzten, als die Führungsriege ihrer Organisation. Auf dem ersten Blick mochte er zwar wegen diesem Status mehr Spielraum besitzen, wenn es um das Einhalten von bestimmten Gesetzen ging, letztendlich jedoch war er derjenige, der am wenigsten Freiheit von allen besaß.
„Alt genug, zu lernen. Alt genug, zu töten.“, lautete die schlichte Antwort des Kleinen.
Cadiems Lächeln verschwand. Leider wahr. Es gab genügend Kinder auf dieser Welt, die noch vor ihrem zehnten, wenn nicht sogar achtem Lebensjahr zum ersten Mal getötet hatten. Kindersoldaten nannte man sie in diesen Ländern, in der ISAAC wurden sie als 'Agents der neuen Zukunft betitelt'. Schwachsinn! Am Ende des Tages waren sie immer noch Kinder, unschuldige Seelen, deren Entscheidungsfreiheit genommen worden war, um sie für die Zwecke anderer auszunutzen.
„Solche Gedankengänge sollte ein Jungspund, wie du es bist, nicht haben.“
„Und doch erwartet die ISAAC ebendies von uns: Gehorsam, oder nicht?“, erwiderte der Kleine schlau.
„Das A und O in dieser Gesellschaft.“
Intelligenz blitzte in seinen kindlichen Augen auf, bewies der Welt, dass er über das Gesagte hin ausdenken, es gar verstehen konnte.
„Sicher das du nicht schon zu den alten Hasen hier gehörst? Sprechen tust du zumindest schon mal wie einer“, grinste Cadiem den Jungspund an und verwuschelte ihm die Haare. Dieser hatte kaum Zeit sich vor dieser 'Attacke' in Sicherheit zubringen und ergab sich - wenn auch unter lautstarkem Protest - seinem Schicksal.
„Hey Cad! Wer ist denn der Dreikäsehoch?“
Cadiem wandte sich dem Eingang zu. Es gab zur Zeit lediglich zwei unter 18 Jahren, die in dieser Einheit dienten. Das Nesthäkchen und ihre Große-Bruder-Figur, eben welcher, der ihm gerade zugerufen hatte. Er musste wohl von draußen von einer Sporteinheit gekommen sein, denn ein feiner Schweißfilm zog sich über seine Haut und dunkelblonde Strähnen klebten an seinem Kopf, wie eine Zecke an seinem - mehr oder weniger - freiwilligen Wirt.
Dreikäsehoch? Vielen herzlichen Danke! Da war ja 'Kleiner' noch besser, obwohl auch das nicht unbedingt ein Name war, welchen er als erstrebenswert erachtete zu behalten.
„Franklin. Mein Name ist Franklin. Weder bin ich der 'Kleine' noch 'Dreikäsehoch'!“, entgegnete er trotzig, richtete das letzte Wort klar und deutlich an den auf sie zu joggenden Jugendlichen, welcher ihm die neue, unrühmliche Bezeichnung verpasst hatte und funkelte ihn böse an. Er hatte eine lange Reise hinter sich, da war es verständlich, dass man so schnell wie möglich alle Gepflogenheiten hinter sich bringen wollte, oder? Schließlich war er immer noch ein Kind und als solches durfte man sich hier und da solche Quengeleien erlauben!
„Franklin also, huh?“, murmelte der Neuankömmling und ignorierte den Rest geflissentlich.
„Was meinst du, Kuri?“, fragte der Blonde plötzlich und richtete dabei sein Wort an seinen kleinen Kompagnon, welcher sich im Schatten den Dunkelblonden versteckt hielt. Erst jetzt bemerkte Franklin das Mädchen, welches hinter dem Jugendlichen stand und gedankenverloren ins Nichts blickte. Sie wirkte deutlich fehl am Platz. Mit ihrem schwarzen Ensemble, den Schwertgriffen, die hinter ihren zierlichen Schultern herausragten und ihrem eindeutig asiatischen Aussehen, passte sie mehr in einen japanischen Martial-Arts Film als in den Sonnenscheinstaat Florida. Zum anderen schien sie mit der ungewöhnlichsten Haarfarbe, die er je an jemanden hatte beobachten können, wie aus einem waschechten japanischen Anime entsprungen zu sein.
Sie sah auf, als sie direkt angesprochen wurde und geradewegs in Franklins facettenreiches blau. Cadiem und der andere verschwammen mit dem Hintergrund. Etwas war in ihrem Blick, was sich nicht mit Worten beschreiben ließ. Machtvoll. Unbeugsam. Verfolgend. Kuri - erinnerte er sich dunkel - schob sich nach gefühlten endlosen Minuten der Stille eine verirrte Strähne aus ihrem hübschen Gesicht und legte ihren Kopf schief.
„Uranus“, flüsterte sie schließlich, hatte ihre Augen die gesamte Zeitraum nicht einmal von ihm abgewendet. Irritiert schweifte sein Blick zu ihr dann zu Cadiem und dem älteren Jungen. Was wollte sie ihm damit sagen? - Wie als hätte sie seine Gedanken gelesen, hob sie ihren Kopf an und wiederholte eben Gesagtes mit einem Zuwachs an Worten:
„Uranus. - Deine Augen. Sie erinnern daran.“
Der Beginn einer Freundschaft, besiegelt mit einen Namen: Uranus.
Schule, Morgens
Monoton dröhnte die Stimme seines Physiklehrers durch das Klassenzimmer, in welchem er sich gerade mit seinen Mitschülern befand und die, wie er, versuchten, irgendwie die Aufmerksamkeit doch noch auf den Ende 30-Jährigen zu lenken. Wie er scheiterten sie kläglich daran, sich für die Wiederholung mechanischer Schwingungen zu begeistern und widmeten sich stattdessen interessanteren Dingen zu. Beispielsweise nahm Hypno sich die Freiheit heraus sich ein Nickerchen zu gönnen, obgleich das bei dieser Schlafmütze wahrlich keine Seltenheit war. Der schlief wie ein Faultier gefühlte 16 Stunden am Tag und tat die restliche Zeit nichts außer vielleicht einmal den menschlichen Bedürfnissen nachzugehen. Arbeit? - Bei dem Gesellen eher eine Ausnahme mit hohem Stellenwert. Trotzdem schaffte der Finne es stets alle Bestellungen und Informationen zu beschaffen. Wenn man ihm Zeit ließ. Genügend Zeit.
Der Ton wechselte von männlich zu weiblich. - Kein triftiger Grund aufzusehen. Es bedeutete lediglich, dass sich Helen oder Courtney erbarmt hatten, irgendeinen Senf zum sinnlosen Thema beizusteuern. Es war Helen. Bei der kleinen Blondine konnte man sich wenigsten sicher sein, dass es sich um eine hochkarätige Antwort handelte, als bei dem gequirlten Mist, was den Mund der gefärbten Brünette verlassen würde.
„Mal jemand anderes als Helen oder Courtney, bitte?“, fragte Herr Meissner in die Runde. Sofort huschten unzählige Augenpaare entweder angestrengt an die Tafel oder aufs Heft vor sich. Niemand war gewillt auch bloß einen Pieps von sich zu geben. Natürlich gab es eine Handvoll anderer, die es sich nicht nehmen ließen provozierend zum Mann hinterm Pult zu blicken. Nach dem Motto 'Soll er doch'.
„Matthias, wie wäre es mit dir?“
Genannter war so ein Kandidat. Herr Meissner hatte die Frage direkt an den Jungen schräg gegenüber von ihm, welcher offenkundig seine Langeweile ausdrückte, indem er sich mit seinem Zwillingsbruder unterhielt und es nach wie vor tat, gestellt. Respektlos. Mit seinen Bruder hatte Uranu persönlich mehr zu tun, als mit diesem draufgängerischen Raufbold. Matthias war nicht per seh ein schlechter Typ, jedoch mit seiner provokanten Ader jemand, den man unter die Kategorie 'Schwierig' einordnete. Nicht zu Letzt, weil er manchmal ziemlich direkt und beleidigend sein konnte.
Matthias sah auf und grinste den Lehrer frech an.
„Sorry, könna Sie de Frage nomal widaholn? Hab grad ned af'basst.“
Herr Meissner seufzte langgezogen und wandte sich erneut der gesamten Klasse zu.
„Kann irgendwer anders die Frage beantworten?“
Stille.
„Außer Helen und Courtney.“
Genannte Mädchen ließen deren Arme ein wenig sinken. Nichtsdestotrotz waren deren Finger noch in der Luft. Keiner wollte den ersten Schritt wagen oder es interessierte sie nicht die Bohne was gerade geschah. Ranu erging es da nicht anders.
„Niemand? Kommt schon! Hier sind 25-“
„23, Herr Meissner. Kuraiko und Lucas sind nicht da“, rief jemand aus den vorderen Plätzen neunmalklug dazwischen. Uranu schielte auf die rote Anzeige der Uhr neben der Tür. 11 Uhr 12. Drei Minuten trennte ihn von der erlösenden Pause.
„Dann eben 23. Christopher, nächstes Mal meldest du dich! - Gut, wo war ich stehen geblieben? Ach ja! Ihr seit 23 Schüler und die einzig aktiven Schülerinnen sind Helen und Courtney“, warf er mit einem vorwurfsvollen Unterton in den Raum und verschränkte seine Arme. Manchmal hasste Herr Meissner seinen Job einfach. Je älter, desto unkontrollierbarer wurden diese Rabauken!
„Das ist zu wenig! Ich will mindestens zehn Finger sehen. Und davor geht mir hier keiner aus dem Raum! Es ist mir egal, ob gleich Pause ist.“
Nach und nach erbarmten sich nach dieser klaren Ansage immer mehr seiner Klassenkameraden und hoben die Hand. Niemand war erpicht darauf länger als nötig im Physiksaal zu bleiben. Mehr als ein halbes Duzen wollte es allerdings nicht werden. Seine Hand blieb unten. Schließlich rief Herr Meissner Annalena auf, welche eine einwandfreie Erklärung abgab und der Mann entließ sie - wenn auch widerwillig - in die Pause. So schnell konnte der Physiker gar nicht blinzeln, da hatten alle schon das Weite gesucht.
„Hey, Uranu!“
Genannter drehte sich auf dem Absatz um und blickte fragend zu der entgegenkommenden Person.
„Hmm?“, wollte er ziemlich geistreich von seinem Klassenkameraden Loki wissen. Seltsam. In seinen Augen erwachte Misstrauen. Normalerweise benutzte der Brünette diesen Ton eigentlich nur, wenn er ihn in einer seiner Streiche verwickeln wollte.
„Hast du kurz ne Minute?“, fragte Loki. In Anbetracht dessen, dass sie gemeinsam in eine Klasse gingen und durch Gottes Gnade heute eine Freistunde geschenkt bekommen hatten, war diese Frage so ziemlich überflüssig. Zwar waren die freien Minuten unter dem Deckmantel 'Studierzeit' auf dem Vertretungsplan aufgekreuzt, doch welcher Idiot war so frei und nutzte diese auch als solche?
„Wir wollen für Lights Party planen.“
Kein Streich also, in welchem er - unfreiwillig - der Auslöser für ein großes Tohuwabohu sein würde. Gut.
Der - mit Abstand von Mister Hermes - 'Dienstälteste' der Umbra würde diesen Freitag sein zwanzigstes Lebensjahr erreichen. Ein runder Geburtstag oder, um es einfacher auszudrücken: das Stichwort für eine riesige Fete, wo Kuri mit Sicherheit mit ihrer Abwesenheit glänzen würde. Nicht nur, weil sie Menschenansammlungen - egal wie gut sie sie kannte - mied, wie die schwarze Pest, sondern auch, weil sie wegen dem desaströsen Ende ihres Stockholmer Miniurlaubs die letzten Tage nicht mehr in der Schule gewesen war und für eine geraume Zeit sich hier auch nicht mehr blicken lassen würde. Dafür war sie zu... impulsiv, zu aggressiv, als dass man sie guten Gewissens in eine Schule voller Unschuldiger schicken konnte. Natürlich wusste das das oberste Gremium nicht. Ihnen war es ohnehin gleich, ob sie den Unterricht besuchte oder im Valley - unter Dach und Fach – ihr Dasein fristete, aufgrund irgendeiner nichtigen Sache, die nicht ihrer Aufmerksamkeit bedachte. Hauptsache Kuraiko machte ihren Job.
„Klar“, sagte er kurzerhand und begleitete Loki in eine ruhigere Ecke der Pausenhalle. Dort warteten auch schon die anderen Übeltäter alias Mithelfende und waren lautstark am diskutieren, als die zwei sich zu ihnen gesellten. Rainbow und Leth stritten sich gerade darüber, welches Fleisch am besten für den Grill war und wer es besorgen sollte. Sie wollten aufgrund der guten anhaltenden Wetterprognosen eine Grillparty veranstalten. Mit einem anschießend ordentlichem Besäufnis. Gut, dann wusste Uranu wenigsten wann er sich aus dem Staub machen konnte, nämlich sobald die ersten unterm Tisch lagen. Seinen Einschätzungen nach - alles aufgrund zahlreicher vergangener Beobachtungen - würde das spätestens um halb zwölf und frühestens um kurz vor elf der Fall sein.
Uranu verdrehte seine Augen, enthielt sich aber jeglicher Einmischung.
„Woaw, woaw, woaw. Ruhig Leute! Man ihr zwei! Deswegen braucht ihr doch nicht gleich die Keule raus holen! Holt doch beide zusammen das Fleisch, dann ist niemand außen vor gelassen, okay?“, ging Loki fachmännisch dazwischen und erstickte den Disput im Keim. Für gewöhnlich war es der Fall, dass Rainbow der Streitschlichter war und er derjenige, welcher sich nach einem gelungenen Streit auf ein Kräftemessen mit der 'zu Schaden' gekommen Person einstellen musste. Aber auch wenn er ein recht großer Witzbold war, der Brünette konnte ernst sein, vorausgesetzt: er wollte es.
Beide Parteien entschieden sich nach langem Überlegen dafür, dass seine Lösung die beste und einzig sinnvolle war und legten den kindischen Streit bei.
Der Kanadier setzte sich indessen kopfschüttelnd gegenüber von Leth auf einen freien Stuhl. Manchmal fragte er sich, ob sie wirklich so alt waren, wie deren Ausweise es anzeigten oder ob der Behörde bei manchen ein Fehler bei den Geburtsdaten unterlaufen war. Andererseits, ohne dem bisschen Spaß und Frohsinn wären die meisten wohl wegen dem Leistungsdruck, der auf ihnen lastete und den hohen psychischen Belastungen, zusammengebrochen, wie auf dünnem Eis. ISAAC war kein Pappenstiel und würde es nie sein. Nicht wenige ersuchen nach mehrjähriger Verpflichtung die Entlassung aus dem aktiven Dienst, um ein ruhigeres und mit Sicherheit ungefährlicheres Leben zu führen. Umbra war sogar weitaus härter. In Anbetracht dessen, wie jung und wie unbarmherzig sie trainiert wurden und mit welcher Entschlossenheit sie sich diesen Hürden gestellt hatten, war zwar die Aussteigerate weitaus geringer, aber dennoch vorhanden, wie man an Tox bestens sehen konnte. Hin und wieder beteiligte Uranu sich am Gespräch. Zum Großteil jedoch war er weit weg vom Geschehen, mit seinen Gedanken ganz woanders und kümmerte sich kaum um seine Umwelt. Das merkte auch schnell Loki und 'entließ' den Jungen mit dem Auftrag sich gemeinsam mit Kuraiko um die Dekorationen zu kümmern aus den Vorbereitungen.
Apropos: Wo war die Grünhaarige eigentlich? Es sah ihr zwar ähnlich wegen irgendwelcher Geheimoperationen den Unterricht lediglich als sporadische Angelegenheit zu sehen, doch er war sich sicher, dass die Glutäugige in den letzten Tage keine Aufträge ausgeführt hatte. Zum einen, da Rainbow sich sonst über die Tatsache beschwert hätte ihr schon wieder hinterherzurennen, was Berichte und Sonstiges anging und zum anderen, weil Yuna sonst nicht so angespannt gewesen wäre, hätte ihre Schwester tatsächlich Missionen am laufen oder am laufen gehabt.
Da sie die vergangenen Tage öfters im Krankenflügel zum Verbände wechseln vorbeigekommen war, hatten sie unweigerlich miteinander zu tun gehabt. Die Doc hatte es ihm möglich gemacht. Ohne großartig lange zu überlegen hatte sie ihm die alleinige Verantwortung des Krankenflügels übertragen. Zwar nur bis zum Ende dieses Monats, doch dieser Vertrauensbeweis, bestätigte ihm, dass er auf einem guten Weg war in naher Zukunft ein richtiges Medizinerdstudium anzufangen, anstatt mit kurzen - und dennoch intensiven - Crashkursen auf dem Niveau eines besseren Hilfssanitäters zu bleiben. Natürlich war es nicht so, dass Doc ihn in all seinen Entscheidungen völlig allein ließ, Noble beispielsweise war noch etwas zu hoch für ihn, als dass er sich alleine und ohne ärztliche Unterstürzung um ihn kümmern konnte, allerdings hatte er für seine Notmaßnahmen bei besagter Person ein großes Lob bekommen. Bei der Doc eher eine Seltenheit. Davon abgesehen, war dies der Grund, warum ihm mehr Zeit mit Yuna vergönnt worden war. Ein Geschenk, welches er mit Freuden angenommen hatte. - Was er selbst unter schlimmster Folter niemals zugeben würde! So etwas schadete seinem guten Ruf!
„Was grinst du wieder so? Heckst du grade wieder irgendwas aus?“
Überrascht sah Loki auf.
„Was ich?“, fragte er scheinheilig und blickte Rainbow aus großen Augen an. Wann hatte er denn je etwas nennenswertes angestellt? - Also auf die Schnelle konnte er sich an nichts weltbewegendes erinnern.. außer vielleicht die eine Sache mit dem pinken Farbeimer, einem frisch geputzten Boden direkt an der Tür zu den Duschräumen neben dem Hangar... aber das war eine Geschichte für ein andermal.
„Würd ich doch nieeemals machen.“
Das Computerass schnaubte lediglich empört aus und verschränkte seine Arme. Echte Worte wollten allerdings nicht aus seinem Mund kommen. Was nicht tragisch war, denn nicht einem Moment später hatte er das Interesse verloren und verwickelte Genius in ein hochinteressantes Gespräch über die neuste Software, welche Donnerstag auf den Markt gekommen war. Unwichtig.
Ein blauhaariger Engel mit einem Lächeln intensiver als tausend Sonnen tauchte vor seinem inneren Auge auf. Yuna. Der strahlende Sonnenschein, welcher stets um diejenigen besorgt war, die sich auf Mission befanden. Demgegenüber stand jedoch das Wissen, dass diese Fürsorge bei ihrem Zwilling so gut wie überflüssig war. Kuraiko war erbarmungslos, wenn sie erst einmal auf die feindlichen Linien losgelassen wurde. Himmel, Arsch und Zwirn! Es bräuchte eine halbe Armee um die Rotäugige überhaupt ins Schwitzen, geschweige denn eine Ganze mit verdammter Luftunterstützung um sie ernsthaft in Schwierigkeiten zu bringen! Diese Überlegung führte Loki wiederum an den Anfang seiner Gedanken zurück: Wo steckte nun das 'Mädl'?
Er sah zu einem gewissen Schwarzhaarigen, welcher vollkommen abgeschnitten von der Außenwelt zu scheinen schien und ins Nichts starrte. Uranu machte nicht den Eindruck auf ihn, als würde er sich großartige Sorgen um die Grünhaarige machen, andererseits... Wie lange kannten sie sich schon? - Fast drei Jahre. Und selbst nach all dieser vergangenen Zeit war es schwer überhaupt etwas aus seinen Gesichtszügen zu lesen, was nicht mit mildem Interesse gleichzusetzen war. Ehrlich, manchmal waren die Gefühle eines Stein besser abzulesen als die von ihm. Im Grunde genommen ging ihn das ja alles nichts an, doch der Kanadier war Kuraikos Schatten. Wo sie war, war auch er. Wo er war, war auch sie. Sie ergänzten einander wie Schlüssel und Schloss und waren doch zwei separate Personen. Nichts im Vergleich zu dem, wie die beiden Schwestern zueinander standen. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er annehmen, dass dem Mädl ihre kleine Schwester völlig egal war, denn so wirkte es auf Außenstehende. Jedoch hatte er einmal, ein einziges Mal gesehen, wie Kuraiko für einen kurzen Moment die Kontrolle über ihr sonst so in Stein gemeißeltes Gesicht verloren hatte. In jenem Augenblick hatte mehr als ein tobender Sturm in ihren Zügen gewütet, nein, es war ein Wirbelsturm an Emotionen gewesen, welcher die Welt um sich herum ins Wanken gebracht hätte, wäre er losgelassen worden. Sie war Yunas ältere, wenn auch 'leicht' geistesgestörte Schwester und Yuna selbst?
„Hey Leute! Wie geht es euch?“ - Strahlende Freundlichkeit, gemischt mit einer Prise Ernst, die so einzigartig wunderbar machte. - Tja, das würde er zu gerne von sich selbst wissen. Was war Yuna für ihn?
Stonevalley, Nachmittag bis früher Abend
Schulterlange braune Haare mit einem Band aus dem Gesicht gehalten. Helle grau-grüne Orben mit einem typischen Glanz in ihnen. Ein markantes Kinn-
Sie stieß einen knurrenden Laut aus und enthauptete den Mensch vor ihren Augen mit einem gezielten Hieb. Dumpf knallte der Kopf am Boden auf, rollte hilflos zu Füßen der arg mitgenommen Trainingspuppe und wurde achtlos zur Seite gekickt, als sie sich daran machte auch die restlichen Gliedmaßen vom Rumpf mehr oder weniger zu 'entfernen'. Mit tödlicher Präzision stach sie schließlich in den 'Oberkörper' der glied-und kopflosen Puppe und zerstörte ihn bis zur absoluten Unkenntlichkeit. Danach war ihr Feldzug jedoch keineswegs beendet. Sie bewegte sich um eine halbe Drehung nach rechts und rannte im Zickzackverlauf auf eine eigens aufgestellte Zielscheibe in 25 Metern Entfernung zu. Im Lauf steckte sie die Katanas zurück an deren repräsentativen Stellen und zückte zwei identische dreizackige Kunai aus ihrem Gürtel. Mit kalter Entschlossenheit stürmte sie auf das Ziel zu. In ihren letztem Metern sprang sie noch oben, drehte sich dabei um eine ganze Drehung und ließ dann die Klingen mit einem erlösenden Schrei frei. Tief bohrten sie sich in das Holz, spalteten es an deren Eintrittstellen. Nebeneinander. Mittig. Volltreffer.
Elegant ließ sie sich zu Boden fallen. Das eine Knie gebeugt und das andere nach hinten ausfallend um die Balance zu halten. Ihr Kopf war gesenkt. Verdeckt durch ein Meer aus grünen Strähnen, war die kalte Präzision in ihren Zügen von der Außenwelt abgeschnitten. Langsam hob sie ihr Kinn an und gab dabei Preis auf ihr hübsches Gesicht. Kleine gerade Nase, nie gebrochen. Schwarze Zeichen, eingebunden in ein Meisterwerk rankte sich an ihrer Wange hinab in tiefer gelegene Gefilden. Große Augen waren umrahmt von einem dichten schwarzen Wimpernkranz. Pupillen flackerten wie flammendes Blut. Alter Hass sprang aus ihnen, wie frisches Wasser aus einer unberührten Quelle hoch in den Bergen.
Helle grau-grüne Orben. Ein warmes Lächeln-
Das Gesicht verschwand, wurde ersetzt mit etwas anderes.
„Bis zum nächsten Mal, kleine Kuraiko.“
Mit einem Knurren sprang sie auf - weitere Wurfmesser lagen plötzlich in ihren Händen - und ließ diese in entgegengesetzte Richtungen zu den Seiten mit zerstörerischer Kraft los. Auch sie fanden ihren Bestimmungsort in Form zweier kleiner Holzkreisen, die an die Steinwände gehängt worden waren, mit Leichtigkeit.
Volltreffer.
„Bis zum nächsten Mal, kleine Kuraiko. Bis zum nächsten Mal, klei-“
Sie schrie auf als die Worte, wie in einer Endlosschleife gefangen, immer wieder kehrten, zog ihre Zwillingskatana erneut und wirbelte, wie ein Derwisch herum. Niemand spielte mit ihr. Niemand verhöhnte sie. Niemand kam damit davon. Dieser Bastard erst Recht nicht. Dafür würde sie sorgen!
Auf dies war sie allerdings nicht gefasst gewesen.
Blutrot traf auf blau und schwarz, als sie mit ihren gekreuzten Klingen direkt vor dem Hals ihrer kleinen Schwester stoppte. Keine Sekunde zu früh. Einen Wimpernschlag später und die Halsschlagader wäre durchtrennt worden. Ihre Orben weiteten sich in Unglauben, ehe sie wie vom Donner berührt die Waffen zu Boden sinken ließ. Sie hatte sie nicht gehört! Sie hatte ihren eigenen Zwilling nicht hatte kommen hören! Wut auf sich selbst entfachte sich wie ein Inferno, nahm rasend schnell von ihr Besitz und verscheuchte die Rationalität ins dunkelstes Eck ihres Gedankenpalastes.
„Lass deinen Zorn nie Oberhand gewinnen...“
Adriens Stimme hallte in ihren Ohren nach, während sie versuchte zu begreifen, was hier beinahe geschehen wäre, hätte sie sich nicht im allerletzten Moment daran erinnert, wo sie war! Wer sie war! Ihre eigene Schwester! Bei all den Göttern! Ihre Fingerknöchel wurden weiß. Yuna war ein Verlust, welchen sie nicht hätte ertragen können, nicht hätte ertragen wollen. Ihr Griff glich einer Anakonda, welche ihre Beute gerade mit aller Macht erwürgte.
Daran war bloß er Schuld! Van Dryar. Kaum zu kontrollierende Wut rann durch ihre Adern. Er verfolgte sie immer und überall. Mit Worten. Mit Bildern. Er verspottete sie mit seinem perfiden Katz und Maus Spiel. Er gehörte ausradiert.
„Kuraiko.“
Eine warme Hand berührte ihre Schulter. Augenblicklich huschte ihr Blick zu ihrem jüngeren Zwilling. Besorgnis stand der Bluenetten ins Gesicht geschrieben und wurde mit jeder vergehenden Sekunde ihres Schweigens größer. Verbittert wand Kuraiko sich ab und schob schroff die Hand von ihrem Oberkörper.
„Ich hätte dich töten können“, kam es tonlos von ihren Lippen, während sie sich mechanisch in Bewegung setzte, um ihre Waffen - eine nach der anderen - wieder einzusammeln. Sie hätte sich niemals verziehen. Yuna war Yuna und ihre Imouto. Das Küken der Familie. Der Sonnenschein. Eines der letzten lachenden Gesichter ihrer düsteren Welt.
Des öfteren mochte es zwar den Anschein haben, dass Kuraiko selbst für ihre Schwester nichts übrig hatte, doch dies war lediglich ein eigens von ihr erschaffenes Trugbild. War es das wirklich? Niemand konnte genau sagen, was in ihrem Oberstübchen alles vor sich ging. Absolut keiner. Nicht sie. Nicht Uranu. Niemand. Einst hatte Yuna geglaubt zu wissen, wie es in ihrer Schwester aussah, doch diese Zeiten waren lange vorbei. Sie waren begraben unter einem Schuttberg an Geheimnissen und düsteren Erfahrungen, die Kuraikos Seele selbst berührt und erschüttert hatten. So mächtig und wirkungsvoll, dass niemand genau mehr sagen konnte, was Wahrheit und was Fiktion war. Nicht einmal sie. Nicht einmal ihre eigen Fleisch und Blut.
„Hast du aber nicht“ erwiderte die Blauhaarige kühl und zog eine handvoll Shuriken aus einer Puppe, die nicht in ihre Einzelteile zerlegt worden war. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Schwester war nicht gerade sanft mit dem Inventar des Trainingsraums umgegangen. Bevor sie die aufgestellten Zielscheiben malträtiert hatte, war Dummie um Dummie ihr zum Opfer gefallen. Die Letzte hatte ihrem geballten Zorn nicht standgehalten und war wortwörtlich in Scheibchen geschnitten worden. Was die Grünhaarige auch so erzürnt hatte, es hatte sie auf einen Rachefeldzug der Extraklasse geschickt. Der Raum an sich wurde eigentlich eher selten benutzt. Zum einen, weil die Ausstattung relativ alt und längst eine Überspur nötig gehabt hätte und zum anderen, da er sich ziemlich weit unten im Valley befand. Bis auf ihren Zwilling wusste Yuna auf Anhieb keinen, welcher diese Räumlichkeiten noch nutzte.
„Hier“, murmelte sie und reichte die Wurfsterne ihrem Zwilling. Diese ergriff wiederum ihr Handgelenk, bewirkte damit, dass sie aufsah.
„Es wird nicht wieder vorkommen“, sagte Kuraiko, ihr Gesicht war ohne sichtbare Emotionen. Yuna hasste es, wenn sie dies tat. Sich zurückziehen in ihre eigene, kleine, erschaffene Welt.
„Sagst du“, entgegnete sie schnippisch. Es war nicht das erste Mal, wo sie beinahe von ihr aufgespießt/geköpft wurde und jedes Mal wurde es knapper, das Spiel mit dem Tod gefährlicher.Normalerweise war es unmöglich Kuraikos Sinnen zu entkommen, wenn sie jegliche Vernunft - was an sich schon eine absolute Seltenheit war - aus ihrem Handeln verbannt hatte. Sie war haarscharf am Tod vorbei geschlittert und das wusste Yuna auch. Kalte rote Pupillen. Ein Hauch von Wahnsinn, welcher zu einem ausgewachsenen Sturm heranwuchs. Ein verzückt, verrücktes Lächeln auf den Lippen, welches verbittert zornig wurde. - Ihre Schwester hatte einen ihrer seltenen Blackout-Momente gehabt und Yuna wollte wissen warum. Warum jetzt? Warum hier? Was war der Auslöser gewesen?
Die Bluenette verzog abfällig ihr Gesicht. Ihr Zwilling hatte sich in den letzten Tagen kaum mehr Blicken lassen, noch weniger als sonst und war lediglich zwischen ihrem Zimmer, Uranus' Zimmer, dem Speisesaal und den privaten Trainingsräumen einen Stockwerk tiefer hin und her gependelt. Uranus wusste mit Sicherheit den Grund für Kuraikos Verhalten. Sie war doch nicht von vorgestern! Das alles hatte angefangen, als das Duo von ihrem Trip ins Nirgendwo zurückgekehrt war. Doch wie immer würde keiner der beiden mit der Sprache rausrücken. Uranus nicht, weil er Kuraikos Vertrauen für keine Reichtümer dieser Welt eintauschen würde - der bloße Gedanke wäre ein Verrat an ihr - und ihre Schwester nicht, weil sie nicht antworten wollte.
Sie verfielen in ein eisernes Schweigen.
„Was ist passiert?“, versuchte Yuna es mit einer direkten Annäherung, nachdem sie still das Zimmer so wiederhergestellt hatten, dass es erneut nutzbar war. Neue Möbel würde es allerdings trotzdem brauchen.
Die Rotäugige schien sie nicht einmal wahrzunehmen, während sie sich nach getaner Arbeit die Wasserflasche an der Wand schnappte und mit großen Zügen ihren Durst löschte, ehe sie den restlichen Inhalt über ihren Kopf kippte. Das Mädchen mit dem scharfen Bobschnitt erwog erneut die Frage zu stellen, jedoch war sie sicher, dass sie sie gehört hatte und entschied sich dagegen. Tatsächlich, nach der kühlenden Erfrischung drehte die Grünhaarige sich zu ihr um und öffnete ihren Mund, jedoch war die Antwort alles andere als ausschlaggebend, ließ sie höchstens erahnen, was damit gemeint sein könnte.
„Vergangenheit, die einen verfolgt, Schwester. Die Sorte, die einen nicht mehr so leicht loslässt. - Nichts, worüber du dir Gedanken machen solltest“, antwortete Kuraiko und begab zum Ausgang. Die Trainingseinheit war fürs Erste auf Eis gelegt.
„Genau die mache ich mir aber! Warum weiß Uranus davon und ich darf es nicht wissen?“, warf Yuna vorwurfsvoll in den Raum, konnte den hitzigen Ton nicht verbergen, welcher von ihr Besitz ergriffen hatte. Eifersucht schlich sich in ihr Herz, war stets da gewesen, gemischt mit der Angst sie erneut zu verlieren. Dieser Junge wusste praktisch alles und sie nichts! Wieso? Wieso? War sie denn so eine schlechte Schwester, dass die Glutäugige es ihr nicht zutraute, Geheimnisse zu wahren? Es war nicht fair! Wieso vertraute sie ihm in solchen Dingen mehr?
Rationalität schaltete sich bei Yuna aus, sobald es um ihre Familie ging. Genau das war deren beider Makel. Der Makel, welchen die Bluenette zum besseren und Kuraiko zu einem fühlenden, wenn auch nicht verstehenden Menschen machte. Familie.
Ihr Schwester blieb in der Bewegung stehen und wirbelte herum.
„Weil er versteht. Im Gegensatz zu dir versteht er. Du willst verstehen?“
Sie wurde einen Tick lauter.
„Dann stelle die richtigen Fragen, Imouto. Sei nicht so eingeschränkt! Was passiert ist? Was passiert ist? Dieser Teme ist passiert! Er ist Schuld! Er ist es auch, der dafür bitter bezahlen wird! Und jetzt, entschuldige mich.“
Die Schiebetür öffnete sich lautlos und ihr Zwilling trat hindurch und hinaus in den schlicht ausgekleideten Gang. Der grüne Schopf verschwand hinter dem milchigen Glas. Yuna blickte ihr hinterher, während ihr Schatten immer kleiner und kleiner wurde, bis zu dem Moment an dem nichts mehr zu sehen war.
Ablenkung. Alles was sie brauchte, war Ablenkung. Von hier. Von bekannten Gesichtern. Von allem, was nicht ruhen ließ. Van Dryar, Adrien, sogar ihre eigene Schwester! - Jeder von ihnen war ein langsames Gift, welches ihre Sinne Stück für Stück aufzehrte, bis schlussendlich nur noch einsame Leere übrig bleiben würde. Niemand der drei wollte so leicht aus ihren Gedanken entschwinden. Van Dryar nicht, weil er nie gänzlich in den Hintergrund geschoben werden konnte. Er lauerte im Schatten ihres Unterbewusstseins und wenn die Zeit günstig war, schlug er wie eine hungrige Raubkatze blitzschnell zu.
Ein dunkles Lachen ertönte.
„Willst du mich jetzt töten, kleine Kuraiko?“
An dem Tag, wo er ihren großen Bruder in allem außer Blut kaltblütig ermordete, hatte er sich einen Feind erschaffen. Schlimmer als jede Großkatze. Verbissener als ein Raubvogel auf Beutefang. Sie würde ihn das spüren lassen, was auch sie hatte ertragen müssen. Trauer. Verzweiflung. Zorn. - Angefangen mit Caspar. Angefangen mit dem Bruder, der keiner mehr war.
Adrien nicht, weil sie sich geschworen hatte diesen Bastard als Ausgleich für seinen Tod hinzurichten. Auge um Auge. Zahn um Zahn.
Kein Laut drang über ihre zu einem dünnen Strick verzogenen Lippen. Lediglich ihre Seelenspiegel sprachen das aus, was sie fühlte. Eine mit schwarzer Spitze bekleidete zierliche Hand berührte den kalten Stein vor sich. Die Inschrift zu schmerzvoll zu lesen, als das sie einen Blick darauf wagte.
Er hatte sie geschützt. Bis zu seinem letzten Atemzug war ihre Sicherheit seine höchste Priorität gewesen. Ihr stiller und wenn nötig aktiver Beschützer gewesen. Nie hatte er in dieser Hinsicht versagt. Nie.
Nun war sie am Zug.
Sie revanchierte sich für etwas, wo es nichts zu vergeben gab.
Zu guter Letzt auch Yuna nicht. Ihre Schwester hatte sich in Angelegenheiten eingemischt, an dessen Oberfläche gekratzt, welche sie rein gar nichts angingen. Überhaupt nicht. Unfair erschien es, doch selbst wenn die Bluenette es wollte, - und sie wollte es tatsächlich, soviel konnte Kuri aus ihrer Mimik herauslesen - sie würde niemals verstehen können. Es irgendwann erfassen, ja, doch niemals verstehen!
Wie es der Zufall wollte, tauchte auf einmal Mister Hermes an der nächsten Ecke vor ihr auf.
„Ach, Kuraiko!“, rief er erfreut aus und breitete seine Hände so aus, als wollte er sie gerade in diesem Moment umarmen wollen. Ein blinkendes Lächeln lag in seinen Mundwinkeln. Allen Anschein nach, war sie genau die Person, die er sehen wollte. Pech nur, dass dies gerade in diesem Moment nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.
