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Der Sonnenschnee




Kapitel 1


Ich erwachte. Es war schon spät, viel zu spät, wie ich befürchtete, doch das war nicht wichtig. Die Besprechung würde erst anfangen wenn ich da war. Was mir Sorgen machte, war das Geräusch von dem ich aufgewacht war. Etwas klopfte an das Fenster, es war kein Regen. Ich stand auf, zog das Schwert aus der Scheide und öffnete die Vorhänge. Es schneite. Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, der Absurdität wegen. Es schien gleichzeitig die Sonne, es war Frühling. Der Sommer war im Anmarsch, es hatte schon seit Monaten nicht mehr geschneit. Irgendjemand schien Spaß daran zu haben, seine Magie zum Schneien lassen zu verschwenden. Sollte es ein Magier aus dem Schloss gewesen sein, würde er sein blaues Wunder erleben. Mit dem Gedanken im Hinterkopf machte ich mich fertig, öffnete die schwere Eichentür und betrat den Flur. Draußen wartete ein Dienstmädchen. Sie machte einen Knicks sobald sie mich sah. Die Mädchen hatten ihre Uniformen gewechselt, von den weißen langen Winterkleidern, zu den kürzeren blau-weißen Sommerkleidern.
Ich ging an ihr vorbei und lief den Flur hinunter, doch sie folgte mir. Anscheinend hatte sie mir etwas zu sagen. Spöttisch hob ich meine Augenbrauen, als sie mich am Ende des Flurs japsend erreichte. Menschen konnten erstaunlich langsam laufen.
„Die Schamanin wollte euch sprechen. Sie hat mich zu euch geschickt. Ich glaube es ist wegen dem Schnee.“
„Seit wann lässt sie mich zu sich rufen? Ich hätte gedacht, ich könne immer noch selbst entscheiden, wohin ich gehe.“
Betreten senkte das Mädchen den Kopf.
„Wo ist sie?“ abrupt blieb ich stehen. Das Mädchen wäre fast weitergerannt.
„Oben, im Westturm, Herr.“ Sie trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Anscheinend fühlte sie sich in meiner Nähe unwohl. Das taten zum Glück die Meisten. „Du darfst gehen.“ Eilig knickste sie wieder und lief davon.
Im Westturm hielt sich die Schamanin am liebsten auf, es war einer der am Menschenleersten. Die Schamanin war eine seltsame, zähe, alte, verschlossene und völlig schamlose Frau. Einer der angenehmsten Menschen hier.
Langsam stieg ich die über hundert Treppenstufen des Westturms hinauf. Es waren alte, bemoste Steinstufen, der feuchte Stein hatte einen unangenehmen Geruch, der mir in der Nase zog. In der Mitte des Turmes befand sich eine Plattform.
Dort fand ich die Schamanin. Sie stand an einer Öffnung, einem Fenster, das aus dem Stein gehauen war. Ihre Arme lagen auf dem Sims und sie schaute versunken in den Sonnenschnee. Ihre Stirn wies tiefe Sorgenfalten auf. Nervtötendes Weib.
„Wenn ich schon mal da bin, solltest du auch mit mir reden.“
Langsam drehte sie sich um. Sie schauspielerte nur allzu gerne, schon auf der dreiundneunzigsten Stufe hatte sie mich gehört.
„Ich nehme an, du hast es schon gesehen?“ Fragte sie mich, den Kopf wieder aus dem Fenster gestreckt. Vielleicht sollte ich sie herunterschubsen, dann wäre ich sie ein für alle Mal los.
„Wenn du mich das so fragst, dann nehme ich an, dass du nicht glaubst, es war einer unserer Zauberer?“ Ich gesellte mich zu ihr.
„Ich bin davon überzeugt, dass es keiner von uns war. Nein, dieser Schnee hat etwas zu bedeuten, etwas Großes.“
„Sag das doch nicht, ich bin immer noch dabei mir einzureden, dass es etwas völlig Harmloses ist.“
Sie schnaubte abfällig. „Bei dir geschieht doch nie etwas Harmloses, oder täusche ich mich da?“ Nein, vermutlich nicht. Das ist auch der Grund warum sie immer wieder da auftauchte, wo ich war. Sie stritt es zwar regelmäßig ab, aber sie liebte es bei wichtigen Ereignissen dabei zu sein. Eitles Frauenzimmer.
„Also, was vermutest du, was es ist?“ Abwartend blickte ich sie an.
„Wenn ich das wüsste, dann hätte ich es dir ja längst gesagt. Ich gebe es ungerne zu, aber ich habe nicht die geringste Ahnung. Nur das es kein unbedeutender Firlefanz ist, sondern das Zeichen, dass ein großes Ereignis bevorsteht.“
Langsam machte ich mir Sorgen, dass sagte sie nicht häufig. „Soll ich die Krieger alarmieren?“ Sie fing sofort an zu lachen, zu gackern wie ein Huhn. „Nicht jedes Problem lässt sich mit einem gutem Schwert lösen, dass solltest du wissen.“
Langsam ging mir die Geduld aus. Würde ich das nicht wissen, hätte ich ja nicht gefragt. „Wenn du sonst keine Idee hast, was man machen könnte, kann ich ja wieder gehen, oder?“ Um zu wissen, dass Großes auf mich zukam, brauchte ich sie nicht.
Wichtige Ereignisse waren für mich normal.
„Nein, ich wollte dir nur sagen, dass du vorsichtig sein sollst.“ Sie drehte sich um und ging weiter den Turm hinauf. Nun, wenn das alles war. Ich ging die Treppe langsam hinunter und bereitete mich auf die Besprechung vor.
Unten angekommen, machte ich mich auf den Weg zum Besprechungssaal. Ich kam an unzähligen Leuten vorbei, die hinunterliefen um den Schnee zu bestaunen. Selbst die gelangweiltsten Adligen ließ dieses Ereignis nicht kalt. Lächerlich.
Ich kam schließlich am Saal an, und die große Doppeltür wurde mir von zwei Dienern in blau-schwarzen Jacketts geöffnet. Drinnen saßen schon die meisten Teilnehmer auf ihren Plätzen. Als ich eintrat, erhoben sich alle, verbeugten sich und setzten sich wieder. Ich nahm meinen Platz in der Mitte der Sitze ein und die Besprechung ging los.
Als erstes trat einer meiner Vertrauten auf das Podest, er war für die Kriegsführung und die Armee zuständig. Ein Mensch namens Lor Westen, mittleren Alters, groß, schlank, braune Augen und Haare. Er hatte diesen Posten für seinen unbeschreiblichen Scharfsinn, sein Talent in Kriegstaktiken und seine Motivationsgabe bekommen. Ich empfand eine gewisse Sympathie für ihn, wäre ich ein Mensch gewesen, wären wir sicher so etwas wie Freunde geworden. Doch so sah ich in ihn einen äußerst nützlichen Verbündeten.
Er erläuterte in kurzen, knappen Sätzen, wie wir ihm Krieg gegen Koren, einem Land im näheren Westen vorgehen sollten. Es war ein Land mit fruchtbaren Böden und eine wichtige Quelle des Landwirtschaftshandels. Hatten wir dieses Land, konnte ich dafür sorgen, dass es nur noch mit unseren Ländern Handel trieb. Für die anderen Länder würde es unheimlich schwer werden, Lebensmittel zu besorgen und wären damit ein guter Angriffspunkt.
Als nächstes trat mein Finanzminister vor und erläuterte die Kosten des Krieges und die Probleme, die damit verbunden waren. Ich hörte konzentriert zu, und nach einer Stunde waren fast alle mit ihren Vorträgen fertig.
Der Minister für die Beziehungen zwischen den Ländern in unserem Königreich hatte seine Rede fast beendet, als mich plötzlich ein seltsames Gefühl überkam. Irgendetwas passierte auf dem Schlossgelände, vor dem Wald. Das gefiel mir nicht, ich hatte das Gefühl, dass es das Ereignis war, vor dem mich die Schamanin gewarnt hatte. Als ich die Hand hob, verstummte der Mann sofort und ich erhob mich von meinem Platz. Mit ein paar großen Schritten hatte ich den Saal durchquert, mit der festen Absicht herauszufinden, was in mir das seltsame Gefühl auslöste.

"Verstehst du mich?"




