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Rückkehr

 

Dunkel und düster, so beschrieb man die Nacht. Bedrohlich und unheimlich die Bäume im Park, durch welchen das Pärchen Arm in Arm wanderte. Heute war sogar so kalt, dass dünne Nebelschwaden sich am Boden schlängelten.

Das junge Paar kuschelte sich dicht aneinander um sich so mehr Wärme zu spenden. Simeon war noch nie so froh wie an diesem heutigen Tag gewesen. Endlich, nach ewigem hin und her, hatte er sich dazu ermutigen können sie auf eine Verabredung einzuladen. Klar, sie hatten in der Schule wegen einem Kunstprojekt viel miteinander zu tun gehabt, doch darüber hinaus lief nie etwas. Eher gesagt: Er hatte sie nie getraut zu fragen. Im Nachhinein war er froh es getan zu haben. Jemanden wie Alice... so jemanden findet man nur einmal im Leben.

Ein seliges Lächeln tauchte auf seinen Lippen auf. Alice sah mit großen grauen Augen zu ihm auf und wirkte in diesem Moment wie ein verlorenes Kätzchen. - Einfach vollkommen.

„Was ist?“, fragte sie mit ihrer lieblichen Stimme. Er schüttelte leicht den Kopf und drückte sie näher an sich. Sein Kinn ruhte auf ihrem Kopf.

„Nichts“, nuschelte er in ihr Haar und kostete simple jede Sekunde aus, die er bei ihr sein konnte.

Plötzlich änderte sich alles schlagartig. Eine vermummte Gestalt kam wie aus den Nichts hervorgesprescht. Ehe Simeon sich versah, rammte die männliche Person, welche er anhand der Statur und Größe ausmachen konnte, seinem Engel ein Messer in den Bauch und rannte dann wie ein Feigling davon. Einzig allein ihr Schrei und sein Schock hielten ihn davon ab, diesem Bastard zu folgen. Mit geweiteten Augen sank er mit ihr zu Boden. Sanft legte er sie ab und öffnete ihre Jacke. Seine Hände fanden die Ihren und gemeinsam drückten sie fest auf die tiefe Wunde. Blut färbte schnell den bläulichen Stoff dunkelrot und ließen ihn für Momente verzweifeln.

„Draufdrücken!“, diktierte er ihr in zittriger Tonlage und fischte mit blutverschmierten Fingern sein Handy aus der Jackentasche. Nachdem er das Telefonat hektisch beendete, fuhr er sich in einer reinen Verzweiflungsgeste durchs Haar. Dabei war ihm egal ob es mit dem roten Lebenssaft besudelt werden würde. Für ihn zählte lediglich seine Alice, welche mit jedem Wimpernschlag ein Stücken weiter durch seine Hände rann wie feiner Sand. Sie war am sterben und er musste ihr dabei tatenlos zusehen!

„Alles wird gut. Alles wird gut!“, wiederholte er, konnte sich allerdings nicht abverlangen nicht panisch zu wirken. Er wusste der Krankenwagen würde nicht rechtzeitig kommen, um sie zu retten. Selbst wenn sie einem Fingerschnippen hier wären. - Es wäre zu spät. Das Blut sickerte unaufhörlich aus ihrer Brust. Dort wo die fremde Person Alice mit dem Messer getroffen hatte. Warum sie? Warum jetzt? Warum hier? - Er wusste schlichtergreifend keine Antwort auf diese nagenden Fragen.

Wer hatte schon ahnen können, dass die Freude, welche er vor wenigen Augenblicken noch gespürt hatte, sich vom einen auf den nächsten Moment einfach in Luft auflösen würde? Ihm das Liebste genommen wurde, obgleich er sie erst wenige Stunden zuvor bekommen hatte?

Seine Alice. Ja sein, und doch war sie es nur für so kurze Zeit! Nicht einmal einen ganzen Tag hatten sie das Glück der trauten Zweisamkeit genießen können. Nicht einen Tag!

„Alice, bitte...bitte bleibe bei mir!“, flüsterte er eindringlich. Tränen fielen auf ihr blass werdendes Gesicht. Bald würde sie nicht mehr hier sein, hier auf dieser Welt. Eine Hand berührte seine nasse Wange, strichen sanft an dieser entlang und hinterließen eine Spur aus Tränen und Blut. Er öffnete seine Lider. Es war die ihre. Sein Blick glitt zu ihrem Gesicht. Wundervolle graue Orben sahen ihn mit so viel Gefühl an, dass ihm für einen Augenblick der Atem stockte.

Ein schwachen Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab, doch man konnte erkennen, wie sehr sie kämpfte, kämpfte um etwas länger hierblieben zu können. Dies trieb ihm ein Dolch durchs schon schreiende Herz.

„Ich...werde wiederkommen“, flüsterte sie und röchelte stark, setzte zu ihrem weiteren und letzten Atemzug an. Die Sirenen kamen aus nicht mehr weiter Ferne.