„Du bist ein ganz schön viel beschäftigtes Mädchen, weißt du das? Ich versuche seit Sonntag dich zu erreichen. Es trifft sich gut dich hier jetzt anzutreffen, aber hat Rainbow dir etwa nicht Bescheid gegeben, dass ich mit dir sprechen möchte?“
„Hat er - mit den freundlichsten Grüßen, Mister Hermes -, aber wäre es wirklich dringend gewesen, so hätten Sie verbissener versucht mich ausfindig zu machen, anstatt mir eine Nachricht zukommen zu lassen. Ihr hättet nach mir schicken können. Immerhin befand ich mich die vergangen Tage ausschließlich hier im Valley“, erwiderte sie kühl und machte eine ausschweifende Geste um sich herum. Ihre Worte entlockten Mister Hermes ein Schmunzeln.
„Hätte ich tun können“, bestätigte er ihre Aussage.
„Der Grund warum ich es nicht getan habe, wird sich dir gleich eröffnen.“
Es war ein Wink mit dem Zaunapfel und die Bestätigung für sie, dass über egal was dieses Gespräch war, es nicht auf dem offenen Gang besprochen werden sollte. Sie nickte ihm zu. Ohnmächtige Stille rauschte in ihren rasenden Gedanken. Mister Hermes bedeutete Ablenkung, ganz gleich was er auch von ihr wollte. Eine heilende Rettung für ihre auseinanderfallende Wirklichkeit. Unberührte Unschuld strahlte in all ihrer grausamen Herrlichkeit. Ja, Ablenkung war das, was sie seit Tagen zu finden versuchte.
Yuna lehnte sich erschöpft an eine Wand und schloss ihre Augen. Nachdem deren Unterhaltung so abrupt geendet hatte, war sie schnurstracks nach oben gegangen, während ihr Zwilling höchstwahrscheinlich sich in Richtung Uranus' Zimmer verdünnisiert hatte. In einem Trainingsraum, welcher näher an die Gesellschaft angeschlossen war, hatte sie sich schließlich niedergelassen. Die Worte ihrer Schwester Worte spukten endlos ihren Gedanken herum, waren nicht gewillt sie loszulassen.
„Dann stelle die richtigen Fragen, Imouto.“
Imouto. Kleine Schwester. - Wie oft kam es noch vor, dass Kuraiko sie mit diesem vertrauten, japanischen Ausdruck ansprach?
„Dieser Teme ist passiert! Er ist Schuld!“
Ihre Schwester vergab nicht unbegründet solch unrühmliche Titel. Denn Bastard oder auch Mistkerl war nicht gerade die feine englische Art. Wer also hatte sie so sehr erzürnt, dass dieser eine solche Bezeichnung verdient hatte? Das auch noch in deren Muttersprache? Erfahrungsgemäß bedarf es normalerweise bloß ein winzig kleines Gespräch zwischen ihr und deren Mutter Sayuri und ihr Zwilling warf mit japanischen Schimpfwörtern nur so um sich. Wenn Kuraikos Verhältnis zu deren Vater schon angespannt war, dann war es mit Sayuri die reinste Katastrophe. Keine Begegnung verging ohne böses Blut zwischen den beiden. Natürlich behielt sie selbst da ihr reservierte Ader bei, jedoch konnte man deutlich aus dem benutzten, eisigen Ton heraushören, wie es um ihre Fassung stand. Deswegen waren Familientreffen in den vergangen Jahren auch eher eine Rarität gewesen. Nicht zuletzt, da Kuraiko gedroht hatte ihre japanischen Wurzeln zu verleugnen, wenigsten die, von welchen sie unglücklicherweise direkt abstammte, sollte ihre Mutter sich nicht aus ihren Angelegenheiten heraushalten und sie in Ruhe lassen.
„Und was? Willst du mich etwa enterben, Okāsan?“, fragte Kuraiko flüsternd, sah es nicht als notwendig an ihre Stimme zu einem wütenden Kanon zu erheben und damit kostbare Atemluft für jemanden zu verschwenden, der es nicht wert war. Es genügte schon für diese absurde Unterhaltung überhaupt Zeit aufzugeben.
„Wir wissen beide wie Ojiisan dazu stehen würde, nicht wahr?“
Kuraiko war Ojiisans Liebling. Alles was seiner Tochter fehlte, fand das Familienoberhaupt in seiner ältesten Enkeltochter wieder. Unbeugsam. Traditionstreu. Tatsachen, die er seinem eigen Fleisch und Blut jedes Mal, sobald eine wichtige Familienfeier anstand und die Anwesenheit aller Mitglieder der Hauptfamilie forderte, aufs Neue unter die Nase rieb.
„Schließlich sind Yuna und ich der Grund, warum Ojiisan sich überhaupt noch mit so einer Versagerin von einer Tocher befasst.“
Sayuri fletschte die Zähne. Eine Reaktion, die nicht zu ihrem sonst so damenhaften Verhalten passte. In jedem Menschen steckte eben ein dunkles Geheimnis.
„Was wenn ich Vaters Name annehme?“, fragte Kuraiko unschuldig. Sayuris Gesicht wurde aschfahl.
„Wir wissen beide, wie du dann dastehen würdest. Ojiisan würde dich dafür enterben.“
Ojiisan hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass Kuraiko für ihn die bessere Wahl für das nächste Oberhaupt der Familie war. Er war in erster Linie zwar ein Traditionalist, jedoch wenn es um den Ruf der Familie ging, war er ein kaltherzig kalkulierender Realist.
„Du würdest es nicht wagen-“
„Nicht was wagen, Okāsan?“, schnitt die Grünhaarige ihrer Mutter dreist das Wort ab und hob eine Augenbraue in perfekt inszenierter Verwirrung.
„Die Seite des Stammbaumes verleugnen, die mich geboren oder die, die mich gezeugt hatte? Wir wissen beide, welche Seite ich wählen würde, Okāsan?“
Jemand, der ohnehin schon durch seine ablehnende Haltung gegenüber der alt japanischen Kultur im Hinblick auf das Erlernen einer traditionellen Waffe in Ungnade gefallen war, hatte es sich einfach nicht leisten können, das älteste Kind im Twist mit der eigenen Familie zu haben. Ihre Mutter mochte zwar die Erbin des Hauses sein, doch selbst sie war nicht so dumm, um nicht zu wissen, dass ihr Vater am liebsten ihr ältestes Kind als Nachfolgerin haben wollte und nicht sein einzige Tochter. Aus diesem Grund und weil sie penibel darauf bedacht war, dass Bild ihrer kleinen, glücken Familie wenigstens in der Öffentlichkeit zu wahren, war sie von ihren Forderungen zurückgegangen, anstatt es auf eine Konfrontation mit ihrem Vater ankommen zu lassen. Denn sie hätte dabei den Kürzeren gezogen. Ohne Zweifel. Kuraiko war immerhin Ojiisans Liebling.
„Über zerbrichst du dir deinen hübschen Kopf, Blaubeere?“, kam plötzlich eine vertraute Stimme von links. Es dauerte keinen Wimpernschlag und sie hatte ein Messer an die Kehle des unhöflichen Rüpel gelegt, welcher es gewagt hatte sie zu stören.
„Wie. War. Das?“, zischte sie. Die Augen waren mörderisch auf seine Gestalt gelegt und wagten ihn diese Worte erneut in den Mund zu nehmen, damit sie ihm dafür die Zunge herausschneiden konnte. Im Nachhinein betrachtet, war ihr natürlich nicht danach, jedoch hatte er sie zu einem schlechten Zeitpunkt am falschen Fuß erwischt. Mitleid? - Fehlanzeige!
„Woaw. Woaw, beruhige dich mal! Willst du etwa deiner Schwester Konkurrenz machen, oder wie? Also dann müsstest du noch ein bisschen üben. Sie ist ja eine Meisterin der unbewegten Gesichtszüge“, versuchte er die angespannte Stimmung zu lösen und grinste, wenn auch nervös. Das der eine Zwilling regelmäßig die Waffen zückte, war ja nichts Neues, doch dass ihre kleine Schwester der Großen jetzt in diesem Punkt nacheifern zu scheint, war höchst bedenklich. Was kam als Nächstes? Eine sich bei Ares entschuldigende Kuraiko?!
Es klappte. Yuna erlaubte sich das leiseste Lächeln und steckte das Wurfmesser zurück in ihre hintere Hosentasche. Erleichtert atmete er auf. Sie trat einen Schritt zur Seite und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
„Was machst du hier, Loki?“, fragte sie, während besagte Person sich seinen Hals rieb. Ein offensichtlicher Versuch das Gefühl von kaltem Metall von seiner Haut zu wischen.
„Abgesehen davon mich nicht von dir umbringen zu lassen? Schon gut. Schon gut!“, beschwichtigte er sie, nachdem sie ihn mit ihren Orben erdolchte und hob als Zeichen seiner Untergebenheit die Hände.
„Ich war auf dem Weg zur Doc, habe jedoch hier irgendwo in diesem Raum meine Uhr verloren und wollte schauen, ob ich sie wiederfinde. Was ich ganz sicher nicht erwartet hatte, war, dass ich gleich mit einem Messer attackiert werde!“
Yuna hatte den Anstand leicht rot bei dieser Aussage zu werden und sah peinlich berührt zu Boden.
„Entschuldige, ich war in Gedanken“, gab sie als dürftige Erklärung an.
„Das hat man gesehen“, murmelte Loki. Es hätte einen Blinden gebraucht, um das nicht zu bemerken. Er hatte sogar die Wahrheit gesagt. Ihm war gestern schon seine Armbanduhr abhanden gekommen und der letzte Ort, wo er sich sicher war sie noch gehabt zu haben, war dieser Trainingsraum. Seine Überraschung Yuna hier anzutreffen war hoch, denn er war sich sicher gewesen, dass sie in Richtung der unteren Trainingsräume gegangen war. Noch verblüffter war er jedoch, als sie eine 'Kuraiko' bei ihm abzog und ihm die Gurgel durchschneiden wollte. Wie ein altes Sprichwort so schön sagte: Zwei Menschen - Ein Gedanke. Hier passte zwar 'zwei Schwestern - ein Gedanke' besser, allerdings erfüllte es den Kerngedanken. So unterschiedlich sie auch erschienen, im Grunde genommen hatten sie dieselben Wesenszüge in sich vereint. Unbeugsamkeit. Entschlossenheit. Loyalität einer bestimmen Sache gegenüber. Was sie jedoch aus diesen drei Komponenten - und noch einigen mehr - geformt hatten, war jeder selbst überlassen gewesen. Niemand konnte behaupten, er hätte gewusst, dass aus der Grünhaarigen mal eine instabile Persönlichkeit werden würde, die mit jeder Bewegung deinen letzten Atemzug markieren könnte. Oder das Yuna der Sonnenschein, welcher jede Dunkelheit erhellen konnte, werden würde. Niemand konnte das. Niemand konnte in die Zukunft sehen. Jedem war es sich selbst überlassen, jeder konnte selbst entscheiden, was er aus seinem Leben machte und wie er führte.
„Soll... soll ich dir helfen?“, durchschnitt ihre Stimme die Stille, die sich über sie gelegt hatte. Sein Kopf schnappte in ihre Richtung. Loki hatte für einen Moment vergessen, dass er nicht allein in diesem Raum war. Jemand war noch bei ihm. Nun bezahlte er für seine Unachtsamkeit. Hart.
„Ähh... ja. Ja, natürlich kannst du!“
Das Grinsen erreichte nicht ganz seine Augen. Diese eine Frage hatte nämlich dafür gesorgt ihn gänzlich durcheinanderzubringen. Er wusste nicht, wohin er blicken sollte. Ihr Gesicht? - Und sich von ihren faszinieren Orben einfangen lassen? Oder ihren zaghaft lächelnden Lippen, die ihm jeglichen Antwort entzogen, die auf den Seinen lag? Am Ende entschied er sich für keines von beiden, widerstand den verlockenden Versuchungen mit eiserner Willensstärke, wenn auch knapp und sah an ihr vorbei an die Wand hinter ihr.
„O-kaaay?“, zog sie das Wort lang und blickte etwas hilflos drein. Ihr Blick huschte zu den Schränken an der gegenüberliegenden Wand.
„Ich schau mal bei den Schränken und du bei den Dummies und Kästen“, sagte sie ein wenig unbeholfen und verschwand auf der Stelle.
„Ist gut“, flüsterte er und schnappte aus seiner Starre. Loki schüttelte seinen Kopf, versuchte seine Gedanken zu sortieren bis ihm wieder einfiel, zu was er da gerade zugestimmt hatte. Sofort ging er zu den Puppen und Holzkästen, die genau gegenüber dem Eingang aufgestellt waren und durchsuchte sie wie auf Autopilot. Indessen schimpfte er sich wahrscheinlich zum tausendsten Mal für seine wahrhaftige Blödheit aus sich in ihrer Gegenwart immer wie der reinste Vollidiot zu benehmen. Was war er denn? Ein Typ, der mit dem plötzlichen Kontakt seines Engels nicht umgehen konnte? Eigentlich... - Ach verdammt! Gut, dann war er halt ein kompletter Vollpfosten! Yuna musste das ohnehin von ihm denken so wie er sich in letzter Zeit daneben benommen hatte. Wohlgemerkt nur in ihrer verfluchten Gegenwart! Andernorts war er wie immer. Spitzbübisch. Zweideutig. Sarkastisch. Wieso ging das dann bei ihr nicht? Was hatte sich geändert, dass er innerhalb von wenigen Wochen sich in einen solchen verliebten Schwachmaten verwandelt hatte? - W-warte, bitte was?
Ver-liebt?
Loki bückte sich roboterartig neben einem Dummie nach unten. Etwas silbernes hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Nebenbei erlaubte er sich einen nervösen Blick zu der Bluenetten, welche mit akribischer Genauigkeit sich durch die Schränke wühlte. Keinen Moment sah sie von ihrer Arbeit auf. Es wirkte schon fast wie gezwungen.
Es war das erste Mal, dass seine Selbstgespräche - oder was auch immer es genannt werden konnte! - diese Wendung genommen hatten. Davor war ihm nie aufgefallen, was sie mit ihm anstellte. Nicht wirklich. Natürlich war dieser Gedanken schon einmal aufgetaucht, jedoch so schnell wieder in die hinterste Schublade verfrachte worden, dass er kaum einen zweiten Blick daran verschwendet hatte.
Doch plötzlich verstand er. Bei Gott, wie konnte er bloß so verdammt blöd gewesen sein es nicht zu bemerken! Wie hatte er es nicht sehen können? Wie, wenn ein Lächeln von ihr allein genügt hatte seinen Tag zu erhellen? Wie, wenn ihre Stimme allein dafür gesorgt hatte, dass er sich auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte, als auf sie? Dumm. Dumm. Dumm. Er war so dumm gewesen. So bescheuert! - Aber was sollte er jetzt mit seiner neu gefundenen Erkenntnis machen? Mit ihr in den Urlaub fahren, oder wie?
„Du hast deine Uhr ja gefunden! Warum sagst du dann nicht und lässt mich hier einfach weiter suchen?“, rief eine weibliche Stimme zu ihm herüber und überbrückte die wenigen Meter die zwischen ihnen waren mit Leichtigkeit. Vor ihm stehend, stemmte sie die Hände in die Hüften und blickte ihn gespielt sauer an.
„Also echt!“, empörte sie sich. Es hätte lediglich der mahnende Zeigefinger gefehlt und das Bild wäre perfekt gewesen.
„Lässt mich da weiterschufften, obwohl du das Ding längst gefunden hast! Pff! Ein Gentleman bist du nicht gerade.“
„Äh, wie bitte?“, fragte Loki nach, ihre Worte nicht im mindesten mitbekommen habend. Die Uhr lag vergessen in seiner Hand. Riesige Fragezeichen prangerten dafür in seinem Gesicht. Plötzlich lachte sie auf und er verstand die Welt nicht mehr. Was war den nun wieder so witzig? Normalerweise war er hier der Scherzemacher und Streichespieler, nicht umgekehrt!
„Sorry“, kicherte sie. So entschuldigend hörte sich das aber nicht gerade an. Im Gegenteil!
„Dein Gesicht. - Zu komisch! Schon mal überlegt Clown zu werden?“, wollte sie verschmitzt grinsend von ihm wissen und hob ihre Augenbrauen an.
Hä?
Gott, wie begriffsstutzig war er denn heute! Das toppte sogar den 'Krankenflügel-Vorfall'. - Traurigerweise, musste man mit anführen!
„Aber natürlich!“, erwiderte er grinsend, in ihr Spiel mit einsteigend. Klar denken war zwar nicht mehr drinnen, dafür konnte er aber immer noch schlagkräftige Kommentare abgeben.
„Doch nur, wenn du die hübsche Seiltänzerin bist.“
Woher kam das jetzt schon wieder?! Also das hatte er nicht damit gemeint...
Glücklicherweise oder zu seinem Pech, hielt sie es für einen Teil seines Spiels und verschwendete keinen weiteren Gedanken daran, sondern machte munter weiter.
„Man könnte meinen, du flirtest mit einem“, merkte sie in einem unbekümmerten Tonfall an und verschränkte ihre Arme.
„Wer sagt, dass ich es nicht tue?“
Verdammt! Er und seine große Klappe! Ein leichter rosa Schimmer legte sich um seine Wangen. Sein Blick huschte zur Seite, nicht gewillt sie an seinem Zustand teilhaben zu lassen.
„Bin dann weg. Bis später. Danke für die Hilfe. Ciao“, sagte er in einem Rutsch und türmte aus dem Zimmer. Er hatte die Rechnung ohne die Bluenette gemacht, denn diese hielt ihn am Arm fest.
„Nicht so schnell, Mister“, mahnte sie.
„Oder hast du etwa schon vergessen, dass du mich heute erneut einer ärztlichen Kontrolle unterziehen wolltest?“
Loki konnte nicht aus. Er hatte tatsächlich so etwas in die Richtung bei ihrem letzten Besuch erwähnt. Immerhin musste er nachsehen, ob der Heilungsprozess sich weiterhin so gut entwickelte wie bisher, oder ob eine Änderung in der Behandlung nötig wäre. Die Wunde an ihrem Arm, machte ihm nämlich noch ein bisschen Sorgen, denn die Stelle hatte sich trotz schnellster medizinischer Versorgung leicht entzündet.
„Ja. Natürlich. Dein Arm“, sagte er abgehakt, vermied es sie direkt anzusehen. Yuna seufzte langgezogen und entließ ihn aus ihrem Griff.
„Männer“, murmelte sie.
„Immer dasselbe mit ihnen. Ihr meckert, wenn Frau nur wenige Minuten zu spät kommt, vergesst aber selbst, dass ihr zu einem Treffen zugestimmt, ja es eigentlich sogar regelrecht befohlen habt.“
„Was soll das schon wieder bedeuten? Etwa, dass ich an De-He! Wo willst du hin?“, rief er ihr hinterher. Sie drehte sich zu ihm um. In ihren Augen konnte er deutlich ein
„Das fragst du ernsthaft?“
ablesen.
„Krankenflügel?“, fragte sie schließlich zweifelnd, hatte jedoch schon im nächsten Moment ein schelmisches Grinsen auf den Lippen.
„Also echt! So langsam bekomme ich wirklich das Gefühl, dass du an Alzheimer leidest.“
„Da bin ich- Verdammt warte mal!“
Loki sprintete ihr hinterher, konnte dabei aber nicht verhindern, dass sich ein leises Lächeln in sein Gesicht schlich. Niemand konnte einem sagen, was die Zukunft mit sich brachte, doch wenn es nach ihm gehen würde, so würde der blauhaarige Engel einen festen Bestandteil in seinem Leben haben. Niemand konnte in die Zukunft sehen, doch den Weg dafür eben, dass konnte jeder. Jeder, der gewillt war in eine Zukunft zu gehen.
Russland, wahrscheinlich im Süden des Landes
„Andrej“, rief jemand in den Raum und steckte seinen Kopf durch die Tür. Andrej sah von seinen Unterlagen auf und zu dem rothaarigen Wuschelkopf, welcher mit großen Ringen unter den Augen selbst nicht mehr der Frischeste nach einer 8-Stunden Schicht war. Von sich aus auf andere schießen brauchte er jedoch nicht. Wahrscheinlich sah er sogar schlimmer aus sein Partner. Immerhin protestierte sein Rücken als er sich aufrecht in seinem Drehstuhl hinsetzte lautstark und seine müden Knochen knacksten verdächtig durch die gespenstische Stille, welche an und wann von genervten Stöhnen und Blättern unterbrochen wurde.
„Ja?“, fragte er, konnte seinen leicht genervten Ton nicht unterdrücken. Bis auf ihn und Jurii, welcher an seinem Platz mit einer Laune von sieben Tage Regenwetter Ordner wälzte, war das große Gemeinschaftsbüro verwaist. Eine Nachtschicht war mit Abstand das Schrecklichste, was man einem Polizisten antun konnte. Niemand war erpicht darauf plötzlich seine Schlafgewohnheiten über den Haufen geworfen zu bekommen, nicht einmal wenn die Schicht bloß über eine läppische Woche ging.
„Es gibt einen Tatort. Zwanzig Minuten von hier“, erklärte ihm Igor, sein langjähriger Partner und bedeute Andrej mit einer schnellen Handbewegung sich gefälligst zu erheben und mit ihm mit zu kommen. Seufzend erhob er sich und griff nach seinem Waffengürtel. Eine gute halbe Stunde später bogen sie in der Straße, von wo der Anruf gekommen war. Da ihnen über Funk mitgeteilt worden war, dass eine weitere Streife vor Ort sein würde, wurden sie mit blauem Licht begrüßt.
„Andrej, Igor“, nickte ihnen Ivan, ein Kollege von Nachbardezernats grimmig zu, während sie näher an den Ort des Geschehens herantraten.
„Vier Opfer. Geschlecht kann ich dir beim besten Willen nicht sagen.“
„Warum?“
„Nun“, hier stoppte Ivan und fuhr sich mit einer Hand durch seine Halbglatze. Sein Blick zur Gasse.
„Es ist besser ihr seht es euch selbst an.“
Andrej nickte. Dessen junger Kollege stellte er fest, sah angestrengt von der Gasse weg, so als weigerte er sich einen weiteren Blick dort hineinzuwerfen. Er konnte es wegen der schlechten Lichtverhältnisse nicht genau sagen, doch das Gesicht des jungen Polizisten war leicht grün angelaufen.
„Neu?“, fragte er den erfahrenen Mann. Igor ging schon mal voraus und hinein in den kleinen Seitenarm der Straße.
„Frisch von der Akademie“, bestätigte Ivan.
„Seine erste Nachtstreife und dann so was.“
Der in die Jahre gekommene Kollege schüttelte seinen Kopf und seufzte, ehe sie sich gemeinsam in Bewegung setzten. In der Gasse angekommen, verstand er plötzlich, warum Ivan sich so bedauernd angehört hatte als er von der ersten Nachtschicht des Frischlings sprach.
„Was...“, murmelte er. Bei Gott! Kurz nach der Ausbildung so was vor die Nase gesetzt zu bekommen, war wie ein Sechser im Lotto und das meinte er im absolut negativen Sinn. Hier sah es - um es gelinde auszudrücken – aus, wie auf einem Schlachtfeld. Die vier Personen an den Wänden konnte kaum mehr als Menschen bezeichnet werden, so über und über sie mit Blut besudelt und zusammengeschlagen waren bis von ihnen nichts außer eine Masse an Fleisch mit Zähnen und andeutungsweise Arme und Beinen. Die Pappkartons, die als notdürftige Behausungen für die mit aller Wahrscheinlichkeit gewesenen Obdachlosen dienten, waren so mit Blut vollgesogen, dass die Farbe im dürftigen Licht rostbraun erschien. Wer auch immer hier gewütet hatte, war ein krankes, völlig krankes Schwein gewesen!
„Irgendein Hinweis?“
Je länger er auf die Opfer starrte, desto stärker wurde das Gefühl sich übergeben zu müssen.
„Außer einem anonymen Anruf nichts“, antwortete ihm Ivan und sah von der Schadtat, dessen Ausmaße sie nun bemessen mussten, weg. Andrej unterdrückte den aufkommenden Würgereiz mit der Selbstbeherrschung eines erfahrenen Polizisten und wand sich stattdessen an seinen Partner, welcher mit einer Taschenlampe bewaffnet die Müllcontainer untersuchte.
„Was gefunden?“
„Noch nicht“, entgegnete ihm ein im Müll wühlender Igor. Die Erschöpfung war klar und deutlich aus seiner Stimme herauszuhören.
„Aber bei so einer Brutalität kann es gut sein, dass Spuren zu finden sind. Hab schon nach der Spurensicherung und einem Leichenwagen geschickt“, sagte Igor und wollte gerade in den nächsten Container seine Nase stecken, als völlig unerwartet eine Hand aus dem Inneren hervor schnellte und seinen Hals, wie ein Schraubstock umpackte. Andrej blieb nicht einmal die Zeit ein
„Igor!“
auszurufen, geschweige denn nach seiner Waffe zu greifen da umklammerten ihn plötzlich zwei kräftige Arme von hinten und drückten ihm den Brustkorb zu. Es fühlte sich so an, als hätte jemand ein dickes Stahlseil um ihn gelegt und zog nun langsam zu. Andrej schrie. Sein Kampf dauerte lediglich wenige Sekunden, ehe seine Rippen mit einen ekeligen Knacksen brachen und sich tief in seine Lungen rammten. Der Schmerz überrannte ihn und schickte ihn schließlich nach kaum nennenswerten Momenten in den erlösenden Tod. Von seinem Partner Igor war nichts außer einer blutigen Fleischmasse übriggeblieben. So plötzlich wie der Angriff gekommen, so schnell war er auch wieder vorüber. Der Angreifer entließ den leblosen Andrej aus seinen Armen und schmiss ihn achtlos vor sich zu Boden. Neues Blut benetzte den Untergrund in strahlendes Rot. Ohne auf seine Mittäter zu achten, welche sich um die anderen beiden Polizisten gekümmert hatten, schlurfte er aus der Gasse. Nicht achtend wohin er ging, krachte er gegen eine Wand. Stein bröckelte zu Boden, während er ohne eine Kenntnisnahme dieses Geschehen seinen Weg fortsetzte. So als hätte der Zusammenprall nicht im mindesten Auswirkungen auf ihn. So als wäre er aus einem Material stärker als Gestein. Im Licht einer Straßenlaterne leuchtete seine Haut leicht silbern auf. Nein, nicht Stein. Es war, als wäre er aus gehärtetem Metall.
Stonevalley, Nachmittag
Wie in den Tagen zuvor tauchte sie auch die restliche Woche nicht in der Schule auf. Schlimme Sommererkältung lautete die offizielle Erklärung, welche das Direktorat erhalten hatte. Demgegenüber die inoffizielle Version, welche mehr Variationen aufwarf als Richtungen auf einem Kompass ablesbar waren. Im Grunde genommen wusste aber keiner, was genau mit ihr los war, noch wollte es der Großteil unbedingt in Erfahrung bringen. Sie gaben sich mit der Begründung 'Einmal Kuraiko - Immer Kuraiko' zufrieden, anstatt tiefer zu bohren und dort nachzuforschen, wo es unangenehm werden würde. Er grub ebenfalls nicht nach den versteckten Informationen. Nicht, weil er der Mehrheit bedingungslos folgte, sondern weil ihm bewusst war, dass Kuraiko nicht dafür bekannt war offenherzig zu sein, oder gesprächig wenn sie es nicht ausdrücklich sein musste. Deren stummer Spaziergang war Beweis genug dafür, wie absolut undurchschaubar sie sein konnte. Sie ging neben ihm zum Krankenflügel, um ihre verletzte Schwester zu besuchen, sprach jedoch kein Wort mit ihm auf diesem Weg. - Es war mehr als er zu träumen gewagt hätte und gleichzeitig etwas, was er mit jedem Atemzug sowohl verleugnen als auch wiederholen wollte.
Frustriert stöhnte er auf und schlug mit der geballten Faust gegen die nächste Wand.
„Was hat sie dir den getan, dass du gleich auf sie einschlagen musst?“, fragte sein bester Freund, welcher plötzlich wie aus dem nichts neben ihm erschienen war. Auf dessen Mund lag wohl das größte Grinsen seit Menschengedenken und das konnte nur eines bedeuten.
„Wer ist der Unglückliche?“, seufzte er und fuhr sich durch kinnlange dunkelblonde Haare. Es wurde mal wieder Zeit einen Besuch beim Frisör seines Vertrauens abzustatten. Den Schmerz in seiner pochenden Hand blendete er effektiv aus.
„Wer?“
Er verdrehte seine Augen. Musste wohl ein verdammt guter Streich gewesen sein. Lokis Heiterkeit war ja kaum auszuhalten! Nicht wenn seine Gedanken in Kuraikos Fängen war, ohne dass sie selbst dafür überhaupt anwesend sein musste. - Das konnte er seinem Kumpel jedoch nicht auf die Nase binden!
„Derjenige, der am anderen deines unvorstellbaren Humors gelandet ist“, entgegnete er trocken und bewegte sich in Richtung der privaten Räume. Jedes Umbra Mitglied hatte ein nach eigenen Wünschen ausgestattetes Zimmer mit Bad im Stonevalley, welches je nach Belieben als permanente Resistenz oder wie beispielsweise in Grace's Fall als temporärer Aufenthaltsort angesehen wurde. Er, wie der grinsende Idiot neben ihm, gehörte zu den über 85 Prozent, die sich dazu bequemt hatten dem Stress mit hin und herpendeln zwischen Valley und zu Hause einfach zu umgehen, indem sie diese Variante vorzogen. Nicht das seine Eltern sich großartig dafür interessiert hätten, was und wo ihr Sohnemann sich herumtrieb, denn dafür müsste erst einmal einen Weg finden aus dem Grab heraus mit ihm zu kommunizieren. Sie waren tot. Autounfall. Von ihnen war nichts mehr außer eine verschwommene Erinnerung übrig, welche mit jedem weiteren Jahr immer mehr in Vergessenheit geriet.
„Niemand“, grinste Loki ihn an.
„Und mein Humor ist nicht nur 'unvorstellbar', sondern auch noch so unglaublich genial, dass man mich einfach lieben muss.“
„Sagt der, der erst letzte Woche von Alma ein - ich zitiere - 'Loki, du verdammtes Arschloch! Die Sachen waren neu, du scheiß Stück menschliche Materie! Ich fasse es einfach nicht, dass ich von lauter Deppen umgeben bin!' bekam, nachdem sie deiner 0815 Falle ins Netz gegangen war und nach der unfreiwilligen 'Dusche' in neongelb mehrere Gänge hinweg Jagd auf dich gemacht hatte?“, hielt er dem Brillenträger trocken entgegen und hob erwartungsvoll seine Brauen. Der Anblick war für die Götter gewesen. Die darauffolgende Verfolgungsjagd kreuz und quer durchs halbe Valley hingegen lediglich für die stillen Zuschauer ein Genuss gewesen. Zum Glück hatte er dieses Mal nicht seine Finger mit im Spiel gehabt und konnte somit mit der allerhöchsten Genugtuung seinem Freund dabei zusehen, wie er versuchte der wild gewordenen Scharfschützin zu entkommen.
„Gut, gut!“, gab sich Loki geschlagen, erinnerte sich eher ungern an diese Situation zurück. Wieso musste sich Alma auch bloß so verdammt gut hier auskennen? Er hatte sich in Sicherheit gewähnt und ein winziges Detail vergessen: Ihre unübertroffene Logik. Sie hatte ihr schnelles Denken erneut unter Beweis gestellt und ihn binnen zehn Minuten eingefangen. Danach... - Nun, der Brünette wusste wie er nächstes Mal sicherlich nicht seinen Fluchtweg planen würde. Ein Jammer! Improvisieren hatte bis dato immer so schön glatt hingehauen!
„Ich gebe ja schon zu, dass an der Waffenkammer vorbei zurennen nicht gerade mein lichtester Moment war... Wie sollt ich auch soweit denken, dass sie mich gleich mit einer Waffe niederstrecken will?“
„Vielleicht, weil es ihr Job ist, bewegte Ziele auszuschalten?“, schob er sarkastisch dazwischen und bedachte seinen Freund mit einen erwartungsvollen Blick. Himmel! Schabernack treiben konnte der Kerl, aber logisch denken etwa nicht, oder wie? Er schüttelte fassungslos seinen Kopf.
„Und man glaubt, dass Ares jegliche Selbsterhaltungstriebe vergisst, wenn er mit Kuraiko konfrontiert wird! Du bist ja genauso schlimm!“
„He! Jetzt wirst du aber beleidigend!“, warf Loki ein, konnte sich allerdings das Dauergrinsen, welches ihn infiziert hatte, nicht vom Gesicht wischen.
Langsam aber sicher, hielt er eine ernste Kopfverletzung für die Wahrscheinlichste Variante, warum denn sein Kumpel sich wie ein Goofy benahm. War ja kaum auszuhalten mit ihm! Nicht wenn das eigene Hirn vor Überlastung beinahe zerspringen wollte! Alles wegen ihr! Sie hatte ihn in ihren Fängen, ohne überhaupt dafür anwesend zu sein! Ein Zeichen seiner Schwäche. Ein Beweis dessen, dass er nicht völlig verloren war. - Und er verabscheute sich dafür so sehr, wie er sich auch danach sehnte. Freunde. Ein Leben. Ein Herz.
„Huhu! Jemand da im Oberstübchen?“
Jemand fuchtelte mit der Hand vor seiner Nase herum. Aggressiv schlug er diese weg.
„Was hat dir den ans Bein gepinkelt?“, fragte Loki zweifelnd. Ein funkelnder Blick landete in seiner Richtung. Okay... Irgendwie wurde der Braunhaarige das Gefühl nicht los, etwas ganz wichtiges nicht erfasst zu haben.
„Nichts“, winkte der Blondschopf schroff ab und wand sich zur Seite. Intensiv starrte er ins Nirgendwo der schier endlos wirkenden Gänge ihres zu Hause. Wimpernschläge später war sein Gesicht von allen Emotionen befreit und wie blank geputzt.
„Sag du eher, warum du so - wie soll ich sagen? - verdammt scheiß gut drauf bist, wenn niemand am anderen Ende deines Humor gelandet ist.“
Themawechsel. Es war offensichtlich, dass er nicht darüber sprechen wollte, selbst mit seinem besten Freund nicht. Loki allerdings war zu sehr guter Dinge, als das er sich von dem faden Beigeschmack des Nichtvertrauens die Suppe versalzen ließ.
„Es könnte mit einer gewissen Person zu tun haben“, sagte Loki geheimnisvoll.
„Oh, hat es das? Falls es dir nicht entgangen sein sollte: Ich bin kein verdammter Gedankenleser! Wäre ja noch schöner; auf deine versauten Gedanken kann ich getrost verzichten!“, schoss er scharf zurück ohne Rücksicht auf Verluste. Ihm war bewusst, dass seine schnippische Anmerkung nahe an der Grenze zu einer Beleidigung stand, jedoch konnte er sich nicht dazu bewegen sich über ebendies zu kümmern. Sein Kumpel musste ja mittlerweile mit seinen Launen bestens vertraut sein, damit er aus seinen Worten die Wahrheit entnehmen konnte, die auch dahinter stand.
„Als ob deine nicht minder auf Fußbodenniveau sind!“, entgegnete Loki hitzig, ließ aber ein Lächeln hindurch blinzeln. In keinster Weise war er von der harschen Entgegnung seines Freundes verunsichert. Dazu bräuchte es schon mehr um ihn, Loki, der nordische Gott für unter anderem des Schabernacks ernsthaft zu beleidigen.
„Bist du dir sicher Fußboden- und nicht Kellerniveau?“
Bevor sie hier jedoch einen handfesten 'Streit' im Gang hatten, manövrierte er geschickt das Thema zurück auf den eigentlichen Ausgangspunkt: Lokis überdurchschnittliche Laune. Normalerweise uninteressant, doch im Anbetracht der anderen Optionen eine willkommene Alternative. Andererseits müsste er nämlich mit seinem Gewissen ein ernstes Stückchen reden. - Etwas, was er zu vermeiden versuchte, wann immer dieser bestimmte Gedankenfetzen sich aus den Untiefen seines Hirns hervortat.
„Und sind wir nicht leicht vom ursprünglichen Ausgangspunkt abgekommen? Ich denke du warst gerade dabei von deinem Herzblatt zu reden. Außer es stimmt, was man sich über dich sagt und du bist wirklich vom anderen Ufer. Erfährt der beste Kumpel nicht normalerweise so was als Erstes?“, grinste er seinen Freund schamlos an und genoss die Kinoreife Reaktion besagter Person in vollen Zügen aus. Loki konnte sich wohl nicht Entscheiden ob er lieber seine Kinnlade ins Bodenlose fallen lassen oder sich eher an die Variante Verschlucken-und-Husten halten sollte. Am Ende war es eine sonderbare Mischung aus beidem, die den Dunkelblonden dazu brachte sich vor Lachen beinahe auf dem Fußboden zu kugeln.