Ich stürmte durch die Gänge auf den Haupteingang zu und meine Sorge wurde immer größer. Es dauerte mir fast zu lange bis ich die Pforte übertrat und auf die Wiese lief. Es hatte sich schon eine große Gruppe Menschen angesammelt. Ich zog misstrauisch eine Augenbraue nach oben. Wenn Menschen dastehen konnten, schien es ja nicht so gefährlich zu sein. Schon etwas langsamer ging ich auf die Menge zu.
Ich drängelte mich zwischen den Leuten durch, die mich nicht zu bemerken schienen.
Eine irritierende Erfahrung. Als ich dann endlich den Quell der Aufmerksamkeit sah, stöhnte ich genervt auf. Licht, weiter nichts? Über der Wiese schien aus dem Nichts heraus Licht zu leuchten. Deswegen so eine Aufregung zu veranstalten war ja wohl übertrieben. Die Beratung abzubrechen und den armen Minister deswegen so in Angst und Schrecken zu versetzen, ich hätte nachdenken sollen bevor ich so übereilt reagierte. Leider sah ich, dass ich Westen mit meiner Aufregung einen Grund gegeben hatte, mir Krieger hinterher zu schicken. Ungefähr zwanzig bewaffnete Männer liefen im Eilschritt über die Wiese. Fast hätte ich gelächelt, sicher hatte ich vor zwei Minuten noch genauso aufgeregt ausgesehen. Besser ich erwartete sie, um ihnen zu sagen, dass sie sich umsonst Sorgen machten. Ich wollte ihnen gerade entgegen gehen, als die Leute überrascht aufschrien.
Blitzartig drehte ich mich wieder um. Das Licht wurde stärker, es schien sich etwas im Mittelpunkt zu bilden.
Nach ein paar Sekunden erreichten die Männer uns und ich befahl ihnen, die Leute wegzubringen und das Licht zu umstellen. Sie richteten ihre Speere auf das Licht. Die Menschen schauten in sicherer Entfernung zu. Ich stellte mich zwischen zwei der Männer und sah, wie das Licht immer stärker wurde. Dann, plötzlich, überstrahlte es alles. Die Leute wandten sich ab, geblendet von der Helligkeit. Ich zog mein Schwert und stellte mich direkt davor. Im Mittelpunkt bildete sich der Umriss eines Körpers, Flügel. Ich kniff erschrocken die Augen zusammen, als ich erkannte, was da entstand. War das . . . Konnte das ein Engel sein? Das Licht wurde wieder schwächer und auch die Menschen konnten es erkennen. Etwas in meinem Inneren krampfte sich zusammen. Ein Engel saß auf meiner Wiese, in meinem Land. In mir breitete sich eine gewaltige Wut aus. Vor genau siebentausend Jahren hatten die großen Dämonen, einschließlich mir, mit den Engeln einen Pakt geschlossen, dass sie dieses Land nicht mehr betreten durften, und jetzt wagte es dieser…
Ich hatte das Recht ihn umzubringen und das würde ich auch in Anspruch nehmen. Das Licht war allerdings noch zu stark. Ich würde warten.
Ich sah mir den Engel genau an. Er war männlich, ich konnte sein Alter nicht einschätzen. Sanft flossen seine hellen Haare über seine Schultern auf seinen Rücken.
Sie waren von einem angenehmen dunklen Goldton, in der Sonne glitzerten einige Strähnen hell und seine Haare glänzten leicht rötlich.
Leuchtend weiße Flügel erhoben sich bis weit über seinen Kopf. Er hatte einen sanften, hellen Haut Ton. Ein weißes, dickes Tuch umschlang seinen Körper, deckte ihn wie ein kleines Kind zu. Dann sah ich ihm in die Augen. Lange, schwarze Wimpern umfingen riesige dunkle Augen, die die Umstehenden unschuldig ansahen. Ich verlor mich in ihnen. Ich hatte noch nie in meinem Leben etwas so Wunderschönes gesehen.
Mein Schwert fiel scheppernd zu Boden. Das laute Geräusch brachte mich wieder zur Besinnung. Die Krieger sahen mich misstrauisch an. Ich hätte mich selbst am liebsten geschlagen vor Wut, ich durfte nie wieder dermaßen die Kontrolle verlieren. Wieder gefasst hob ich mein Schwert auf und steckte es in die Scheide. Der Engel sah erstaunt zu mir hoch als ich mich vor ihn stellte. Diesmal blieb ich ruhig als ich ihm in die Augen sah, ich war vorbereitet.
„Wie ist dein Name?“ Meine Stimme peitschte über den Rasen. Einige der Frauen zuckten ängstlich zusammen und die Männer spannten sich an. Er allerdings sah mich nur fragend an. Hatte er mich nicht verstanden? Ich atmete tief ein, gab den Männern den Befehl sich zurückzuziehen und beugte mich langsam zu ihm runter, obwohl ich die helle Kraft, die von ihm ausging, kaum mehr ertragen konnte. Er wusste anscheinend nicht, wie man den natürlichen Schutzwall aufstellte. Den Menschen war das von Geburt an gegeben, die Dämonen, Engel und anderen Wesen mussten es erst lernen, ihren Geist vor anderen zu beschützen. So spürte ich auch, dass er anscheinend keinerlei Angst empfand.
„Verstehst du mich?“ Fragend sah ich ihn an. Er sah mich noch genauso erstaunt an wie zuvor, keinerlei Anzeichen, dass er mich verstand. Ich wollte gerade aufgeben als er mich plötzlich anlächelte. „Wie heißt du?“ Ich hatte ein seltsames Gefühl gehabt, als er mich angelächelt hatte, doch es war schon wieder weg. Er hatte noch eine Chance, sonst würde ich ihn als hoffnungslos einstufen und mir den Rat der Engel vornehmen. „I… Ich… weiß… nicht.“ Es klang nicht so, als hätte er schon mal gesprochen, aber wenigstens konnte er unsere Sprache. „Du weißt nicht, wie du heißt?“ Er schüttelte entschuldigend den Kopf. Das bedeutete wohl, das war sein Lebensanfang, seine Geburt. Die Engel, die ich kannte, waren alle schon viele hundert Jahre alt, ich hatte also noch nie die Geburt eines Engels gesehen. Aus Büchern wusste ich, dass sie sich meistens durch irgendein Naturereignis ankündigte. In diesem Fall wohl der Sonnenschnee.
Ich konnte ihn nicht hierlassen, und töten ging leider auch nicht, da damals der Pakt mit den Engeln besagt hatte, dass, sollte jemals ein Engel auf meinem Gebiet geboren werden, er weder verletzt noch getötet werden durfte. Wäre ja auch zu einfach gewesen. „Gebt ihm ein Zimmer und richtet ihn menschlich her.“ Damit drehte ich mich um und ging zum Schloss zurück, diese Angelegenheit konnten die Diener übernehmen.