„Ich...ich liebe dich.“

Ein weitere Schrei durchbrach die Stille. Dieses mal war es er, der schrie. Er bat sie ihre Augen wieder zu öffnen, nicht zu sterben, nicht tot zu sein. Es nütze nichts, sie war Tot! Der Krankenwagen hielt quietschend vor dem Park. Zwei Sanitäter rauschen heraus, doch Alice war unwiederbringlich Tot, gestorben am 31. Oktober, Halloween.

Das Jahr verging schleppend und nicht oft dachte er daran, sich das Leben zu nehmen. Genauso oft zwang er sich wieder aufzustehen, zu kämpfen. Das, was ihr nicht mehr vergönnt gewesen war. Jeden Tag war er an ihrem Grab, legte eine rote Rose nieder. Oft blieb er stundenlang dort. Ob Sonnenschein, Regen oder Gewitter. Nichts konnte ihn davon abhalten sie auf dem Friedhof zu besuchen. Doch heute war ein besonders schwarzer Tag. Der Tag an dem ihm das Liebste genommen wurde. Seine Alice.

Gleichzeitig mit der Trauer die ihn überfiel, kam auch der Hass, gegenüber des Mannes der dieses Verbrechen getan hatte. Der Prozess wurde diesem Stück Abschaum schon vor vier Monaten gemacht und doch, auf die Frage 'Warum?' wird es wohl nie eine Antwort geben. Diesbezüglich schwieg der Mann beharrlich. Simeon schüttelte seinen Kopf um das Bild, von dem Mörder, der ihn kurz vor der Urteilsverkündung dreckig angelächelt hatte, zu vertreiben. Seiner Wut wollte er nicht freien Lauf lassen. Was hätte sie genutzt, außer noch mehr Trauer zu verbreiten, nachdem er sich beruhigt hätte? Stattdessen ließ er seinen Blick zu der Rose wandern, die auf seinem Schreibtisch lag. Es ließ ihn an sein Vorhaben erinnern, sie heute zu besuchen.besuchen, welch makaberes Wort, wenn er sie in Wirklichkeit nicht besuchen, sondern bei sich haben wollte. Lebend. - Es war ihm nicht vergönnt. Nie mehr.

Leise schlüpfte er aus der Wohnung und lief Richtung Stadtfriedhof. Er lebte allein, auch wenn seine Eltern ihm erst angeboten hatten wieder bei ihnen einzuziehen. Er aber lehnte ab, wollte nicht jeden Tag die mitleidvollen Blicke spüren, die sie auf ihn warfen. Die Stimme seiner Mutter hören, die ihn ermahnte nicht an der Vergangenheit festzuhalten und loszulassen, er war ja bloß einen Tag mit ihr zusammen gewesen. Pah, was verstand seine Mutter schon davon. Wusste sie was er fühlte?Kante sie seinen Schmerz?

Ein Tag mag er zwar gewesen sein, aber der Schönste, den er je gehabt hatte.

Ein verächtliches Schnauben entkam ihm, als er daran zurück dachte, wie sie das einzige Bild, was er von ihr besaß, wegwerfen wollte. Vor Wut hatte er sie raus geworfen und seitdem herrschte Funkstille zwischen ihnen.

In seine Erinnerungen vertieft merkte er nicht, wie seine Beine wie von selbst auf den Park zusteuerten und ihn an den Ort brachten, wo er sie verlor. Trauer ergriff ihn und lies ihn nicht mehr los. Schweigend ließ er sich auf eine Bank fallen und betrachtete die vorbeiziehenden Menschen, Keiner beachtete ihn. Gut, denn auch er schenkte ihnen keine Beachtung. Die Stunden vergingen. Aus Tag wurde Nacht. Noch immer saß er an der selben Stelle, doch jetzt schien wieder Leben in seinen Körper zu kommen und er stand auf. Reckte seine müden Glieder und fixierte misstrauisch den aufkommenden Nebel, den er sich nicht erklären konnte. Nebel, hier? Und das so dicht?Unmöglich! Sie umgarnte ihn und versperrten ihm die Sicht. Was sollte das alles? Er musste doch noch zu ihren Grab! Plötzlich lichtete sich das weiße Gas und er riss vor Unglauben seine Augen auf. Alice, sein Herz stand dort im wehend weißen Kleid, obwohl kein Wind ging und lächelte ihn an. Ihre Stimme durchbrach die Stille, die sich um ihn gelegt hatte.

„Ich sagte doch, dass ich wiederkomme!“

Jetzt gab es kein Halten mehr, er rannte auf sie zu und drückte sie fest an sich. Sie war hier! Er konnte ihren Herzschlag spüren und sie berühren, aber nur wie? Wie konnte sie hier sein, wenn sie doch Tot sein müsste! Er hatte doch genau gesehen, wie das Messer in ihren Oberkörper gerammt wurde und er hatte auch das viele Blut gesehen, dass aus der Wunde gesickert war.

„Du lebst!“, murmelte er im ihr braunes Haar und sog den Duft aus Vanille und Erdbeere in sich auf, denn er so lange nicht hatte riechen können.

„Nein, dass tue ich nicht.“

Ihre Stimme wurde bedauernd und ihr Gesicht schwer.