„Echt nicht witzig, man!“, knurrte Loki nach seinem Fast-Tod durch Ersticken, erdolchte ihn mit seinen Blicken regelrecht. Wer hatte den erwarten können, dass der Blonde mit so was aufwartete? So was nannte man Freunde! Einfach nicht zu fassen!
„Und nein! Bist du des Wahnsinns?“
Hier war er versucht den Brünetten mit einem
„Ja!“
aus dem Konzept zu bringen, allerdings entschied es sich eines besseren und ließ diesen schlafenden Hund lieber ruhen.
„Soso, also doch nicht im anderen Team. - Gut zu wissen. Also wer ist das Herzblatt? Eine von uns? Da gibt es bekanntlich nicht viel Auswahl.“
Gab es wirklich nicht. Die Anzahl an weiblichen Mitgliedern in der Umbra betrug nicht einmal eine Handvoll. Vorausgesetzt man ließ die, die auf Langzeitmission unterwegs waren und Ehemalige unterm Tisch fallen.
„Also“, fing er an.
„Vis fällt von vornherein weg. Grace ist nicht dein Typ.-“
„Woher willst du das wissen?“, schob Loki hitzig dazwischen.
„Du stehst auf Grace?“, fragte er zweifelnd. Man durfte ihn nicht falsch verstehen. Grace war ein hübschen Mädchen und freundlich obendrein, doch wenn man alles zusammenlegte, so war sie immer noch sterbenslangweilig, was ihren Charakter anging. Jemand wie sie und Loki? - Oh, es erschauderte ihn schon beim bloßen Gedanken an diese Kombination.
„Das habe ich nicht gesagt“, verteidigte Loki sich sofort.
„Klar“, winkte er lässig grinsend ab und ließ seinen Freund nicht mehr zu Wort kommen.
„Jetzt bleiben nur noch die Zwillinge übrig oder du lechzt einer Outsiderin hinterher.“
An Letzteres glaubte er jedoch weniger. Woher hätte Loki sich auch die Zeit nehmen können zwischen all dem täglichen Wahnsinn? Es war schon eine Meisterleistung an sich überhaupt eine Freundschaft außerhalb ISAAC aufrechtzuerhalten. Wie hätte da eine Romanze reingepasst?
„Eine der Zwillinge also“, sinnierte er und beobachtete seinen Kumpel aus den Augenwinkeln. Jackpot! Eine Reaktion!
„Woher weißt du das?“, fragte Loki misstrauisch. Er hatte sein blendendes Lächeln eingebüßt und trug stattdessen ein reserviertes, gar fast schon mürrisches Etwas in seinen Mundwinkeln. Das Loki sich gerade quasi selbst verraten hatte, bemerkte er nicht.
Ha! Dieses nervenaufreibende Lächeln war besiegt! Schuss ins Blaue und gewonnen!
„Gar nicht, aber jetzt weiß ich, dass es eine der Beiden sein muss. Also wer? Yuna oder doch Kuraiko?“, fragte er und ließ seinen Kumpel nicht aus dem Augen.
„Andererseits Kuraiko hat Uranu.“
Wo Triumph vor wenigen Wimpernschlägen noch residierte, war nun ein eisigen Gefühl in seinen Eingeweiden. Er konnte es nicht verhindern, dass sein Ton eine giftige Note bekam. War es der Anflug von Eifersucht, welches ihn da wie eine Heuschreckenplage überfiel?
„Bist du des Wahnsinns?! Die ist mir - bei allem Respekt - zu psycho!“
„Deswegen ist es auch unser blauhaariger Sonnenschein, habe ich Recht?“
Sein Gegenüber seufzte ergeben, wissend das der andere nicht locker lassen würde und ergab sich seinem Schicksal. Irgendwann musste er auch einmal mit der Sprache herausrücken.
„Ja sie,“ murmelte Loki fast unverständlich für seine Ohren und sah in eine andere Richtung. Es war das erste Mal, dass er es laut zugab.
Während ihres - zugegeben höchst interessantem - Gespräch, welches erst jetzt komplett seine Flügel entfaltete, wie ein neugeborener Schmetterling, waren sie von eigentlichen Ziel zu deren Privaträumen zu gelangen, abgekommen und fanden sich stattdessen in der Nähe der Treppe, die sie einen Stockwerk tiefer direkt zum Esssaal führen würde. Am Treppengeländer angelangt, lehnte er sich daran an. Loki, welcher noch immer nicht gewillt überhaupt von seiner Studie der Wand aufzusehen, blieb einige Schritte vor ihm stehen.
„Von deinem Ton an zu urteilen, hat es dich wohl richtig erwischt, oder nicht?“, fragte er, ungewohnt ernst. Eigentlich wusste er nicht recht, was er mit dieser neugewonnenen Information anfangen sollte. Wie alle Typen feixten sie schon mal über das ein oder andere Mädchen, sprachen über den neusten Flirt oder urteilten sie ab, doch dass es Loki so von den Socken haute, war bis jetzt bloß zweimal der Fall gewesen.
Eine Antwort brauchte er nicht, denn die Wahrheit stand seinem Freund buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
Yuna. Es war Yuna. Kuraikos kleine Schwester. Er konnte nicht verhindern, dass plötzlich ein trockenes Lachen über seine Lippen kam.
„Was ist?“, wollte Loki von ihm wissen, nicht verstehend was an der ganzen Situation so lustig wäre.
„Nichts“, winkte er mit einer Hand und drehte sich herum, sodass er mit seinen Armen am Geländer lehnte und nach unten ins Treppenhaus sehen konnte.
„Es ist nur...“, sagte er und hob seinen Kopf an, um seinen Freund anblicken zu können, welcher an ihn herangetreten war. Sein Gesicht war todernst. Es war der Moment der Stille, die ihm die nötige Zeit verschaffte seine Gedanken neu zu sortieren. Das Grinsen brach erst aus, als die Worte schon ausgesprochen waren.
„... sollte Kuraiko davon erfahren, bist du Hackfleisch. Das im wahrsten Sinn des Wortes.“
Stonevalley, später Nachmittag
„Nēsan, warte bitte!“
An ihrer Kleidung haftete halb getrocknetes Blut, sie stank erbärmlich nach Zigarettenrauch und Alkohol und hatte eigentlich nichts anderes vor, außer sich vor dem nächsten Auftrag den Dreck vom Körper zu waschen, als sie von ihrer Schwester, kaum das sie einen Fuß ins Valley gesetzt hatte, aufgehalten wurde. Kuraiko drehte sich um die eigene Achse und blickte ihrem Zwilling emotionslos entgegen. Ein undefinierbares Gefühl durchströmte sie.
Yuna beeilte sich zu ihr aufzuschießen.
„Ich- Es tut mir leid...“, fing sie an und sah anschließend zu Boden. Seit deren Streit hatten sie bis auf die typischen Floskeln kaum mehr ein Wort miteinander gewechselt. Etwas was Yuna schwer im Magen lag. Ein anderer Grund war ohne Zweifel die Tatsache, dass ihre Schwester eine ungeheuerliche Menge an Einzelmissionen innerhalb der letzten wenigen Tagen absolviert hatte. Ob sie ihr bewusst aus dem Weg ging?Wenn man sich diesen Gedanken genauer durch den Kopf gehen ließ, dann erschien es einem gar nicht mehr so abwegig, dass genau dies der Fall war. Andererseits hatte sie des Öfteren ihre Wochen, wo sie höchstens zum schlafen ins Valley kam und wenn sie der Schule nicht gänzlich fernblieb, dann verschwand sie spätestens direkt nach dem Unterrichts ins Unbekannte.
„Es war unangebracht und-“
„Verständlich“, unterbrach Kuraiko sie mit einem gehauchten Flüstern.
„Ich hätte mich nicht...- Bitte was?“, fragte Yuna überrascht nach. Sie war sicher, sich verhört zu haben. Genau in Situationen wie diesen war es, wo sie sich die Fähigkeit Gedanken zu lesen wünschte, denn aus ihren Blutiridenen war rein überhaupt nichts herauszulesen.
„Ich- Wir sind immer noch Schwestern?“
Erstaunt. Yuna klang erstaunt. Diese Frage war hirnrissig, gar absurd, jedoch musste sie sie einfach stellen. Der Tag an dem sie einfach aus ihrem Leben entschwunden war, - so unfreiwillig es auch gewesen sein mag, sie war trotzdem gegangen und hatte ihre kleine Schwester zurückgelassen - hatte etwas in ihr losgetreten. Etwas, was sich nun - Jahre später – daran erkennen ließ wie verdammt unsicher sie von Zeit zu Zeit im Umgang mit ihrem Zwilling war. So als erwartete sie Zurückweisung, wo eigentlich ein freundliches Wort angebracht war. So als hätte sie mit jedem weiteren Wort Angst etwas Falsches zu sagen; sie von sich zu treiben mit einer einzigen Silbe. Es war als lagen manchmal Welten zwischen ihnen, wo doch lediglich eine simple Aussprache die Lösung wäre.
Den Blick, welchen sie zugeworfen bekam, war unmöglich aufzuschlüsseln.
„Immer denke nie etwas anderes Imouto.“
Stonevalley, früher Abend
„Erledigt.“
Eine dünne und blickdichte Mappe wurde ihm vor die Nase gesetzt. Erschrocken fuhr er zurück und kollidierte beinahe mit Kuraiko zusammen. Diesem Unglück wich sie jedoch geschickt aus, indem sie einen kleinen Schritt zur Seite machte und desinteressiert auf ihn herab sah.
„Musst du das immer tun?“, fragte Rainbow sarkastisch nach, erwartete aber keine Antwort, da sie so oder so nicht gekommen wäre und schnappte sich stattdessen die vorgesetzten Unterlagen.
„Ich bin in 90 Minuten weg. Die Informationen sind auf deinem Computer. Mister Hermes müsste sie dir vor nicht mehr als einer Viertel Stunde geschickt haben. Du wüsstest es, wärst du nicht hier und würdest dir eine Esspause gönnen“, sagte sie nonchalant nach einiger Zeit der Stille.
„Normale Menschen essen auch, anstatt nonstop zu arbeiten, wie ein verdammtes Uhrwerk“, murmelte er unter seinen nicht vorhanden Bart und sah mit funkelnden Augen zu ihr auf. Sie machte jedoch nicht den Anschein ihn gehört zu haben, obgleich sie direkt neben ihm stand.
Natürlich, dachte das Computerass sich giftig. Wann war Kuraiko denn je ein normal funktionierender Mensch und benahm sich wie ein typischer Jugendlicher? Mit Sicherheit war sie in Gedanken längst daran mit sich selbst darüber zu debattieren, wie sie nun nun ihr nächstes Ziel am besten, schnellsten und dennoch schmerzvollsten töten konnte. Rainbow war doch nicht von vorgestern! Er wusste, dass die Einzelmissionen auf die sie geschickt wurde, dazu dienten Männer und Frauen die der ISAAC ein Dorn im Auge waren eiskalt zu eliminieren.
Unter den Tisch gekehrt war für den Moment die Tatsache, dass er und jeder andere bei der Umbra ebenfalls nicht gerade die üblichen Heranwachsenden waren, abgesehen von den typischen Geheimoperationen, die zur internationalen und nationalen Sicherheit dienten. - Alles lag vom Auge des Betrachters ab. Er war sich jedenfalls sicher, noch ein Leben außerhalb dem Ganzen hier zu haben. So winzig es auch war!
„Sorge dafür, dass dein Bericht morgen bei mir liegt, außer natürlich du machst dir die Mühe nicht mir persönlich Bescheid zu sagen, sollte es länger dauern. Kommt ja selten genug bei dir vor.“
Der Sarkasmus war in jeder Silbe herauszuhören, wie dickflüssiger Honig machte er sich breit und tauchte den Raum um sich herum in eine Falle für gierige Bienen. Leider war Kuraiko weder ein Insekt noch dumm und ließ sich - wie so oft - nicht durch Rainbows Worte aus der Fassung bringen. Der Buntschopf fragte sich kurz, ob das jemals schon der Fall gewesen war.
„Na? Wieder Ärger im Nerdie-Paradies? Was schmeckt unserem Top-Hacker denn heute nicht? Ist die Salzbrezel etwa zu versalzen für deine zartbesaiteten Geschmacksknospen?“
Kaum löste sich das eine Problem buchstäblich in Nichts auf, erschien auch schon das Nächste am Himmelzelt. Dieses Mal hatte der Kopfschmerz die Form eines altbekannten Störenfriedes. Sollte der nicht eigentlich ausgeknockt von der gestrigen Geburtstagsparty im Bett liegen und seine Wunden, aka Kopfschmerzen und Übelkeit lecken? Also am Mittag hatte der sich noch nicht blicken lassen...
„Her mit der Brezel, Loki!“
„Warum? Hunger?“, fragte besagte Person und fuchtelte vor Rainbows Augen mit besagtem Essen herum. Er dachte nicht im Traum daran mit seinem Schabernack aufzuhören. Dafür machte es ihm zu sehr Spaß den Buntschopf zu ärgern. Die anderen Optionen in diesem Raum wären nicht halb so witzig anzusehen gewesen.
„Her damit!“, knurrte Rainbow, griff nach der Brezel und befreite diese aus den Klauen des namhaften Unheils. Warum auch bloß wurde er mit solch wandelnden Alpträumen gestraft? War Kuraiko nicht schon genug?
Zu Lokis Verteidigung sollte erwähnt werden, dass er im Gegensatz zu Kuraiko wenigstens in der Lage warGefühle zu zeigen, anstatt die meiste Zeit dazustehen, wie eine lebendige Statue. - Ein schwacher Trost, da keiner nicht wirklich besser als der jeweilig andere war. Kuraiko das jedoch ins Gesicht zu sagen, von Antlitz zu Antlitz, wäre reiner Selbstmord und er hatte vor noch ein Weilchen - ein ganz schön langes Weilchen - länger hier, auf der Erde zu verweilen. Bei Loki sah die Sache da schon anders aus. Er wusste, dass er nervte. Sehr sogar. Diese kleine Made machte allerdings unentwegt weiter.
„Nicht die gewisse Dosis Computer heute gehabt, oder warum so unfreundlich?“
„Unfreundlich? Ich gebe dir gleich unfreundlich, du verdammter A-“
Seine anfangende Schimpftirade endete abrupt als jemand mit Pauken und Trompeten in den Essaal gestiefelt kam und lautstark auf sich aufmerksam machte. Umgehend landeten alle Augenpaare bei dem Neuankömmling. Alles andere war für diesen Augenblick vergessen.
„Rainbow, du verlogene Ratte! Ich hab dir per Kurzmail Bescheid gegeben, dass ich heimkomme. Warum weiß keiner davon?“, knurrte sie und stapfte in seine Richtung. Loki kicherte aufgrund seiner anhaltenden Misere, murmelte etwas was sich stark nach
„Hübsches Date, Bow“
anhörte und trat schließlich einen Schritt nach hinten, um so der kommenden Auseinandersetzung geschickt nicht im Weg zu stehen.
Natürlich hörte Rainbow es trotzdem. Wenigstens war er nicht der Einzige, welcher sich nicht entsinnen konnte, wer sie war. Kurze schwarze Haare. Gefärbt, da die Augenbrauen nicht recht ins Bild passen wollten. Eine zerrissene, dunkle Jeans. Lederjacke und ein Top darunter. - Moment! Gekleidet wie ein Punk, gepiercte Ohrringe, grünbraune Pupillen, welche gerade bedrohlich funkelten... Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Wie hatte er sie vergessen können? War es wirklich schon sechs Monate her, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte?
„Da kommt man nach mehr als einem halben Jahr im Kriegsgebiet zurück und wird prompt vergessen. Dankeschön!“, lächelte sie zuckersüß und beugte sich zu ihm herunter. Sie hatte sich drohend vor ihm aufgebaut. Ja, sie war es. Daran gab es keine Zweifel.
„Wäre ich nicht froh endlich wieder in diesem gottverdammten Felsen zu sein...“
„Bin ich Gott, oder wie?“, erwiderte Rainbow unwirsch und verschränkte seine Arme. Während er sich mit ihr unterhielt, kehrten die Kopfschmerzen von heute Morgen langsam aber sich wieder zurück. Sehr zu seinem Ärgernis. War er den Folgen der ausgelassenen Party nicht gerade eben erst entkommen?
„Ich muss mich um diesen Kindergarten kümmern, damit dieser seine Aufgaben erledigt. Da entfällt mir schon mal ne winzige Email! Vor allem wenn andere Sachen auch anstehen!“
Er war lange genug im Geschäft um sich nicht einschüchtern zu lassen, sollte es seinen unmittelbaren Arbeitsbereich betreffen.
„Ich bin also nicht wichtig genug?“, giftete sie und fixierte ihn mit kalten Orben.
„Bitte? - Selbst die Queen wär mir Schnuppe, aber schön dich wieder hier zu haben“, erwiderte er sarkastisch. Man sah, wie Loki sich das Lachen ernsthaft verkneifen musste. Mehr Luft anhalten und er würde vor Sauerstoffmangel lila anlaufen. Sollte er ersticken! Ihn kümmerte nicht. Eine Nervensäge weniger, um die er sich sorgen machen musste. Eigentlich sollte man meinen, dass Mister Hermes hier das Kommando gab, doch der mit Abstand einziger, der auch die Bezeichnung Erwachsener verdiente hatte, war nichts weiter außer ein stiller Wegbegleiter mit hier und da einigen Einmischungen. Somit blieb alles andere irgendwie an ihm hängen. Das beinhaltete eben die Koordination von Missionen, Informationen sowie Berichte einholen und sortieren. Zudem hatte er die lästige Aufgabe sich für die Fehlenden einen geeigneten Grund einfallen zu lassen, warum sie den Unterricht nicht besuchen konnten. Im Winter war das wegen der erhöhten Ansteckungsgefahr noch ein Leichtes. Im Sommer dagegen sah die Sache schon ein wenig anders aus und Bedarf sein gesamtes Geschick.
„Venus. Schön dich wieder hier zu haben, Venus. - Das ist dir - wie so vieles - wohl entfallen.“
„Vielleicht. Vielleicht war es sogar beabsichtigt.“
„Ach wirklich?“
Venus zog ihre Augenbrauen in die Höhe und bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick. Loki rieb sich verstohlen in die Hände. Jetzt wurde es langsam aber sicher interessant.
„Nun dann hast du bestimmt keine Probleme damit dein Gedächtnis durch einem Kampf aufzufrischen? Immerhin bist du nach sechs Monaten in deinem Kämmerchen bestimmt aus der Übung gekommen.“
„Glaubst auch nur du“, antworte er ihr, traf dabei perfekt ihren vorhergegangenen Ton. Im nächsten Moment hatte Venus seinen Hand gepackt, ihn aus dem Stuhl befördert und ohne Umschweife zu Boden gedrückt. Ihr rechtes Knie drückte schmerzhaft in seinen Rücken, während sie sich seinen anderen Arm schnappte und ihn somit komplett handlungsunfähig machte.
„Immer noch so von sich überzeugt?“, spottete sie von oben herab und ließ von ihm ab. Während sie sich imaginären Staub von der Hose wischte, wanderten ihre Augen über die anwesenden Köpfe auf der Suche nach einer vertrauten Person.
„Du bist schneller geworden“, entgegnete Rainbow lediglich und rieb sich an den schmerzenden Stellen, nebenbei brummte ihm gehört der Schädel. Die späten Nachwirkungen des ein oder anderen Biers zu viel. Wieso, wieso konnte er nicht einmal einen einzigen Tag ohne irgendwelche Aufreger haben? Was hatte er dem lieben Gott getan, dass er so gestraft werden musste? Was?
Und stärker. - Diese Worte jedoch verhallten unausgesprochen in seinen Gedanken. Es ihr ins Gesicht zu sagen, würde zu einem stundenlangen Monolog über das bessere Geschlecht führen. In ihren Augen war das - wie sollte es auch anders sein? - das weibliche Geschlecht. Dann würde sie sich darüber aufregen, wie ungerecht es war, dass Frauen in Sachen Kampfkunst nichts zugetraut werden würde. Zu guter Letzt würde sie völlig vom Thema abschweifen und sich über irgendwelche politischen Sachverhalte aufregen, die nichts, aber auch absolut gar nichts mit dem zu tun hatten, mit welchem das 'Gespräch' überhaupt ins Rollen gebracht worden war.
Nein danke! Nicht noch einmal. Wenn Venus schon körperlich mehr als 'nur' schlagfertig war, dann konnte sie verbal so auf den Putz hauen, dass die Wände wackelten.
„Veni!“
Wenige Momente später wurde Venus von einem blauen Haarschopf regelrecht attackiert. So schnell hatte sie gar nicht reagieren können, da hatten sich schon zwei zierliche und dennoch mit Muskeln durchzogene Arme schraubstockartig um sie gelegt und drückten beinahe so fest zu, dass sie keine Luft mehr bekam. Das störte sie jedoch nicht im Geringsten, sondern sie gab die Herzlichkeit mindestens genauso intensiv zurück.
„Yuna!“, strahlte sie die Blauhaarige an. Sechs Monate waren eine lange Zeit, besonders wenn der Kontakt auf ein Minimum beschränkt worden war. In diesem Fall also bis auf zwei Kurznachrichten nichts.
„Lange nicht gesehen, Miss Captain“, neckte sie und grinste Yuna frech an.
„Kann ich nur zurückgeben“, erwiderte diese keck, kein Stück darüber empört so angesprochen zu werden. Sie war es ja schon gewohnt. Apropos Light, müsste der nicht endlich einmal seinen Rausch auskuriert haben? Obwohl... nach den Mengen an Alkohol, die er da gestern konsumiert hatte, wunderte es sie nicht im Geringsten, dass sie noch kein Haar von ihm an diesem Tag gesehen hatte. Allgemein war das Valley wie ausgestorben. Entweder fesselte einen die Übelkeit oder die schlimmsten Kopfschmerzen seit Menschheitsgedenken ans Bett oder man war einer der Unglücklichen, die sich wegen einer bevorstehenden Mission unmittelbar am Morgen danach nichts hatten leisten dürfen. Da Yuna von Haus aus wenig trank, gehörte sie keiner der genannten Gruppen an. Selbst an Partys, wie dieser war sie sparsam gewesen, was ihren Pegel anbelangte. Nicht, dass sie von Zeit zu Zeit den ein oder anderen Cocktail nicht genoss, doch übermäßiger Konsum war definitiv nicht ihre Sparte. Das überließ sie lieber den Feierbiestern unter ihnen, hauptsächlich auch bekannt als Ares, Light und Cane, welche alle drei wahrscheinlich noch keinen Schritt aus ihren Betten gemacht hatten.
„Das ist jetzt nicht ihr ernst“, murmelte Rainbow mit einem Blick auf die weibliche Spezies, welche fröhlich miteinander plapperten, als gäbe es kein Morgen mehr. Vor nicht einmal fünf Minuten war Venus ihm an die Wäsche gegangen und jetzt? Friede, Freude, Eierkuchen?! - Er verstand die Welt nicht mehr. Frauen! Sollte Mann jemals verstehen, wie das weibliche Gehirn funktionierte, dann wäre dies die glorreichste Entdeckung seit dem Anbeginn der Menschheit!
„Waaas?“, nervte ihn Loki und schwang seinen Arm in einer brüderlichen Geste um seine rechte Schulter. Er reagierte wie auf Knopfdruck und stieß den Störenfried gewaltsam von sich.
„Sag mal, hast du dir gestern irgendwie das Hirn weggesoffen oder gehts dir noch gut?“, knurrte Bow, von Sekunde zu Sekunde verlor er zunehmend seine Geduld.
„Warum?“, fragte Loki, dem Buntschopf nicht folgen könnend. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er nach dem vierten Bier und vier Kurzen Feierabend gemacht. Oder waren es fünf Kurze gewesen?
„Es würde erklären, warum du heute noch schlimmer bist als sonst! Hoffentlich keine Langzeitauswirkungen!“
„Hey! So schlimm bin ich auch wieder nicht!“
Loki wurde gestraft mit einem Blick, den selbst Kuraiko nicht besser hätte hinbekommen können.
„Bin ja schon still“, grummelte Loki angefressen und nahm gehörigen Abstand zu Rainbow, welcher nach wie vor ein zweifelndes Gesicht zog. Nie konnte man ein bisschen Schabernack treiben, ohne dass sich mindestens einer darüber aufregte! Wo blieb da der Spaß? Jemand lachte plötzlich laut, riss ihn aus seinem stillen Brodeln. - Kopfschmerzen für einen Moment vergessend. Er sah sich um. Es war Yuna. Ihre Blicken kreuzten sich für einen Augenblick. Die Welt verharrte, bewegte sich weder zurück noch nach vorne weiter. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn mit ihren ungleichen Orben gefangen hielt, ihn nicht mehr freiwillig loslassen wollte. Anstatt sich dagegen zu wehren, versank er ihren Augen als wären sie der Treibsand und er das hilflose Opfer darin.
„Yune! Erde an Yuna!“
Ihre Fänge ließen ihn frei. Zerbrochen war der Fluch, der ihn nicht hatte ausbrechen lassen wollen.
„Ähh... Ja?“, fragte sie verwirrt und schüttelte mehrmals ihren Kopf, so als wollte sie etwas aus ihren Gedanken werfen. Venus grinste und schlug ihr auf die Schulter in einer typisch männlichen Geste.
„Wo du wieder bist... Träumerin“, sagte sie in einem schalkhaften Ton.
„Komm!“, drängte die Schwarzhaarige und erhob sich mehr oder weniger elegant aus ihrem Stuhl. Venus mochte sie zwar heißen, doch meist war sie wahrlich nicht wie ihre römische Namesvetterin.
„Wollen mal sehen, wie sich dieser Steinhaufen ohne mich gehalten hat.“
„Gut“, entgegnete Yuna, kurz angebunden und folgte ohne Umschweife ihrer Freundin aus dem Raum. Nicht ein Blick zurück.
Warum sollte sie auch?
Es war nicht mehr als ein flüchtiges Wispern, doch die Auswirkungen die der harmloser Gedanke hindurchführte, drückte unangenehmer - ja, gar schmerzvoll - auf sein Gemüt, als es ein abweisendes Wort getan hätte. Interpretierte er zu viel in diese Situation hinein? Entglitt ihm der Hang zum Wesentlichen, je länger er sich in ihrer Gegenwart wähnte oder warum glaubte sich seiner Gewissheit nicht mehr sicher zu sein?
„Wer ist das Herzblatt? Eine von uns?“
Mit Brillianz und reiner Beobachtungsgabe hatte sein Freund ihn binnen weniger Minuten in der Hand gehabt und hatte alles offengelegt, was zuvor unter vielen Schichten verborgen in seinem Herzen lag. Darin war er gut, war es schon immer gewesen. Stets brachte er alles auf den Punkt, ohne lange um den heißen Brei herumzureden. Das war die Seite an ihm, die seine Agentenmentalität in sich trug. Die, welche Emotionen während einer Mission unter eisernem Verschluss hielt und die, welche unbarmherzig gegenüber jeglicher Art von menschlichem Gewissen, welches sich in ihm fand, ausführte wozu sie gerufen wurde. Es erinnerte an Kuraiko, doch unterschieden sich deren Einstellungen, was das Leben allgemein anbelangte, wie Tag und Nacht voneinander. Jedenfalls ging Loki felsenfest davon aus.
Er schnaubte auf. Kuraiko. Natürlich! Die ältere Schwester! Unverständliche Worte murmelnd, schlenderte er ohne ein weiteres Wort aus dem Raum.Wachsame Orben folgten ihm, ließen den Brünetten keinen Moment aus den Augen. Nachdenklich. Nicht genug, als das es in den unnatürlichen Seelenspiegeln zu lesen wäre, doch ausreichend um Außenstehende zu verwirren, sollte sie einen Blick in die geschützte Ecke werfen.
Sanfte Finger strichen an seiner Wange entlang, während er sich weiterhin im tiefen Land der Träume befand. Lange stand Kuraiko regungslos da, gab sich mit weniger zufrieden, anstatt ihn aus seinem wohlverdienten Schlummer zu holen. Am Tag waren seine Gesichtszüge nahe dran rau, gar harsch zu wirken. Ohne Zweifel war das eine der Auswirkungen davon, so jung schon so viel, zu viel erlebt, gesehen zu haben. Im Schlaf wirkte er so viel jünger. Als hätte er nicht schon Kriege miterlebt, sie überlebt. Es waren nicht die großen Kriege, nein, es waren die viel kleinerer, dennoch nicht minder brutalerer, Natur. Kleinkriege, Guerillas.
Würde sie, hätte sie die Möglichkeit sich selbst zu sehen, dasselbe erblicken? Diese Milde? Dieses Unschuldige? - Nein. Daran glaubte sie nicht. Das stand nicht zur Debatte. Ihre Seele gehörte dem Tod. Und als seine Dienerin lebte sie nach seinen Regeln.
„Was hast du getan?!“, rief er aus, sobald er ihren blutbesudelte Kleidung erblickte. Mit schnellen Schritten war er bei ihr, doch sie ging an ihm vorbei. Kein Wort drang über ihre spröden Lippen.
„Meinen Auftrag“, erwiderte sie lediglich knapp. Ihre Stimme frei von jeglicher Emotion. Er sah zurück in die Richtung, aus welcher sie gekommen war. Ein Weg. Ein schmaler Pfad gezeichnet mit dem Blut derer, die sich ihr widersetzt hatten. Er war gezeichnet mit dem Blut von Verrätern.
Ein stummes Lachen entkam aus ihrem Mund. Wäre es ein Hörbares gewesen, so wäre einem der humorlose Klang ohne Mühe aufgefallen. Reinheit, Güte, Unschuld. - Nichts von dem passte zu ihrem Bildnis. Nichts. Niemand wusste es besser als sie selbst. Der Pakt mit dem Tod hatte ihr Ende besiegelt. Rücksichtslos. Gleichzeitig hatte es ihre Wiedergeburt möglich gemacht. Hoffnung, doch wer war sie geworden? Ein Engel sicherlich nicht. Ein Teufel gar?
Kuraiko schüttelte langsam ihren Kopf, während sie ihre Augen zu Ranus schlafender Gestalt wandern ließ. Anders als der Rest ihrer bunt gemischten Truppe hatte er das Pech, als ein Pilot für die ISAAC zu dienen. Von der rauschenden Feier hatte er genauso wenig mitnehmen können, wie es Autofahrern erlaubt war sich alkoholisiert hinters Steuer zu setzten. Eine nächtliche Mission war das 'Geschenk' an ihn. Deswegen nun auch sein dringendes Bedürfnis den Mangel an Ruhe nachzuholen.
Nein, die Frage war falsch formuliert. Es sollte eher lauten: Was war aus der verbrannten Asche ihrer selbst emporgestiegen, wie ein neugeborener Phönix? Rache. Es war Rache. Der Durst nach Vergeltung erschuf sie aus den Ruinen ihrer Seele, gestaltete sie nach seinem Wunsch. Erst wenn Dryars Kopf vor ihren Füßen lag, dann könnte sie ruhen. Könnte - nicht würde.
Kuraiko trat aus dem Halbdunkeln seines Zimmer hinaus in den erhellten Gang des Valleys. Für einige Momente ließ sie sich in ihre Gedanken zurückfallen, ehe sich ihre Lider schlagartig öffneten und jeglichen Hauch von Erinnerung aus ihren Gesichtszügen genommen wurde.
„Kuraiko.“
Scharf drehte sie ihren Kopf. Die Person, die sich an die Wand schräg gegenüber ihr lehnte, ließ von ihrem stechenden Blick nicht aufhalten oder so versuchte er es ihr wenigstens weiszumachen. Nach einigen Momenten musste er sich ihr widerstrebend geschlagen geben und seufzte laut auf.
„Wieso, so scheint es, treffe ich dich immer hier an?“, fragte er sie und stieß sich mit dem Oberkörper von dem kalten Stein ab. Anstatt ihm irgendetwas zu geben, was einer angemessenen Reaktion gleichkommen würde, legte sie lediglich ihren Kopf in typischer Manier zur Seite. Ihre Pupillen allerdings huschten als Antwort in eine bestimmte Richtung.
„Uranus' Zimmer. Darauf wäre ich auch noch selbst gekommen. Immerhin zählt sein Zimmer zu einem der wenigen Orte in diesem Steinpalast, von welchem man weiß, dass du dich gerne dort aufhältst.“
Sein Betonungen ging an ihr nicht verloren, jedoch war ihr nicht bewusst, was diese zu bedeuten hatte, weder wollte sie sich mit so etwas Belanglosem auseinandersetzten. Er hatte wen er wollte, nicht?
„Was hat Uranu damit zu tun? - Du hast doch jetzt die, nach welcher du gesucht hast, oder nicht?“, fragte Kuraiko desinteressiert und sah an ihm vorbei. Fasziniert beobachtete sie aus ihren Augenwinkeln wie sich sein Gesicht innerhalb von wenigen Wimpernschlägen von Verwirrung über Wut bis hin zur Resignation wechselte. War ihm bewusst, wie sehr er in diesem Moment Rainbow ähnelte oder machte er das unbeabsichtigt? Nichtsdestotrotz vergeudete er ihre kostbare Zeit, selbst wenn er ihr etwas mitzuteilen hatte.
„Es gab eine Planänderung bei deiner Mission“, sagte er schließlich. Das was auch immer ihn beschäftigt hatte, war aus seinen Augen verschwunden und hinterließ nichts, was auf seine vorherige Gefühlslage hätte schließen können. Nichts. Es war eine Maske, die sie nur zu gut kannte, denn... es war dieselbe, die auch sie trug. So schnell wie es gekommen war, löste es sich auch schon wieder in Luft auf. Ans Tageslicht kam sein üblicher Blick, doch es erschien in dieser Situation mehr aufgesetzt als echt. So einfach konnte man Kuraiko allerdings nichts täuschen. Masken waren da um zu verschleiern, um sich selbst zu verstecken, um makellos zu erscheinen. Was also versuchte er zu verbergen?
„Mir wurde vor einer halben Stunde mitgeteilt, dass ich dich begleiten werde. Anweisung von Mister Hermes.“
„Mit welcher Begründung?“, wollte die Grünhaarige von ihm wissen. Sie hatte ihre leidenschaftslose Haltung längst aufgeben und erschien lediglich noch leicht gelangweilt. Nicht, dass daseinen großartigen Unterschied machte.
Er zuckte ratlos mit den Schultern.
„Wenn ich das wüsste! Mich regt ja auf, dass es heute sein muss“, murrte er. Jeder andere Tag wäre ihm recht gewesen, doch musste es ausgerechnet dieser sein? Kopfschmerzen hatte er zwar keine bekommen, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er getrunken hatte. Welcher normale Mensch arbeitete auch schon gerne nach einer durchzechten Nacht?
„Wer feiert, kann auch arbeiten“, erwiderte sie kühl. Kein Tropfen Mitleid in ihr. Kuraiko stand zu ihrer Aussage. Wenn man sich schon dazu herabließ sich ins Sinnlose zu betrinken, musste man sich auch der Konsequenzen im Klaren sein.
„Ich weiß...“
Begeisterung hörte sich definitiv anders an.
„Also auf zu unserem Untergang!“, versuchte er dieses Mal mit etwas mehr Elan. Vielleicht ein bisschen zu viel Einsatz.
„Ähm, ja... gehen wir...?“, fragte er und senkte peinlich berührt den rechten Arm, welchen er zu einem Handschlag erhoben hatte.
Kuraiko machte sich nichts solchen nutzlosen Gesten. Statt ihm zu antworten ging sie wortlos an ihm vorbei, pausierte kurz und setzte dann ihren Weg fort. Sie gab ihm gerade genug Zeit zu verstehen, was sie von ihm wollte und nicht mehr. Seine Schritte hallten auf dem kalten Steinboden nach, während er ihr eilig nachfolgte. Von ihr war nichts zu hören. Sie war wie ein Schatten; unsichtbar und doch vorhanden. Eine engelsgleiche Kreatur mit dem Ruf einer betörenden Sirene in seinen Katzenaugen. Ein Sünde.
„Bedenke immer, dass niemand besser zu manipulieren ist, als jemand, dessen Herz du berührt hast.“ - Doch was, wenn er derjenige war, der berührt wurde?
„Wo ist deine gestörte Schwester überhaupt?“, fragte Venus, während ihr Blick in Yunas Zimmer hin und her wanderte und schließlich an ihrer riesigen Fotowand hängen blieb. Yuna machte, wenn ihre Kamera mal aufgeladen und die Speicherkarte nicht voll war, für ihr Leben gerne Fotos. Egal ob malerische Landschaften, peinliche Schnappschüsse oder simple Portraits, alles fand seinen Platz an dieser Wand.
„Nenne sie nicht so! Du weißt genau, wie ich es hasse“, ermahnte der Zwilling sie und gesellte sich zu ihr. Besonders für peinliche Momente hatte Yuna ein Talent. Das bewies das Bild von ihr in einem pinken Tutu mit passenden Ballettschuhen und Make-Up. Venus schnitt eine Grimasse. Es war irgendwann letztes Jahr an Silvester entstanden... glaubte sie zumindest.