Ich verstand ihn einfach nicht




In mir explodierte alles. Meine Energie, meine Lebenskraft schoss aus mir heraus und ließ die ganze Welt im goldenen Licht erstrahlen. Es war so wunderschön, mir glitten Tränen über die Wange. Zeit und Raum verschwammen und ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als ich wieder in die Realität zurückkam. Mein Licht wurde schwächer und als ich mich umsah, merkte ich, dass ich an einem anderen Ort war.
Es war überhaupt alles anders. Erstaunt blickte ich mich um, in dem Versuch mich zu orientieren. Die Sonne schien, das viel mir als erstes auf. Dann spürte ich ein Kitzeln, ich sah zu meinem Arm. War das Schnee? Es schien so. Und schon wieder, eine Schneeflocke fiel mir direkt auf die Nase. Der Schnee war ja gar nicht kalt. Was ich noch viel merkwürdiger fand, war, dass ganz viele Leute um mich herum standen und irgendwelche Dinger auf mich richteten. Sie sahen aber gar nicht böse aus. Sie schauten mich nur vorsichtig und überrascht an. Wie seltsam. Ich hatte doch überhaupt nichts Überraschendes an mir, oder? Ich schaute an mir herab und merkte, dass ich mich geirrt hatte. Ich war in ein ganz weiches, dickes, leichtes, weißes Tuch gehüllt und längere Haare fielen an mir herab. An meinem Rücken waren Flügel, weiße Federn lugten über meine Schultern. Das mir das nicht schon vorher aufgefallen war. Ich erschrak, als ein Mann direkt auf mich zukam. Er war sehr schön. Er hatte schwarze Haare, sie waren auch lang, genau wie meine. Aber seine waren streng geflochten, es verlieh ihm ein kriegerisches Aussehen. Seine Augen waren genauso schwarz wie die Haare und blickten finster durch die Gegend. Er war groß und schlank und trug schlichte, schwarze Sachen, für den Kampf geeignet. Seine Gesichtszüge waren sehr fein, sie zogen die gesamte Aufmerksamkeit auf sein Gesicht. Von ihm schien eine mächtige dunkle Aura auszugehen. Die anderen Leute neigten leicht die Köpfe, als er in den Kreis eintrat, den sie um mich gebildet hatten. Er hatte hier die Machtposition, das war deutlich zu spüren. Er stellte sich ganz nah vor mich.
„Wie ist dein Name?“ Wieso schrie er denn so, er verschreckte ja die armen Menschen ganz. Er schien auf etwas zu warten, jedenfalls sah er mich abwartend an. Ich sah ihn genauso an, ich konnte doch nicht wissen, was er von mir wollte. Wieso sagte er mir es nicht einfach? Anscheinend hatte ich nicht so reagiert, wie er es erwartete, denn er beugte sich hinunter. Dann machte er eine ganz komische Handbewegung. War die für mich bestimmt? Eine Sekunde später gingen die Männer davon, die um uns gestanden haben. Was war denn jetzt los? Hoffentlich war keine Gefahr im Anzug. Der Mann vor mir blieb aber ganz ruhig und sah mich stechend an.
„Verstehst du mich?“ Ich sah ihn wieder nur an. Ich verstand ihn einfach nicht. Aber er hatte diesmal nicht geschrien und blickte mich jetzt nicht mehr so wütend an, sondern eher eindringlich. Ich freute mich, dass war doch schon mal ein Fortschritt.
Ich lächelte ihn an, als Zeichen, dass wir vielleicht doch Freunde werden konnten, wenn er in Zukunft nicht mehr so schrie. Ich war ziemlich traurig, als er mich dann unzufrieden ansah, ich hatte wohl immer noch nicht so reagiert, wie er es gern hätte.
Vielleicht konnten wir doch keine Freunde werden.
„Wie heißt du?“ Diesmal sprach er so ruhig, dass ich ihm zuhören konnte. Ich verstand sogar, was er sagte. Als ich ihm antworten wollte, merkte ich, dass es nicht so richtig ging. Wo war denn meine Stimme hin? Beim ersten Versuch brachte ich nur ein gekrächztes „I…“ raus, fürs "ich" reichte es nicht mehr. Eine Sorge beschlich mich, konnte ich denn gar nicht richtig sprechen? Doch, beim zweiten Versuch schaffte ich schon ein „Ich…“. Glücklich, dass ich doch sprechen konnte, spuckte ich auch noch irgendwie „weiß…“ und „nicht.“ aus. Zufrieden mit mir lehnte ich mich zurück. Allerdings sah der Mann mit der dunklen Ausstrahlung nicht wirklich glücklich aus. "Du weißt nicht, wie du heißt?" Ich verstand ihn wieder nicht, um ihm das zu zeigen, schüttelte ich mit dem Kopf. Seufzend wandte er sich ab. Ich wollte ihn doch fragen, was ich besser machen sollte und ihm sagen, dass er nicht traurig sein soll, aber er ging schon. Er rief noch irgendwem etwas zu, dann verschwand er aus meiner Sicht. Bedauernd blickte ich ihm nach. Dabei hatte er sich doch solche Mühe mit mir gegeben, ich hätte mich schon ein bisschen mehr anstrengen können. Ich wurde abgelenkt, als zwei Frauen auf mich zukamen. Die eine beugte sich zu mir herunter. Sie war mollig und lächelte und hatte ein ganz liebes Glitzern in den Augen. Ich mochte sie. Sie fragte mich auch ganz vorsichtig: „Kannst du aufstehen?“ Ich wusste zwar nicht wirklich was sie wollte, aber ich begriff, was sie meinte. Also versuchte ich aufzustehen, ihr zuliebe. Allerdings klappte das nicht so gut, meine Beine waren ganz wackelig und ich fiel sofort wieder hin. „Na komm.“ Die mollige, liebe Frau packte mich unter dem einen Arm an und die andere unter dem anderen Arm. Die zweite Frau war noch sehr jung und sie war schlank und hatte rote Haare und ein verschlossenes Gesicht, aber ich glaubte, sie war auch ziemlich nett.
Mit der Hilfe der beiden schaffte ich es tatsächlich aufzustehen und blieb auf wackeligen Beinen stehen. Das Tuch fiel nicht herab, sondern war so um mich geschlungen, dass es nicht abfiel, auch wenn ich mich stark bewegte. Mithilfe der Frauen machte ich meine ersten Schritte und sah zum ersten Mal meine Füße. Sie sahen seltsam aus, nach einer Weile fand ich sie ziemlich lustig. Ich fand die Zehen schön.