„Ich bin nur gekommen um dich ein letztes Mal zu sehen und...“

Sie zögerte einen Moment lang.

„... um mich zu verabschieden.“

Alice befreite sich aus seinen Griff und versuchte sich ein Lächeln aufzuzwingen. Es misslang ihr kläglich.

Was? Nein, das konnte sie nicht! Gerade erst jetzt kam sie zu ihm zurück und soll schon wieder gehen? Seine Gesichtszüge entglitten ihm gänzlich, als er daran dachte, dass sie wieder gehen müsste. Nein! Das wollte er nicht, wollte nicht noch einmal diese Leere in sich spüren. Sie musste hier bleiben und wenn sie es nicht konnte, dann...

„Ich werde mit dir kommen!“, fest entschlossen sagte er dies. Ja, nichts und niemand würde ihn mehr davon abbringen mit ihr vereint zu sein, nicht einmal der Tot. Traurig blickte Alice ihn an.

„Du kannst nicht. Es sei denn...“

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, denn erst jetzt hatte sie realisiert, was er ihr damit sagen wollte. -Er wollte sterben und das für sie! Entsetzt schlug sie die Hand vor ihren Mund.

„Nein! Nein! Das kannst du nicht machen!“, schrie sie und mit jeden Wort wurde sie lauter. Sie konnte es nicht zulassen, dass er sich das Leben nahm nur um mit ihr zusammen zu sein. Auf der einen Seite schwoll ihre Liebe zu ihm weiter an, denn er würde für sie sein Leben lassen nur um mit sein zu können. Auf der anderen Seite wollte sie nicht der Grund sein, warum er starb. Doch er war weg! Verschwunden während ihres Geschreis. Eine einzelne Rote Rose lag am Boden. Einsam und allein. Sachte hob sie die Blume auf und roch an ihr. Der Geruch erinnerte sie entfernt an Simeon. Simeon! Wo war nur hin? Er konnte nicht! Nein, er durfte nicht! Sie wollte sich nicht ausmalen was passieren könnte, noch schlimmer was vielleicht schon passiert war, als sie nicht auf ihn fixiert war. Sie stieß einen erstickenden Laut aus. Wäre sie doch nie zurückgekommen, aber ihre Sehnsucht war zu groß. Hätte er sie nicht gesehen, dann würde er weiterleben wie zuvor.

Sie rauschte aus dem Park hinaus und bemerkte dabei, wie ihr fester Körper langsam wieder in den weißen Nebel aufging, welcher sie hierher getragen hatte. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, ehe sie - dieses Mal - für immer von dieser Welt gehen würde. Wo könnte er nur sein? Wo? Gedankenfetzen fegten an ihr vorbei, wie ein Wirbelsturm über die raue See. Zu Hause. Schule. Einkaufzentrum. Hochhaus. - Das Hochhaus! Jener Ort, an dessen untersten Stufen der Treppe sie zum ersten Mal einen Blick aufeinander geworfen hatten. Grau traf auf Braun. - Ein flüchtiger Blick, jedoch in ihren Seelen eingebrannt bis zum heutigen Tag. Mehr Bilder durchfluten ihr Gedächtnis, aber sie durfte sich nicht ablenken lassen! Es wurde immer schwerer gegen den natürlichen Sog anzukommen, allerdings gab sie nicht auf, konnte es nicht. Der gewünschte Ort kam in ihr Blickfeld. Automatisch sah sie auf. Ihr Atme stockte. Dort auf dem Dach, am Rand stand ein dunkler Schatten. Simeon!

Nein! Bitte, bitte nicht! Er durfte nicht sterben! War er des Wahnsinns?

Sie raste auf das Gebäude zu, obgleich wissend, dass sie es nicht schaffen würde ihn rechtzeitig aufzuhalten. Jeder Schritt wurde schwerer und schwerer. Ihre menschlichen Züge verschwammen mit jeder Sekunde mehr und die Kraft dagegen anzukämpfen wurde zugleich umso beschwerlicher. Bald würde sie gänzlich aus dieser Welt entschwinden. Zurück ins Licht. Zurück an einen Ort, wo sie im Nachhinein hätte bleiben sollen, es aber nicht hatte tun können. Der Drang ihn zu sehen war größer gewesen als all die Vernunft.

Jetzt konnte bloß noch ein Wunder helfen! Im Stillen betete sie, dass das Schicksal ihm eine weitere Chance auf das Leben geben würde. - Sie wurde nicht erhört.

Ihr einsamer herzzerreißender Schrei der über den kleinen Parkplatz vor den Haus hallte, war das Letzte was sie von sich geben konnte, als die Gestalt, Simeon sich in die Tiefen stürzte und sie sich auflöste. Vereint. Im Tode vereint. Aus Simeons Hand rutschte ein Gegenstand, nein eine Blume. Eine rote Rose, die rote Rose fiel dumpf zu Boden.



Impressum

Texte: Alle Rechte dieses Buches liegen bei mir, Julliet R., der Autorin.
Bildmaterialien: Das Coverblid und die Trennlinie habe ich aus Google Bildersuche.
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Kurzgeschichte an all meine Leser und an meine Familie.

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