„Musstest du das unbedingt hier verewigen?“, stöhnte die Schwarzhaarige auf und drehte sich zu ihr um. Hier und da registrierte Venus zwar einige neue Dekorelemente, wie beispielsweise die Schakalstatue neben ihrem weißen Nachtkästchen oder die farbigen Tücher, welche kreuz und quer von der Decke hingen und den Raum stilvoll schmückten, im Großen und Ganzen jedoch war das Zimmer nach wie ein bunter Farbtopf. Vielleicht sogar noch etwas bunter, als wie vor einem halben Jahr.
„Ja musste ich.“
Das Grinsen war der Bluenetten aus der Stimme anzuhören. Venus schüttelte fassungslos ihren Kopf.
„Ich weiß bis heute nicht, warum ich dieser Wette zugestimmt habe.“
„Vielleicht weil du besoffen warst?“, entgegnete Yuna zweifelnd - so als wäre es die logischste Antwort. Wenn Venus es genau nahm, dann...
„Kann sein... Aber jetzt mal ehrlich: Wo ist deine Schwester?“
Dieses Mal ließ sie die Beleidigung wegfallen. Man musste ja nicht pausenlos unhöflich sein, vor allem dann nicht, wenn es sich um die ältere Schwester einer gute Freundin und gleichzeitig dem herzlichsten Mensch, welchen sie je kennengelernt hatte, handelte. Selbst wenn besagte Schwester ein Psycho in Vollendung war.
„Wiedereinmal auf 'geheimer' Mission unterwegs oder hat sie sich etwa hier irgendwo verkrochen?“, wollte Venus aus unverblümter Neugierde wissen. Zu behaupten, dass sie und Kuraiko Freundinnen waren, wäre erstunken und erlogen. Der einzige Grund, warum Kuraiko ihr gegenüber neutral eingestellt war und angemessenen Respekt zeigte, war die Tatsache, dass sie mit Yuna eine langjährige Freundschaft pflegte. Sie mochte zwar ein emotionaler Eisklotz und eine gestörte Wahnsinnige sein, doch eine große Schwester, die sich um ihr jüngeres Geschwisterchen kümmerte, war sie allemal.
„Mission. - Was hast du anderes erwartet?“
Venus kicherte. Nach Monaten in der Gesellschaft von alten Säcken war ein weiblicher Gesprächspartner eine willkommene und dringend benötigte Abwechselung. Eine Wochen länger und sie hätte diesen werten Herren die Seele aus dem Leib geprügelt. Es war schon schwer genug gewesen ihnen nicht unmittelbar nach ihrer Ankunft im Camp ein paar blaue Augen zu verpassen. Verdient hätten diese Säcke es allemal gehabt. Sexistische alte Schweine!
„Andererseits macht Nēsan zurzeit Nonstop“, setzte Yuna fort. Der Unterton, welcher ihre Worte begleitete, entging der Schwarzhaarigen nicht.
„Da machst du dir selbstverständlich Sorgen, auch wenn du die Jüngere bist“, neckte Venus ihre Gesprächspartnerin ein wenig, versuchte die Konversation auf andere Bahnen zu lenken. Natürlich fiel es auf, wenn jemand ausschließlich von einem Auftrag zum Nächsten tänzelte, bis zur Erschöpfung sich in Arbeit vergrub, damit man nicht nachdenken musste. Ablenkung kennzeichnete einen Akt der Befreiung, aber keine Erlösung. Nachdenken hingegen bedeutete, dass man sich mit seinen inneren Dämonen auseinandersetzte und sich entweder in ihnen verlor oder über sie triumphierte. Venus wusste was es bedeutete den Weg der Zerstreuung einzuschlagen, anstatt sich der anderen Option zu stellen.
Yuukie... - Venus wusste es deswegen so genau, weil direkt nachdem ihre beste Freundin auf einer lebensbedrohlichen Mission gestorben war, sie sich wochenlang regelrecht auf die Aufträge gestürzt hatte, ohne Rücksicht auf ihr eigenes leibliches Wohl. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt keinen Todeswunsch, sondern lediglich der seelischen Leere entkommen wollen, welche sie sonst überfallen hätte, wäre sie länger als einen Moment stillgestanden. Doch irgendwann hatte sie genug gehabt und sich mit einem erlösenden Schreit zurück ins Leben gehievt, anstatt wie auf Batterien weiterzulaufen, Auftrag für Auftrag entgegenzunehmen oder simple gesagt: zu existieren. Vor was rannte Kuraiko davon? Was ließ sie nicht los?
„Ja, das tue ich. Aber sie ist so ein Sturkopf! Warum kann sie nicht einmal Klartext reden, anstatt sich in ihre schleierhaften Erklärungen zu hüllen?“, machte Yuna ihrer Unlust Luft.
„Sie ist deine Schwester“, warf Venus dazwischen und hob gleich darauf ihre Schultern an.
„Verdammt, was erwartest du von mir? Du weißt genau, dass ich in Sachen Familienangelegenheiten meine Finger schön raus halte. Zumal ich keinen Plan habe, was ich sagen soll.“
Sie war wirklich nicht die geeignete Ansprechpartnerin für so was. Mit Fäusten konnten sie reden, doch mit tröstenden und aufmunternden Worten um sich schmeißen? - Da war man bei ihr an der falschen Adresse. Ein Stein konnte mehr Verständnis aufbringen als sie. Warum also war sie stets die Leidtragende, die, die sich alles anhören musste? Warum?
Yuna fuhr sich angestrengt über die Stirn.
„Ich weiß, aber - ach Scheiße!“, fluchte die Bluenette, was Venus augenblicklich dazu brachte die Augenbrauen in die Höhe zu ziehen.
„Hört, hört! Unsere freundliche Samariterin flucht!“, feixte sie und fing sich prompt einen Schlag gegen die Schulter ein.
„Halt den Mund!“
Nach kurzem Zögern schob Yuna ein
„Bitte!“
hinterher, auch wenn es mit deutlichem Widerwillen gesprochen war.
„Ich versuche hier ein ernsthaftes Gespräch aufzuziehen. Mir ist durchaus bewusst, dass du mit Familienproblemen nichts anfangen kannst, aber kannst du es dir wenigstens einmal anhören, bevor du dein Urteil fällst?“
Sie ließ Venus keine Zeit eine Antwort zu formulieren, da hatte sie auch schon weitergesprochen. Nun, es hatte sich mächtig viel angestaut, das konnte Venus sehen, doch musste es ausgerechnet heute an ihr ausgelassen werden? Sie konnte nicht einmal mit den gleichen Mitteln zurückschlagen, denn soviel Mitgefühl besaß sie dann doch noch.
„Es ist ja nicht so, dass ich nicht weiß wie Nēsan tickt. - Ich meine, ich kenne sie seit unserer Geburt! Wieso also zieht sie Uranus mehr ins Vertrauen, als mich? Sie ist meine Schwester!“
Der Aha-Effekt schlug zu. Daher wehte also der Wind.
„Du bist eifersüchtig“, stellte Venus fest. Yuna stoppte in ihrem Gezeter und sah die Schwarzhaarige einen Moment lang ungläubig an.
„Was? Nein! - Ich- ich meine...“
Sie verstummte.
„Du hast Recht... Das alte Lied“, stieß sie aus nach einigen Minuten seufzend aus und ließ sich auf ihr Bett fallen. Aus ihrem Ton sprach die Erschöpfung zu Venus, wie als würde sie aus einem offenen Buch lesen.
„Es ist nur... Kuraiko weiß, dass sie auf mich zählen kann, dennoch geht sie zu-“
„dem verdammt süßen blauäugigen Kanadier“, fiel Venus ihr ins Wort. Mit diesem Thema war sie bestens vertraut. Kam man auf Kuraiko zu sprechen, fiel früher oder später sein Name. Ausnahmslos. Umgekehrt war es ebenfalls der Fall.
„Ja! - Halt warte! Nein! Nicht süß! Woher hast du das?“, fragte Yuna scharf, wahrlich nicht amüsiert über die Wortwahl ihrer Freundin. Woher hatte sie das nur?
„Hmm, lass mich mal überlegen... Von dir.“
Ein verschmitztes Lächeln stahl sich auf die Lippen der Schwarzhaarigen, während sie genüsslich Yunas Reaktion beobachte, welche alles andere als typisch für sie war. Mit dieser Expression hatte sie verblüffende Ähnlichkeit mit einem Fisch auf dem Trockenen. Hmm... blaue Haare hatte sie schon einmal...
„Bitte was?“, fragte die Bluenette verdutzt nach, glaubte sich verhört zu haben. Nicht, dass Uranu kein gutausehender Typ war, doch das das von ihr stammen sollte? - Nein. Niemals. Ein kurzer Blick zu ihrer Freundin. Nein. Das Grinsen war immer noch da. Kein Scherz also.
„Kurz nachdem du ihn kennengelernt hast. Vor drei Jahren war das ungefähr. Da hast du ihn als 'süß' bezeichnet, wegen seiner Augen“, klärte ihr Gegenüber sie auf. Das Grinsen war nicht von Venus' Gesicht zu wischen und wenn, dann war es eigentlich sogar noch größer geworden.
Dunkel kam die Erinnerung an diese bestimmte Situation zu Yuna zurück. Was sie aber wunderte, war, dass Venus sich anscheinend so gut daran erinnern konnte, wo doch genau sie diejenige war, die während dem Mädlsabend als das Thema so langsam auf 'süße Typen' umschwenkte, angeblich eingeschlafen war.
„Jedoch-“
Hier machte Venus eine wegwerfende Handbewegung.
„lassen wir das mal mit Mister-süße-Augen. Es war von deinem Zwilling die Rede, nicht? Du weißt, ich habe einen älteren Bruder, Mario. - Er erzählt mir so gar nichts von seinem Leben. Interessiert mich auch einen Scheiß, was das Superhirn alles anstellt, doch das ist hier nicht der springende Punkt. Geschwister haben Gründe, gute Gründe etwas zu verschweigen oder es zu unterlassen klare Antworten zu geben. Manchmal wollen sie einfach nichts sagen. Nicht weil sie kein Vertrauen haben, sondern weil sie denken, dass man die Wahrheit nicht zu wissen braucht.“
„Und was, wenn man die Wahrheit wissen will?“, warf Yuna dazwischen. Sie sprang auf und ging nun unruhig hin und her. Ihre zweifarbigen Augen funkelten.
„Was, wenn man helfen will? - Es aber nicht kann, weil eine gewisse Person sich weigert den Mund aufzumachen?“
Verdammt noch eins!
Venus fühlte sich wie eine verfluchte Therapeutin, welche den ganzen lieben langen Tag nichts anderes machte, als sich die Probleme andere Menschen anzuhören! Später brauchte sie unbedingt ein Bier... obwohl zwei höchstwahrscheinlich besser wären. Wenn das so weiterging, würden es gar drei werden.
„Weigert sie sich wirklich? Oder siehst du nur nicht was sie dir zu sagen hat?“
Es war ein gefährlicher Zug, doch auch ihr - wohlgemerkt kurzer - Geduldsfaden hatte einmal ein Ende. Kuraiko machte nie etwas ohne einen triftigen Anlass. Dafür schätzte Venus Kuraiko viel zu kalkulierend ein, als das sie mit Zufällen arbeitete. Vielmehr glaubte sie, dass die Grünhaarige mit subtilen Hinweisen einen selbst zum Denken anzuregen, anstatt alle Karten zu Beginn schon offen darzulegen. Jedenfalls war das ihre Meinung und sie - für ihren Teil - war der felsenfesten Überzeugung, dass das so nach ihr Überlegungen sogar ganz gut hinkommen könnte. Ob das nun auch in der Wirklichkeit Gehalt hatte, war dahingestellt. Andererseits Kuraiko konnte ein richtiges krankes Miststück sein, wenn sie wollte.
„Wie meinst du das mit 'sehen'? Natürlich sehe ich-“
Yuna unterbrach sich selbst. Mehrere Minuten war es still um sie, allerdings konnte man hinter ihren Schläfen die Zahnräder rattern hören, wie in einem alten Uhrwerk.
„Aber-“, protestierte sie.
„Sie- Warum sagt sie es mir dann nicht einfach? Wieso sich in seltsame Ausflüchte hüllen, wenn es direkt auch geht?“
Endlich!
Das Licht der imaginären Glühbirne ist aufgegangen. Die Blauhaarige mochte Kuraiko zwar als 'Dickschädel' hinstellen, doch sie war mindestens genauso stur, wenn nicht sogar schlimmer.
Venus zuckte mit ihren Achseln. Woher sollte sie wissen, was im Oberstübchen von Miss Psycho vorging? Also übernatürliche Fähigkeiten, wie das Gedankenlesen hatte sie innerhalb des letzten halben Jahres nicht entwickelt. Sie erschauderte bei dem Gedanken. Manche Sachen sollten besser im Dunklen und unausgesprochen bleiben.
„Vielleicht will sie dir ja, während du ihren Worten auf dem Grund gehst, etwas mitteilen. Kann allerdings auch sein, dass sie dich vor ihrer Vergangenheit fernhalten will, indem sie dich mit ihren Worten in den Wahnsinn treibt. Eine andere Möglichkeit ist, dass sie einfach eine verrückte Psychopathin ist, die sich einen Spaß daraus macht, Leute in die Irre zu führen.“
Die letzte Option war die mit Abstand am schnellsten zu glaubende Behauptung. Warum auch nicht? Kuraiko war eine kranke Geistesgestörte, egal wie sehr ISAAC das herunterspielen zu versuchte.
„Venus!“
Ein Grinsen formte sich auf den Lippen der Genannten.
„Glaub ich auch, Miss Captain“, sagte sie und massierte sich ihren steifen Nacken. Mehr als zwei Tage lang in sitzender Position zu schlafen, war wirklich ungemütlich und eigentlich wollte sie ja nur Rainbow zusammenstauchen, kurz noch mit Yuna reden und sich dann in ihr seit Monaten verwaistes Bett zu legen. Nummer eins war relativ schnell abgehakt gewesen. Nummer zwei hingegen... Nun, wie immer hatten die höheren Mächte etwas anderes mit ihr vor und funktionierten sie kurzerhand zum Seelsorger um. Warum auch immer sie, wusste bloß Gott selbst. Und Venus würde einen Teufel dafür tun, es herauszufinden. Zumal sie es mit dem ganzen Kirchenkram eh nicht sehr genau nahm. Jetzt wollte sie nur noch ihr Bett... und vielleicht ein Gute-Nacht Bierchen. Das Gesöff in der Halbwüste war ungenießbar, da von dem deutschen Reinheitsgebot dort unten keine Rede gewesen sein konnte. Gleichberechtigung hatte dort auch noch keiner was gehört! Argh! Da konnte sie sich schon wieder grün und blau ärgern!
„Du!“
Yuna besann es sich aber anscheinend eines Besseren und schüttelte den Kopf.
„Unverbesserlich. Einfach unverbesserlich“, murmelte sie und fuhr sich gedankenverloren durchs Haar.
„Danke für das Kompliment, Miss Captain.“
Im nächsten Augenblick wurde Venus allerdings noch einmal Ernst.
„Was sie dir auch mitteilen will, liegt an dir herauszufinden, Yuna. Logik gehört zu deinen Stärken, doch eine der Ihren ist es alles logische so zu verdrehen, dass man die Wahrheit nicht mehr erkennt, selbst wenn sie direkt vor einem liegt. Wird dich ja nicht aufhalten, oder? Immerhin, wenn einer das hinkriegt, dann immer noch ihre eigene Schwester. Denken tust du und ich bin für die blauen Veilchen zuständig, alles klar?!“
Unbekannt, früher Abend
Angestrengt starrte er auf ihren Hinterkopf. Kuraiko war nicht gerade gesprächig, stellte er überflüssigerweise fest. Keine kurze Absprache. Keine weiteren Fragen bezüglich warum er kurzfristig mit auf ihre eigentliche Einzelmission geschickt wurde. Kein gar nichts. Immerhin hatte Mister Hermes die Güte besessen ihn, bevor er ihr die frohe Kunde mitteilen durfte, dass er ihr Kompagnon sein würde, aufzuklären. Gerade das Minimum an Information hatte er von dem Mann erfahren und sollte ihm das als zu wenig erscheinen, so hatte er sich an Kuraiko zu wenden. Leichter gesagt, als getan! Ihr grünes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden worden, gab somit einen Blick auf das breit angelegtes Tattoo frei, welches sich um ihren Nacken schmiegte wie ein seidener Schal und dessen Weiterführung durch den Kragen ihrer Jacke ein abruptes Ende fand. Plötzlich verschwand sie aus seinem unmittelbarem Sichtfeld. Gleichzeitig holte ihn ein kurzer Aufschrei seinerseits zurück in die Wirklichkeit. Mit einer Prise Glück verhinderte er gerade so einen schlimmen Sturz, landete mit einem Knie und ausgezogenen Armen schmerzvoll auf dem geteerten Boden, während sein anderes Bein ausgestreckt den Fall ein bisschen abfederte. Der Übergang von Waldboden zu bearbeitetem Grund war unerwartet für ihn gekommen.
„Ah, scheiße!“, fluchte er. Die Differenz zwischen den beiden Höhen hatte er nicht abschätzen können und weder gesehen, denn dafür war er zu sehr vertieft in andere Dinge gewesen.
„Komm. Wir können uns keine weitere Verzögerung leisten.“
Der Wind trug ihre gewisperten Worte zu ihm. Einige Meter schon von ihm entfernt, machte sie keinen Anschein zurück zu ihm zu gehen. Ein typisch blanker Ausdruck war in ihre Züge gezeichnet. Kein Hinweis auf Emotionen, außer dem Hauch von Ungeduld. Die mystische Note in ihrem Ton, dass was ihn eigentlich immer vergessen ließ, dass war nur er immer hörte, war dieses Mal nicht einmal halb so effektiv wie sonst. Ohne Zweifel ein Überbleibsel seiner nächtlichen Alkoholeskapade.
„Komm ja schon“, knurrte er, klopfte sich nebenbei den Dreck von der Hose und stand auf. Erneut sah er zu ihr, teils in Erwartung, dass sie längst weitergegangen war. Zu seinem Erstauen war sie nicht von der Stelle gewichen, hatte lediglich ihren Kopf zur Seite gelegt und musterte ihn aufmerksam.
„Ich muss in spätestens 20 Minuten am Zielort sein.“
Der Singular ging an ihm nicht verloren. Etwas anders hatte er sich die Einsatzbesprechung zwar schon vorgestellt, doch in Anbetracht dessen das es sich hierbei um Kuraiko handelte, fand er es nicht allzu verwunderlich. Stören tat es ihn trotzdem, dass sie ihn nicht vorneweg informierte, sondern unmittelbar jetzt das nachholte, was sie eigentlich schon vor einer Ewigkeit hätte tun können, tun sollen. Ihr Blick schweifte einen Moment lang in die Ferne. Die Silhouette einer alten Fabrik hob sich von der Landschaft ab. Düster und bedrohlich im Schein der untergehenden Sonne.
„Du bleibst im Hintergrund, verstanden?“, richtete sie sich an ihn, verschwendete allerdings keinen weiteren Gedanken und fuhr ohne Unterbrechung fort. Diese Kälte war nichts Neues für ihn. Ein Teil in ihm bedauerte dies. - Egal, wie sehr er versuchte, sich von diesen verräterischen Gefühlen loszusagen. Sie fanden immer wieder einen Weg zurück.
„Mir ist bewusst, dass Mister Hermes dich nicht ohne Grund mitgeschickt hat, doch das ist nebensächlich. Wir spielen nach meinen Regeln. Du wirst das Signal schon verstehen, wenn ich es dir gebe.“
Langsam dämmerte ihn, was für eine Mission am Laufen war. Andererseits...
„Du bist nicht Undercover.“
Es war eine Feststellung. Keine Frage. Seine Katzenaugen trafen ihre roten Seelenspiegel. Ausdruckslos. - Anders konnte er diese Leere in ihnen nicht beschreiben. Leer. Versteckt. Mystisch.
Erinnere dich an das, was du bist.
Aus der Distanz hörte man einen Wagen kommen.
„Oh?“, sagte sie, der Ton mit Spott verfeinert, so hauchzart, dass man ihn beinahe vermisste. Verborgenes Metall klimperte lautlos, während er seine Schultern anspannte und mit wachsamen Blick Ausschau nach den möglichen Gefahren hielt, welche der Geländewagen mit sich bringen konnte. Man konnte nie vorsichtig genug sein.
Erwarte das Unerwartete.
Dieses Sprichwort hatte in der ISAAC eine besondere Stellung inne. Pläne konnten innerhalb von Augenblicken zerfallen wie ein schlecht konstruiertes Kartenhaus. Die Zukunft war und wird nie in Stein gemeißelt sein. Sie bestimmtes selbst ihr Leben und ihr Schicksal. Höhere Mächte hatten in diesem komplizierten Gebilde nichts zu suchen. Das Auto hielt wenige Meter vor ihnen an. Es war nicht eindeutig für ihn erkennbar wer sich hinter den dunklen Fensterscheiben verbarg. Nicht verwunderlich war es von daher, dass sobald die Tür sich öffnete seine rechte Hand reflexartig seine Waffe umklammerte. Er schielte zu seiner Partnerin hinüber. Kuraiko blieb angesichts der in schwarz gekleideten Männern, welche das Wageninnere verließen, gelassen. Es schien ihr geradezu egal zu sein, dass das Dreiergespann schweres Geschütz trug. Er hingegen wirkte, als wollte er jeden Moment angreifen.
„Wie reizend von Louis, doch ich hatte nicht nach einem Abholdienst verlangt.“
Ihre Stimme war flüssiger Samt. Weich, mit dem Anklang einer gefährlichen Note. Etwas änderte sich an ihrer Haltung. Sie wurde aufmerksamer.
„Was verschafft mir also eure Ehre, Mirko?“, richtete sie ihre Frage direkt an den, der an der Spitze des kleinen Trecks stand. Ein Mann mit kurz rasiertem Haar und einem Gesicht, welches den Eindruck vermittelte nicht einmal im Leben ein Lachen in den Zügen gehabt zu haben, antwortete ihr mit einem unzufriedenen Grunzen. Mirko war genauso erfreut sie zu sehen, wie es umgekehrt des Fall war.
„Wer ist das?“, fragte Mirko unfreundlich und zeigte mit dem Lauf seines Gewehres auf ihn.
„Er gehört zu mir“, entgegnete sie unbeeindruckt und ging auf den Jeep zu ohne dem Trio weitere Beachtung zu schenken. Die Stimmung kippte als Mirko ohne Vorwarnung seine Waffe entsicherte und auf ihn legte.
„Ich habe gefragt, wer das ist, Mädchen“, knurrte der Mann. Seine Kollegen zögerten, nicht recht wissend, wie sie sich korrekt verhalten sollten. Einerseits wollten sie ihrem Boss nicht den Gehorsam und die Loyalität verweigern und andererseits war das Mädchen ein wichtiger Gast, welchen anzugreifen eine sehr, sehr schlechte Idee war.
Kuraiko stoppte und wirbelte graziös, wie eine Ballerina, herum. Das Licht der Abendsonne verwandelte ihre Augen in leuchtende Rubine. Unbezahlbare Schönheit. - Es war ein Fehler ihr Wort nicht anzuerkennen.
„Und ich habe geantwortet“, durchschnitt sie mit ihren Worten wie eine Guillotine, die unangenehme Stille, welche sich um sie ausgebreitet hatte wie ein unsichtbares Spinnennetz. Keiner der anderen Anwesenden wagte es den nächsten Schritt zu machen. Zu groß war die Angst in diesen Kampf zweier Titanen zwischen die Linien zu geraten. Atemlos sah er zwischen ihr und Mirko hin und her. Deren stummer Machtkampf machte ihn rastlos. Sein Blick glitt immer öfters zu dem Duo hinter dem bulligen Kerl mit der grimmigen Visage. Kuraiko war wahrscheinlich mehr als 15 Meter und Mikro nicht einmal die Hälfte davon von ihm entfernt. Sollte es zu einer Konfrontation kommen, so würde es nach dem jetzigen Stand der Dinge nicht gerade rosig für sie aussehen. Es war von vornherein ausgeschlossen den Überraschungsmoment auszunutzen, welcher gewiss auf seiner Seite wäre. Nicht nur weil auf ihn die Waffe gerichtet worden war, sondern weil es unmöglich war, sich so schnell zu bewegen, wie er in diesem Fall sicherlich gebraucht hätte.
„Das hier ist noch nicht vorbei, Mädchen“, spie Mirko praktisch aus und senkte sein Gewehr. Man konnte den Hass, welcher aus seinen hellen Augen quoll, praktisch mit allen Sinnen erfassen. Es floss aus Strömen aus ihm heraus, drückte die Stimmung nieder, bis es nichts mehr außer ein kleines Flämmchen war, welches bedrohlich flackerte. Jede Sekunde konnte das Ende besiegeln. Eskalation.
Die Wendung kam unerwartet. Er hatte felsenfest mit einem Kampf gerechnet. Dem brüchigen Frieden keinerlei Vertrauen schenkend, blieb seine Hand genau dort wo sie war. Bei der 9-Milimeter an seinem Gürtel.
„Wir wollen Louis doch nicht warten lassen?“, fragte sie unberührt und deutete elegant mit ihren Fingerspitzen in Richtung des schwarzen vereinsamten Jeeps, doch lag in ihrem Ton eine Prise Provokation versteckt. Unberechenbar. Niemand konnte so unberechenbar sein, wie die exotische Grünhaarige. Mitunter ein Punkt, warum er sie nicht entschlüsseln konnte. Ihr Charakter spiegelte sich in ihrer Haltung wieder, jedoch war es zudem verpackt unter einer Maske der unbehelligten Unschuld, wie sie nur eine Porzellanpuppe besaß. Mors. Zu Recht gehörte sie den Mors tacita an, trug einen Namen, welcher an sich allein schon Unheilvolles verkündete. Jeder, welcher sich in dieser Riege von außergewöhnlichen Todesbringern befand, war zu keinem Zeitpunkt zu unterschätzen. Das wäre ein Fehler. Ein gravierender Fehler. Nicht einmal die freundliche und stets zuvorkommende Yuna, die die eigentlich keiner Mücke etwas zu Leide tun konnte, war so unbefleckt, wie sie sich gab. Nicht umsonst trug auch die kleine Schwester Kuraikos einen Beinamen.
Mirkos Iriden versprachen ihr einen langsamen, extremst langsamen Tod, worauf hin ihre linke Augenbraue zweifelnd nach oben wanderte. Sie wollte den Mann absichtlich reizen, ihm seine Grenzen aufzeigen, ehe sie ihm im Fall einer winzigen Unachtsamkeit eine Klinge ins Herz rammen würde. Er kannte Kuraiko. Früher oder später würde Mirko aufhören zu existierten, nichts mehr außer ein paar vergessene Knochen im Boden sein. - Wenn sie sich überhaupt diese Mühe machen sollte. Das hier war mehr oder weniger nur ein Vorspiel für sie. Der Höhepunkt nicht im Ansatz erreicht. Ihr Ziel noch nicht realisiert, bloß ein Schritt in die richtige Richtung war getan worden.
„Außer natürlich er möchte, dass ich den anderen Scholl-Bruder auch noch erledige“, merkte sie ganz unschuldig an, drehte sich dann graziös um und tänzelte wie auf Federn zum Wagen. Deutlich war das Zähneknirschen Mirkos zu hören, ebenso die geballte Faust mit den weiß hervorstehen Knöchel zu sehen, welche sie schrecklich mit dem Oliventon seiner Haut bissen. Einer seiner beiden Kollegen legte die Hand auf dessen Schulter und schüttelte mit dem Kopf.
„Lass es sein, Mirko. Sie wird ihre gerechte Strafe schon noch erhalten.“
„Kommst du?“,rief sie über ihre Schultern hinweg und stieg bei der Beifahrerseite ein. Eine letzte erhaschte Silhouette von ihr und schon war sie im Inneren des Autos verschwunden. Es schien, als würde einem erst nun wieder einfallen, dass Kuraiko nicht alleine gekommen war wie sonst üblich und er spürte augenblicklich drei Augenpaare auf sich ruhen. Kalkulierend. Misstrauisch. Verachtend.
„Natürlich!“
Seine Antwort verhallte im Wind, während er sich beeilte am Trio vorbeizukommen. Den Kopf stolz nach oben gestreckt und sein Blick schnurstracks geradeaus. Die Hand lag noch immer auf seiner Waffe. Er hätte ablehnen sollen. Diese Mission bereite ihm jetzt schon mehr Kopfschmerzen als das Aufwachen am heutigen Morgen. Wäre er doch bloß im Bett geblieben, anstatt sich nun mit einem Kerl, der auf Streit und Rache aus war und Kuraiko herumzuplagen. Und dabei waren sie noch nicht einmal bei deren eigentlichen Auftrag. - Was dieser auch immer sein sollte! Er wusste es nicht.
Die Fahrt verging rasch, still und ohne Blutvergießen. Ehe er sich versah, waren sie direkt vor der Fabrik angekommen. Diese war heruntergekommen und verrostest, doch er ließ sich von äußeren Erscheinung nicht täuschen. - Wenn er das lediglichbei ihr könnte.
Mit einem abfälligen Schnauben ging Mirko an ihnen vorbei, würdigte die beiden keines Blickes und begab sich in das schwer baufällige Gebäude. Er sah sich unauffällig um, machte sich mit der fremden Umgebung bekannt und prägte sich jedes noch so winzige Detail dieses Ortes fest ein. Hinter ihnen war der zweite Teil ihrer Eskorte: Die beiden Kollegen Mirkos, welche sie mit abgeholt hatten. Was von außen betrachtet eine halbe Ruine war, konnte einen Stockwerk tiefer mit nichts davon verglichen werden. Pompöse Lampen, erdrückende dunkle Holzvertäfelungen entlang der Wände, mit Gemälden berühmter Maler und ein dicker roter Teppich schrien einem gerade zu den Reichtum entgegen, in welchem sich die Person, die dies erbauen ließ, badete. Man fühlte sich in die alten Herrenhäuser des späten 19. Jahrhundert zurückgeworfen, wo die Lords und Ladys sich mit prunkvollen Villen den ultimativen Status von Macht aneigneten. Seine Partnerin schien nicht angetan von dem Protz, welcher ihnen jede Sekunde praktisch ins Auge sprang, Aufmerksamkeit forderte und folgte, ohne auch nur einen Blick auf die unbezahlbaren Kunstwerke zu werfen, immer weiter dem unendlich erscheinenden Gang. Ebenso erging es ihm. Der Pomp, welcher in diesen Mauern wohnte, ließ ihn kalt. Was zählte war deren Auftrag und nichts anderes. Wollte er Luxus sehen, so brauchte er nicht meilenweit fahren um sich irgendwelche Räumlichkeiten anzusehen, welche versteckt unter verrosten Rohren lag, sondern sich lediglich deren Valley ansehen. Dort fand man wahre Schönheit.
„Das Fräulein Arlett!“, rief jemand verzückt aus. Er verkrampfte und die Hand zuckte automatisch zur Waffe. Momente später tauchte die entsprechende Person zu der männlichen Stimme aus einem Seitengang auf. Es war ein Mann in seinen frühen Vierzigern, welcher einen feinen schwarzen Anzug mit farblich entsprechender Krawatte trug. Der Mann hatte ein charismatisches Lächeln in den Mundwinkeln und warme blaue Augen. - Nichts täuschte öfters über jemandes wahres Gesicht hinweg, als eine Maske der Freundlichkeit. Oh es musste nicht einmal gespielt sein! Was zählte, war das kleine Wörtchen Maske. Eine Fassade, welche sobald sie verschwand ein ganz anderes Bild derjenigen Person zeichnet. Ein wahres Wesen schlimmer als jede Giftschlange. Ein gebrochener Geist. Ein hasserfüllter Mensch. Vielleicht lag es an seiner Vergangenheit, dass er diese Eigenschaften so leicht ablesen konnte. Andererseits brauchte er bloß seine Gegenwart näher betrachten, sollte er die Lust verspüren verhüllte Menschen zu analysieren, anstatt in verstaubten Büchern nachzulesen.
„Ich hoffe, ich war nicht gar zu ungeduldig, da ich nach dir habe schicken lassen?“, fragte der Mann höflich. Als er ihn erblickte, spiegelte sich einem Moment lang Überraschung in seiner Miene wieder. Er hingegen versuchte wenigstens sein Gesicht unter Kontrolle zu halten, wenn es schon rein körperlich nicht ging.
„Oh? Ein weiterer Gast!“
Der Mann klatschte in die Hände. Was war dieser Mann? - Ein Kind? Dennoch, das kurze Aufleuchten von Argwohn war an ihm nicht verloren gegangen.
„Wer bist du junger Herr, den das Fräulein Arlett mitgebracht hat?“
Echtes Bedauern klang anders. Der Ton hatte außerdem eine kaum zu hörende misstrauische Note in sich. Interessant. Die Sache gefiel dem Anzugträger demnach genauso wenig wie ihm selbst.
„Ach, entschuldige! Das Fräulein Arlett wird dir wahrscheinlich meinen Namen nicht genannt haben.“
Er dreht sich zu dem passiven Fräulein Arlett - ohne Zweifel ein Deckname - um und belehrte Kuraiko, so als wäre sie das Kind unter ihnen.
„Manieren, meine Liebe! Was soll den dein Freund von mir halten, wenn er nicht einmal meinen Namen weiß?“, wies er seine Partnerin auf ihren angeblichen Fehler hin. Der Mann hatte einen Todeswunsch. - Eindeutig! Doch woher konnte er es sich herausnehmen so mit ihr umzugehen? Jetzt verstand er auch, warum Bow des öfteren an ihr verzweifelte. Diese Unwissenheit war ersten kaum auszuhalten und zweitens inakzeptabel und nicht tragbar. Vor allem dann nicht, wenn das eigene Leben auf dem Spiel stehen könnte.
„Nichts. Denn du bist nichts.“
Diese Aussage sorgte dafür, dass das ekelerregende freundliche Lächeln für einen Atemzug seine Wirkung verlor, ehe es mit dreifacher Heiligkeit zurückkehrte, wie aus der Versenkung auferstanden.
„Du kleine missra-“
„Nichts passiert Mirko. Schon gut“, beschwichtigte er den bulligen Kerl und unterbrach diesen, noch ehe die Situation eskalieren konnte. Ein komischer Anblick. 1.70m gegen geschätzte 1.85m. So ähnlich hatte es einmal bei Alma und Loki ausgesehen, mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass sie diejenige war, die gleich an die Decke gegangen wäre und der Hüne es war, der all seine Redekunst aufwenden musste, um sie zu beruhigen.
„Wir wissen doch alle, dass das Fräulein Arlett gerne für dramatische Augenblicke sorgt...“
Ihm schien es, als versuchte er auf etwas Bestimmtes anzuspielen.
„Demungeachtet sollten wir uns jedoch nicht von alten Kamellen beeinflussen lassen. Egal wie schmerzvoll sie sind“, fuhr er fort. Diese Worten gingen direkt an Mirko, dessen Gesicht in der Zwischenzeit von grimmig-wütend zu eiserner Verbitterung gewechselt hatte.
„Immerhin haben wie einen Gast. Der junge Herr sollte nicht länger warten, oder? Mein Name ist Louis“, stellte er sich vor und deutete eine leichte Verbeugung an. Das war also die Person, von welcher vorhin die Rede gewesen war. Louis machte eine ausschweifende Handbewegung.
„Willkommen in meinem bescheiden Heim. Dürfte ich nun den Namen des jungen Herrn erfahren, welcher mit unserer reizenden Miss Arlett ohne gebührende Ankündigung gekommen ist?“
Der scharfer Ton zum Ende hin, offenbarte sein Missfallen ohne direkte Anschuldigungen kund getan zu haben.
„Ich bin ein Freund“, wiederholte er Kuraikos Worte, lediglich in abgewandelter Form. Wenn sie es nicht für wichtig ansah ihn auf irgendeine Weise vorzustellen, so erachtete er es ebenfalls als nicht notwendig.
„Sicher wird der junge Herr einen Namen besitzen?“, forschte Louis nach, eine klare Antwort wollend. Zeichneten sich da etwa Anfänge von offenem Misstrauen ab? Im Hintergrund hörte man wie einer der Männer Mirko mit leisen, aber harschen Worte davon abhielt sich in die Angelegenheiten von deren Oberboss einzumischen.
„Genug“, fuhr das Fräulein Arlett dazwischen. Das rot ihrer Augen hatte in dem Licht eine dunkle Note bekommen, unterstrich ihr exotisches Aussehen.
„Wenn du unbedingt auf einen Namen pochst, so nenne ihn Anders. So wie du nichts bist, ist er anders.“
Erneut erschuf sie mit ihrer Aussage einen Totenstille, die anderes als beim letzten Mal nicht mit Zorn, sondern durch ruhige Worte zerstört wurde.
„Nun junger Herr Anders, es ist mir eine Ehre mit dir Bekanntschaft zu schließen“, sagte Louis.