Die Herausforderung, sich anzuziehen




Ich war ziemlich geschafft, als ich und die beiden Frauen vor einer Holztür stehen blieben. Ich atmete schwer und die zwei warfen mir ab und zu besorgte Blicke zu. Es tat mir leid, dass sie sich Sorgen machten, aber mit dieser Anstrengung hatte ich einfach nicht gerechnet. Der Weg bis zur Pforte war einfach gewesen, aber die langen Gänge und die vielen Treppen hatten mich einfach geschafft. Aber ich hatte viele geheimnisvoll aussehende Türen und Gänge gesehen, die ich unbedingt auskundschaften musste. Die Rothaarige öffnete mir die Tür und sie schoben mich in ein Zimmer. Ein großes Bett stand neben der Tür und gegenüber ein großer Schrank. In der Ecke war eine Art aufgeklappte Wand. Ich fragte mich, wozu die wohl gut war. Die Liebe setzte mich auf das Bett und ließ sich neben mir nieder, die Rothaarige ging zum Schrank und öffnete ihn.
„Sag mal, hast du eigentlich einen Namen?“ Hm, hatte mich das nicht schon der Mann gefragt? Namen, Namen. Nein, ich glaubte nicht, dass ich einen hatte.
Ich schüttelte also wieder den Kopf.
„Naja, nicht schlimm. Du wirst sicher noch einen bekommen.“ Einen bekommen? Woher denn? Gab es jemanden, der die Namen festlegte? Ich zuckte leicht mit den Schultern. Jetzt kam die junge Frau zum Bett, sie hatte Kleider über dem Arm. Energisch stellte sie sich vor mich hin und ließ die Sachen in meinen Schoß fallen.
„So, jetzt probiere die mal an.“ Anprobieren? Ich wusste nicht ganz, was sie von mir wollte, aber ich hatte von dem Mann gelernt, dass die Menschen es nicht mochten, wenn man ihren Aufforderungen nicht nachkam. Also nahm ich das erste Kleidungsstück in die Hand und hielt es mir vor das Gesicht. Es war braun und es bestand aus zwei Dingern, Stoffstücken. Ich roch daran. Ich legte es wieder hin. Und jetzt? Reichte das? Anstatt zufrieden zu sein, schleppten mich die Frauen hinter die aufklappbare Wand. Aha, vielleicht würde ich jetzt erfahren, wozu sie gut war. Die Frau mit den roten Haaren, die jüngere hatte die Sachen vom Bett geholt und legte sie über die Wand. Dann standen die beiden da und schauten sich unsicher um. Es schien ihnen etwas peinlich zu sein. Bevor ich sie danach fragen konnte, verschwanden sie vor die Wand und ließen mich einfach stehen. Ich hörte sie leise reden.
„Was machen wir jetzt, wir können ihn doch nicht einfach umziehen.“ Das war die liebe Frau. „Wieso nicht? Ich glaube nicht, dass er Schamgefühle besitzt.“ Das war die andere. Ich lehnte mich leicht gegen die Wand. Was redeten die denn da von umziehen? „Nein, aber wir.“
„Was willst du anderes machen, er hat ja noch nicht einmal erkannt, dass er eine Hose in der Hand hat. Er wird doch nicht die geringste Ahnung haben, wie man sich anzieht. Nicht, dass er sich die Hose noch auf den Kopf steckt."
Das wurde langsam lächerlich. Konnten sie nicht einfach mit mir sprechen? Ich war doch ein eigenständiges Wesen. Ich ging also um die Wand herum und stellte mich, mit verschränkten Armen vor die Frauen.
„Könnt ihr mich nicht einfach selber fragen, ob ich mich umziehen kann?“ Es klappte ja schon richtig gut mit dem Sprechen.
Sie lächelten mich hoffnungsvoll an. „Kannst du dich selber umziehen?“
„Bestimmt, wenn ihr mir erklärt, wie das geht.“ sagte ich zögerlich. Die ältere seufzte und sie zogen mich wieder hinter die Wand und begannen, mir das Tuch abzuwickeln. Seltsamerweise sahen sie mich nicht an, während sie das taten. Dann hockte sich die eine hin und hielt mir ein weißes Ding vor die Füße. „Was soll ich jetzt tun?“ Besser ich fragte, ehe ich wieder etwas falsch machte. „Steck deine Beine in die Löcher.“ Das machte ich.
Sie zog mir das Ding hoch. Als sie das getan hatte, sahen mich die Frauen wieder an.
„Wie nennt man das?“ Ich deutete auf das weiße Ding an meinem Körper. „Das ist eine Unterhose.“ So ging das weiter. Sie quetschten mich in verschiedenste Dinge, mal an meinen Füßen, dann an meinen Beinen, und an meinem Oberkörper. Ich fragte bei jedem, wie es hieß. So lernte ich das Hemd, die Hose, Socken, die Jacke, das Tuch und die Schuhe kennen. Beim Hemd und der Jacke schnitten sie schweren Herzens zwei Löcher hinein und zwängten meine Flügel hindurch. Alles in allem fühlte ich mich ziemlich unwohl. Doch die Frauen sahen mich zufrieden an. Das war ein gutes Gefühl, zum ersten Mal machte ich etwas richtig. Sie drängten mich nun auf einen Stuhl, vor einer Kommode.
Die ältere Frau holte etwas hervor, von dem sie sagte, es sei ein Kamm. Sie strich mir damit durch die Haare, ich verstand den Grund nicht, der Kamm glitt ganz leicht durch meine Haare. Da fiel mir etwas ein. „Du hast mich doch vorhin gefragt, ob ich einen Namen habe, oder? Hast du denn einen?“ Sie lachte. „Ja, natürlich habe ich einen. Jeder Mensch hat einen Namen. Ich heiße Wills.“ Wills, das klang komisch. Es hinterließ ein kribbeliges Gefühl auf der Zunge.
„Ich bin Jana.“ Die jüngere stand nun neben mir, mit einem Band in der Hand. Sie stellte sich hinter mich und wickelte das Band um meine Haare.
„Wenn jeder Mensch einen Namen hat, wieso habe ich dann keinen?“ Wills sah mich ratlos an. „Na, ich nehme an, weil du kein Mensch bist.“ Erstaunt drehte ich mich zu ihr um. „Was bin ich denn dann?“ Wills blickte zu Jana, die vorsichtig meine Flügel berührte. „Menschen haben keine Flügel. Du wirst ein Engel sein.“
Ich hatte das Gefühl, ich sollte nicht mehr so viel fragen. Ich verstand ja eh nur die Hälfte der Antworten. Trotzdem konnte ich es nicht lassen. Neugierig, das war ich.
„Was ist ein Engel?“ Wills schaute mich zweifelnd an, dann seufzte sie.
„Das darfst du mich nicht fragen. Ich weiß sowieso nicht so viel darüber.“
„Aber irgendetwas musst du doch wissen.“
„Naja, Engel gelten als die sanftmütigsten, weisesten Geschöpfe, die es so gibt.“ Ich verstand nicht alles, aber ich dachte darüber nach. Eigentlich klang das nicht schlecht.
„Aber jetzt komm erstmal und schau dich an.“ Sie stellten mich vor einen Spiegel.
Da stand ich. Hinter mir eine stolze Jana und eine stolze Wills. Ich glaubte, sie waren stolz wegen der Frisur und der Kleidung, aber ich schaute mir erstmal mein Gesicht an. Ich hatte ganz dunkle Augen, aber sie sahen nicht böse aus, sondern eher neugierig. Außerdem war ich ganz eindeutig ein Mann. Ich konnte es nicht richtig einschätzen, aber ich sah vermutlich ziemlich hübsch aus. Meine blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, aber einige Strähnen waren herausgerutscht und hingen mir nun im Gesicht rum. Ich strich sie wieder hinter. Ein weißes Hemd hatte ich an und darüber einen dunkelblauen Mantel. Die hellbraune Hose war jetzt an meinen Beinen und schwarze Schuhe trug ich an meinen Füßen. Ich sah wie einer der Männer aus, die auf der Wiese gestanden hatten.
„Hübsch, nicht?“ fragte Jana von hinten. Nein, eigentlich nicht. Aber ich freute mich, dass sie etwas Gutes über mich oder meine Kleidung sagte, also nickte ich.
„So, wir müssen jetzt runter in den großen Saal und helfen, das Mittagessen aufzutragen. Also stell keinen Unsinn an, in Ordnung?“ Wills klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter. Dann verschwanden die beiden. Jana lächelte mir im Hinausgehen noch freundlich zu, darüber freute ich mich. Wo sie doch sonst eher zurückhaltend war. Nun war ich allein. Ich stellte mich an das Fenster und sah mir die Leute draußen an. Die Männer schienen ihre Mäntel abgelegt zu haben, also tat ich das auch und legte ihn auf das Bett. So war es mir sowieso angenehmer. Die Frauen auf der Wiese hatten alle viel buntere und breitere Kleider an als Jana und Wills. Sie spazierten auf den Wiesen, manchmal Arm in Arm, manchmal mit einem Schirm.
Plötzlich merkte ich, dass ich Hunger hatte. Ich schaute mich im Zimmer um, ob ich etwas Essbares fand und fing an, alle Schubladen durchzuwühlen,doch ich fand nur Kleidungsstücke, Bücher und andere seltsame Dinge. Also beschloss ich, das Zimmer zu verlassen und mich auf die Suche zu begeben. Einen kurzen Moment zögerte ich, dann öffnete ich mutig die Tür.

Ein Stückchen Dunkelheit




Wütend schritt ich die Gänge in den Keller hinab. Ab und zu kam ich an Dienern vorbei, die sich vor mir verbeugten, als sie mich sahen. Je tiefer ich kam, desto dunkler und ausladender wurden die Gänge und Uniformen der Männer. Auf der untersten Etage, den tiefstgelegenden Kellerräumen waren die Kerker. Die Wächter und die Folterknechte waren in Schwarz gekleidet und ihre Haare waren kurz geschoren. Auch Frauen kamen mir entgegen, sie trugen allesamt schwarze Hosen und Hemden und hatten ihre Haare fest zusammengebunden. Nicht nur Männer waren Folterknechte. Als ich an einem der hinteren Räume angekommen war, traten die zwei Wachen zur Seite und ließen mich hinein.
Sobald ich drinnen war, wurde die Tür hinter mir abgeschlossen. In der Mitte hing an zwei Ketten, die an der Decke befestigt waren, ein Mann. Seine Schultern waren ausgerenkt, weil er mit den Füßen den Boden nicht berührte. Er hing dort vermutlich schon einige Tage. Blut lief an ihm herab, schlimme Schnittwunden zierten seinen gesamten Körper, einige hatten sich entzündet und sahen nun wirklich ekelhaft aus.
Er war ein Spion, soviel hatte der Mann, der ihn vorher gefoltert hatte, herausgefunden. Von da an hatte der Mann aber seine Klappe gehalten, weswegen der Folterknecht sich Hilfe bei den anderen geholt hatte. Jeder hatte versucht, ihm Informationen zu entlocken, doch selbst die Begabtesten hatten es nicht geschafft.
So tauchte vorgestern der Kerkermeister in meinen Gemächern auf und bat mich beschämt um Hilfe. Ich fand, es war eine gute Idee, meine Wut auf diesen Engel und diesen hirnlosen Pakt, der mir verbot ihn zu töten, nützlich zu verwenden. Ich betrat die Nebenkammer, in der zahlreiche verschiedene Folterinstrumente lagerten. Mit jedem Schritt, den ich machte, verschwand ein Stück Menschlichkeit aus mir, bis meine Augen rot glühten und meine Reißzähne hervortraten. In mir brannte nur noch das atemberaubende Verlangen, diesem Menschen das Leben zu nehmen, doch ich musste mich zusammenreißen. Mit verschiedenen Messern ausgerüstet stand ich neben dem Mann, doch dann stellte ich enttäuscht fest, dass er geistig schon tot war, auch wenn er noch atmete. Deswegen fühlte er auch nicht mehr den Schmerz der Folter. Seufzend räumte ich die Messer wieder weg, außer eines, und mit diesem in meinem Gürtel, legte ich dem Mann meine Hände auf die Schultern. Dann drang ich mit meinem Geist in seinen ein, in ihm herrschte nichtssagende Dunkelheit. Ich entfaltete meine Kraft in ihm, und er fing an, wie besessen zu schreien. Menschen trugen sowohl helle, als auch dunkle Energie in sich. Das hieß, dass man sie mit der hellen, wie auch mit der dunklen Kraft vernichten konnte. Gegen meine vollständig dunkle Energie kam er nicht an, sein Geist erwachte wieder.
„Sag mir von welchem Land du kommst und wie dein Auftrag lautet.“
Er wandte sich und heulte, aber sprach nicht. Ich öffnete die Ketten und knallte ihn gegen die Wand. Sein Kopf gab ein lautes Knacken von sich.
Er rutschte teilnahmslos die Wand herab und kippte zur Seite, als ich ihn losließ.
Ich packte ihn am Hals und zwang ihn, sich wieder hinzusetzen. Er gab ein Gurgeln von sich und öffnete den Mund ein paar Mal. Dann verreckte er einfach.
Das konnte doch nicht wahr sein. Jetzt war er einfach gestorben, ohne mir etwas zu verraten. Vor Wut rammte ich das Messer ein paar Mal in seinen Bauch, bevor ich von ihm abließ. Ich hämmerte gegen die Tür und die Wächter öffneten.
„Räum ihn weg.“ befahl ich einem von ihnen und rauschte den Gang entlang. Die Menschen wichen mir eilig aus und vergaßen vor Schreck fast sich zu verbeugen. Im Gehen merkte ich, dass Blut von meinem Hemd tropfte. Ich wrang es aus, zum Glück waren meine Sachen schwarz, man sah die Flecken also kaum. Als ich in die oberen Kellerräume kam, wurden meine Augen wieder schwarz. Ich schien mehr Zeit in den Kerkern verbracht zu haben als gedacht, denn ein Blick aus dem Fenster zeigte mir den Einbruch der Nacht.

Ein Stückchen Licht




Fröhlich streifte ich durch die Gänge und Kammern, auf der Suche nach etwas zu essen. Das machte furchtbaren Spaß, dieses Schloss war wie ein Labyrinth, oft kam ich mehrmals an dieselbe Stelle, dann fand ich mich auf winzigen Wegen oder in Sackgassen wieder. Manche Gänge waren aus Stein, bei anderen waren kunstvolle Bilder an die Wände gemalt oder sie waren mit dicken Teppichen ausgelegt.
Ich verstand diese Welt immer besser. Sobald ich Menschen sah, nahm ich einen anderen Weg oder versteckte mich, nur zum Spaß. Ich huschte wie ein Gespenst durch das Schloss. Allerdings wurde mein Hunger immer größer und nach einer Weile wich ich den Menschen nicht mehr aus, sondern suchte sie. Ich war in einen so abgelegenen Bereich des Gebäudes gekommen, dass ich überhaupt keine Menschen mehr sah. Langsam machte ich mir Sorgen. Wie sollte ich denn so etwas zu essen finden?
Ich wollte gerade verzweifeln, als ich ein Geräusch hörte. Ich hatte so etwas noch nie gehört, vorsichtig ging ich näher. Am Ende eines breiten Ganges spähte ich um die Ecke. Da, ein Stück entfernt, saß an der Wand eine Frau. Sie umschlang ihre angezogenen Beine mit den Armen und hatte ihren Kopf darauf gelegt. Von ihr kamen diese Geräusche. Ich legte den Kopf schief. Wellen des Schmerzes schienen von ihr auszugehen. Mir wurde ganz schlecht davon, ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. Langsam ging ich zu ihr hin, unschlüssig blieb ich vor ihr stehen. Sie schien mich nicht zu bemerken, also räusperte ich mich leise.
Erschrocken blickte sie zu mir hoch, ihre Augen waren ganz rot umrandet und feucht.
„Was wollt ihr hier?“ Wütend blickte sie mich an.
„Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, ich habe mich verirrt.“ Betreten schaute ich sie an. „Ich wollte dich nicht stören, es tut mir leid.“
Sie schaute mich feindlich an und schien zu überlegen, was sie nun machte. Sie schickte mich aber nicht fort, also setzte ich mich neben sie.
„Geht es dir nicht gut?“ Sie blinzelte mich nur wütend an, als wäre ich daran schuld, dass sie sich schlecht fühlte. So saßen wir eine Weile nebeneinander, sie tupfte sich mit einem Tuch die Augen ab und schaute mich hin und wieder wütend an und ich zupfte ein wenig an meinem Hemd herum.
„Ich sollte jetzt eigentlich im Ostflügel sein und mit Freunden Karten spielen.“ sagte sie plötzlich. Ich schaute zu ihr herüber. Sie machte aber keine Anstalten, sich zu erheben. „Was spielt ihr denn?“ Ich wusste nicht, was Karten waren, aber ich hatte das Gefühl, eine Frage stellen zu müssen.
Jetzt nahm sie das Tuch vom Gesicht und lächelte leicht. „Tam. Das spielen wir immer.“
„Kannst du gut spielen?“ fragte ich. Jetzt lächelte sie noch ein wenig mehr, doch sie starrte immer noch die gegenüberliegende Wand an. „Nein, ich verliere fast immer. Aber das macht nichts.“ Jetzt lächelte ich auch.
„Wieso bist du

denn hier?“ Jetzt verzog sie den Mund und ihre Augen verengten sich.
„Das geht euch nichts an.“ Ich atmete tief durch. Das war aber eine störrische Frau.
Ich

bin hier, weil ich etwas zu essen suche.“ Überrascht sah sie mich an, dann lachte sie, was allerdings unerwartet in ein Schluchzen umschlug. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also legte ich meinen Arm um ihre Schultern. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter und weinte ganz fürchterlich. Mein Hemd wurde ganz nass. Während sie so herzzerbrechend weinte, spürte ich, wie mir selbst die Tränen in die Augen traten. Ich wollte es noch verhindern, denn die Frau weinte jetzt und brauchte jetzt nicht noch jemanden, der das auch tat, da lief mir schon die erste über die Wange. Schnell wischte ich sie mit dem freien Arm weg. Die Frau hatte nichts gesehen, sie weinte ja immer noch. Bald konnte ich die Traurigkeit der Frau und die Traurigkeit, die sie auf mich übertrug nicht mehr ertragen, also fragte ich schnell: „Was ist denn los?“ und strich ihr beruhigend über den Arm. „Mein…Mein Vater hat mir gesagt, ich…“
Sie schluchzte immer wieder während sie redete und brach, bevor sie den Satz zu Ende brachte, in einen Heulkrampf aus. Ich seufzte tief. „Jetzt beruhige dich doch mal.“ Langsam ließen die Schluchzer wieder nach und sie fing an halbwegs gefasst zu sprechen. „Mein Vater hat mich vor einiger Zeit verstoßen und mich enterbt.“ Ich sah sie verständnislos an. „Das bedeutet, ich bin keine Adlige mehr.“ Erklärte sie mir. „Ich bin aber trotzdem auf das Schloss hier gekommen und habe so getan, als wäre ich noch eine. Jetzt kommt mein Vater auch bald hierher, aber er weiß nicht, dass ich hier bin und wenn er mich hier sieht…“ Die Tränen rannen über ihr Gesicht und sie strengte sich augenscheinlich sehr an, sich zusammenzureißen. „Dann weiß ich nicht, was er machen wird.“ Wieder atmete ich tief ein. Ihr Problem war ja wirklich schwer zu lösen. „Wieso verschwindest du nicht einfach?“ Wenn ihr Vater woanders war, dann musste es ja auch noch andere Orte als dieses Schloss geben, oder? Wieso ging sie nicht einfach zu einem anderen Ort? „Scherzt ihr? Ich habe nie etwas gelernt, ich bin an das Leben im Schloss gewöhnt. Ich kann mir ja nicht einmal alleine die Haare machen.“ Verzweifelt legte sie den Kopf in ihre Hände. „ Das ist doch nicht so schlimm, ich kann mir auch nicht allein die Haare machen. Vermutlich würdest du woanders noch besser zurechtkommen als ich, wenigstens weißt du, wo du etwas zu essen findest.“ Mein Magen schmerzte langsam.
„Aber ich will auch gar nicht fortgehen, wisst ihr…“ Oh je, vermutlich wurde es jetzt noch komplizierter. „Ich habe mich in einen Adligen am Hof hier verliebt und er denkt, ich wäre eine reiche Frau, die nur ihren Urlaub hier verbringt.“ Fast hätte ich gelacht. Um sich so in Schwierigkeiten zu bringen, musste man echt Talent haben.
„Liebt er dich denn auch?“ Sie zuckte mit den Schultern „Ich glaube schon.“
„Wieso fragst du ihn dann nicht einfach, ob er dir hilft?“
„Und was ist, wenn er mir nicht hilft, sondern mich verrät?“
„Wenn er dich liebt und du ihn darum bittest, wird er das schon nicht tun.“
Sie schaute eine Weile ins Leere und überlegte. Lächelnd drückte ich ihre Hand. „Zu zweit lässt sich ein Problem immer besser lösen als alleine.“ Jetzt lächelte sie mir auch zu. „Vielleicht habt ihr Recht. Ich kann es auf jeden Fall einmal versuchen.“
Eine Weile saßen wir noch da und hingen unseren Gedanken nach. Dann erhob sie sich freudig und ich stand ebenfalls auf. Dankbar drehte sie sich zu mir um und faltete ihre Hände vor ihrem Bauch. „Ich heiße übrigens Linia. Wenn ihr jemals Hilfe brauchen solltet, dann helfe ich euch gerne.“ Das war aber freundlich. „Danke, dann kannst du mir gleich helfen.“ Fragend blickte sie mich an.
„Kannst du mir jetzt endlich verraten, wo ich etwas zu essen finde?“