„Ganz meinerseits“, antwortete Anders knapp und schüttelte die ausgestreckte Hand kurz aber kräftig. Katzenaugen gegen tiefes Blau. Es war ein stiller und harter Kampf. Es dauerte nicht länger als einen Atemzug, doch fühlte sich an wie als wären Ewigkeiten verflossenen.
Das Zimmer in welches sie Louis - persönlich an der Spitze laufend - führte, spiegelte den Stil der Gänge wieder. Pompös. Königsgleich. Der Raum war in einen tiefer und einen höher gelegenen Bereich unterteilt, verbunden mit flachen Stufen. Mit dem prunkvollen Stuhl in der Mitte, dem Teppich aus dunklem Samt und nicht zuletzt wegen der Erhöhung erinnerte es an einen Thronsaal aus dem späten Mittelalter. Er konnte sich ein leises Schnauben nicht verkneifen. Louis litt eindeutig an einen schweren Fall von Gottkomplex.
„Wollt ihr etwas trinken, Fräulein Arlett und junger Herr Anders?“, fragte der Anzugträger und winkte einen der bewaffneten Männer herbei. Seine Lippen blieben verschlossen. Ein Blick zu seiner Kollegin zeigte dasselbe Bild. Zusätzlich waren ihre Augen überall nur nicht auf dem exzentrischen Mann, welcher von seinem Sitzplatz auf sie herabsah wie ein arroganter König vor seinen für ihn unwichtigen Untertanen auftreten würde. Ihr Desinteresse entfachte einen Funken von Verärgernis in Louis' Pupillen und so scheuchte er mit einer schnellen Handgeste den Herannahenden mit den bestellten Getränken sofort wieder aus dem Raum.
„Ich bin nicht hier, um als euer Gast zu verweilen“, sagte sie, ihr Gesicht nicht ein einziges Mal von der Gruppe an Männern zu ihrer Linken abwendend. Sollte es zu einem Kampf kommen, konnte die geringe Raumfläche entweder ein Segen oder ein Fluch sein. Gewiss konnte man nicht von einem großen Vorteil sprechen, dennoch war es genug, wenn man nur wusste wie.
„Doch ich habe etwas, was euch interessieren wird.“
Aus für ihn unerklärlichen Gründen hatte sie es geschafft aus ihrer enganliegenden Hose eine Nachricht hervorzuziehen. Jeder Schritt von ihr war so leichtfertig wie eine fallende Feder und jede Berührung mit dem Boden war ein unerhörter Klang.
„Fräulein Arlett? Was hast du mir dieses Mal Schönes zu überbringen?“
Louis nahm das Stück Papier entgegen. Kuraiko blieb vor ihm stehen, wartete darauf, dass er sich die Zeilen gierig einverleibte. Ihr Hand, bemerkte er, spielte mit dem Haarende ihres Zopfes herum. Ihm blieb keine Zeit sich über dieses Detail weitere Gedanken zu machen. Die Stimmung änderte sich schlagartig. Louis sah ruckartig auf, ihre Augen suchend und sein Gesicht weißer als Schnee.
„Was hat das zu bedeuten?“, wollte Louis von ihr wissen. Seine Stimme war rauer als die Nacht, wie ausgewechselt. Die Nachricht wedelte er vor ihrer Nase herum. Anders bemerkte den Umschwung im Raum augenblicklich und reagierte entsprechend.
„WAS HAT DAS ZU BEDEUTEN?“, wiederholte er sich, der Ton lauter werdend. Stechend blaue Orben trafen auf gleichgültiges Rot. Mirko, welcher zur Rechten seines Bosses stand, machte einen Schritt in ihre Richtung. Er stand dem bulligen Kerl in nichts nach und machte ebenfalls einen Satz auf sie zu. Plötzlich ging alles blitzschnell. Es war ein Fehler von Louis gewesen Kuraiko nicht augenblicklich Dingfest zu machen.
Anders hörte das vertraute Geräusch von gezogenem Metall und kurz darauf ein gurgelnden Schrei, danach brach das schiere Chaos aus. Fluchend sprang er zur Seite, wich dem Projektil mit viel Glück aus, griff nach seiner 9-Milimeter und wirbelte herum. Gleichzeitig zog er ein Messer aus dem Gürtel, überkreuzte seine Arme, ließ mit der einen Hand los, während sein anderer Zeigefinger den Abzug betätigte. Ein Schuss. Ein Wurf. - Zwei Treffer. Sein Grinsen erlosch mit der nächsten Kugel in seine Richtung. Erneut wich Anders aus, packte den Herannahenden am Arm, verdrehte ihm die Schulter und warf seinen Kopf mit voller Wucht gegen die nächste Wand.
„Kümmere dich um den Rest. Mir gehört Louis.“
Von einer auf die andere Sekunde war sie neben ihm aufgetaucht. Das wunderschönes Gesicht beschmutzt mit roten Spritzern. Im nächsten Moment war sie wieder fort. Er sah zur Tür, ließ für einen Atemzug seine Deckung fallen. Ein stark blutender Mirko preschte auf die Grünhaarige zu, wollte sie daran hindern das Zimmer zu verlassen. In das Geschehen eingreifen, war ihm nicht gestattet. Ein Mann kam schwankend auf ihn zugerannt. Da die rechte Schulter unbrauchbar war - der Verdienst seines Wurfes - , setzte der Verletzte alles daran ihn mit der gesunden Seite voraus frontal zu treffen. Dem direkten Zusammenprall war nicht mehr auszuweichen und Anders wurde schmerzvoll gegen die Wand gedrückt. Der Kampf dauerte dennoch nicht lange. Er machte kurzen Prozess mit ihm. Geistesgegenwärtig hatte er ein Messer gepackt und jagte es nun seinem Angreifer in den Hals. Schlagader. Tod durch sofortiges Verbluten. Den Toten schob er er achtlos von sich und türmte aus dem Zimmer. Mirkos massiger Körper lag am Boden. Seine Augen waren glasig. - Tot. Von Kuraiko war nichts zu sehen.
„Kümmere dich um den Rest.“
Ihre Worte brannten sich in sein Hirn ein. Adrenalin pumpte durch seine Adern wie flüssiges Feuer, während er weiter durch die Gänge raste und ihren Befehl dabei bedingungslos ausführte. Dazu war er ausgebildet worden. Folge leisten. Er war ein Soldat und sie die diensthabende Befehlshaberin. Die engen Korridore bewiesen sich als ein guter Vorteil gegenüber herannahende Männer. Er wich geschickt aus und schleuderte den Nächsten gegen die Wand. Ein anderer versuchte ihn mit seinem Gewehr auf Abstand zu halten. Es war nicht von Erfolg gekrönt. Aufgrund des Platzmangel war ein freies Schussfeld Mangelware und das hektische Treiben verursachte ebenfalls eine unübersichtliches Lage. Anders holte mit der Faust aus und löschte mit einem gezielten Schlag bei dem Mann alle Lichter. Jemand berührte ihn am Oberkörper. Augenblicklich reagierte er, griff nach blindlings nach einer Hand und warf diejenige Person über seine Schultern. Plump landete der Angreifer auf seinem Rücken. Ehe der Mann sich aufrichten konnte war er schon über ihn gekommen und legte den Lauf seiner Pistole an die Schläfe des Dunkelhaarigen. Dieser wirkte jedoch alles andere als panisch. Im Gegenteil! Ein Lächeln lag sogar auf seinen Lippen in Anbetracht seines baldiges Ablebens.
„Milita. Obedi. Vive.“
Eisige Kälte breitete sich in ihm aus. Den Kloß im Hals konnte er selbst mit vehementem Schlucken nicht klein kriegen. Diene. Folge. Lebe. - Worte, welche sein ganzes bisheriges Leben diktierten, ihn niemals in Ruhe ließen.
Was waren diese Verben, wenn nicht ein ewiger Fluch?
„Wem dient ihr? Wem folgt ihr? Für was lebt ihr?“
Sein Mund war trockener als die Sahara, als Anders darauf antwortete und seine Stimme nicht mehr als ein heißeres Flüstern in den leeren Mauern widerhallte.
„Auf ewig sind wir der Bruderschaft.“
Stonevalley, Nacht
„Ich hasse Aufpasser, Mister Hermes.“
Mister Hermes tippte seelenruhig an seinem Bericht weiter. Ihr Auftauchen aus dem Nichts war nichts Neues mehr für ihn.
„Ein Moment bitte. Ich muss noch-“
Kaltes Metall berührte seinen Hals, erstickten seine Worte im Keim. Das war ihm allerdings neu. Wozu hat er ihren unmissverständlichen Zorn verdient?
„Noch mehr jedoch, wenn man mich ignoriert, Mister Hermes“, zischte sie in sein Ohr, heißer Atmen auf kalter Haut. Selbst jetzt noch wahrte sie ihren desinteressierten Ton. Ihre Drohung allerdings war mit jeder Zelle ihres Körpers ernstgemeint. Er ließ langsam von seiner Tastatur ab, wusste augenblicklich, warum sie mitten in der Nacht in seinem Büro stand.
„Das könnt ihr gut, nicht wahr? Ignorieren“, wisperte sie. Die Stimmlage wurde eine Spur bissiger, der Druck an seiner Kehle stärker.
„Kuraiko! Welch Ehre gebührt mir, dass du mich zu so früher Stunde besuchen kommst?“
Seine Redensart erinnerte an die Ratte, welche sie hatte einfangen müssen. Wo vorher eine Klinge war, kam eine weitere hinzu. Dieses Mal nicht am Hals, sondern am Bauch. Deutlich spürbar wenn man in dieser nächtlichen Hitze lediglich mit einem dünnen Shirt, anstatt dem feinem Hemd mit Krawatte, bekleidet am Schreibtisch saß. Wie freundlich, doch recht geschickt hatte er sich bei der Fragestellung ja auch nicht angestellt. Kein Wunder also, dass Kuraiko auf seine Frage mit offener Feindseligkeit reagierte.
„Louis sendet seine Grüße“, sagte sie spöttisch, erlaubte ihm einen minimalen Freiraum. Nicht genug, um sich ihrer metallenen Fängen zu entziehen, dennoch ausreichend um nicht bei jeden Wort das Gefühl zu haben gleich aufgeschlitzt zu werden. Der Grünhaarigen war nicht danach um den heißen Brei herumzureden, soviel war sicher. Kurz und knapp war von ihr der Erfolg der Mission geschildert worden. In typischer Kuraiko Manier. Ihre Nachricht war eine Erleichterung für ihn. Nichts war so befreiend, wie die Beseitigung des schwachen Glieds einer Kette. Es war kein Geheimnis, dass die Führungsriege der ISAAC manchmal Agenten auf Langzeitmissionen schickte. Nicht auf die mickrigen zwei - im Höchstfall vielleicht zweieinhalb - Jahre, sondern wirklich für eine lange Zeit. Das Minimum war hierbei acht Jahre. Louis hatte sogar mehr als das Doppelte hinter feindlichen Linien verbracht und eine sagenhaft gute Arbeit dabei abgeliefert. Drogen-, Terror-, allgemein kriminelle Netzwerke langsam von Innen heraus zu untergraben und schlussendlich zu zerstören, war so effektiv wie gefährlich und gleichzeitig ein ständiges und nicht zu verachtendes Risiko. Früher oder später gelangte man an einem Punkt wo es von Bedeutung war, dass man nicht vergessen hatte, zu welchem Zweck man sich auf dieses Spiel mit dem Feuer eingelassen hatte. Anstatt zu brennen entschied sich Louis für einen Pakt mit dem leibhaftigen Teufel. 17 Jahre. - Wie viele davon war er ein ISAAC-Agent gewesen bis es zwischen der Rolle, welche er annehmen musste und dem Monster, welches er kreiert hatte keinen Unterschied mehr gab?
„Gut gemacht. Hast du ihn-“
„Lebendig hier herschleifen können? - Natürlich“, unterbrach sie ihn frostig. Ihre Wortwahl war ein Grund mehr, warum er sich ernsthafte Sorgen um den Gesundheitszustand von Louis machte.
„So lautete meine Aufgabe. Ich kann mich beherrschen.“
Das konnte sie, doch hatte sie es in diesem Fall auch gewollt? Kuraiko war gnadenlos gegenüber Verrätern. Besonders kreativ war sie, wenn sie eine freie Hand bekam, was das Strafmaß anbelangte. Lebendig bedeute lebendig. Solange der von ihr Gejagte noch selbstständig atmete konnte, waren solche triviale Dinge wie beispielsweise heile Knochen für die Führungsriege der ISAAC nebensächlich. Sie wollten Ergebnisse. Nichts weiter.
„Das hat keiner behaup-“
„Wer?“, schnitt sie ihm erneut das Wort ab, die jetzige Diskussion für überflüssig haltend. Er bewegte sich, drehte seinen Kopf geradeso weit, dass er schräg zu ihr hinauf sehen konnte. Bis auf das Licht seine Tischlampe und dem Computerbildschirm war sein Arbeitszimmer in Dunkelheit getaucht. Zwei dunkle Rechtecke hinter ihrem Rücken bildeten die Schwertgriffe ihrer Katanas. Ihr Gesicht war mit Blutspritzern übersät. Ihr Körper war ebenfalls bedeckt mit dem rotem Lebenssaft. Kaum ihr eigenes. Dafür war sie zu gut. An ihrer Kleidung haftete der Geruch von Schießpulver. - Ihm war von vornherein bewusst gewesen, dass sie ihn aufsuchen würde, aber direkt danach? Eine Falte bildete sich auf seiner Stirn. Das es sie so stören würde, hatte er nicht geglaubt. Kuraiko war kein Freund von Teammissionen. Nur weil sie nicht offen ihr Missfallen kundgab, bedeutete dies noch lange nicht, dass sie es nicht war. Verstimmt. Sauer. Wütend. Es entsprach nicht ihrem Charakter nichts zu tun. Einschüchtern. Bedrohen. Foltern. - So führte sie es auf ihre Weise aus.
„Was-“
Metall lag erneut an seiner Haut. Zwei Messer. Dieses Mal reagierte er nicht mit Gelassenheit. Im aktiven Dienst war er zwar schon lange nicht mehr, doch an seinen automatischen Reflexen hatte er nichts eingebüßt. Sein Pech bestand bloß darin, dass die Grünhaarige auf ein derartige Reaktion seinerseits vorbereitet gewesen war. Ignorant mochte sie zwar für die meiste Zeit wirken, doch sie wusste es besser, als sich nicht über alles und jeden in der Umbra zu informieren. Mister Hermes hatte ein paar Leichen im Keller versteckt und sie würde nicht davor zurückschrecken, ihren Vorteil ihm gegenüber schamlos auszuspielen. Man konnte sie paranoid nennen, doch bei jemanden mit ihrer Vergangenheit war es keine Seltenheit, dass ihr Vertrauen dünn gesät war.
„Ah. Ah. Ah“, mahnte sie an seinem Ohr, kein Stück außer Atem. Sein Gesicht hatte Bekanntschaft mit seiner Tastatur gemacht. Der linker Arm lag verdreht auf seinem Rücken. Er war nicht schnell genug gewesen sie zu packen und über sich zu heben. Stattdessen hatte Kuraiko ihre Messer fallen lassen und ihn mit wenigen Handgriffen in diese äußerst ungemütliche Position gebracht, in welcher er sich nun befand.
„Das ist nicht nett, Mister Hermes. Ganz und gar nicht freundlich.“
„Ich bin hier nicht der Angreifer, Kuraiko“, hielt er ihr entgegen, versuchte sich aber gleichzeitig so ruhig wie möglich zu verhalten. Es stimmte zwar, dass was die reine Körperkraft anbelangte, er ihr um einiges voraus war, doch was nutzte ihm sein Potential wenn es ihre Schnelligkeit war, an welche er nicht herankam?
„Wir können das hier sicherlich mit mehr Würde regeln.“
„Könnten wir“, stimmte sie zu. Es erweckte den Eindruck als würde sie es wirklich in Betracht ziehen ihn loszulassen.
„Wir müssen es aber nicht“, führte sie ihren Gedanken fort, zog seinen geschundenen Arm noch etwas weiter nach oben... Mister Hermes stöhnte leise auf. Nun reichte es ihm aber! Wenn es auf die nette Tour nicht funktioniert, dann musste er eben andere Saiten aufziehen.
„Doch ich habe besseres vor.“
Ihre Stimme war nicht mehr als ein sanftes Flüstern und darin hinein gewoben ein harter Ton. Seine Freiheit kam unerwartet. Von einer auf die nächste Sekunde war sein menschliches Gefängnis von ihm genommen worden. Augenblicklich schnellte sein Kopf nach oben und der Blick Richtung Tür. Der Ellenbogen schmerzte, doch ignorierte seine alten Knochen für eine Gelegenheit die so in dieser Konstellation nicht mehr möglich wäre.
„Was ist besser als den Korrespondenten der Oberen zu töten?“
Ein gewagter Schritt, doch nun, nachdem sich die Wogen angefangen hatten zu glätten, konnte er sich diese Aktion wahrscheinlich sogar erlauben. Wenn man es genau nahm, dann gehörte er wohl zu den wenigen, die es sich leisten konnten sich so weit aus dem Fenster zu lehnen, ohne im Begriff zu sein zu fallen. Dennoch war er nicht dumm genug, um nicht zu wissen, dass wenn er seine Nützlichkeit verwirkt hatte, sie ihn mit einem kalten Lächeln auf dem Gesicht in die Wüste schicken würde.
Der dunkle Schemen stoppte in seiner Bewegung.
„Sagt mir warum soll ich einen Mittelsmann töten, wenn ich die Quelle richten will?“
Ungewöhnlich offene Worte. Vielleicht war es darauf zurückzuführen, wie groß ihr Missfallen gegenüber der leicht abgewandelten Mission war. Wer wusste schon, was in ihrem Kopf so alles wundersames vor sich ging. Der klaren Todesdrohung seiner Vorgesetzten zum Trotz war Mister Hermes gelassen. Merkwürdig gelassen.
„Wie wahr, wie wahr...“, sinnierte er, klar auf Zeit spielend.
„ Du weißt vermutlich schon längst, dass ich es war, der-“
Er stoppte mitten im Satz. Sie war fort, durch die Tür marschiert ohne auf ihn zu achten. - Wie unhöflich!
„Kuraiko. Kuraiko“, schmunzelte Mister Hermes. Das größte Lächeln überhaupt erschien auf seinen Lippen. Schlussendlich war es egal gewesen ob sie geblieben wäre. Er bückte sich, hob die gefallen Messer auf. Es waren Kunais. - Typisch.
„Warum habe ich das Gefühl, dass das mir mehr sagen sollte, als all deine Worte?“, fragte er ins Nichts. Die Klingen leuchteten im Schein der Lampe matt silbern auf. Getrocknetes Blut klebte an ihnen. - Die Warnung vor einem schlechten Ende.
Stonevalley, Morgens
Montagmorgen. In der Kantine herrschte eisernes Schweigen. Wo man auch hinblickte, begrüßten einen müde Gesichter. Lustlos starrte man auf sein Essen hinunter, welches in den meisten Fällen kaum bis gar nicht angerührt war und bettete im Stillen, dass die Aspirintablette doch schneller seine Wirkung entfalten möge!
„War ne schlechte Idee“, murmelte Loki vor sich hin, hielt sich dabei seinen brummenden Schädel.
„Trotzdem haben alle mitgemacht“, ergänzte sein Freund neben ihm, hob kurz den Kopf an, nur um ihn danach sofort wieder auf die Tischplatte zu legen. In dieser Position fühlte er sich wenigsten nicht so, wie als wäre er in einem Karussell am Jahrmarkt.
„Ja, aber bloß wegen Rainbows 'hübscher' Freundin.“
Hier lachte Loki auf, bereute es allerdings augenblicklich und verzog sein Gesicht.
„Eines muss man ihr lassen, motivieren kann sie einen.“
Er grummelte seine Zustimmung und danke dem Herrn für die Entdeckung von Aspirin. Am liebsten wollte er gar mehr aufstehen oder seinen Kopf bewegen, zu groß war seine Angst, dass sich dann wieder alles um ihn herum drehte.
Die erholsame Ruhe war leider bloß von kurzer Dauer.
„Hey Jungs!“
Venus' Stimme hatte auf sie den Effekt wie eine Feuerwehrsirene. Laut und vor allem schmerzvoll.
„Au. Mein Schädel!“, klagte Loki und legte seine Arme schützend um sich. Wenn man von der Wurzel ihrer elenden Qual sprach, dann tauchte besagtes Übel auch schon auf. Die Parallele, die zwischen dem und der Tatsache, dass wenn immer Rainbow sich negativ über Kuraiko äußerte, sei es nun arbeitsbedingt oder nicht, sie urplötzlich, wie von Geisterhand, hinter ihm stand und gelangweilt in die Gegen blickte, war in diesem Moment unglaublich erschreckend.
Im Gegensatz zu ihnen machte Venus nicht den Eindruck, dass die gestrige Nacht sie sonderlich verausgabt hätte. Konnte aber gut sein, dass die Schwarzhaarige es besser zu verstecken wusste als Loki, der wie ein Häufchen Elend am Frühstückstisch saß und sich in seinem Selbstmitleid badete.
Männer!
Die Frage, wer hier das schwächere Geschlecht war, erledigte sich somit auch.
„Was seit ihr denn für Luschen! Könnt nicht einmal ein paar Bierchen vertragen! - Tsss.“
„Mach du mal innerhalb von drei Tagen zwei Sauforgien mit!“, erwiderte Loki hitzig und bedachte sie mit einem wütenden Blick. - Es scheiterte kläglich. Woher nahm Venus bloß ihre Energie? Also ordentlich zugelangt hatte sie allemal. - An so viel konnte er sich immerhin noch erinnern! Wenn man sich schon die Mühe gemacht hatte für sie kurzerhand eine Willkommensparty zu schmeißen - warum sich nicht volllaufen lassen?
„Verzichte du mal für sechs Monate auf ein gescheites Bier.“
Ein böses und Unheil versprechendes Lächeln tauchte auf ihren Lippen auf.
„Was mich darauf zurückführt...“
Eine künstlerische Pause, ehe es über die beiden Sitzenden hereinbrach, wie ein tobender Sturm. Sie schreckten aus ihrem zusammengesunken Zustand ruckartig auf und fielen deswegen beinahe aus ihren Stühlen.
„Was so der Scheiß?!“, kam es wie aus einem Mund. Gemeinsam funkelten sie das unschuldig grinsende Biest an.
„Bock auf ein Hofmark?“
Sie verzogen simultan das Gesicht als sie den Urheber ihres Aufschrecken erblickten. Einsam und verlassen stand vor ihnen der Gegenstand, welcher zuvor mit einem lauten Knall Bekanntschaft mit dem Tisch gemacht hatte.
„Nein danke! Jetzt gerade hab ich keinen Bock auf ein Bier“, erwiderte Loki trocken und brachte zwischen sich und der dunkelbraunen Flasche so viel Platz wie nur irgendwie möglich. Ein lustiger Anblick, wenn man dabei bedachte, dass er gestern und heute früh nicht genug von diesem Zeug hatte bekommen können.
„Da wird ja einem schon vom Hinsehen wieder schlecht.“
Venus bedachte sie mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck.
„Wirklich?“, fragte sie skeptisch, konnte anscheinend ernsthaft nicht verstehen, warum das Duo ihr verlockendes Angebot ausschlug.
„Jammerschade.“
Sie selbst würde es ja annehmen... nur nicht jetzt. Das musste die Beiden jedoch nicht unbedingt wissen. Sollten sie doch glauben, was sie wollten! Ihr war es gleich. Die Wahrheit, nämlich, dass sie für einige Zeit ebenfalls kein Bier mehr riechen konnte, sollte sich nicht als der Spielverderber offenbaren. - Das war ihre eigentliche und einzige Sorge.
„Nun,-“
Das alkoholische Getränk verschwand aus deren Sichtfeld.
„dann sagte ich für den Moment au revoir.“
Sie stapfte in Richtung Küche, ließ bei den Zurückgebliebenen die Frage offen, wie in aller Herrgotts Namen die Schwarzhaarige sich anschleichen konnte, wenn ihre Schritte lauter als Donnergrollen auf ihre empfindlichen Ohren einhämmerten.
Nach und nach füllte sich der Esssaal, doch kaum einer konnte sich dazu begeistern, ein richtiges Gespräch zu führen. Kam entgegen aller Vernunft doch etwas zusammen, was im Entferntesten auch nur an eine Konversation erinnerte, so war diese bloß von kurzer Dauer. Die gespenstische Stille wollte ihr Tuch nicht von ihnen nehmen. Zu sehr liebte sie die Macht, welche sie besaß, als das sie sie freiwillig hätte aufgeben wollen. Mit sachten Schritten tänzelte jemand zur Tür herein. Im Schlepptau kam Uranu hinein geschlurft, sah aus wie K.O. geschlagen und zurück auf die Beine gestellt. Seine Freundin war im Begriff der Ruhe die Kontrolle zu entreißen. Nicht mit den herkömmlichen Mitteln. Wer Geschrei suchte, war bei ihr an der komplett falschen Adresse. Kuraiko war von vielen Dingen nicht angetan. Laut zu sein gehörte dazu.
„Nächstes Mal folge nicht dem Trend, Ranu.“
„Ich hab doch gar-“
„nichts gesagt“, beendete sie seinen Satz und ließ sich an deren üblichen Platz ganz weit hinten im Saal nieder.
„Musst du auch nicht. Nichts ist einfacher als das abzulesen, was man von Weitem schon sehen kann“, erklärte sie ihm und griff nach der Kanne heißem Tee. Das Getränk langsam eingießend, ließ sie ihren Blick unauffällig über die versammelte Truppe wandern. Sie sah viele müde Gesichter, doch nicht den blauen Schopf ihrer Schwester. Dieser blieb absent und würde auch bis kurz vor dreiviertel Acht sich nicht blicken lassen.
„Ich hab schon bei der Party von Light nichts trinken können. Zumindest bei ihr wollt ich dann mal zulangen. Mit Freunden lässt es sich besser feiern als mit Fremden“, sagte er und gähnte herzhaft. Hin und wieder hatte auch er typisch jugendliche Bedürfnisse.
„Das sagst du jedes Mal“, bemerkte sie. Im Gegensatz zu ihm war es ihr nicht gestattet gewesen an Venus' spontaner Willkommensparty teilzunehmen. Man sollte eher sagen, dass sie nicht gewillt gewesen war zu kommen, wenn etwas viel besseres auf sie gewartet hatte, als eine gewöhnliche Sauforgie. Zum einen war sie auf derartigen Veranstaltungen eh ein selten gesehener Gast und das andere und weitaus verlockendere Angebot war gewesen, dass sie einer kleinen Ratte ihr verlogenes Schwänzchen abschneiden durfte. Bei ihr war jeder Widerstand zwecklos. Kuraiko riss jedes Verteidigungsbollwerk ein, wie als wäre es ein Kartenhaus und lockerte jede Zunge mit listigem Geschick, welches seines Gleichen suchte. Nichts war niederträchtig wie Verrat aus den eigenen Reihen. Nichts. Deswegen holte man sie auch bevorzugt bei Maulwürfen hinzu. Ihr Hass gegen Verräter war wie ein bodenloser Abgrund und äußerst effektiv, wenn es um Informationsbeschaffung ging.
Der Dunkelhaarige zuckte mit den Schultern.
„Ich schau wenigstens nicht so aus, als wäre ich aus irgendeinem dunklen Loch gekrochen.“
Die Anspielung eines Lächelns lag in ihren Mundwinkeln, während sie ihre Augen bewusst auf ein in sich zusammengesunkenes und mit hoher Wahrscheinlichkeit unansprechbares Pärchen legte. Loki und sein dunkelblonder Freund, welcher sie begleitet hatte. Eine Mission, welche eigentlich für eine Person gedacht war und schlussendlich zu zweit ausgeführt wurde. Unbedeutend mochte dies zwar für jeden anderen gewöhnlichen Menschen sein, doch sie war nicht jedermann. Im Grunde genommen hätte es keinen großartigen Unterschied gemacht ob ein, zwei oder gar ein Trio sich an diesem Auftrag beteiligten, außer das es vielleicht schneller über die Bühne gelaufen wäre. Es ging Kuraiko vielmehr um das Prinzip. Seit Jahren versuchte die oberste Führungsriege schon sie mit solchen Maßnahmen zu kontrollieren, wollte ihr damit vor Augen führen, wer hier der Chef des Ganzen war. - Ohne großen Erfolg verstand sich. Sie ließ sich nicht einsperren, trotzdem war das 8-köpfige Gremium um Evensted stets darum bemüht sie in ihren Freiheiten einzuschränken, als wäre sie nichts weiter außer eine Puppe, welche man nach belieben aufziehen konnte. Dabei übersahen sie etwas, was sich nicht absehbarer Zukunft an ihnen rächen würde. Das Motiv, warum Kuraiko ihnen nicht schon längst den Rücken gekehrt hatte, war keineswegs die Allzeit angenommene Theorie, dass es wegen ihrer kleinen Schwester der Fall war. Nein, die Grünhaarige war auf Rache aus. Yuna zu schützen, war gewiss von nicht minderer Bedeutung, doch die Bluenette konnte die meiste Zeit gut auf sich selbst aufpassen, als das es einen persönlichen Eingriff von ihr benötigte. Wenn es einmal doch erforderlich war, dann geschah es ohnehin klammheimlich. So geschickt, dass Yuna nicht einmal erahnte, dass Kuraiko weitaus mehr über ihre Missionen wusste, als die Jüngere selbst.
„Ja. Genau so was meine ich“, bestätigte Uranu, nachdem er ihrem Blick gefolgt war. Just in diesem Moment sah Lokis Gegenüber auf. Die grünen Katzenaugen mehr als verschlafen und die Pupillen unnatürlich groß. Er machte nicht den Eindruck die Dinge, welche um ihn passierten hundertprozentig wahrzunehmen. Ein sicherer Anzeichen, dass er sicherlich nicht nüchtern war. Oh wie wunderbar die erste Stunde sein würde! Man stellte sich 24 Schüler und Schülerinnen vor, von welchen ein Drittel sturzbetrunken war und ein verzweifelter Lehrer an der Tafel. Der Kanadier konnte sich einen kurzen Lacher nicht verkneifen. Abrupt stand Kuraiko auf, ließ sich von seinem Lachen nicht zum mitmachen bewegen. Das Essen unberührt. Ihr Appetit war nie dagewesen.
„Kuri! Fang!“
Prompt klarten die glasigen Augen auf, wie als reichte einzig und allein ihr Name um eine Reaktion aus ihm zu entlocken, und starrten direkt in Uranus Richtung. Nein.Vorbei. Mit unverfälschter Eleganz fing Kuraiko den Apfel mit einer Hand auf. Das kaum zu beobachtende Nicken - ein Zeichen ihres Danks - ehe sie aus dem Raum der wandelnden Toten tänzelte. Der milchige Schleier legte sich erneut über die katzenähnlichen Seelenspiegel, fielen in den tranceähnlichen Zustand zurück aus welchen sie kurzzeitig aufgewacht waren und ließen Uranu, der dieses seltsame Geschehen mitverfolgt hatte, grübelnd zurück.
Untere Ebenen des Stonevalleys, circa neun Uhr morgens
Jeder Muskel in seinem Körper ächzte während er versuchte sich in eine halbwegs gemütliche Position zu bewegen. Kein leichtes Unterfangen, wenn beinahe alles in ihm vor Schmerzen aufschrie. Sich auf den linken Arm stützend, - bandagiert von der Schulter bis zur Armbeuge und durchtränkt mit Blut - biss er auf seine Unterlippe, gab den Kampf mit seiner Erschöpfung nicht ohne weiteres auf. Nach schier endlosen Minuten hatte er es geschafft. Die Person, welche die ganze Zeit über schon im Schatten gestanden war, suchte sich diesen Augenblick aus, endlich ins Licht zu treten.
„Lange nicht gesehen, alter Freund. Obgleich ich bedauere, dass wir uns so wiedersehen mussten...“
Der Mann hinter der zentimeterdicken Glasscheibe lachte trocken auf. Es erstarb als ein schrecklicher Husten.
„Bedauern?“
Er verzog das Gesicht, als seine Stimme zum Ende hin wegbrach. Armselig! Nicht einmal mehr genügend Kraft zum Sprechen konnte er aufbringen. - Wie tief war er bloß gesunken? Sein Gegenüber betrachte ihn mit einem traurigen Blick in den sonst so jovialen Gesichtszügen.
„Nein“, sagte er und schüttelte seinen Kopf, vorsichtig darauf bedacht sich nicht zu überanstrengen. Sein kränklicher Zustand war ihm ein Dorn im Auge, allerdings hatte er dem nichts entgegenzusetzen, außer die Maske des eisernen Willens um sich zu legen. Arlett konnte seinen Körper brechen, jedoch nicht seinen Geist. - Worte, die nichts zu sagen hatten. Kein Lebender konnte von ihrer perfiden Methoden sprechen und niemand, der bei Verstand war, wagte es sie zu unterbrechen, sollte sie einmal am Werk sein.
„Du bedauerst nichts, außer, dass du mich nicht früher hattest hochnehmen können, Charles.“
Mister Hermes, mit vollen Namen Charles J. Hermes, starrte bestürzt auf seinen einstigen Freund und Teamkollegen hinab. Auch an Louis waren die Spuren der Zeit nicht spurlos vorüber gegangen. Das charmantes Lächeln, mit welchem er schon früher andere um seinen kleinen Finger - überwiegend Frauen - wickeln konnte, hatte sein ehemaliger Freund allerdings nicht verloren. Daran konnte selbst Kuraikos Spezialbehandlung nichts ändern. Andererseits, hatte es wirklich soweit kommen müssen? Er in Ketten? Weggesperrt wie ein niederer Verbrecher? Gerichtet von einer mehr oder weniger gezügelten Jugendlichen. - Was war aus dem jungen Mann mit dem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn geworden, welchen Mister Hermes vor über zehn Jahren kennengelernt hatte? Was hatte ihn dazu bewegt die Seiten zu wechseln? Ja, was? - Es gab so viele Fragen, doch wollte man - er - auch die Antwort auf diese hören? Wollte man ehrlich erfahren warum ein langjähriger Weggefährte, der der einem den Rücken gedeckt und niemals hängen gelassen hatte, abtrünnig geworden wurde? Wollte er das? Mister Hermes hatte in seiner Zeit - und er war nun schon jemand, der länger in diesem Verein tätig war - viele Kollegen kommen, gehen und fallen gesehen. Nichts war jedoch so erschütternd, wie der Verrat an der eigenen Überzeugung und dem Eid, welchen man schwor, sobald man eintrat. ISAAC-Agent war man ein Leben lang.
Bis auf das der Tod euch scheidet.
„Und doch komme ich nicht umhin, um die Person zu trauen, welcher ich vor einem Jahrzehnt begegnen durfte. Wahrlich, von ihr ist heute nichts mehr übrig.“
Charles verstand es noch immer einen ein schlechtes Gewissen einzureden. Zu dumm, dass er sich davon nicht mehr beeindrucken ließ. Louis schnaubte abfällig.
„Ich war ein Grünschnabel gewesen. Wir beide waren es. Frisch aus der Ausbildung und noch so voller Hoffnung die Welt zu einem besseren Planeten zu machen. Die Zeiten haben sich geändert, Charles. Ich bin erwachsen geworden-“
„Erwachsen? - Wenn du tatsächlich reifer geworden wärst, dann würdest du nun nicht in dieser prekären Lage stecken!“
Mister Hermes schwenkte mit einer Hand ungeduldig um sich herum und trat schließlich einen Schritt näher an die Glaswand.
„Was siehst du, Louis? - Weil ich sehe nichts außer einen Verräter“, spie er das letzte Wort mit so viel Hass aus, dass sein Ton einer gewissen Grünhaaren zum verwechseln ähnlich war. Ihm fehlte zwar das nötigte Gift um ihr völlig zu gleichen, doch wer wollte hier mit schon mit der Haarspalterei anfangen?
„Du warst über Jahre - Jahre - hinweg ein Doppelagent! Wie viel Blut klebt an deinen Händen, Louis?“
„An meinen?“, fragte Louis erstaunt.
„Aber, aber! Hat nicht eure reizende Arlett sich an den Körper derer ausgetobt, die ich euch genannt habe? Meine Informationen war niemals falsch gewesen“, verteidigte er sich vehement. Dem hatte Charles nichts entgegen zu setzen. Viele, bedeutende Namen hatten sie in den vergangen Jahren aus dem Verkehr ziehen können. Ohne Louis und seine außergewöhnlich hohe Stellung im Drogenmilieu wäre das nicht so ohne weiteres möglich gewesen, allerdings...
„Ganz der Wahrheit entsprachen sie jedoch nie“, warf er dem Gefangenen entgegen.