Ein etwas schwieriger Koch




Nach rechts- nach rechts, hatte sie gesagt. So, und dann die Treppe herunter. Aber welche Treppe, die rechte oder die linke? Ah, das war doch zum Verzweifeln. Aber ich konnte nicht hier stehenbleiben, also nahm ich die linke. Und dann geradeaus. Ich seufzte, als ich den unendlich langen Gang sah, der sich vor mir erstreckte. Nein, vorher brauchte ich eine Pause. Ich setzte mich im Schneidersitz auf dem Boden und überlegte. Es musste doch irgendeinen Trick geben, wie die Menschen so lange Strecken laufen konnten, ohne erschöpft zu sein. Eine Weile starrte ich meine Beine an, dann kam ich auf eine Idee. Ich schloss meine Augen, ich fühlte die Energie, die durch meinen Körper floss. Und wenn die Menschen ihre Energie in ihre Beine fließen ließen? Ich versuchte es und stand auf. Tatsächlich, ich lief gleich beschwingter. Das war ja so einfach wie genial. Lachend rannte ich den Gang hinab, wie einfach das jetzt ging. Doch am Ende des Ganges prallte ich unsanft auf den Boden, ich war gegen etwas gestoßen. Mir den Kopf reibend stand ich auf. Vor mir stand ein dicklicher älterer Mann mit einem hochroten Kopf. Ich stolperte zurück, er kam hinterher.
„WAS FÄLLT DIR EIN HIER SO RUMZURENNEN?“ Er fuchtelte mit seinem Finger vor meinem Gesicht herum und sein Kopf wurde noch röter. Ich zog die Schultern ein und wurde knallrot vor Scham. „Ähm, ich wollte nur…“
„Gar nichts wolltest du, nur unschuldige Menschen vom Arbeiten abhalten!“
Völlig fassungslos schaute ich ihn an. Das hatte ich niemals vorgehabt. Ich nickte aber nur und legte meine Hand auf seine Schulter. „Es tut mir sehr leid, das soll nie wieder vorkommen.“ Für einen Moment sah er mich erstaunt an, dann drängelte er sich an mir vorbei und lief den Gang hinunter. Ich folgte ihm belustigt.
„Bist du nicht dieses Ding, das heute urplötzlich auf der Wiese aufgetaucht ist?“ sagte er mit einem schielen Blick auf meine Flügel.
„Das bin ich.“
„Und was hast du hier zu suchen?“
„Ich suche die Küche.“ Er warf mir einen misstrauischen Blick zu.
„Und was hast du vor, wenn du da bist?“
„Ich wollte etwas essen, denn ich leide schon seit über einer Stunde unter gewaltigen Hungerkrämpfen.“
„Hm. Meine Küche ist doch kein Futterhäuschen.“
War das eine Anspielung auf meine Flügel?
„Gehört die Küche dir?“
„Ich bin der oberste Koch, jawohl. Und du solltest dir merken, man spricht respektable Leute nicht einfach mit du an, sondern nimmt die respektvolle Anrede.“
„Die da wäre?“ Jetzt war ich neugierig, er sprach mich doch auch mit du an.
„Man sagt ihr.“
„Aha.“
Ich stellte fest, dass ich doch die rechte Treppe hätte nehmen müssen. Er lief mit einem gestressten Gesichtsausdruck vor mir her. Dann fing er wieder an.
„Aber glaube ja nicht, dass du dich bei mir durchfressen kannst. Essen gibt es zu den geregelten Mahlzeiten und die hast du, wie jeder andere auch, einzuhalten. Sag mal, wie heißt du eigentlich?“
„Ich habe noch keinen Namen.“ Das schien ja langsam wirklich zum Problem zu werden.
„Dann solltest du dir einen zulegen,weil sonst kannst du gleich vergessen, hier etwas zu gelten.“
Oho. Das war aber nicht sehr nett. Trotzig blickte ich auf den Boden. Er öffnete die Türen und wir betraten einen weißen Raum. Er war sehr groß und überall standen Tische und huschten weiß gekleidete Leute umher. Das musste die Küche sein. Er setzte mich an einen großen Holztisch und rief einer Frau zu: „Gib dem was zu essen!“ Eine Weile später kam sie mit einem großen Holzbrett zu mir. Sie stellte es vor mir ab, sodass ich unzählige Sachen darauf sehen konnte.
„Hier, iss.“ Sie setzte sich zu mir an den Tisch. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu einem Knoten zusammengebunden und vom vielen Arbeiten hatte sie ganz rote Wangen. Die Sachen auf dem Brett sahen seltsam aus, aber sie anscheinend waren zum Essen da, also griff ich mir etwas Gelbes und biss herzhaft hinein. So besonders schmeckte es nicht, aber es war besser als nichts.
„Du bist der Engel, nicht wahr?“ Ich hob meinen Kopf.
„Hmm-hm.“ Mein ganzer Mund war voll, ich musste mühsam hinunterschlucken, bevor ich mir die braune Masse in den Mund löffeln konnte.
Sie saß ruhig bei mir bis ich aufgegessen hatte, doch als ich das Brett weg schob, fragte sie: „Wo kommst du eigentlich her?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Aus dem Licht.“ Sie lächelte breit.
„Das habe ich gesehen, aber warst du nicht vorher irgendwo?“ Ich schüttelte mit dem Kopf. „Aber mich würde es interessieren, wo ich bin.“
„Du bist in einem Land namens Jaden. Dieses und noch viele andere Länder werden von Ares regiert, unserem Herrn. Du bist ihm begegnet, als du hier angekommen bist. Ich weiß, er wirkt finster, aber er ist ein wirklich guter Herrscher. Auch wenn du ihm lieber nicht zu nahe kommen solltest.“ Unsicher schob ich das Brett noch ein Stück weiter von mir weg. Das gefiel mir nicht. Ich war in eine Welt gekommen, in der zu viele unbekannte Gesetze und Gefahren herrschten. Ich würde es nicht einmal merken, wenn ich einen Fehler machte.
„Rose. Vertrödele deine Zeit nicht mit herumsitzen, wir brauchen dich.“ Das war der Koch, der aus einer Kammer lauthals schrie, so schreien konnte nur einer.
„Entschuldige mich, ich muss wieder an die Arbeit.“ Schnell stand sie auf und machte sich auf den Weg. Dann sollte ich wahrscheinlich auch gehen. Schnell machte ich mich aus dem Staub, bevor der Koch wieder auftauchte. Den Flur hinuntergehend dachte ich nach. Der Mann hieß also Ares.

Seelenlichter




Stein für Stein, Stufe für Stufe. Wohin sollte ich nun gehen? Das hatte mir keiner gesagt. Ich blieb an einem Fenster stehen. Es schneite nun nur noch ein bisschen, nichts im Vergleich zu heute Vormittag. Draußen spielten ein paar Kinder auf der Wiese, sie rannten umher und lachten. Ich schaute ihnen eine Weile lang versunken dabei zu, bevor mich ein Gefühl dazu brachte, zur Seite zu schauen. Dort stand der Mann, Ares und schaute mich an. Als ich ihm in die Augen sah, wich ich erschrocken zurück. Seine Augen waren erfüllt von kaltem Hass gegen mich. Aber wieso? Gab es einen Grund, so wütend auf mich zu sein? Ich ging langsam auf ihn zu. Als ich dicht vor ihm stand, zischte er mir ins Gesicht: „Geh weg.“
Er wollte, dass ich ging? Aber ich war doch gerade erst angekommen. Ich spürte, wie mir wieder die Tränen hoch kamen, doch diesmal konnte ich sie erfolgreich wieder verdrängen. Ich musste stark sein, wenn ich gegen ihn ankommen wollte.
„Wohin soll ich denn gehen?“ Ich gehörte doch nirgendwo hin.
„Wohin du willst, nur weg von hier.“ Ich ging wütend noch näher, verstand er mich denn nicht? Ich hatte keinen Ort, zu dem ich gehen konnte. In seinen Augen blitzte es gefährlich auf und ich musste mich zwingen, an der Stelle stehen zubleiben, auf der ich war. „Wohin soll ich gehen?“
„Geh von mir aus durch den Wald.“

Durch den Wald, na gut. Wenigstens wusste ich, wo der Wald war. Hmm, wenn er wollte, dass ich ging, dann ging ich eben. Ich lief an ihm vorbei, die Treppe hinunter und hoffte sehnlichst, dass das auch nur ansatzweise die richtige Richtung zum Haupttor war. Erleichtert atmete ich auf als ich nicht mehr in seiner Sichtweite war. Der war aber launisch. Auf der Wiese hatte er doch noch ganz nett gewirkt und jetzt, versprühte er seine rabenschwarze Aura wie Gift in die Gegend.

Ich irrte im Schloss umher, zum Glück traf ich diesmal auf Leute, die ich nach dem Weg fragen konnte. Die meisten schauten mich ganz seltsam an, was mich immer unsicherer machte. Ich war fast froh, als ich schließlich doch das Haupttor erreichte und den Blicken entfliehen konnte. Die Wiese sah vom Tor viel größer aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Ich sah Frauen in bunten weiten Kleidern und Männer in ähnlichen Sachen wie die meinen am Rande der Wiese umherspazieren. Von Zeit zu Zeit entdeckte mich einer und beäugte mich interessiert. Schnell überquerte ich die Wiese in Richtung Wald. Je näher ich kam, desto einladender sah er aus. Es gefiel mir, überall waren grüne Pflanzen und als ich ankam, duckte ich mich schnell hinter einen Busch um den Blicken auszuweichen. Hastig krabbelte ich unter den Büschen durch, die mir den Weg versperrten.

Als ich mich wieder erhob, bemerkte ich, dass ich meine Hosen, auf die Wills und Jana so stolz gewesen waren, ganz dreckig gemacht hatte. Nun ja, dass war jetzt nicht mehr zu ändern. Mir klappte jedoch der Mund auf, als ich mich umschaute. Erst jetzt sah ich, wie groß die Bäume tatsächlich waren. Überall war es grün und braun und überall wuchsen verschiedenste Pflanzen. Dagegen kam das Schloss nun wirklich nicht an. Begeistert drehte ich mich um die eigene Achse, um alles genau zu sehen. Ich legte mich auf den Boden und bewunderte die winzigen feinen Pflänzchen und Grashalme. Die Bäume strahlten eine frische, veränderliche Ruhe aus, gleichzeitig wirkten sie schon sehr alt und weise.

Hier fühlte ich mich weitaus wohler als bei den Menschen, auch wenn es nicht das Gleiche war. Von dieser stillen Ruhe ergriffen, wandelte ich tiefer in den Wald hinein. Manchmal hörte ich einen Vogel zwitschern oder sah ein Tier. Ich konnte ganz nah an die Tiere herangehen. Sie liefen nicht vor mir weg, weil ich genauso rein war wie sie. Ich zog meine Schuhe und Socken aus um das Moos unter meinen Füßen besser zu spüren. Ich wanderte tief, tief in den Wald hinein, bis spät in die Nacht.

Es war schon lange dunkel, als ich irritiert stehenblieb. Ohne dass ich es gemerkt hatte, war in mir das Bedürfnis aufgekeimt, zum Schloss zurückzukehren. Ich schaute mich um, und mir wurde bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich war. Die Dunkelheit nahm dem Wald seinen Zauber und machte ihn angsteinflößend. Eine Weile irrte ich ziellos umher, bis ich gegen einen Baum sackte und hinunterrutschte. Ich legte den Kopf in die Hände, wie die Frau es getan hatte und begriff, dass es eine Geste der Verlorenheit war. Ich fühlte mich verloren, verloren und allein. Denn erst jetzt wurde mir klar, wie Ares es gemeint hatte, als er gesagt hatte: „Geh weg.“

Er hatte nicht gemeint, geh mir aus den Augen, ich will dich nicht mehr sehen. Nein, er meinte damit, ich solle für immer aus dem Schloss verschwinden, ohne Aussicht auf Rückkehr. Als er mich in den Wald schickte, hatte er gewusst, dass ich nicht mehr zurückfinden würde. Und ich fand nicht mehr zurück. Trotzig wie ein kleines Kind abzuhauen, dass war etwas anderes, als ganz alleine in der Nacht in einem Wald zu sitzen, das wurde mir jetzt bewusst. Was sollte ich jetzt tun? Ich konnte nicht ewig hier sitzen bleiben.

Also stand ich wieder auf und tapste über den kühlen Waldboden. Wenn ich immer weiterging, dann musste ich ja irgendwann mal irgendwo hinkommen. Meine kalten Füße begannen langsam zu schmerzen, als ich vor einer Baumgruppe stehenblieb. Die Bäume wuchsen so dicht aneinander, dass man nicht sehen konnte, was sich in dem Baumkreis befand. Meine Neugier meldete sich wieder zu Wort. Was sich wohl dahinter verbarg? Ich versuchte mich zwischen zwei Bäumen hindurchzuzwängen, doch ich hatte keine Chance. Ich schrammte mir nur böse das Knie auf. Ich wollte gerade aufgeben und ging um den Baumkreis herum, da entdeckte ich eine kleine Lücke zwischen zwei Bäumen. Ich drückte mich hindurch und fiel auf der anderen Seite hinab.

Ja, ich hatte es geschafft! Im Kreis war es dunkler als draußen, sonst konnte ich nichts Interessantes entdecken. Schade. Enttäuscht suchte ich den Kreis ab, ob vielleicht etwas zwischen den Bäumen war. Doch so war es nicht. Schwer ernüchtert ging ich den Kreis ein weiteres Mal ab, auf der Such nach der Lücke.

Wie erstarrt blieb ich stehen, ich fand sie nicht. Diesmal schaute ich noch genauer hin, doch auch diesmal war sie nicht da. Ich runzelte verwundert die Stirn, aber ich war doch hineingekommen, wieso war sie jetzt nicht mehr da? Nein, ich weigerte mich, dass zu glauben. Ich suchte sie weiter, drehte jedes Blatt um, doch schließlich sah ich ein, dass es nichts brachte.

Resigniert legte ich mich hin und schloss die Augen. Es war mein erster Tag und ich hatte schon so viel erlebt. Wie ich hier angekommen war, Wills und Jana, diese unbequeme Kleidung, die Frau, die so verzweifelt war, der Koch, beim Gedanken an ihn musste ich schmunzeln, die …
Ich fühlte etwas Warmes auf meinem Auge. Vorsichtig öffnete ich das andere, doch ich konnte nichts erkennen. Genauso vorsichtig öffnete ich auch noch das zweite Auge und das Warme löste sich davon. Es schien etwas Lebendiges zu sein. Ich schaute mich um, doch alles war wie vorher.

Zufällig glitt mein Blick nach oben und ich öffnete den Mund. Und ich schloss ihn wieder. Dann schluckte ich schwer. Ich legte mich wieder hin, vielleicht bemerkten sie mich dann nicht. Das war sinnlos, fiel mir plötzlich auf, eines von ihnen war schon auf meinem Auge gewesen. Also mussten die anderen mich auch bemerkt haben. Ich öffnete ein Auge einen Spalt weit. Über mir war ein Meer, ein Dach aus kleinen goldenen Lichtern. Sie gaben kein Geräusch von sich, aber sie sahen wunderschön aus. Auf einmal kamen mehrere zu mir heruntergeschwebt und ich schloss das Auge wieder. Kurz darauf spürte ich wieder etwas Warmes auf meinem Arm. Dann auf meinem Bein, auf meinem Zeh, auf meiner Stirn.

Überall wo mich eins berührte, breitete sich eine wohlige Wärme aus. Sie schwebten sofort wieder weg, sobald sie mich berührt hatten. Jetzt öffnete ich die Augen, ich hatte keine Angst mehr. Sie waren überall um mich herum, hüpften in der Luft langsam auf und ab und berührten mich immer wieder, als müssten sie mich heilen. Es sah so wunderschön aus. Ich war in ein Meer aus goldenen, lebenden Lichtern getaucht. Überall war Wärme, Licht und Frieden. Sie teilten ihn mit mir, für diese eine Nacht, den ewigen Frieden.                       Selig lächelnd schlief ich ein.