„Das sehen wir jetzt. Wie einfach du es dir doch gemacht hast! Anstatt sich die Hände selbst schmutzig zu machen, hast du jeden, der sich zu einem Problem für dich entwickelte, durch uns beseitigen lassen. Immerhin hatten wir somit einen Erfolg gegen das wachsende Drogennetz im Osten zu verbuchen und du konntest deinen Einfluss weiter ausbauen.“
„Ich leugne nicht, dass ihr mir meine Arbeit höllisch vereinfacht habt, jedoch alles konntet ihr nicht tun. Wäre einen Tick zu auffällig gewesen, wenn wirklich jeder meiner Gegenspieler plötzlich verschwunden, tot aufgefunden oder geschnappt worden wäre“, erklärte Louis selbstgefällig und hielt sich wenige Sekunden später seine Seite. Das Atmen war sowieso schon schwer genug, doch mit dem konstanten Sprechen machten sich die angeknacksten Rippen bemerkbar, welche nicht ohne Weiteres verbunden werden konnten. Die Schmerzen waren offensichtlich, doch in Mister Hermes lösten sie nichts außer Verachtung aus. Mitleid war etwas, was an Louis vergeudet gewesen wäre. Seine niederträchtige Natur hatte alles zerstört was auch nur im Entferntesten mit Mitgefühl zu tun gehabt hatte. Dabei war er einst ein anderer Mensch gewesen. Jemand besseres. - Diese Zeit war vorbei.
„Du hast uns benutzt um dich selbst zu bereichern. Jedes Ideal in den Sand gesetzt. Du zahlst jetzt die Quittung für dein Vergehen. Nichts ist umsonst.“
Mit diesen Worte wandte er sich zum Gehen. Es war gesagt worden, was gesagt werden wollte.
„Pack dich bei deiner eigenen Nase, Charles. Ihr benutzt die süße kleine Arlett doch auch nur damit sie eure Drecksarbeit erledigt. Nichts ist umsonst. Irgendwann wird sie einen Preis für ihre Dienste verlangen. Und wenn es soweit ist, werdet ihr diesen Preis nicht stemmen können, denn sie wird nach etwas verlangen, dass ihr ihr nicht gegeben könnt.“
Mit seiner typisch dramatischen Art warf Louis die Worte aus seinem spröden Mund und brachte es auf den Punkt:
„Stell dich nicht dümmer, als du bist. Ihr Leben, Charles. Ihr Leben wird das sein, was sie von euch zurückfordert.“
Stonevalley, früher Nachmittag
„Nein, oder? Nicht noch so ein Dreikäsehoch!“
„Sei nicht unhöflich!“, fauchte ein arabisch aussehende Frau und trat auf ihn zu.
„Aua!“, jammerte er keine Sekunde später und rieb sich dabei den schmerzenden Kopf. Loreley hatte ihm tatsächlich eine Kopfnuss verpasst! Und eine kräftigte dazu! Womit hatte er das den schon wieder verdient?
„Du weißt ganz genau warum!“
Seine Augen weiteten sich. Scheiße! Hatte er das gerade eben laut ausgesprochen? Ihrem mörderischen Blick nach zu urteilen: Ja, hatte er. Plan B musste her. Und zwar schnell, bevor sich die 'nur' 1.60 m große Frau es sich anders überlegte und richtig handgreiflich wurde. Beschwichtigend ob er seine Arme.
„Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe, Lore. Ehrlich nicht!“
Sie verschränkte ihre Arme und hob eine perfekt geschwungene Augenbraue an. Er beeilte sich weiterzusprechen.
„Es ist nur- Ich meine wir haben doch schon unser Nesthäkchen-“
Man hörte wie zwei Schwerter gezogen wurden und das sanfte Tappen kleiner Schritte in seine Richtung. Sein Gesicht wurde kreidebleich.
„Ähh... Ich-ich meinte natürlich Ku-Kuraiko. Was ich sagen will, ist, dass uns nicht Bescheid gegeben wurde, dass wir Verstärkung kriegen. Vor allem nicht, dass diese Verstärkung... minderjährig ist.“
Gerade so rettete er sich mit seiner Erklärung in den sicheren Hafen und blickte nervös zu Loreley, erwartete ihr Urteil. Hinter ihm war es glücklicherweise wieder bedächtig ruhig geworden. Wie hatte er nur vergessen können, dass die Kleine es überhaupt nicht leiden konnte, dass man sie Nesthäkchen nannte? Es sah allerdings nicht gut für ihn aus. Die Araberin hatte ihre Augen zusammengekniffen und die Hände in ihre Hüften gestemmt. Für seinen Geschmack kamen dabei ihre Finger zu nah an die 9-Millimeter rann, welche sie auf der linken Seite trug. Sollte er doch einen Versuch starten und schauen, wie schnell er aus dem Zimmer raus kam, bevor Loreley sich entschied ihn abzuschießen?
„Es änderst allerdings nichts daran, dass du ein unhöfliches, beleidigendes und arrogantes Schwein bist, Gideon“, knurrte sie und drehte sich zu dem 'Dreikäsehoch', welchen Gideon gerade so unverschämt gegenüber getreten war und schenkte dem Jungen ein strahlendes Lächeln. Gideon atmete erleichtert aus, wusste jedoch, dass diese Sache lange noch nicht vom Tisch war. Ihr kurzer Blick zurück bestätigte seine Vermutung, denn dieser versprach langanhaltende Schmerzen.
„Hallo. Mein Name ist Loreley, aber du kannst mich ruhig Lore nennen.“
Kritisch sah der Junge sie an, suchte in ihren braunen Tiefen nach etwas bestimmten. Schließlich - nach einigen Momenten der absoluten Stile - nahm er die ausgestreckte Hand an und schüttelte sie einmal kurz.
„Mein Name ist-“
„Uranus. Sein Name ist Uranus. Wie der Planet“, fiel ihm eine süßliche Stimme ins Wort. Uranus? Der Junge drehte sich zur Quelle um, hatte längst vergessen, was sich eben erst vor wenigen Minuten ereignet hatte. Große rote Augen starrten ihn unschuldig an. Kuri. - Nein Kuraiko.
„Wegen seiner Augen“, schaltete sich nun jemandes anderes mit ein. Der dunkelblonde Jugendliche - Adrien - von vorhin trat neben das kleine Mädchen und legte brüderlich seine Hände auf ihre Schultern. Ahh. - Er erinnerte sich.
„Nun denn Uranus, wer hat dich geschickt?“, fragte Loreley und zog automatisch alle Aufmerksamkeit wieder auf sich zurück. Er antworte nicht sogleich auf seinen neuen Namen, allerdings wurde ihm schon nach einigen Sekunden klar, an wen die Frage gerade gerichtet war und reagierte dementsprechend:
„Mrs. Lexton“, gähnte er. Uranus war müde. Es zauberte ein Grinsen auf die Züge der kleinen Frau und weckte sofort Muttergefühle in ihr.
„Hat mir den Auftrag übergeben, dass ich mich hier bei einem gewissen Mister van Dryar melden soll.“
Fast ein ganzes Jahrzehnt war ins Land gegangen, doch die Erinnerung an das erste Treffen mit Allen van Dryar würde auf ewig in seinen Gedanken eingebrannt sein. Dieser Mann hatte ihm soviel genommen, als das er diesen Tag jemals vergessen könnte.
Eine Familie. Freunde. Bilder von Cadiem und Loreley neben einem prächtig geschmücktem Weihnachtsbaum. Lachend. Lebendig. Kuri, die mit einem strahlendes Lächeln zu Adrien blickte, welcher ihr gerade ein kleines Päckchen überreichte.
Und zu guter Letzt: Einen Bruder. Dieses Schwein hatte ihm und Kuraiko das Allerliebste auf dieser Welt genommen. Den großen Bruder, welcher auf sie aufgepasst hatte, seit sie neun Jahre alt gewesen waren. Kuri hatte zu Adrien aufgesehen! Er hatte sie praktisch aufgezogen, obwohl er selbst noch ein Kind zu diesem Zeitpunkt war! Sein Tod hatte sie in einen tiefen Abgrund gestoßen, von welchen sie sich bis heute noch nicht richtig erholt hatte. Wahrscheinlich auch nie erholen wird. Vergangen war das bezauberndste Lachen, welches er jemals in seinem Leben gehört hatte. Die Unschuld, das Fröhliche, das Kindliche waren daraus verbannt worden und zurückgelassen hatten sie nichts, außer ein Trauerspiel, versteckt hinter einer Maske des Wahnsinns. Jeder Versuch ihr psychische Hilfe anzubieten endeten in einem blutigen Eklat bis man endlich einsah, dass es bei ihr, wie das Anreden gegen eine Wand war.
Zwecklos.
Also hatte die Führungsriege sich an den letzten Halm gegriffen, ihn zurückgeholt, nachdem das 8-Köpfige Gremium sie getrennt hatte und hatten ihn förmlich dazu gezwungen Kuraiko zu 'richten'. Als wäre sie eine kaputte Spieluhr, welche lediglich einige Schrauben benötigte, um danach wieder aufgezogen zu werden. Dumm. So dumm. Diese Männer und Frauen sahen sie alle doch nur als funktionierende Marionetten an. Austauschbar. Pech für sie, dass die Grünhaarige nicht so leicht zu ersetzten war, wie sie geglaubt hatten oder wie sonst konnte man sich erklären, dass sie ihn so weit wie möglich von ihr entfernt stationiert hatten, bloß um nicht einmal zwei Monate später ihn auf Knien und Händen zurückzuholen? Sie hätten Kuraiko mühelos beseitigen können, wäre es nicht für ihre Eltern – für die sie, auch wenn sie kein gutes Verhältnis zu ihnen hatte, noch immer das älteste Kind war - und ihren Großvater - welcher seine Tochter in der Erbschaftsfolge so gut wie übergangen hatte und demnach Kuri nach seinem Tod seine gesamte Firma vermachen würde - gewesen. So blöd waren sie dennoch nicht gewesen, doch kurzsichtig genug, um die Folgen, welche die Trennung zwischen den einzig noch lebenden und treuen TEF-Mitgliedern, nicht richtig eingeschätzt zu haben. Sie haben ihre eigenen Fähigkeiten - wenn nicht sogar: maßlos - überschätzt. Ein Glück für diese alten Reste des letzten Jahrhunderts war, dass es keine freundliche Einladung brauchte, um ihn augenblicklich an seine alte Werkstätte zurückbringen. Sein Platz war und würde immer neben ihr sein als Wächter, Freund und Bruder.
„Du weißt, ich liebe sie wie meine eigene Schwester. Von daher möchte ich dich um etwas bitten: Pass auf sie auf, ja? Egal was passiert. Pass auf den kleinen Sonnenschein auf, welcher unsere kleine Schwester ist. Versprich es mir, Franklin.“
Dafür hatte er sein Versprechen gegeben. Und nichts und niemand würde ihn davon abhalten genau dies zu tun. Doch sie machte es ihm schwer. So schwer. Das, was in Stockholm geschehen war, zerrte sie innerlich auf und erneut war er an die Seitenlinie verbannt worden und musste mitansehen, wie sie sich langsam aber sich zu Grunde richtete. Stockholm war eine Einbahnstraße gewesen und dennoch hatten sie Dinge herausgefunden, welche sie bis dato weder gewusst noch geahnt hatten. Oh, sie wussten, dass Deyar einen Bruder hatte, jedoch nicht, dass dieser noch am Leben war, oder wo dieser sich befand. Obwohl er nicht glauben konnte, dass die ISAAC nichts, aber auch rein gar nichts, über den Verbleib seines Bruder gewusst haben wollte, schluckte er die bittere Pille tapfer hinunter, schwor sich jedoch im selben Atemzug alles dafür zu tun, um restlos das aufzuklären, was die ISAAC unterschlagen hatte und weiterhin verschwieg.
Ob Kuri schon über diesen Gedankengang gestolpert war? - Mit Sicherheit. Woran er das so genau sehen konnte? Kuraiko war nicht da. Mission um Mission. Keine Sekunde länger als nötig im Valley. Ausschließlich Attentate auf akut unter Verdacht stehende Maulwürfe. Es gab hauptsächlich zweierlei Gründe, warum sie wie am Fließband arbeitete. Zum einen war da die Wut auf sich selbst und zum anderen, weil sie versuchte ihre Gefühle im Zaum zu behalten, um keine unkontrollierte Handlung auszuführen, wie beispielsweise sich auf den Kriegspfad begeben und eine blutige Schneise in die ISAAC ziehen, welche ihr geplantes Vorhaben vorzeitig gefährden würde. Sie legte sich auf die Pirsch und wartete so lange, bis die ahnungslose Beute nahe genug an sie herangetreten wer, um blitzschnell und mit voller Härte zuzuschlagen. Wenn es darauf ankam, konnte sie selbst die schwierigsten Bedingen überdauern, doch auch sie musste hin und wieder ihren Zorn loswerden, ansonsten würde sie selbst ins Bein schneiden. Doch die Mischung aus Beidem war es, welche ihm wirkliche Sorgen bereitete. In diesem Zustand war sie nämlich nicht nur unberechenbar, sondern auch nur noch wenige Züge davon entfernt gänzlich zu zerbrechen.
Seufzend legte er den Stift weg. Zwar war Kuri heute ausnahmsweise wieder im Unterricht gewesen, doch da hörte es auch schon wieder auf mit dem Positiven. Körperlich anwesend, doch geistig in anderen Sphären unterwegs und angespannt. - So konnte man ihren Zustand am Besten beschreiben.
Etwas piepte.
„Ja? Was ist los?“
„Du hast eine Erkundungsmission“, tönte Bows Stimme aus der eingebauten Sprechanlage an der Wand.
„Sofort?“, fragte er und schob seinen Stuhl nach hinten. Deutsch musste wohl oder übel auf sich warten lassen. Nicht, dass er gerne den Aufsatz schreiben wollte...
„Ja. Es ist dringend.“
Er hörte, wie Finger über die Tastatur rasten.
„Deswegen musst du auch sofort los. Ich hab alle Daten schon aktualisiert. Das Letzte, was fehlt, bist du.“
„Ich bin in zehn Minuten einsatzbereit. Kannst du Kuri bitte Bescheid sagen, dass es mit der Übungseinheit um halb fünf nicht hinhauen wird?“
„Wie sehe ich aus? - Wie ein Dienstbote oder was?“, kam die Antwort scharf zurück.
„Jaja. Ich richte es ihr schon aus, falls sie sich blicken lässt.“
„Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet“, sagte er und trat aus seinem Zimmer. Eine Mission wartete darauf, erledigt zu werden.
Stonevalley, Nachmittag bis früher Abend
Kuraiko wartete. Obwohl sie wusste, dass er nicht auftauchen würde, wartete sie. Es war laut. Sie hatte ihre Lider geschlossen und lauschte dem aktiven Treiben. Auf der Matte neben ihr wurde jemand zu Boden geworfen und festgehalten.
„Nochmal“, befahl Venus, stieg von ihrem Gegner ab und half diesem auf.
„Kaum bin ich nicht da, legst du dich auf die faule Haut. Ich bin enttäuscht!“
Ihr Gegenüber nahm die Hand, welche ihm ausgestreckt wurde, entgegen und zog, sobald er wieder auf beiden Beinen stand, seine Kontrahentin schnell zu sich. Kleidung raschelte und keine Sekunde später lag er erneut am Boden. Bunte Strähnen klebten an seinen Schläfen, der Schweiß tropfte nur so von seiner Stirn.
„Guter Versuch, doch 0815.“
Venus stichelte mit voller Absicht. Sie wollte eine Reaktion aus ihm herauskitzeln.
„Jetzt reicht es!“, knurrte Rainbow und griff frontal an, nur um im letzten Moment nach links auszuweichen und rammte ihr den Ellenbogen in den Rücken. Venus hatte zwar mit einer Täuschung gerechnet, konnte jedoch nicht schnell genug seinen Schlag abwehren und wurde getroffen. Sie griff, nachdem der erste Schmerz verfolgen war, sofort nach ihm und versuchte ihn mit einem Wirbelstoß zu Fall zu bringen. Rainbow wich aus. Bald entstand ein wüstes Durcheinander. Arme und Beine flogen durch die Gegend, hier ein Treffer, dort ein gelungener Schlag, keiner war gewillt auch nur einen Millimeter nachzugeben.
Kuraiko wartete.
Der Kampf verlagerte sich mit zunehmender Dauer immer weiter in ihre Richtung. Davon bekamen aber weder Rainbow noch Venus etwas mit, zu sehr waren sie auf ihren jeweiligen Gegner fokussiert, als das sie auf ihre Umgebung geachtet hätten.
Sie wartete auf den richtigen Moment.
Rainbow duckte sich zur Seite, hob seine Arme hoch, war aber nicht auf den mächtigen Fußtritt gefasst und wurde nach hinten gedrückt. Er stolperte, suchte Halt und griff blind um sich. Sobald seine Hand auf Stoff auftraf, reagierte er automatisch und zog sein Gegenüber über die Schulter.
Schlagartig öffnete Kuraiko ihre Augen, grinste, riss sich los und ging in die Hocke. Rainbows Augen wurden groß, als ihm klar wurde, dass er nicht Venus, sondern irgendwie auf Kuraikos Matte gelangt war und diese gerade mit einem Schulterwurf attackiert hatte.
„Ach du Schei-!“
Mit einer Drehbewegung sprang sie wieder auf, holte mit dem äußeren Bein aus und schlug diesen hart in die Magengegend ihres Angreifers. Dem Buntschopf blieb der Atem weg. Keinen Augenblick später lag er am Boden, zwei Ellenbogen, rechts und links von seinem Hals und schnürten ihm die Luft ab, während seine Arme und Beine von einem schmalen, athletischen Körper stillgelegt wurden und blickte direkt in zwei rote, kalte Augen.
Venus konnte nicht einmal über die prekäre Lage ihres Sparringpartners lachen, denn es sah so aus, als war Kuraiko drauf und dran ihn zu töten.
„Shit. Nicht gut. Gar nicht gut!“
Sofort rannte sie zu ihnen herüber und versuchte Yunas ältere Schwester von Rainbow herunterzuziehen, indem sie sie an den Armen packte.
„Bist du bescheuert?! Lass ihn los! Sofort!“, schrie sie sie an.
Zu mehr als dem Versuch kam es aber nicht. Ruckartig schleuderte Kuraiko ihren Kopf nach hinten, traf Venus' Stirn, sprang auf und ließ ihren bewegungslosen Opponenten los. Rainbow japste verzweifelt nach Luft, während er nach seiner Kehle griff, diese sanft massierte und dann vom Kampfgeschehen so schnell wie möglich nach hinten weg krabbelte.
Venus gehörte zu den mit Abstand Besten im waffenlosen Kampf, doch sechs Monate ohne vernünftiges Training, machten sich dennoch bemerkbar. Besonders, wenn es gegen einen der Zwillinge ging.
„Bist du noch ganz bei Trost?!“
Keine Antwort, dafür aber ein Hieb von rechts, welchem sie gerade so noch ausweichen konnte. Wenn Kuraiko nicht mit diesem Theater Schluss machte, dann es duster für sie aus. Ihr gelang es zwar Kuraiko einigermaßen auf Abstand zu halten, allerdings bemerkte sie auch, wie ihre Kraft mit jeder weiteren Sekunde schwindet. So gut in Form war sie dann auch wieder nicht. Gut genug um mit Rainbow den Boden zu wischen, aber nicht ausreichend, um sich gegen die Grünhaarige behaupten zu können. Wo war Yuna, wenn sie mal gebraucht wurde?
Venus bemühte sich nicht mehr, um eine großangelegte Offensive, sondern steckte ihre letzten Energien ausschließlich in ihre Defensivarbeit. Was war bloß in Kuraiko gefahren, dass sie zwischen Freund und Feind, zwischen einem freundlichen Sparring und bitterem Ernst nicht mehr unterscheiden konnte?
„Nēsan!“
Kuraiko erstarrte.
Plötzlich war der Druck von ihren Armen verschwunden. Venus verschwendete keine Zeit und sprang sogleich einige Meter nach hinten. Schwer atmend, um viele blaue Flecken und mit Sicherheit auch Prellungen reicher, taxierte sie ihr Gegenüber mit einem wachsamen Blick, traute dem Frieden nicht einen Meter weit.
Yuna schickte der Himmel!
Kuraiko sah erst sie, ihre Schwester und dann wieder sie an, erstaunt, ehe der Gesichtsausdruck wechselte und sich verhärtete. Ihr Augen huschten erneut zu ihrem Zwilling und zurück, dann ein abgehaktes Nicken in ihre Richtung und sie drehte sich um und ging. Die Worte verließen ihren Mund, ehe Venus diese stoppen konnte:
„Was soll der Scheiß! Erst stehst hier ruhig da und dann greifst du ohne Grund die Computerratte an! Er ist mein Opfer!“
Im Hintergrund hörte man Rainbow leise ein
„Na vielen Dank!“
murmeln. Yuna versuchte mit hastigen Kopf- und Handbewegungen ihr irgendetwas mitzuteilen, doch Venus ignorierte es rigoros, nahm jetzt erst so richtig an Fahrt auf. Kuraiko konnte zwar so mit Feinden umgehen, aber nicht mit ihr! Verbündete griff man nicht aus heiterem Himmel an und kämpfte bis auf Äußerste mit ihnen, egal wie sehr man da oben im Arsch war! So kaputt war sie früher noch nicht gewesen!
„Such dir Ares, wenn dir langweilig ist, aber lass uns gefällst in Ruhe! Sag mal, hast du sie noch alle? Bei jemanden wir dir im Team, braucht man ja keine Feinde mehr!“
Schneller als Venus blinzeln konnte, stand Kuraiko vor ihr. Rote Augen funkelten unnatürlich und das Gesicht war so nah, dass sich beinahe deren Nasenspitzen berührten. Die Schwarzhaarige wich jedoch nicht zurück und blieb standhaft. Sie hatte schon früher nicht vor Kuraiko gekuscht und würde mit Sicherheit jetzt auch nicht damit anfangen!
„Nēsan!“
„Deswegen arbeite ich auch bevorzugt allein“, betonte die Grünhaarige das letzte Wort eindringlich, ehe sie sich mit Schwung umdrehte - ihr Zopf traf Venus natürlich rein 'versehentlich' - und mit festen Schritten aus dem Raum marschierte. Kein Blick zurück. Keine Rechtfertigung. Keine entschuldigenden Gesten. Nichts, was auch nur im Entferntesten daran erinnern könnte. Auch kein Blick zu ihrer Schwester, als sie an ihr vorbeiging. Nein, es war ein sturer Blick nach vorne.
„Miststück!“, zischte Venus, kurz bevor die Tür hinter Kuraiko ins Raster zurückfiel, wohl wissend, dass sie diese Beleidigung noch vernommen hatte.
„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“, schrie Yuna, sobald ihr Zwilling aus der Trainingshalle war, stapfte mit Wut im Bauch zu ihrer Freundin und stemmte die Hände in die Hüften.
„Wie kannst du Nēsan nur so beleidigen?!“
Venus schnaubte empört aus und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie verzog kurzzeitig ihr Gesicht, als sie dabei an eine empfindliche Stelle kam.
„Was? Ist das das Einzige was dir zu dieser ganzen Situation einfällt?! Das ich deine - gottverdammte - Schwester beleidigt habe?“, herrschte Venus sie an und fruchtete mit den Händen herum.
„Sag mal, auf welcher Seite stehst du überhaupt? Sie hätte aus der Computerratte Hackfleisch gemacht, wäre ich nicht eingeschritten!“
Ihr Blick glitt zu Rainbow, welcher im Laufe der gesamten Konfrontation im Hintergrund geblieben war und nicht ein Mal das Wort erhoben hatte.
Schisser!
„Hast echt super hingekriegt“, sagte sie mit einem sarkastischen Unterton.
„Ich habe instinktiv das angewendet, woran jeder Sportler trainieren sollte: Reflexen. Jeder andere hätte so wie ich in dieser Situation gehandelt. Woher soll ich denn wissen, dass das Mädl gleich psycho wird?“, schnappte Rainbow zurück. Dabei hatte er lediglich mal wieder mit jemanden trainieren wollen, der ihn nicht sofort nach Strich und Faden fertig machte, sondern ihm auch die Chance zum weiterbilden gab. Es grenzte ohnehin schon an ein kleines Wunder, dass er hin und wieder sogar Zeit fand, sich in Form zu halten, aber obwohl er gerne mit Yuna - sofern sie beide mal zur selben Zeit nichts zu tun hatten, was allgemein schon ein seltener Fall war - zusammenarbeitete, war ihm Venus tausendmal lieber, nicht nur, weil die Schwarzharrige eine exzellente Kampfsportlerin war - das war Yuna auch -, sondern hauptsächlich wegen der Tatsache, dass sie ihn einfach besser einschätzen konnte. Die Bluenette bewegte sich auf einem ganz anderen Niveau als er, hob das Kämpfen fast schon auf eine Kunstform hoch, während Venus viel näher an seinem Kampfstil, welcher eher in die Richtung ging, direkt, wuchtig und ohne Verschnörkelungen zu sein, dran war.
„Woher fragst du? - Vielleicht weil sie eine Mors ist?“, fragte sie langsam, so als spräche sie zu einem kleinen Kind.
„Nach deine Begründung gehöre ich auch in die Kategorie hinein“, erwähnte Yuna ruhig. Sie ließ es sich zwar nicht anmerken, aber die ehrlichen Worte ihrer Freundin hatten sie tief verletzt. Was konnte sie schon dafür tun, dass jedermann sie in eine konkrete Schublade stecken wollte? Die Schule teilte sie je nach Noten in gute oder schlechte Schüler, anstatt nach ihren individuellen Fähigkeiten zu gehen. In der Arbeit war es das Gleiche Prinzip. Die, mit der höheren Ausbildung bekamen auch die Jobs mit dem größten Einkommen, während welche mit einem niedrigeren Abschluss, aber auf menschlicher Ebene ebenbürtige, wenn nicht sogar bessere Person auf der Strecke zurückblieb. In der ISAAC wurde man je nach Qualifikation und Zurechenbarkeit in unterschiedliche Stufen unterteilt. Je mehr Können, desto höher auch die Rangordnung. Solange der Mensch mit seinem rationalen Denken, dass jeder etwas für die Gemeinschaft leisten sollte, sich und seine Mitmenschen in verschiedene Gruppen klassifizierte, solange würde es auch Ungerechtigkeit auf dieser Welt geben. Nicht jeder bei den Mors war hochgradig gemeingefährlich, so wie nicht jeder 'Normale' behaupten konnte, er wäre ein von Grund auf guter Mensch.
„Nur weil jemand zu den Mors gezählt wird, bedeute das nicht automatisch, das diejenige Person irre ist.“
Venus verzog das Gesicht. Sie und ihre große Klappe!
„So habe ich das nicht gemeint.“
„Wie dann?“, fragte Yuna scharf nach. Ihr Zünglein plötzlich nicht mehr so lieblich, wie sonst üblich.
„Ich glaube nicht, dass man das falsch verstehen konnte.“
„Gut, fasse es auf, wie du willst!“
Venus hob ihr Arme in die Luft.
„Mir ist es gleich. Mit deiner Schwester stimmt was nicht. Es ist nie und nimmer normal, dass sie die eigenen Leute angreift! Wer macht das schon? - Genau! Jemand, der völlig übergeschnappt ist und nicht mehr Gut von Böse unterscheiden kann!“, entgegnete die Schwarzhaarige hitzig. Sie konnte und wollte nicht verstehen, warum Kuraiko ausgetickt war. Von einer Sekunde auf die andere war sie wie ausgewechselt gewesen, so als habe man einen Schalter betätigt und aus dem schlummernden Bären ein aggressives Muttertier gezaubert. Das war nicht normal. Das war ganz und gar nicht normal!
„Was sie getan hat, war falsch und ich entschuldige mich aufrichtig für ihr Verhalten dir und Rainbow gegenüber, aber so wie du mit der Sache umgegangen bist, war das auch nicht der richtige Weg“, erwiderte Yuna und überging die grobe Beleidigung, anstatt direkt auf diese einzugehen. Es hätte in dieser Situation auch nichts gebracht, wäre sie in die Luft gegangen, außer vielleicht Worte, welche eine jede von ihnen später bereut hätte.
„Sie hat wenigstens gehandelt, anstatt tatenlos danebenzustehen“, erwähnte Rainbow im Hintergrund und trat näher zu ihnen heran.
„Das hat sie“, stimmte Yuna ihm zu, hatte dem nichts entgegenzusetzen. Was Nēsan getan hatte, war falsch gewesen und ohne das Eingreifen von Venus, wäre diese Sache nicht so glimpflich ausgegangen. Sie machte sich Sorgen um ihre Schwester. Große Sorgen. Irgendetwas war geschehen, ansonsten konnte sie sich dieses Verhalten jetzt und von vor einigen Tagen nicht erklären. Zorn. So viel aufgestaute Wut, dass sie sie beinahe in der Luft schmecken hatte schmecken können.
„Dennoch hätte sie nicht so verletzend reagieren müssen. Nēsan ist zurzeit nicht sie selbst. Es rechtfertigt nicht das, was sie getan hatte, erklärt aber aber so einiges.“
„Ach wirklich?“, höhnte Venus. Sie war noch lange nicht damit fertig ihrer Unlust Luft zu verschaffen.
„Nicht sie selbst? Sie benimmt sich wie sonst auch. Psychotisch. Wahnsinnig. Unzurechnungsfähig. Mit den kleinen aber feinen Unterschied, dass sie ihre kranken Tendenzen jetzt nicht nur an unseren Gegnern sondern auch an den eigenen Leuten auslässt“, ritt Venus auf diesem bestimmten Punkt weiter herum.
„Und anstatt sich selbst zu rechtfertigen, läuft dieses feige Huhn davon und lässt dich statt ihrer ins Messer laufen.“
So langsam reichte es Yuna. Nur weil die Anderen nicht sehen konnten oder wollten, dass ihre Schwester besonders war, mussten sie noch lange nicht so voreingenommen und ablehnend sein.
„ Ja und? Ich bin ihre Schwester und ihre Freundin. Natürlich verteidige ich sie, so wie auch dich verteidigen würde! Außerdem hat sie trotz ihrer 'kranken Tendenzen' einen besseren Charakter als du ihn jemals haben wirst. Nēsan ist weder rechthaberisch noch hat sie eine Null-Bock-auf-Nichts-Einstellung. Sie ist anders. Und das ist auch gut so!“
Ohne ein weiteres Wort drehte Yuna sich um und ging.
„Innerhalb weniger als einer halben Stunde hast du dir es nicht nur mit der einen, sondern auch noch mit der anderen Schwester verscherzt. Eine reife Leistung muss ich sagen.“
Venus wirbelte herum und streckte anklagend einen Zeigefinger nach ihm aus.
„Du! Sei gefällst dankbar zu der Person, die dir sprichwörtlich den Hintern gerettet hat!“
Rainbow hob beschwichtigend die Arme.
„Ruhig hier. Ich habe in keinster Weise erwähnt oder dir deutlich gemacht, dass ich nicht dankbar bin. Frauen...“, murmelte der Buntschopf in seinen nicht vorhanden Bart hinein.
„Ganz im Gegenteil, aber du hättest eben nicht gleich so beleidigend gegenüber den Mors und indirekt dem Mädl werden sollen, vor allem weil Yuna dort ja auch mit dabei ist.“
Sie ballte die Faust und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Natürlich wusste, die Schwarzhaarige, dass das kein guter Schachzug von ihr gewesen war, aber sie würde diese Worte auch nicht zurücknehmen, würde sich eine Chance dazu ergeben. Es war die Wahrheit. Nichts als die reine Wahrheit. Kuraiko war verrückt und das nicht auf die schmeichlerische Art, sondern wahrhaftig geistesgestört. Von dieser festgefahrenen Meinung würde Venus auch nicht einen Millimeter abrücken. Sie stand zu ihrem Wort. Entweder Yuna akzeptierte das oder sie ließ es bleiben.
Stonevalley, um die Mittags- bis Nachmittagszeit
Egal, was Kuraiko auch dazu veranlasst hatte in letzter Zeit einem großen Bogen um jegliche schulische Einrichtung zu machen, es war anscheinend vorüber gezogen, denn die kalten Mauern hatte sie wieder. Sie blieb. Nicht einmal die Tatsache, dass ihr treuer Begleiter für einige Tage nicht verfügbar war, änderte dies. Sie blieb. Nicht nur dort, sondern auch nach der Schule sah man sie. Ein Schatten zwar, doch sie war da. Unsichtbar. Im Hintergrund. Stumm. Doch sie war da. Er streckte sich ausgiebig, genoss die Sommersonne auf seiner Haut, während er langsam einen Arm um seinen Kopf legte. Heute war es es angenehmer als die letzten Wochen, wo über 32° im Schatten meistens die Norm übernommen hatten und deswegen war er, wie einige andere, draußen und ließ sich es gut gehen. Wer wusste schon, wie lange diese Hitzeperiode noch andauern würde? Wenn er sich gerade nicht gewaltig täuschte, dann war vor nicht mehr als fünf Sekunden Rainbow aufgetaucht. In Badehose, aber mit Laptop unterm Arm und Headset auf dem Kopf. Er lachte.
Natürlich.
Rainbow ohne ein elektronisches Gerät mit Internetempfang, wäre dem Weltuntergang gleichzusetzen. Der Gedanke allein war schon besorgniserregend!
„He, du Faulpelz. Was ist den so witzig?“
„Klappe“, knurrte er, öffnete aber langsam seine Augen. Lokis schelmisch grinsendes Gesicht strahlte ihm entgegen und machte der Sonne damit ernsthafte Konkurrenz.
„Was haben die dir den ins Essen gekippt?“
Wenn überhaupt möglich, wurde das Grinsen sogar noch breiter. Er war im Begriff nachzufragen, ob die gute Laune etwas mit dem blauen Haarschopf zu tun hatte, welchen er kurz zuvor in Begleitung von Alma in Richtung ihres hauseigenen 'Swimmingpool' hatte gehen sehen.
„Nichts. Bock für ein bisschen 'Erfrischung' zu sorgen?“, fragte Loki Augenbrauen wackelnd. Die Idee war verlockend. Er richtete sich ätzend auf. Das Praktische an ihrem zu Hause war, dass sie mit einem Wasserfall direkt vor der Haustür und dem Vorteil, dass dieser anstatt zu einen reißenden Strom zu werden, in einem großen, natürlichen Becken aufgefangen wurde, eine stets zur Verfügung stehende Quelle haben, sollten sie einmal Wasser für einen besonderen Gebrauch benötigen.
„Holst du die Luftballons, oder ich?“
Loki zog wortlos eine 100er-Packung hervor. Ungeöffnet. Neu.
„Reichen doch, oder?“, fragte er verschmitzt und ließ sie erneut verschwinden, ehe jemand anderes was von ihrem Tun mitbekam.
„Wenn nicht: Ich hab, bevor sie alle Wasserpistolen konfiszieren konnten, ein halbes Duzen in Sicherheit bringen können.“
Manchmal versuchte man ihnen - in erster Linie war hier Loki gemeint - jegliche Streichutensilien zu entziehen. Eine schier unmögliche Aufgabe, da die Verstecke von Mal zu Mal wanderten und überall sein konnten, trotzdem machte man unermüdlich weiter.
Er lachte.
„Hab doch gewusst, dass du irgendwo noch welche hast.“
Sie sprachen gedämpft, wollten keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Glücklicherweise war jeder, der sich wie sie draußen aufhielt, mit sich selbst beschäftigt, anstatt darauf zu achten, was die beiden Scherzkekse nun schon wieder an Schabernack ausheckten. Circa eine halbe Stunde später war es endlich soweit. Die erste Person, welche ihnen zum Opfer fiel, war - wie sollte es auch anders sein? - Rainbow. Der arme Kerl hatte es sich auf einem mitgebrachten Handtuch gemütlich gemacht und nichtsahnend an einem Bericht geschrieben, als Loki ihn von hinten mit einem Wasserballon am Rücken traf und ihm deswegen vor Schreck beinahe der Laptop vom Schoss fiel.
„Bist du noch ganz bei Trost?!“, brüllte Rainbow, legte den Laptop zur Seite und stand wütend auf. Prompt bekam er eine Salve Wasser ins Gesicht.
„Loooki!“
Genannter rannte laut lachend davon, dicht gefolgt von einem wutentbrannten Buntschopf. Indessen hatte sein dunkelblonder Freund die Gelegenheit ergriffen und sich an zwei ahnungslose Mädchen herangeschlichen.
„Erfrischung gefällig?“
Mit diesen Worten warf er zwei Ballons auf das Duo und trat schleunigst den Rückzug an, jedoch nicht ohne sich zuvor noch einmal umzudrehen und mit der voll aufgefüllten Wasserpistole die beiden abzuspritzen. Wenn er schon einen auf den Deckel bekommen würde, dann sollte es sich gefälligst auch lohnen!
„Loki!“, rief er zu seinem Partner hinüber, welcher zwar in dergleichen brenzligen Lage steckte, wie er selbst, jedoch mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass sein Freund nur Rainbow auf den Fersen hatte, wohingegen er das reizende Vergnügen hatte sich mit Yuna und Alma zeitgleich herumplagen zu dürfen.
„Phase zwei!“, antwortete ihm dieser, nicht minder brüllend, und sprintete zum Ufer. Er nickte und beeilte sich von diesen wild gewordenen Furien schnell wegzukommen. Phase zwei ihres genialen Plans beinhaltete im Großen und Ganzen eigentlich das Gleiche, wie in der ersten Phase, nur dass sie ihre Verfolger nun gegeneinander hetzten wollten, um dann mitten im Getümmel still und heimlich auf Tauchstation zu gehen - und das war hier wortwörtlich gemeint! Die Idee hätte auch funktioniert - hätte -, wäre Alma nicht plötzlich aufgefallen, dass zwei bestimmte Personen fehlten.
„Stopp!“, rief sie und blickte sich nach allen Seiten um. Der 'Vorfall' war nicht lange unentdeckt geblieben. Die, die das Glück hatten, dieses Mal nicht in den Schabernack dieser beiden Scherzkekse verwickelt zu sein, schauten interessiert, aber mit gehörigem Abstand vom eigentlichen Geschehen, zu ihnen herüber. Alma machte ein finsteres Gesicht. Jeden sah sie, nur die gesuchten Übeltäter nicht. Es war nicht so, als das sie dieser Streich großartig aufregte, nein, es war sogar einer der humaneren Scherze der Beiden, anders als der Vorfall mit der pinken Farbe, doch was sie daran nervte, war die Tatsache, dass sie sie in einem wichtigen Gespräch mit Yuna gestört hatten. Es war gerade so schön interessant geworden!
„Wo sind die Zwei hin?“
„Was?“, grollte Rainbow, nahe dran Hackfleisch aus ihnen zu machen, obwohl die Mädchen ja allgemein nichts für die Wasserattacke konnten. Waren sie doch selbst auch Opfer einer solchen gewesen!
„Wie, bitte?“, fragte Yuna enteistet. Ihr Blick wanderte umher. Tatsächlich! Waren sie doch wirklich abgehauen! Indessen waren die beiden Strolche, von welchen die Rede war, auf der anderen Seite des natürlichen Beckens wieder aus dem kühlen Nass aufgetaucht. Hier drüben, wo das Land nichts mehr war, als ein geringfügiger Streifen mit einer wilden und nahezu unberührter Vegetation, war man völlig von der anderen Seite abgeschottet, außer man schwamm jedes Mal aufs Neue durchs Wasser. Im Winter, wenn es denn mal kalt genug war, konnte sogar eine so dicke Eisschicht entstehen, dass man darauf ohne Probleme Schlittschuhlaufen konnte. Die letzten Jahren war das jedoch eher rar geworden.
„Dort! Dort drüben!“
Das männliche Duo sah sich erschrocken an. Das hatten sie nicht kommen sehen!
„Oh shit!“, kam es wie aus einem Mund, als sie sahen, dass die anderen ins Wasser sprangen und zu ihnen hinüberschwammen. Nun, ihr ach so toller Fluchtplan, war wohl nach hinten losgegangen, denn was sie im Eifer des Gefechts nicht mit eingeplant hatten, war, wie sie - einmal am Zielort angekommen - wieder zurück sollten, ohne sofort von ihren drei wütenden Freunden grimmig erwartet zu werden, oder wie sie dann vorgingen, sollten sie ihnen hierher folgen. Ein klarer Fall von: dumm gelaufen.
„Wir sind geliefert.“
Stonevalley, Nacht
Jemand ließ sich plump neben ihr zu Boden fallen.
„Hier.“
Die Person streckte ihre eine Hand mit einem Glas Limonade aus. Wortlos und ohne Aufzublicken nahm sie das Getränk entgegen, genehmigte sich einen Schluck, eher ihr Blick wieder in den klaren Nachthimmel wanderte.
„Du hast ganz schön für Aufregung gesorgt, habe ich gehört“, durchbrach er die Stille und sah ebenfalls zu den Sternen hinauf. Es war angenehm warm, selbst jetzt noch, wo die Nacht schon längst über sie hereingebrochen war.
„Nach Auffassung von Venus hättest du Rainbow erstickt, wäre sie nicht für ihn in die Breschen gesprungen.“
Er seufzte, nachdem erneut kein Laut über ihre Lippen drang und fuhr sich durch das rabenschwarze Haar.
„Kuri. Du hättest ihn töten können“, sagte Ranu eindringlich, ein letzter Versuch sie zum Reden zu bewegen. Kuri nutzte die Gelegenheit nicht, machte nicht einmal den Anschein, ihn überhaupt gehört zu haben, obgleich er gleich neben ihr saß. Es wunderte ihn nicht. Sie war zwar hier, aber gleichzeitig auch nicht, körperlich da, doch geistig völlig woanders. Einmal in ihre eigene kleine Welt zurückgezogen, war es schwer sie von dort wieder hervorzulocken und er konnte mit Stolz sagen, dass er neben ihrer Schwester der Einzige war, der ohne große Mühen aufzubringen, zu ihr durchkommen konnte. Anders sah es dagegen aus, wenn sie sich in ihrer kleinen Welt verlor und nicht mehr von allein zurückkam. Sein Verdienst. Er war Schuld. Er allein. Doch bist jetzt hatte sie stets von allein zurückgefunden, auch wenn es von Mal zu Mal knapper und ihr Geduld langsam aber sicher zu einem zu oft schon nachgebesserter Faden wurde.
„Kuri?“
Ranu verurteilte sie nicht. Wo andere erbost aufstanden und auf die Barrikaden gingen, blieb er ruhig sitzen, hörte sich geduldig das an, was sie gewillt war preiszugeben und gab ihr stillen Beistand, unterstützte sie durch seine bloße Anwesenheit. Er legte eine Hand auf ihr Schulter. Sie spannte sich unter seinen Fingern an. Ihr Griff am Glas ähnelte einer Anakonda, welche gerade ihr nächste Mahlzeit umschlugen hatte.
„Hätte, aber ich habe ihn nicht getötet. Etwas, was Venus zu vergessen scheint. Sie hätte nicht eingreifen sollen. Ich war zurück. Es ist nicht meine Schuld, wenn sie einen Kampf austragen wollte, dem sie in keinster Weise gewachsen ist.“
Ruckartig drehte sie ihren Kopf zur Seite. Im faden Lichtschein fanden ihre Seelenspiegel die Seinen und sogen ihn in den Strudel ihrer wirren Gefühle hinein.
„Venus ist ignorant. Ein arrogantes Ding, welches glaubt, nur weil sie den schwarzen Gürtel in Taekwondo sowohl als auch Judo trägt, bei den ganz Großen mitspielen zu können. Töricht. Ebendiese Torheit wird irgendwann ihr Untergang sein. Hätte sie mich gesehen, anstatt den geglaubten Wahnsinn, so wäre ihr aufgefallen, dass ich im Begriff war, ihm die Freiheit zurückzugeben.“
„Kuri...“
„Ich wusste, dass es Rainbow war, dennoch habe ich reagiert. Ich habe es gewusst und trotzdem weitergemacht. Ich wusste es, doch ich habe ihn nicht gesehen“, betonte sie und verschloss ihr Gesicht vor seinen Augen. Ihre Stimme wurde seltsam leer und ausdruckslos. Ihm wurde klar, was jetzt kommen würde. Von Anfang an schon hatte er eine gewisse Ahnung gehabt und nun wurde es bestätigt.
„Ich habe nicht Rainbow gesehen, sondern ihn. Ich habe dem Zorn die Oberhand gegeben und mich darin verloren. Das ist mein Fehler. “
Der Präsens ging weder an ihm verloren, noch war er sich dessen Bedeutung nicht nicht bewusst. Ranu ballte seine Faust. Es wurde schlimmer. Wie lange noch, bis selbst nicht mal mehr er oder Yuna gefahrlos zu ihr durchkommen konnten?
„Aus Fehlern lernt man.“
Sie sah ihn an. Ihre Maske bekam einen Sprung. Ein leises Lächeln erblühte. Viele missverstanden sie und machten sich nicht die Mühe hinter den Wahnsinn zu blicken, der sich ihnen bot, doch genau das war deren Fehler. Kuraiko war ein wunderbarer Mensch. Besonders.
„Ja. So ist es“, sagte sie und sah erneut hinauf in den Himmel.
„Ich verstehe, warum meine Schwester so fasziniert ist vom Weltall. Es ist endlos, wunderschön und unerreichbar.“
„In paar Jahrzehnten vielleicht mehr.“
Der Themenwechsel war erfrischend, milderte die erdrückende Stimmung und gab ihnen Zeit, sich neu zu sammeln.
„Vielleicht“, stimmte sie ihm zu.
„Vielleicht aber auch nicht.“
Ranu lächelte, dachte an vergangenen Zeiten zurück.
„Weißt du noch, als wir in jeder freien Nacht aufs Dach hoch sind, nur um die Sterne anzusehen und Adrien uns mit abenteuerlichen Geschichten und Limo versorgt hatte, obwohl ihm ausdrücklich verboten wurde, uns nach dem Abendessen mit süßen Getränken und Essen zu versorgen? Das hier-“
Er gestikulierte auf sie beide, die Gläser in deren Händen, um sie herum und in die Nacht hinaus.
„Es erinnert mich daran. An früher.“
Wo alles noch besser, die Zeiten nicht so rau und ein glückliches Lächeln noch nicht so rar war. Wo jeder noch am Leben war. Angefangen mit Adrien, gefolgt von Cadiem, seiner Frau Loreley und all den anderen aus der TEF. Sie waren eine Familie gewesen. Allen van Dryar war ein Teil dieser gewesen und doch hatte er sie eiskalt verraten.
„Ja“, flüsterte sie. Ein Kichern entkam ihren Lippen. Er stoppte in seiner Bewegung. So ein Lachen hatte es aus ihrem Mund schon langen nicht mehr gegeben.
„Wann immer Loreley bemerkte, dass Adrien ihr Verbot außer Acht gelassen hatte, war sie sofort zu Stelle und verpasste ihm mehrere Kopfnüsse und - wenn ihr danach war - gab es immer das 'Spezial'-Training, vor dem sich immer alle gefürchtet hatten.“
„Das, vor dem sogar Cad Angst hatte?“, fragte Ranu. Er erinnerte sich daran, dass selbst Cadiem jedes Mal aufs Neue erschauderte, wann immer dieses geheimnisvolle Training von seiner geliebten, wenn auch manchmal sehr einschüchternden, Ehefrau auch nur im Ansatz erwähnt wurde. Ihnen, den 'Kleinen' oder besser gesagt: ihm und Kuri hatte man nie erklärt, was es überhaupt genau damit auf sich hatte, nur dass es ein Erlebnis war, welches man nicht, eher um keinen Preis der Welt, wiederholen wollte. Warum dann Adrien ein immer wiederkehrender Gast dieser schaurigen Sache war, ja es sogar in gewisser Weise - mit einem strahlenden Lächelnd auf dem Gesicht - regelmäßig darauf anlegte - nun, dass war eine Frage, dessen Antwort man nicht mehr in dieser Sphäre finden konnte.
„Cadiem hatte immer Angst wenn Loreley wütend wurde. Sie war nicht ohne Grund Blood Mist - Loreley genannt worden.“
„Dennoch liebte Adrien es, sie zu reizen. Anders lassen sich seine waghalsigen Unternehmungen nämlich nicht erklären.“
„Hast du seinen Namen etwa schon vergessen?“
Ein leicht traurige Note flog in ihren Worten mit.
Ranu schüttelte den Kopf.
„Nein. Nein, habe ich nicht.“
Wie konnte er es auch? Er schluckte hart.
„Daredevil Adrien.“
Auch für ihn war es nicht immer leicht, über Adrien zu sprechen. Egal, wie viele Jahre schon seit seinem Tod vergangen waren, keine Zeit der Welt würde je diese Lücke in seinem Leben füllen, noch Kuris immensen Schmerz verblassen lassen können. Es war ein Teil von ihnen. Sowie das Herz ein Bestandteil ihrer Körper waren, ohne welches sie nicht überleben konnten, so war die Zerstörung von TEF und gleichsam damit verbunden der Tod von Adrien eine Erinnerung, ohne welche sie nicht die Personen geworden wären, die sie nun waren.
„Ein Draufgänger durch und durch.“
Er lächelte sie traurig an. Die Gedanken wanderten. Beide kamen wohl zum selben Entschluss, denn ihre Gesichter waren Spiegelbilder voneinander.
„Immer.“
Stonevalley, Nachmittag
„Mister Hermes.“
Der Mann sah von seinen Unterlagen auf. Er sah auf seine Uhr. Huh? Wo war die Zeit nur hingegangen?
„Ah. Uranus. Komm, setze dich doch bitte.“
Er bedeutete dem Genannten auf einen Stuhl Platz zu nehmen und ordnete hastig seine Unterlagen.
„Entschuldige für das Chaos hier, aber ich hatte die vergangen Tage viel zu tun und wenig Zeit für anderes.“
„Es gibt nichts zu entschuldigen.“
Uranus folgte der Einladung des Älteren ohne Umschweife. Je schneller sie fertig wurden, desto eher konnte er mit Kuri die ausstehende Trainingseinheit nachholen. Eine schnellere Besprechung wäre in Anbetracht der Tatsache, dass beim letzten Mal Kuraiko beinahe für Todesopfer in den eigenen Reihen gesorgt hätte, wünschenswert, dennoch war ihm der Ernst der Lage, in welcher sie sich gerade befinden, durchaus bewusst. Wozu sonst hätte man ihn kurzfristig und allein losgeschickt, wenn er seit der Auflösung von TEF so gut wie keine Einzelmissionen mehr übernahm?
„Sie wollten mich sprechen“, begann der Schwarzschopf, kaum dass er sich niedergelassen hatte und legte seine Hände locker in den Schoss.
„Ja... ja wollte ich...“
Mister Hermes verlor sich in seinen Gedanken. Ein verhaltendes Räuspern holte ihn zurück in die Wirklichkeit.
„Oh, entschuldige vielmals.... wo war ich nochmal stehen geblieben? - Ah! Stimmt genau!“, rief er aus. Mit den nächsten Worten wurde sein Ton ungewöhnlich ernst. Kurz und knapp, erklärte der Mann seinem jungen Gegenüber, dass während dieser auf seinem Auftrag unterwegs war, weitere Informationen bezüglich der Menschenexperimente in Rumänien aufgetaucht waren. Hinweise, welche zugleich im indirekten Zusammenhang mit seinem Auftrag in Russland standen. Es war nämlich ein neuer Vorfall aufgetaucht, dessen Vertuschung vor der breiten Öffentlichkeit beinahe nicht möglich gewesen wäre, aufgrund dessen, dass niemand damit gerechnet hatte, noch es zuvor in den gesammelten und zusammen getragenen Unterlagen einen Hinweis darauf gab, dass solche Einrichtungen auch auf anderen Kontinenten beheimatet waren, als nur dem Eurasischen. Was Mister Hermes nun von Uranus wollte, lag klar auf der Hand:
„Ich möchte, dass du nach Kanada gehst und dort nach weiteren Anhaltspunkten Ausschau hältst. Im Moment ist das unsere einzige heiße Spur zum Untergrundnetzwerk.“
„Bei allem Respekt, Mister Hermes. Nur weil ich aus Kanada komme, heißt das noch lange nicht, dass ich dort bessere Chancen haben, als jemand, der nicht dort geboren ist. Wir Menschen sind von Natur aus misstrauische Wesen und ein Jugendlicher, welcher plötzlich in einer fast gottverlassenen Gegend auftaucht und Nachforschungen anstellt, ist sicherlich nicht minder verdächtig, als ein Erwachsener, dessen neugierige Nase man schon meilenweit davor sehen kann.“
Sein Einwand war berechtigt, allerdings schon im Vorfeld von Mister Hermes berücksichtigt worden.
„Andererseits vertraut man einem kindlichen Gesicht mehr, als einem Erwachsenen“, entgegnete Mister Hermes.
„Du kennst die Leute, kennst die Gegend und weißt, wie du dich verhalten musst, um nicht großartig aufzufallen. Ich würde einen der Zwillinge schicken, wenn ich dich nicht für besser und geeigneter hielte, aber beide sind zur Zeit... unpässlich.“
Uranus verschränkte die Arme und lehnte sich ein wenig nach hinten zurück.
„Sie nehmen Kuri wegen dem Vorfall aus dem Dienst?“, fragte er nach, traf mit seiner Äußerung wohl direkt ins Schwarze, denn für einen Moment verlor Mister Hermes sein Strahlen.
„Wie bitte?“, fragte der Mann bestürzt nach.
„Nein.“
Er schüttelte den Kopf.
„Wieso kommst du nur darauf? Gewiss, sie hat sich mit dieser Aktion nicht mit Ruhm bekleckert, doch ich würde niemals daran denken, sie von der Aktiv-Liste zu nehmen.“
Obgleich er versucht gewesen war sie für einige Zeit aus dem aktiven Dienst zu suspendieren, hatte er sich dagegen entschieden. Ganz einfach aus dem Grund, weil es nichts daran ändern würde, dass sie trotzdem loszog, um ihre ganz eigene Art von Gerechtigkeit in der Welt zu verbreiten. Nicht zu vergessen: Ihr ungestillter Hunger nach Rache, welcher sie nicht ruhen lassen würde. Er mochte zwar nach außen hin unbeschwert und entspannt wirken, doch er verschloss seine Augen nicht vor der Welt. Jeder machte einmal Fehler - bei Gott, er selbst bestimmt kein Unschuldiger, was das anbelangte -, doch wie seine Vorgesetzten mit den Verfall der TEF umgegangen waren oder vielmehr dabei alles falsch gemacht hatten, war schlichtweg ungeschickt und ohne Verstand gewesen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt mit der TEF zwar nur ein- bis zweimal zu tun gehabt, aber selbst da hatte er schon die besondere Dynamik dieser Einheit bemerkt. Keiner von diesen Männern und Frauen hatte an einen Maulwurf in den eigenen Reihen gedacht. Einer für alle, alle für einen. Ein 'Dazwischen' gab es nicht.
Doch wer war er schon, dass er die Entscheidungen seiner Vorgesetzten in Frage stellte? Es nützte nichts sich über das
„Was wäre wenn...“
Gedanken zu machen, wenn es nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte. Was geschehen war, war geschehen.
„Sie vielleicht nicht, aber die Führungsriege schon.“
„Solange es sich nicht um schwerwiegende Dinge handelt, fällt ihr unter meinen Aufgabenbereich.“
„Ein Teammitglied zu verletzen, wenn auch unbeabsichtigt, fällt - soweit ich informiert bin - unter die Kategorie 'schwerwiegend'“, erwiderte Uranus trocken. Sein Blick war aufmerksam auf das Gesicht seines Gegenüber gerichtet.
„Nun“
Mister Hermes kratzte sich am Kinn.
„Das ist natürlich auch wieder wahr“, murmelte er gedankenverloren. Uranus verfolgte alle seine Bewegungen. Mister Hermes heckte etwas aus, dass konnte man in den intelligenten Augen des Mannes sehen und Uranus wollte so wenig, wie möglich damit zu tun haben. Ein Ding der Unmöglichkeit, da er höchstwahrscheinlich mitten drin im Geschehen war.
„Aber Kuraiko aus dem Verkehr zu ziehen, wäre die falsche Entscheidung, oder nicht?“
Keine Antwort. Mister Hermes lachte.
„Solch Loyalität... Wenn man allerdings eure gemeinsame Vergangenheit berücksichtigt, ist das selbstverständlich keine Überraschung.“
Der Dunkelhaarige wurde ungeduldig und trommelte mit den Fingern auf seiner Stuhllehne herum. Obgleich er versucht war, wusste er es besser, als auf diese Provokation zu reagieren.
„Kommen Sie zum Punkt, Mister Hermes.“
Erneutes Lachen.
„Die Jugend heutzutage... immer auf glühenden Kohlen - so scheint es.“
Mister Hermes seufzte.
„Kuraiko ist aktiv mehr von Nutzen, als wenn sie suspendiert und damit unter Hausarrest stehen würde. - Wieso dieser erstaunte Blick, mein Junge?“
Ja warum? Im Endeffekt war Mister Hermes nicht besser als der Rest der ISAAC. Das Wohl aller über dem des Einzelnen. Wenn dafür einige Regeln nicht so genau genommen oder Tabus gebrochen wurden - wen kümmerte das schon? Alles im Namen der Gerechtigkeit. Wer ernsthaft diesen Worten Glauben schenkte, war entweder dümmer als Brot oder so naiv, wie ein junges und unschuldiges Mädchen.
„Sie ist eine exzellente Agentin. Zwar nicht gerade sozial oder übermäßig freundlich, dafür aber schnell und effektiv, was das Erledigen eines Jobs anbelangt. Deswegen lasse ich auf ihren kleinen Kontrollverlust auch keine Konsequenzen folgen. Wie schon gesagt: Ihr fallt unter meinen Aufgabenbereich.“
„Venus wird sich das nicht gefallen lassen.“
„Oh?“, merkte Mister Hermes erstaunt an.
„Selbst wenn sie - und das ist doch deine Sorge, nicht wahr? - sich an meine Vorgesetzten wendet, Kuraiko hat niemanden getötet. Nicht einmal Blut ist geflossen. Ein paar blaue Flecken und Blutergüsse? - Ach, so etwas kommt schon mal im Eifer des Gefechts - oder wie in diesem Fall: Übungskampf - vor. Das ist nichts Weltbewegendes. Schlussendlich sind Venus' Anschuldigungen also nichts weiter als der Versuch Kuraiko vor den Augen andere als eine wahnsinnige und nicht zurechnungsfähige Person darzustellen. Es wird als Eifersucht abgestempelt und ad acta gelegt.“
Der ISAAC-Korrespondent konnte zwar dem Verhalten des burschikosen Mädchen sehr gut nachempfinden, doch er musste zu Gunsten der Organisation entscheiden und da schnitt Venus in puncto Nützlichkeit einfach schlechter ab als Kuraiko.
„Wenn sie das sagen“, erwiderte Uranu gleichgültig. Eines musste er Mister Hermes lassen, Gesprächsverläufe so manipulieren, dass es ein Ding der Unmöglichkeit wurde, zurück zur eigentlichen Ausgangslage zu kommen, dass konnte der Mann ohne Zweifel mit Bravour.
„Natürlich will ich das so sagen“, entgegnete Mister unwirsch und machte mit seiner Hand eine wegwischende Geste.
„Lassen wir das jetzt. Wir haben uns lange genug mit Belanglosem aufgehalten. Kommen wir zurück zu den wichtigeren Dingen...“
Uranu richtete sich sich in seinem Sitz auf und beugte sich leicht nach vorne.
„Nimmst du den Auftrag an oder muss ich dir einen direkten Befehl geben?“
Stonevalley, Nachmittag bis früher Abend
Nach dem Vorfall im Trainingsraum, von welchen nun absolut jeder wusste, da Venus sich lautstark über Tage hinweg darüber aufgeregt hatte, war die Stimmung angespannt, sobald eine oder alle beide sich an einem Ort befanden. So mancher fand sich in der Zeit ein paar Monate zurückversetzt, wo es der andere Zwilling und ein anderes Mädchen waren, die sich einen Kleinkrieg vom Feinsten geliefert hatten. Nichts im Vergleich hierzu, da die Aggression einzig und allein von Venus ausging und Kuraiko sich mit einer Parade der unbeweglichen Gesichtszüge dem beispiellos entgegensetzte. Sie ließ sich durch nichts, aber auch gar nichts, was Venus an wüsten Beschimpfungen auch von sich gab, provozieren. Zweifelslos eine Meisterleistung, aber eine, welche im Gegenzug für nur leider noch mehr Feuer im Ofen sorgte.
„Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es einfach nicht!“
Wenn Venus nur einmal erklären würde, warum sie es nicht verstand, dann wäre ihnen damit sehr geholfen. Die Schwarzhaarige wiederholte diese Worte seit nun schon über zehn Minuten ununterbrochen vor sich hin.
„Argh! Verdammt!“
Eine geballte Faust landete auf dunklem Holz.
„Was hat dir den der arme Tisch getan?“, fragte Loki von seinem Sitzplatz aus und spielte gelangweilt mit einem Stift in seiner Hand umher. Warum war es ausgerechnet heute so ruhig? Keiner hatte irgendwelche Beschwerden. Als Strafe für die Wasserattacke vom letzten Freitag wurde ihm bis zur Wanderwoche untersagt jegliche Art von Schabernack zu treiben, sollte er oder sein Freund sich nicht daran halten, müssten sie für mehrere Wochen als wandelnde Zielscheiben für Almas Training herhalten. Selbst aus dem Krankenflügel war er bis auf Weiteres verbannt worden, da die Doc zurzeit an einer streng geheimen Sache für die ISAAC arbeitete und er deswegen dieses Eck im Valley nicht mehr betreten durfte.
Venus funkelte ihn an.
„Warum ist es, dass sie mit allem davonkommen kann und du beim kleinsten Fehltritt sofort einen auf den Deckel bekommst?“
Natürlich. Kuraiko. - Weswegen sonst regte sie sich auch so auf?
Er zuckte mit den Achseln.
„Kein Plan. Was interessiert mich das? Kuraiko ist-“
„Kuraiko. - Ja, ich weiß das“, unterbrach sie ihn schroff. Was nützte es aber einem, wenn sie loyal zu ihrer Familie und ihren Freunden war, aber nicht auch - wie angenommen - zu ihren Verbündeten?
„Aber ich habe was Neues für dich: Sie unterscheidet neuerdings nicht mehr, sie greift grundlos an oder hat sie das etwa schon einmal vor meiner Abwesenheit getan?“, fragte Venus giftig. Verstand denn keiner, dass Yunas Zwilling mit dieser Aktion gegen Rainbow und sie nun eindeutig alle Linien überschrittenen hatte?
„Ich versteh ehrlich gesagt nicht, warum du dich so aufregst? Jedem brennen mal die Sicherungen durch oder willst du etwa behaupten du hast nicht mal stärker als eigentlich nötig bei Übungskämpfen zugeschlagen?“
Er verteidigte nicht unbedingt Kuraiko, sondern allgemein die Tatsache, dass jeder schon einmal - aus welchen Gründen auch immer - etwas härter zur Sache gegangen war, wenn ein freundliches Sparring auf dem Programm stand.
Venus sah dies aber anders.
„Das ist nicht der springende Punkt! Sie hat nicht aufgehört! Ich musste sie von Bow herunterzerren, ansonsten hätte sie ihm die Luft abgedrückt!“
Sie sprang von ihrem Stuhl auf und ging energisch auf und ab.
„Und alles was sie bekommt, ist eine verbale Verwarnung! Eine. Gottverdammte. Verwarnung! Hätte jemand anderes so einen Mist abgezogen, wäre diejenige Person für mindestens drei Monate vom aktiven Dienst suspendiert, zu Schreibtischarbeit verdonnert worden und eine sechsmonatige Probezeit hätte es obendrauf gegeben! Aber nein! Alles was es braucht, ist mit zwei Schwertern herumfuchteln zu können und auf den Namen Kuraiko zu hören! - Schon werden beide Augen zugedrückt und so getan, als ob nichts passiert wäre!“, spie Venus zu guter Letzt harsch aus und holte mit dem nächsten Atemzug tief Luft. Die Schwarzhaarige war noch lange nicht am Ende ihrer Schimpftirade angekommen. Wenn die anderen sich das weiter gefallen lassen wollten - nur zu! Sie gehörte nicht mehr zu diejenigen, die eine solch offensichtliche Bevorzugung gegenüber gewisser Einzelpersonen tolerierte. Sie war doch nicht auf den Kopf gefallen!
„Es nervt langsam“, schaltete sich nun eine neue Stimme in das Gespräch mit ein. Überrascht sahen die Zwei auf. Vor ihnen stand Hurricane mit verschränkten Armen. Das strahlende Weiß sah ungewohnt an ihm aus. Seinen alten Laborkittel hatte er vor wenigen Tagen endgültig entsorgen müssen, nachdem das abgewetzte Ding einem Säure Experiment zum Opfer gefallen war.
„Nur weil die dich in der Wüste nicht für wirklich voll genommen haben, brauchst du hier nicht plötzlich so auf Krawall gebürstet sein.“
Er hatte den Nagel auf dem Kopf getroffen.
„Das hat nichts damit zu tun. Ich-“
„Erzählt keinen Scheiß! Wenn das ich gewesen wäre, hätte ich denen eine Stange gutes altes Dynamit in den Arsch geschoben, anstatt mir das Maul verbieten zu lassen!“
Oh ja, das hätte er definitiv getan. Mit Autoritätspersonen und Vorgesetzten hatte er noch nie gut Kirschen essen können und wenn ihm einmal etwas nicht passte, dann sagte er das auch. Nicht selten gab es dafür auch schon mal einen Freifahrtschein ins Direktorat oder zu Mister Hermes, doch was kümmerte ihn das schon großartig? Respektierte man ihn nicht, so konnte man auch gleich vergessen, dass er nach seiner oder ihrer Pfeife tanzte.
„Stattdessen hast du wie ein kleines Schulmädchen brav deine große Klappe gehalten und zu allem Bitte und Amen gesagt. Bist wohl doch nicht so hammerhart, wie du immer tust, Prinzessin.“
Eine Faust flog auf ihm zu. Ihren Angriff hielt er mit der bloßen Hand auf.
„Da kann ja selbst die Computerratte fester zuschlagen!“, spottete Hurricane herablassend.
„Sicher, dass nicht er der Stärkere von euch Beiden ist?“
„Leck mich!“, fauchte die Schwarzhaarige und holte mit dem anderen Arm aus, doch auch diese Attacke wurde mit einer Hand aufgehalten.
Cane schüttelte belustigt den Kopf. Und da sagte man doch tatsächlich, dass er ein Aggressionsproblem hätte!
„Dich, Prinzessin? - Du leidest ganz offensichtlich an Realitätsverlust“, grinste er belustigt, zeigte eine Reihe weißer Zähne.
„Dein Fehler ist es, dass du dir immer die Falschen zum Kämpfen aussuchst. Wie erklärt es sich sonst, dass du erneut mit dem Rücken zur Wand stehst?“
Deswegen kam sie mit dem Chemiker nicht aus. Seine Worte waren selten weit entfernt von der Wahrheit.
„Ich denke, dass du zu viele giftige Dämpfe in deiner Chemiefabrik da unten eingeatmet hast, Cane“, konterte Venus. Obgleich es in ihrem unbeweglichen Zustand nicht gerade von Vorteil war, die Person vor sich noch weiter zu reizen, tat sie es aus reiner Dickköpfigkeit dennoch.
„Genau das meine ich“, sagte er nonchalant. Für einen Moment sah es danach aus, als würde er er ihr eine Lektion erteilen wollen, doch stattdessen ließ er sie los.
„Große Klappe - Nichts dahinter. Ich sage es nur einmal, Prinzessin: Geht dieses Drama weiter, werde ich derjenige sein, der dir eine Lektion erteilt. - Und glaube kaum, dass ich dich da mit Samthandschuhen anfassen werde.“
Venus bebte, ihr Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepresst, trotzdem ergriff sie kein einziges Mal das Wort oder hob ihren Blick vom Boden auf. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, so fest, dass man die Knöchel schon weiß hervortreten sehen konnte. Im Aufenthaltsraum wurde es totenstill. Es war, als hätte jeder das Atem eingestellt, nur um auf die Reaktion der Schwarzhaarigen zu warten. Sie wurden nicht enttäuscht. Plötzlich machte nämlich Venus auf der Stelle kehrt und ging schnurstracks in Richtung Ausgang. Sie glich einem kaum zu bändigen Sturm. Ihre Schritte hallten auf dem kalten Steinboden nach, wie Donnergrollen.
„Du hättest nicht gleich so hart mit ins Gericht gehen sollen“, ermahnte ihn eine weibliche Stimme und diejenige Person trat aus dem Halbdunklen heraus. Ihre ungleichen Augen verharrten für einen Moment auf dem Eingang, ehe sie sich aus dem versteckten Zauber lösten und den Blick auf ihn richteten.
„Vorsicht, sonst wird Bow bald nicht nur die eine, sondern auch noch die andere Schwester dafür verfluchen, unauffindbar und aufspürbar zu sein.“
Yuna wischte seine 'Bedenken' fort, wie unsichtbarer Staub und ließ sich an dem Platz nieder, wo vor weniger als zehn Minuten noch Venus gesessen hatte.
„Bis ich so schlimm bin wie Nēsan, ist Rainbow längst im Ruhestand.“
Ein lautes Lachen ertönte.
„Ha ha. Nicht so schüchtern!“, sagte er dröhnend und schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel.
„Aber ich verstehe schon. Bow soll ja immerhin noch eine minimale Chance darauf haben, nicht schon vor seinem 20. Geburtstag in eine Psychiatrie eingeliefert zu werden.“
Yuna warf ihm einen gespielt schockierten Blick zu.
„Hurricane! Schäm dich!“, 'schimpfte' sie ihn aus.
„Er ist unser Teamkollege! Ein bisschen mehr Respekt bitte!“
„Ach“, winkte dieser nur lässig ab.
„Der kann des schon aushalten.“
„Vielen Dank. Ich wusste gar nicht, dass du soviel Vertrauen in mich hast“, tönte es sarkastisch aus den Lautsprechern direkt über ihnen. Von Zeit zu Zeit war es wirklich nervig, dass sie im Valley so hohe Sicherheitsvorkehrungen besaßen und Rainbows Stellung machte es auch nicht unbedingt einfacher diese Maßnahmen zu akzeptieren. Er wusste praktisch alles. Alles, was sich nicht in den privaten Räumen oder den sanitären Anlagen abspielte, um genau zu sein. Jedoch war er zu anständig und moralisch gut erzogen worden, als das er seine Position für niedere Zwecke missbrauchen würde. Es war dennoch erschreckend zu wissen, dass die Möglichkeit durchaus gegeben wäre. Ein Glück, das Rainbow sich viel zu sehr über gewisse Menschen aufregen musste, als dass er Zeit dafür hätte überhaupt einen Gedanken an so etwas zu verschwenden.
„Hört, hört! Big Brother spricht“, sagte Cane unbekümmert und grinste breit in die nächstgelegene Kamera.
Ein undefinierbares Grunzen war zu hören.
„Na los. Spucks schon aus. Warum beehrst du uns mit deiner Anwesenheit, Vier-Auge?“
Hurricane bekam einen leichten Klaps auf den Hinterkopf.
„Habe ich nicht vor wenigen Augenblicken erst um mehr Respekt anderen gegenüber gebeten?“
Für Yuna zählte Respekt über alles. Ohne Respekt konnte es ihrer Meinung nach auch kein Vertrauen geben und Vertrauen war in deren Metier wichtig, nein sogar überlebensnotwendig. Es war ihr durchaus bewusst, dass Hurricane lediglich herumalberte und sehr wohl seinen Kameraden mit Respekt gegenübertrat - sofern sie sich diesen auch verdient hatten -, trotzdem kam sie nicht umhin ihn zurechtzuweisen. Alte Gewohnheiten ließen sich eben nicht so leicht abstellen.
„Schon in Ordnung, Yuna. Es ist Teil seines Charakters ein Arsch zu sein. Weswegen ich eigentlich aber hier bin, ist, dass du für eine kleine Mission benötigt wirst. Es ist nichts weltbewegendes und nachdem du eh schon die letzten paar Wochen die Füße hast stillhalten müssen, wäre dies der perfekte Moment, um wieder einzusteigen.“
„Natürlich. Ich mache mich sofort auf den Weg“, sagte die Bluenette. Mit keinem Wort erwähnte sie ihre Unzufriedenheit, die dadurch hervorgerufen wurde, dass sie nach einer mehrwöchigen verletzungsbedingten Pause und kurz vor einer Woche wohlverdientem Urlaub wieder zurück in den Dienst beordert wurde. Befehl war Befehl. Und Rainbow meinte es ja auch nur gut mit ihr, ansonsten hätte er sie vorgeschlagen.
„Anstatt der Kleinen was aufs Auge zu drücken, könntest du mir mal wieder was geben.“
„Als zu das letzte Mal aktiv dabei warst, hast du den halben Hafen in die Luft gesprengt. Es sollte eine Ablenkung sein und kein verdammtes Signalfeuer für alles und jedermann!“, warf Bow ihm hitzig an den Kopf und starrte den Chemiker in Grund und Boden. Nicht, dass dieser ihn sehen konnte. Leider! Ob es einen Unterschied machen würde - nun das war die andere Frage.
„Ja und?“, erwiderte Cane unwirsch.
„Es hat funktioniert, oder?“
Im Chamber schüttelte das Computerass wiederholt seinen Kopf. Unverbesserlich. Cane war einfach unverbesserlich.
„Frag Mister Hermes und nicht mich! Ich bin hier nicht die Auskunft!“
„Ach bist du nicht?“
„Du-“
Bow atmete tief durch, bevor er weitersprach. Manchmal fragte er sich wirklich, warum er sich das alles antat. Sogar noch freiwillig antat. Zu viel Stress, zu viel Aufregung und viel zu wenig Freizeit.
„Frag Mister Hermes, wenn du unbedingt eine Mission willst. Wenn du lieb fragst, gibt er dir vielleicht sogar eine. Ansonsten bewege deinen Arsch zurück in das Chemikalienloch, aus welchem du gekrochen bist und sprenge dich doch gleich noch mit in die Luft, wenn wir schon dabei sind. Es wäre eine Plage weniger.“
Leichenschauhaus westlich von Stockholm, Nacht
Das Licht flackerte, während eine einsame Gestalt langsam den Gang hinunterging. Es war früh. Keine Menschenseele begegnete ihm. Noch wollte er gesehen werden. Ohne zu klopfen trat er in das Zimmer ein.
„Ah da sind Sie ja- Wer sind Sie und was wollen Sie hier? Wie sind Sie an unserer Nachtwache vorbeigekommen“, fragte der rundliche Herr im weißen Medizinerkittel scharf. Sirgussen hätte niemals jemanden reingelassen und ihm nicht Bescheid gesagt. Dafür hielt er viel zu sehr am Protokoll fest.
„Ich wiederhole mich nur noch einmal, ehe ich die Polizei rufen werde. Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“
Auf seinem Namensschild stand fettgedruckt der Name Dr. Lindström. Der Unbekannte lächelte, zeigte eine Reihe schneeweißer Zähne. Die freundliche Geste wurde nach wenigen Augenblicken kalt wie Eis.
„ Caspar. Caspar Lindström. Ich möchte ihn sehen. Sofort“, fügte er schneidend an und rückte seinen knielangen Mantel so zurecht, dass man die Waffe sehen konnte, welche im Bund seiner Anzughose steckte. Dr. Lindström wurde aschfahl und schluckte mehrmals. Laut.
„Na-na-türlich“, stotterte er und ging hastig auf die andere Seite. Dort angekommen öffnete er mit zittrigen Händen einen der Kühlräume und zog eine nackte, nur mit einem weißem Tuch verhüllte männliche Leiche heraus.
„Sie-sie wollen n-nicht-“, fing der Gerichtsmediziner an, als der Mann ihm andeutete das Tuch anzuheben. Er wurde jedoch mit einer einfachen Handbewegung zum Schweigen gemacht.
„Sein Gesicht. Zeigen Sie ihn mir, Dr. Lindström. Ich möchte ihn sehen.“
Wortlos entblößte er den Leichnam, sah dabei keinen Moment vom Boden auf. Er hatte im Laufe der Jahrzehnte schon viele, viele Opfer von Gewaltverbrechen auf seinem Tisch gehabt, doch es war jedes Mal aufs Neue erschreckend, wie brutal jemand sein konnte. Wer auch immer seinen Namensvetter umgebracht hatte, Caspar Lindström musste dabei Höllenqualen durchlitten haben. Es waren keine Abwehrspuren zu finden gewesen. Nichts, was auf einen Kampf hingedeutet hätte. Dafür allerdings mehrere Knochenbrüche und tief klaffende Wunden am ganzen Oberkörper verteilt.
„Lassen Sie mich raten: Todesursache war ein Stich direkt durchs Herz mit einer hauchdünnen Klinge. Präzise und tödlich“, sagte der Unbekannte nach einigen Minuten schließlich, nachdem er ausgiebig Caspar Lindströms gebeutelten Körper begutachtet hatte und wendete sein Gesicht von besagter Verletzung ab. Aus seinem Ton ließen sich keine Gefühle herausfiltern.
Dr. Lindströms Kopf schnellte erschrocken in die Höhe. Ihm war für einen Moment völlig entfallen, dass er sich in Gesellschaft befand. Er nickte abgehakt.
„J-ja. D-die restlichen Ver-letzungen wurden mit klei-neren St-stichwaffen ausgeführt.“
Der Gerichtsmediziner bemühte sich um einen gelassen Tonfall, scheiterte jedoch kläglich daran, unter anderem deswegen, weil er zitterte wie Espenlaub.
„Verstehe...“
„I-insgesamt 13 Hieb- u-und St-stichwunden“, ergänzte er. Der Unbekannte bewegte seinen rechten Arm. Dr. Lindström zuckte zusammen, doch anstatt die Waffe zu ziehen, legte sein Gegenüber lediglich eine Hand an die kalte Wange des Toten.
„13 also...“
Er lachte trocken auf. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Symbole gehabt. Ob sie wohl immer noch so gerne spielte wie früher?
„W-wie bitte?“
Anstatt zu antworten, zog er blitzschnell seine Pistole und zielte auf die Stirnmitte. Die Kugel bohrte sich durch den Schädel wie durch Butter. Innerhalb weniger Sekunden war Dr. Lindström nicht mehr. Ungerührt sah er zu, wie der Körper zusammensackte und nach vorne über fiel. Eine Blutlache bildete sich. Er trat einen Schritt zu Seite und wischte die Waffe an einem herumliegenden Lappen ab. In aller Seelenruhe verdeckte er Caspars Leichnam wieder und schob ihn zurück in die Kühlkammer. Danach gab er dem Raum einen letzten flüchtigen Blick und ging anschließend aus dem Gebäude. Es gab hier nichts mehr für ihn zu tun. Auf halbem Weg nach Draußen kam ihm eine junge Frau entgegen. Mitte 20. In ihren Händen hielt sie zwei Kaffeebecher und unter dem rechten Arm war eine dünne Mappe geklemmt. Sie sah erst auf, als es schon zu spät war. Erneut ein Schuss und erneut der augenblickliche Tod. Sie war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Fast schon schade um das junge Ding, doch eigentlich kümmerte es ihn nicht. Caspar war tot.
Er holte ein Feuerzeug aus seiner Manteltasche hervor und zündete sich eine Zigarette an. Es war nicht kalt draußen, eher das Gegenteil war der Fall, trotzdem trennte er sich nicht von seinem warmen Kleidungsstück. Macht der Gewohnheit. Er nahm einen langen Zug, sah in den sternenklaren Himmel und entließ im nächsten Moment grauen Rauch in die frische Nachtluft. Caspar war eine Botschaft. Mehr noch als seine toten Kontaktmänner in Nordafrika und Mexiko und all den anderen Ländern, durch die sie ihn schon 'gejagt' hatte. Sie lernte dazu.
Caspar war ein Versprechen, dass wenn sie ihn finden würde, ihm haargenau dasselbe Schicksal zuteil käme. Ein düsteres Grinsen tauchte in seinem Gesicht auf.
Sie wollte spielen? - Das konnte sie haben und all die Konsequenzen, die es mit sich führen würde. Achtlos warf er den Glimmstängel auf den Boden, zertrat ihn unter seinem Schuh.
Jetzt war er am Zug.
„Bist du bereit, kleine Kuraiko? Bist du bereit für die Hoffnungslosigkeit?“
Stonevalley, Nachmittag bis früher Abend
Sie duckte sich und wich dem entgegenkommenden Schlag gekonnt aus. Aus den Augenwinkeln sah Yuna für einen kurzen Augenblick zu ihrer Schwester hinüber. Kuraiko schlug ohne äußerliche Regung im Gesicht auf einen Boxsack ein. Das an sich war kein Grund zur Besorgnis, wohl allerdings die Tatsache, dass sie seit mehr als zwei Stunden und ohne eine einzige Pause schon am Werk war.
Der Moment ihrer Unachtsamkeit wurde eiskalt von ihrem Gegenüber ausgenutzt.
Sie fand sich am Boden wieder. Ein großer Schatten ragte über ihr auf.
„Alles in Ordnung?“, fragte Loki und gab ihr seine Hand. Besorgnis lag in seinem Ton. Die Bluenette schüttelte den Kopf, ließ sich aber wortlos nach oben ziehen.
„Pause. Wir machen in zehn Minuten wieder weiter, okay?“
„Geht klar“, bestätige er, doch Yuna war schon auf halben Weg zu ihrer Schwester. Im Vorbeigehen schnappte sie sich eine Flasche Wasser, die am Boden stand und ging mit dieser auf die andere Seite der Trainingshalle.
„Nēsan, mach ein Pause und trink etwas.“
Kuraiko machte nicht den Eindruck sie gehört zu haben, doch nach einigen Sekunden hörte sie tatsächlich auf, kopflos auf das Trainingsgerät einzudreschen. Wortlos griff die Grünhaarige nach dem Erfrischungsgetränk und trank einige Schlucke daraus.
„Wie geht es dir?“
Ihr Zwilling stoppte mit dem Trinken.
„Gut“, sagte sie knapp, stellte die Flasche zu Boden und drehte sich von ihr weg und wieder hin zum Boxsack.
„Du machst dir Sorgen um Uranu, nicht wahr?“, wagte es Yuna zu fragen. Bingo. Sie hatte direkt ins Schwarze getroffen. Ihre Frage stoppte Kuraiko in der Angriffsbewegung für kaum mehr als eine Zehntelsekunde, doch lang genug für sie, um es zu bemerken und ihre eigen Schlüsse daraus zu ziehen. Das letzte Mal gesehen hatte sie den Kanadier vor knapp einer Woche, wo er mit ihrem Zwilling im Schlepptau in Richtung Trainingshalle verschwunden war. Seitdem war er wie vom Erdboden verschluckt. In der Schule war Sommererkältung als Erklärung für sein Fehlen angegeben worden. Zusätzlich hatte Rainbow auf ihre höfliche Frage hin, ob Uranu auf Mission sei, mit einem
„Geheim.“
geantwortet. Normalerweise war dies kein Problem für sie, da sie eine der höchsten Sicherheitsfreigaben bei der Umbra besaß, jedoch wollte sie zu diesem Zeitpunkt nicht grundlos ihre Stellung ausnutzen. Geheimaufträge gehörten zu deren Leben dazu. Daran konnte man nichts ändern. Solange man bis auf ein schlechtes Bauchgefühl keine handfesten Beweise für eine Gefahr bei besagten Missionen liefern konnte, sollte man sich lieber um seinen eigenen Kram kümmern, anstatt in Sachen seine Nase reinzustecken, die einen überhaupt nichts angingen. Sechs Tage später sah die Welt etwas anders aus. Uranu hätte längst zurück sein sollen, ansonsten wäre ihre Schwester nicht so... aufgebracht.
„Uranu ist stark.“
„Natürlich ist er stark. Er wäre nicht hier, würde er es nicht sein. Aber Nēsan das war nicht meine Frage.“
Kuraiko hörte nicht auf auf den Sandsack einzuschlagen, obgleich sie in ihren Bewegungen allgemein etwas langsamer geworden war.
„Ich weiß.“
Yuna blockte plötzlich einen Schlag gegen ihren Kopf ab, allerdings war dies nicht Kuraikos wahre Ansicht gewesen, sondern sollte lediglich als Ablenkung dienen. Ihr Kopf wurde nämlich nur wenige Augenblicke später gegen hartes Leder gedrückt. Doch bevor die Situation weiter eskalieren konnte, kam unverhofft ein nordischer Gott zu ihnen gejoggt und sicherte damit den Frieden. Vorerst.
„Hey! Alles in Ordnung bei euch da drüben?“
Loki. Der braunhaarige Hüne, welcher Yuna seit ihrer Rückkehr in den aktiven Dienst als Trainingspartner zur Seite stand. Eigentlich hatte sie keinen gebraucht noch gesucht - es fand sich immer jemand, der mit dem Sonnenschein trainieren wollte -, doch der Brünette hatte sich nicht davon abbringen lassen. Die Bluenette hatte es ihm gelassen, da sie glaubte, dass das seine Art war, Besorgnis auszudrücken und weil er alles in allem kein schlechter Gegner war. Komischerweise hatte dieses großzügige Angebot außer ihr jedoch bis jetzt kein anderer erhalten. Wer schaute aber schon einem geschenkten Gaul so genau ins Maul?
„Natürlich“, sagte der ältere Zwilling kühl und entließ die Jüngere aus ihren Fängen.
„Alles gut, Loki. Wirklich“, setzte Yuna hinterher, als Loki abwechselnd prüfende und misstrauische Blicke zwischen den Schwestern wandern ließ.
„Wenn du das sagst, wird es wohl stimmen. Wollen wir wieder?“
„Ähm...“
Sie sah zu ihrer Schwester. Anders als Yuna versuchte Kuraiko weder keine Schadensbegrenzung zu betreiben noch sich irgendwie ins laufende Gespräch einzubringen und fing allen ernsten wieder an den Boxsack zu malträtieren. - Der unmissverständliche Wink mit dem Zaunapfel, dass sowohl Yuna als auch Loki nicht mehr hier erwünscht waren. Die Bluenette seufzte.
„Okay. Lass uns gehen.“
Loki wusste, dass es ihn nichts anging, trotzdem fragte er:
„Was ist los? Wie nichts hatte das nämlich gerade eben nicht ausgesehen.“
„Wusstest du, dass Uranu schon längst hätte zurück sein sollen?“
Diese unerwartete Frage überraschte ihn.
„Wie? - Nein, wusste ich nicht. Doch was...“
Ihm ging urplötzlich ein Licht auf.
„Deine Schwester. Deswegen ist sie wieder so unterirdisch drauf“, realisierte Loki. Die meiste Zeit über war Kuraiko lediglich nicht interessiert in das, was um sie herum geschah, doch wenn sie still wurde, richtig still, dann lief etwas gewaltig falsch. Und die einzigen Gründe für dieses bestimmte Verhalten waren entweder von unbekannter Natur - was weitaus öfters der Fall war - oder trugen den Namen ihrer Schwester und/oder den ihres besten Freundes, obwohl man sich da streiten konnte. Der Großteil teilte nämlich die Meinung, dass Kuraiko und Uranu mehr als 'nur' Freunde waren.
„Ja. Rainbow war auch nicht gerade auskunftsfreudig, was seinen Verbleib anging“, fasste sie kurz die Unterhaltung mit dem residieren Ausnahme-Hacker zusammen.
„Hast du nicht eine der höchsten Sicherheitsfreigaben bei uns? Warum befiehlst du es ihm dann einfach nicht, dass er mit der Sprache herausrücken soll?“
Er - an ihrer Stelle - hätte diesen Vorteil eiskalt ausgenutzt. Was gab es besseres, als absolute Narrenfreiheit zu besitzen?
„Es gab und gibt keinen Grund meine Stellung für etwas auszunutzen, wenn ich nichts habe, was einen Eingriff rechtfertigen würde.“
Da war sie wieder. Yunas Aufrichtigkeit. Manchmal konnte er nicht glauben, dass sie zu ihnen gehören soll. Gab es den nichts auf dieser Welt, dass sie verderben konnte?
„Es gibt Augenblicke, da versteh ich dich nicht. Jeder normale Mensch würde für so eine Möglichkeit alles aufgeben.“
„Seit wann bin ich 'normal'?“, erwiderte die Bluenette mit verschränkten Armen. Was war überhaupt schon normal? Es war ein Zustand, den niemand genau definieren konnte, weil jeder es anders auffasste. Für Hurricane war es das natürlichste der Welt Häuser, Straßen, ja sogar Häfen in die Luft zu sprengen. Genius hingegen fand an einer Kombination aus sonnengelben Oberteil, violetter Hose und hellblauen Schuhen nichts auszusetzen. - Yuna könnte jetzt Stunden darauf verschwenden jedes einzelnes Umbra Mitglied und seine/ ihre ganz eigenen Macken aufzuzählen, allerdings war ihr das gerade zu anstrengend.
„Stimmt auch wieder. Deiner Schwester wäre das aber egal, also warum hat sie nicht schon längst Bow's Chamber gestürmt?“
Genau diese Frage stellte sie sich auch. Andererseits... wer sagte, dass Kuraiko nicht wusste, wo Uranu steckte und was er gerade machte? Immerhin hatte sie denselben Rang wie sie. Außerdem hatte noch nie jemand die Grünhaarige daran aufhalten können, an Informationen zu gelangen, die hoch geheim waren, ihre Sicherheitsfreigabe überstieg und sie auch haben wollte.
„Ich weiß es nicht“, antworte Yuna ihm ehrlich und nahm Haltung an. Sofort griff Loki an, da er ihr keine Anfangsgelegenheit geben wollte und zielte auf ihren Kopf. Sie blockte mit beiden Armen vor dem Gesicht ab und duckte sich. Der Kampf begann aufs Neue. Als Yuna nach schier endlosen Minuten erneut einen Blick hinüber riskierte, war ihre Schwester fort. Der Boxsack hing leblos von der Decke. Niemand malträtierte ihn. Der Platz war verwaist. Warum, oh warum nur gefiel ihr das mulmige Gefühl in der Magengegend nicht, welches sich nach dieser Feststellung in ihr ausgebreitet hatte wie zähflüssiger Nebel?
Südtirol, früher Abend
Yunas Befürchtungen, ihr Zwilling könnte über Nacht sonst wohin verschwunden sein, bewiesen sich als unbegründet. Am nächsten Morgen, pünktlich auf die Minute genau, stand ihre Schwester mit einem Koffer, einer kleinen Reisetasche und einem Buch in der Hand vor dem Bus, welcher sie nach Südtirol bringen sollte. Doch es war kein junger Mann mit schwarzem Haar und facettenreichen blauen Augen neben ihr. Niemand war bei ihr. Kuraiko war allein. Sie wollte auf die Ältere zugehen, doch diese stieg, nachdem sie ihren Koffer abgegeben hatte, sofort und ohne von dem dicken Schmöker aufzusehen in den Bus ein und stöpselte sich Kopfhörer ins Ohr. Eindeutiger hätte die Nachricht nicht sein können. Yuna war erneut ausgesperrt worden.
Die Busfahrt verlief ruhig. Die Bluenette hatte keinen Zweifel daran, dass wenn Hurricane mitgedurft hätte, es nicht so friedvoll gewesen wäre. Glücklicher - oder eher: unglücklicherweise - hatte sich die Schulleitung bei dieser Sache nicht erweichen lassen und ihn wegen wiederholtem Fehlverhalten von der Schulfahrt ausgeschlossen. Andererseits verhielten sich auch die anderen üblichen Verbrecher außerordentlich vorbildlich. Allein an der Abwesenheit Hurricanes konnte es nicht liegen. Da würde sie ihm zu viel zutrauen. Zwar provozierte der Chemiker immer und überall alles und jeden bis aufs Äußerste, jedoch gab es neben ihm noch andere, die dieses Handwerk bis ins kleinste Detail verstanden und heute erstaunlich ruhig waren. Vermissen tat sie die sonstige Unruhe nicht wirklich. Es tat gut entspannen zu können und das auch schon während der Anreise.
Endlich. Nach sechs langen Stunden konnte Yuna endlich wieder Gliedmaßen frei bewegen. Sie waren angekommen. Doch kurz nachdem sie endlich auf ihre Zimmer durften - sie teilte es sich mit ihrer Schwester -, ging alles den Bach runter. Sprichwörtlich. Yuna wollte ein Stockwerk tiefer zu Daria und war im Begriff durch die Tür zu gehen, als ihr Zwilling wie ein Wirbelwind an ihr vorbeizog und ins Zimmer stürzte. Kaum einen Augenblick später polterte Rainbow die Treppe hinauf.
„Kuraiko! Kuraiko du kannst nich-“
Blitzschnell griff Yuna ihn am Arm, als er an ihr vorbei wollte und drehte ihn zu sich her.
„Rainbow, was ist los?“
Das Computerass war völlig durch den Wind.
„Ich hab- Sie hat- Ach verdammt nochmal! Wir müssen was machen, bevor sie-“
„Bevor Nēsan was?“, unterbrach sie sein Wirrwarr. Sie hatte ein schlechtes, richtig schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache.
„Rede normal mit mir! Ganze Sätze und von vorne bitte! Was ist los?“
Der Buntschopf sah ein, dass er ohne eine klare Antwort zu geben nicht tun konnte, was er tun wollte, lenkte ein und nahm einen tiefen Atemzug, bevor er weitersprach. Diesmal gemäßigter und nicht ganz so hektisch wie zuvor.
„Gut. Ist jetzt ohnehin egal, ob ich es dir sage oder nicht. Die Kurzfassung: Gestern Nacht hab ich das Signal von Uranu verloren.“
Ihr stockte der Atem. Das
„Was?!“
blieb ihr im Hals stecken.
„Ein Maulkorb von Mister Hermes nahm mir jegliche Erlaubnis, euch Bescheid sagen zu dürfen. Selbst denen mit den ranghöheren Freigaben, wie du oder deine Schwester. Heute morgen war die Lage noch unverändert. Kein Signal, aber da ich ein bisschen herumgeschnüffelt habe, konnte ich zumindest herausfinden, dass ein Einsatzteam entsendet wurde. - Was? Ein Maulkorb bedeutet nur, dass ich euch nichts sagen darf, aber eigene Nachforschungen, sofern ich niemanden mitteile, was ich herausgefunden habe, ist regelkonform und erlaubt.“
„Warum nicht ein Team von uns?“
Beide wussten die Antwort schon, noch ehe die Bluenette ihre Frage voll ausgesprochen hatte. Kuraiko.
„Du weißt warum. Das Ende vom Lied ist jedenfalls, dass Uranu verletzt gerettet wurde, mir Mister Hermes das gesagt hatte, weil er wusste, dass ich sonst wieder die Regeln ausreize und Kuraiko, dieses Mädl, immer zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort sein muss.“
Viel Zeit das Gesagte richtig zu verarbeiten, blieb Yuna nicht.
„Aus dem Weg.“
Kalt. Scheidend. Weiblich.
„Bitte“, fügte Kuraiko hinzu, machte den Eindruck einer zähnefletschenden Löwin.
Es war ihre Schwester. Ihre Nēsan, die vor wenigen Minuten erfahren hatte, dass Uranu, ihr bester Freund und neben ihr: wichtigste Bezugsperson, bei einer geheimen Mission verletzt wurde.
Yunas Pupillen erweiterten sich exponentiell.
„Kuraiko. Warte. Überstürze nichts“, warnte Yuna ihren Zwilling eindringlich und stellte sich aktiv in ihren Weg. In Kuraikos Hand war die kleine Reisetasche, die sie aus Deutschland mitgebracht hatte. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, was sie vorhatte.
„Er ist gerettet. Alles ist wieder in Ordnung.“
Das waren die falschen Worte, denn Kuraiko reagierte augenblicklich mit eisigem Ton darauf.
„Gerettet? Gerettet?!“, spottete die Grünhaarige und lachte kalt auf. Ihr Blick wanderte zu Rainbow, welcher sich automatisch kleiner machte. In ihrem Augen loderte totes Höllenfeuer.
„Du hast vergessen ihr zu sagen, Rainbow, dass Ranu so gut wie tot ist.“
Sie ging einen Schritt auf ihn zu, wirkte wie eine Raubkatze vor dem Sprung auf ihre Beute. Lauernd und gefährlich.
„Ich werde nicht untätig hier herumsitzen, während Ranu um sein Leben kämpft!“
Die Grünhaarige hob ihre Stimme an und ballte instinktiv ihre Hände zu Fäusten. Es war ein schlechtes Zeichen, wenn Kuraiko von gefasst-still zu laut-denoch-ruhig wechselte. Zudem war es höchst untypisch von ihr überhaupt die Stimme zu heben. Yuna konnte sich auf die Schnelle nicht daran erinnern, wann das das letzte Mal oder jemals der Fall gewesen war.
„Reiß dich zusammen!“
Jetzt wurde auch Yuna etwas lauter. Die letzten Tage und Wochen kamen ihr in den Sinn. So wenig Kontrolle über ihr Verhalten hatte ihre Schwester selten gehabt.
„Leute.“
“Was willst du schon dagegen tun?“
All ihr aufgestauter Frust drängte an die Oberfläche und entlud sich dort in einer riesigen Explosion.
„Leute!“
„Mehr als warten, kannst du nicht!“
„Leute!“
„WAS?!“, fuhr Yuna den Buntschopf schließlich an. Dieser zeigte lediglich mit dem Finger nach unten. Sie folgte seiner Geste. Dort, vor der ersten Treppenstufe, hatte sich eine kleine Gruppe versammelt, welche allesamt interessiert das Geschehen beobachten, was sich hier oben abspielte. Es kam ja nicht alle Tage vor, dass man die beiden Schwester streiten oder Yuna so von der Rolle sah.
Genau das hatte ihr noch gefehlt! Publikum!
Bevor die Bluenette jedoch Schadenskontrolle betreiben konnte, kreischte Courtney erbost auf. Sämtliche Aufmerksamkeit verlagerte sich prompt von dem Trio auf das Mädchen, dessen gefärbtes Haar platt und nass an ihrem Kopf klebte. Einige Schritte Schritte dahinter stand Loki mit einem fetten Grinsen. In seiner Hand lag ein gefüllter Wasserballon, welchen er spielerisch auf und ab warf. Lokis Blick ging nach oben. Ihre Augen trafen sich. In dem Augenblick verstand Yuna, was dieses ganze Theater sollte. Seinen Grinsen wurde für den Bruchteil einer Sekunde ehrlicher, ehe es mit dem üblichen Schalk die Plätze tauschte.
„Upps. Sorry, Courtney.“
Schlechtes Gewissen sah anders aus.
„Hab nicht genau genug gezielt.“
Sein Grinsen wurde breiter, als es eigentlich möglich sein sollte. Er holte langsam mit dem Arm aus. Courtneys Orben weiteten sich ungläubig, als ihr bewusst wurde, was der Brünette vorhatte.
„Das wollen wir aber gleich nachholen.“
Während der Hüne für Ablenkung sorgte, schlüpfte Yuna schnell zurück ins Hotelzimmer. Erst als Rainbow leise hinter ihnen die Tür schloss, fiel auf, dass Kuraiko den Tumult genutzt hatte, um klammheimlich zu verschwinden. Yuna seufzte resigniert. Was hatte sie schon großartig erwartet? Ihr Zwilling kam und ging wie sie wollte und wann sie wollte. Erachtete die Grünhaarige ein laufendes Gespräch als belanglos und nicht Wert weiterzuführen, beendete sie ohne Rücksicht auf den oder die Gesprächspartner die Konversation augenblicklich. Wie, war dabei nicht von Belang, nur, dass es geschah. Stets dann, wenn es zu heikel wurde. - Ja, ihre Nēsan verstand es im 'richtigen' Moment zu verschwinden.
Wie sollte sie aber jetzt Kuraikos Abwesenheit erklären, wenn ihrer aller Ankunft erst wenige Stunden alt war? Der Spaß, die Freude hatte nicht einmal richtig begonnen und schon tauchten die ersten Gewitterwolken am Firmament auf. Welches Lügenmärchen wäre für diesen Anlass plausibel genug ? Welches würde nicht bei der erstbesten Inspektion, wie ein Kartenhaus, in sich zusammen fallen?
„Entschuldigung Herr Lehrer, aber meine Schwester ist zurück auf dem Weg nach Deutschland, weil sie eben mal schnell ihre Menschlichkeit wiederentdeckt hat und jetzt völlig austickt, weil Uranu - Ihnen besser bekannt als: Franklin - bei einer Mission schwer verletzt wurde und in Lebensgefahr steckt. Übrigens: Die Hälfte ihrer Schüler gehört einer geheimen Organisation an, die Verbrecher und anderes niederes, für die Menschheit gefährliches Gesindel jagt und notfalls zur Strecke bringt.“ - Natürlich! So etwas war hundertprozentig glaubwürdig! Da konnte sie dem Mann gleich ein Märchen auftischen, dass würde Herr Bierlig eher glauben, als das.
Anscheinend hatte Rainbow denselben Gedanken wie sie, denn er ließ einen kräftigen Fluch vom Stapel und sprach schlussendlich die Frage aus, auf die, in diesem Moment, keiner von ihnen die Antwort wusste:
„Und was sagen wir dem Bierlig?!“
Stonevalley, Vormittag
Beep. Beep.
Sie fühlte sich seltsam. Leer. Anders konnte sie den Zustand, in welchem sie sich gerade befand, nicht besser beschreiben. Es war, als hätte jemand alles Leben aus ihr herausgesaugt und lediglich ihre fleischliche Hülle zurückgelassen.
Beep. Beep.
Adriens Tod hatte sie verzweifeln lassen, doch Ranu war nicht tot. Noch nicht. Doch er war es so gut wie, also warum fühlte sie nichts? Wo blieb der Zorn? Wo blieb der Hass? Wo blieb die Wut auf sich selbst?
Beep. Beep.
Unzählige Maschinen waren an ihn angeschlossen, tönten stetig und gleichmäßig. Für andere mochte es nach Hoffnung klingen, doch für sie war diese Hintergrundmusik ein Beweis für ihr Versagen.
Beep. Beep.
Warum tat sie nichts? Wut ergriff plötzlich von ihr Besitz. Sie war hier, eine regungslose Statue und tat nichts! Sie könnte so viel tun, tat es aber einfach nicht.
Beep. Beep.
Er brauchte sie. Sie brauchte ihn. Ihre Schwester hatte Recht. Die Wut verschwand so schnell wie sie gekommen war. Mehr als warten, konnte sie nicht. Warten. Nichts als warten! Die Stunden kamen und gingen. Sie hatte ihr Zeitgefühl längst verloren. Der Himmel wurde dunkler und die ersten Sterne tauchten schon am Himmelszelt auf. Es kümmerte sie nicht. Wie eine regungslose Statue stand sie an seinem Bett, starrte auf seinen leblosen Körper hinab und fühlte nichts. Jemand kam. Sie hörte die leisen Schritte, doch es kümmerte sie nicht, zog an ihr vorbei wie die Landschaft an einem Schnellzug.
„Wie geht es ihm?“
Die Frage blieb im Raum stehen. Sie machte nicht den Eindruck ihn gehört zu haben. Dann, nach schier endlosen Minuten, bekam er endlich eine Reaktion. Ihre Kopf wanderte zu ihm her und ausdruckslose Augen sahen ihn an. Das war ihre Antwort. Er ließ sich nicht entmutigen.
„Wie geht es dir?“, versuchte er es erneut und hatte damit mehr Glück als beim ersten Mal.
„Ich- ich weiß es nicht“, antworte sie ihm nach ehrlich, überraschte nicht nur ihn mit dieser Antwort. Weitere Worte folgten nicht, noch wurden welche von der Gegenseite erwartet. Er ließ ihr ihren Freiraum, denn eines wusste er: auch wenn die Schwestern vom Charakter her unterschiedlicher kaum sein konnten, so waren sie im Kern doch gleich.
„Was soll ich fühlen?“ fragte sie und klang dabei sogar ein wenig verloren. So ungleich dem, was er von ihr gewohnt war.
„Wut? Trauer? Verzweiflung?“
Sie lachte bitter auf, suchte seinen Blick. Und in diesem einen Moment konnte er mehr sehen, als eine emotionslose Killerin, mehr, als das, was ihm jeden Tag begegnete. Er konnte den Menschen dahinter sehen. Einen Mensch ohne Beinamen. Einfach nur: Kuraiko.
„Sag mir Noble, was ist das für ein Mensch, der nicht weiß, was er fühlen soll, wenn er vor dem Krankenbett seines eigenen Bruders steht?“
Bruder. Familie war nicht immer die, in welche man geboren wurde. Man entschied selbst, wer Familie war und nicht das Blut.
Kuraiko hob eine Hand vors Gesicht, betrachtete das Körperteil intensiv, so als suchte sie etwas, was nicht dorthin gehörte und ballte ihre Linke schließlich langsam zur Faust.
„Ist das überhaupt noch ein Mensch, oder ist das schon mehr eine Maschine?“
„Schon allein, weil du dir diese Frage stellst, zeigt, dass du fühlen kannst, Kuraiko. Eine Maschine macht sich keine Gedanken. Sie funktioniert lediglich.“
In gewissen Hinsicht waren Menschen wie Maschinen. Sie gingen täglich einer bestimmten Routine nach, doch am Ende des Tages konnten sie immer noch selbst entscheiden, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen wollten. Maschinen nicht. Sie arbeiteten so lange, bis ihnen ein neuer Befehl gegeben wurde.
„Du bist mehr als das!“, sagte er eindringlich, versuchte sie von dem Unmöglichen zu überzeugen. Es war traurig zu wissen, dass obwohl sie sich eine Jahreszahl teilten, beiden mehr oder weniger den gleichen Weg beschritten hatten, Kuraiko, im Gegensatz zu ihm, schon jetzt die Seele eines gebrochenen Menschen in sich trug. War es fair? - Nein, doch was war im Leben schon fair?
Zweifel nagten an ihr, hatten es schon immer getan. War sie das wirklich? War sie mehr als eine Maschine? - Was nützten einem schon die Beteuerungen anderer, wenn man es selbst nicht glaubte? Nicht glauben konnte. Was verstand Noble schon? Wie konnte er etwas behaupten, ohne die Wahrheit über sie zu wissen? Sie war... ein Monster.
„Kuraiko.“
Er verstand gar nichts. Sie wollte es glauben. Sie wollte es so sehr, doch es war ihr nicht vergönnt, die Vergangenheit einfach hinter sich zu lassen. Sie verfolgte sie, wie ein unsichtbarer Schatten. Überall und bis ans Ende der Welt. Sie würde niemals Ruhe geben. Sie-
Kuri.
„-raiko.“
Sie blinzelte. Der Moment ging vorüber. Adriens Stimme verklang.
„Glaubst du an Vergebung, Noble?“
Noble stutzte. Was hatte das eine mit dem anderen zu tun?
„Ich nicht.“
Ihr milder Ton wurde hart.
„Um jemanden zu vergeben, braucht es ehrliche Reue, ansonsten ist es nur eine weitere Lüge. Wenn jemand keine Reue sucht, dann braucht er meine Vergebung auch nicht, dann ist sie an ihm vergeudet“, spie sie das letzte Wort harsch aus und dachte dabei an Allen.
„Manche Menschen verdienen keine Vergebung.“
Er hatte nie Bedauern für seine Taten und seinen Verrat gezeigt. Nie.
„Warum sollten wir ihnen dann verzeihen?“
„Aber nur indem man mit der Vergangenheit abschließt, kann man nach vorne sehen. Jeder Weg hat einen Anfang und jeder Weg hat auch ein Ende, doch du musst ihn beschreiten, sonst wirst du niemals etwas erreichen.“
„Weg?!“, griff sie ihn scharf an und beugte sich leicht nach vorne. Roten Augen funkelten gefährlich und wirkten wie ein wildes Tier auf ihn, doch er ließ sich davon nicht einschüchtern und begegnete ihrem Blick ruhig und gefasst.
„Was weißt du schon von meinem Weg? Du weißt gar nichts, Noble! Er hat uns, mir alles genommen! Du warst nicht dabei! Du hast nicht gesehen, wie er Ad-“
Kuraiko brach ab und biss sich auf die Lippen. Eine Angewohnheit, die sie eigentlich schon vor Jahren abgelegt hatte.
„Du hast nicht erlebt, was ich erlebt habe. Keiner hat das.“
Sie klang müde, so unendlich müde. Wie konnte jemand, der in seinem Alter war schon jetzt so unglaublich erschöpft von der Welt klingen?
„Außer Ranu. Er hat denselben Schmerz erfahren, die gleiche Verzweiflung gespürt und doch ist er aus dieser Erfahrung anders hervorgekommen, als ich.“
Ein trauriges Lächeln erschien auf ihren Lippen.
„Einer, der für zwei stark ist und einer, der die Wut beider auslebt“, flüsterte sie und berührte dabei mit sanften Fingern Ranus kalte Wange. Ranu war der Fels in der Brandung und sie die stürmische See. Wurde die See ruhiger, schmiegte sie sich an den Felsen, genoss seine Anwesenheit und erfreute sich daran, dass nichts und niemand, besonders sie selbst nicht, ihn erschüttern konnte.
„Warum erzählst du mir das alles?“, fragte Noble. Sie hatte ihm alles und doch nichts verraten. Er musste zwischen den Zeilen lesen und Stück für Stück das Puzzle vervollständigen, was Yunas ältere Schwester war, anders kam er nämlich sonst nicht weiter. Noble wollte weiterkommen. Nicht, weil er ihr helfen wollte - nein, Kuraiko war zu stolz, als das sie angebotene Hilfe auch annehmen würde -, sondern, um sie zu verstehen und um ihre Beweggründe besser nachvollziehen zu können.
„Warum. Warum?“, sinnierte sie, scheinbar in ihrer eigenen Welt gefangen.
„Warum.“
Plötzlich machte ihr Gemüt eine 180° Kehrwendung. Ihm war, als würde sie ihm mit diesem Blick eine unglaubliche Bürde auferlegen, von welcher er sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sicher war, auch bewältigen zu können.
„Irgendwann wird Yuna meinen Platz einnehmen und somit wird auch Ranus Stellung ein neues Gesicht brauchen. Du bist ihre Stütze, Noble. Die Person, die sie auf den Boden der Tatsachen zurückbringen kann. Ihr Fels in der Brandung. Sei für sie da, so wie Ranu für mich.“
Es war keine Bitte, sondern ein Befehl, aber die nächsten Worte waren es, die ihn wahrlich erschaudern ließen:
„Es wird sie retten.“
Fortsetzung folgt...
Texte: Alle Rechte dieses Buches liegen bei mir, Julliet R., der Autorin.
Bildmaterialien: Das Cover und die Trennlinie habe ich aus Google Bildersuche.
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme diese Buch meiner Schwester, ohne sie wäre ich nie auf diese Idee gekommen.