Die Schamanin




Als ich erwachte, war es hell. Die Sonne schien durch die Blätter und ließ den Tau auf dem Waldboden glitzern. Ich rieb mir die Augen. Die Bäume, die Lichter, ich musste lächelnd an mein gestriges Erlebnis denken. Ich befand mich noch immer im Baumkreis, doch die glühenden Wesen waren weg.

Heute fand ich schnell die Lücke zwischen den Bäumen, jetzt wusste ich, dass es die Lichter gewesen waren, die mich vergeblich hatten suchen lassen. Ich stand mitten im Wald und war genauso weit wie gestern. Allerdings hatte ich heute mehr Hoffnung, als nahm ich den Marsch mit neuer Energie wieder auf. Der Wald sah am Tage so schön aus, dass ich vergaß, wie viel Angst er mir in der Nacht eingeflößt hatte.                         Wie sehr etwas Licht alles veränderte.
Die Tiere krochen aus ihren Höhlen und begaben sich auf Futtersuche oder flogen über die Baumwipfel. Ich sah einem Tierchen dabei zu, wie es Nüsse in der Erde vergrub. Ich wanderte immer weiter, doch je mehr Zeit verging, desto mehr hatte ich das Gefühl, immer tiefer in den Wald hineinzukommen. Die Sonne stand über meinem Kopf, als ich mich entschloss, eine Pause zu machen.

Ich setzte mich in das Moos und aß eine Pflanze, die vermutlich essbar war, ich hatte ein Reh beobachtet, das sie gegessen hatte. Sie schmeckte gar nicht so schlecht, außerdem wurde das Hungergefühl besser. Mein Blick wanderte über die länglichen Steine, über die Büsche, die ein Stück entfernt standen. In meinem Bauch war wieder so ein komisches Gefühl. Plötzlich raschelte etwas im Busch.                                              Erschrocken sprang ich auf, ich hatte es doch gewusst. Da war etwas anderes, etwas anderes als ein Tier. Der Busch teilte sich und heraus trat eine Frau.

Ich schaute sie verblüfft an. Sie schien mich gar nicht zu bemerken, sie stiefelte auf die Lichtung und hielt den Blick auf den Boden gesenkt. Die Frau war schon älter und hatte graue Haare, sie standen ihr in einem kurzen Zopf ganz oben vom Kopf ab. Sie sah sehr grimmig aus.

„Verflixt und zugenäht, überall sind sie mir heruntergefallen.“ Sie bückte sich ächzend und hob einen grünen Zweig auf, den ich vorher noch gar nicht bemerkt hatte. Als sie sich erhob, warf sie einen kurzen Blick auf mich.
„Steh nicht so blöd herum, sondern hilf mir lieber.“

Schnell bückte ich mich ebenfalls und suchte den Boden nach grünen Zweigen ab. Ich fand keine. Wie zur Bestätigung stand die Frau bald wieder auf und murmelte: „Ich muss noch welche an der Gletschog Höhle verloren haben.“ Damit verließ sie die Lichtung. Sie schien zu erwarten, dass ich ihr folgte, also eilte ich ihr schnell nach. Wir liefen nebeneinander her und ihre Augen suchten den Waldboden ab. Ich fragte mich, wer sie wohl war. Plötzlich starrte sie mich an, als wäre ihr etwas Wichtiges eingefallen.
„Sag mal, solltest du nicht im Schloss sein?“ Woher wusste sie das?
„Ares hat mir gesagt, ich solle weggehen.“ Es fühlte sich komisch an, seinen Namen zu benutzen.               „Und da hast du natürlich sofort gehorcht, wie? Junge, nimm mal deinen Verstand zusammen.“ Dann schien sie zu überlegen.

„Wie bist du hierhergekommen?“ Was war das denn für eine komische Frage?                                      „Ich bin gelaufen.“ sagte ich leicht misstrauisch. „Bist du an drei großen Steinen vorbeigekommen, ungefähr so groß?“ Sie hielt ihre Hand in Höhe meines Halses. Ich überlegte, ging fieberhaft noch einmal den ganzen Weg durch, den ich gegangen war, doch ich konnte mich an keine so großen Steine erinnern. „Nein, ich glaube nicht.“ sagte ich entschuldigend.

„Hmm“ Sie sah mich lange an und schob ihre Unterlippe langsam über ihre Unterlippe. Dann wandte sie sich ruckartig ab. „Los, komm mit.“ Sie rauschte los und ich sah ihr erschrocken nach. Das man so schnell rennen konnte. Sie musste es ja sehr eilig haben.                                                                                         Schnell rannte ich ihr hinterher, doch musste bald einsehen, dass ich keine Chance hatte, aufzuholen. Sie war so schnell, dass ich immer gerade nur ein Zipfelchen ihrer Kleidung hinter einem Baumstamm verschwinden sehen konnte. So wusste ich zwar, wohin ich laufen sollte, doch ich war nach einer Weile ganz schön kaputt. Ließ die Kraft dieser Frau denn gar nicht nach? Nach ein paar Minuten blieb ich stehen, in der festen Absicht, nicht mehr weiterzulaufen.

Dann bemerkte ich, dass ich schon am Ziel war. Vor mir stand die Frau und suchte wieder den Boden ab. Sie sah überhaupt nicht angestrengt aus. Ich blickte mich um. Wir standen auf einer anderen, sehr kleinen Lichtung. Vor uns war ein kleiner Felsen mit einer Öffnung in der Mitte. Eine Höhle? Daneben floss ein kleiner Bach. Schnell ging ich hin und schöpfte mit den Händen Wasser daraus, zum Trinken. Ah, das tat gut, nach so einem Lauf. In der Zwischenzeit war die Frau an meine Seite getreten und neigte den Kopf zu mir, als wollte sie mir ein Geheimnis verraten.

„Jetzt müssen wir dem Bach hinauf folgen, bis wir an die Quelle kommen.“ Sie stiefelte wieder los. Diesmal brauchten wir weitaus länger. Ab und an bückte sie sich und griff nach einer Pflanze um sie in den Beutel zu stecken. „Wer seid ihr?“ Ich hatte mich daran erinnert, wie der Koch mir gesagt hatte, dass man respektable Leute mit „ihr“ anspricht. Ich wusste zwar nicht, ob sie respektabel war, aber ich ging einfach davon aus. 

„Ich bin eine Schamanin, mein Name ist Mora.“ Ich freute mich, dass sie mir antwortete. Das gab mir Hoffnung, dass sie auch meine nächste Frage beantworten würde. „Wohin gehen wir?“ „Das wirst du sehen, wenn wir angekommen sind.“ Ich musste grinsen, ich hatte mir fast gedacht, dass das eine Frage zu viel sein würde. Stille kehrte wieder ein und wir wanderten immer weiter den Bach entlang. Endlich kamen wir an eine Stelle, wo der Wald sich zu verdunkeln schien. Die Schamanin setzte sich im Schneidersitz auf den Waldboden und ich machte es ihr nach.
„So, jetzt müssen wir warten, bis es dunkel wird.“ Ich fragte nicht warum, ich würde keine Antwort bekommen. So saßen wir da, und wir saßen wirklich lange da. Zum Glück holte Mora irgendwann ein Stück Brot hervor, brach es in zwei Stücke und reichte mir eins. Dankend lächelte ich. Mir kam es unendlich lange vor bis es dunkel wurde.

Ich glaubte, ich war zwischendurch mal kurz eingeschlafen, doch immer wenn ich zu der Schamanin schaute, schien sie sich kein Stück bewegt zu haben. Sie saß immer in der gleichen Position da und blickte starr auf die Bäume vor uns. Irgendwann war sie plötzlich bei mir und weckte mich. „Steh auf, wir müssen weiter.“ Ich schaute zum Himmel, es war tatsächlich schon dunkel. Wankend stand ich auf und musste mich an einem Baum abstützen, um nicht hinzufallen.

Ich wusste nicht wieso, aber dieser Ort machte mich seltsam müde. Wir gingen auf die Bäume vor uns zu, und als ich näher kam, stellte ich fest, dass sie eine große Steinwand verdeckten. Direkt vor uns war ein Durchgang, mit Ranken zugewachsen. Das musste der Ort sein, zu dem die Schamanin wollte. Unwirsch schob sie die vielen Ranken beiseite und ich konnte sehen, was dahinter verborgen war.

Der See der Geister




Ein langer, schwarzer See lag dahinter. Berührt blieb ich stehen, doch die Schamanin schob mich weiter. Ich trat auf die Wiese, die den See umgab. Sie war ganz weich. Etwas in mir begann zu pulsieren. Unbeeindruckt gingen wir auf den See zu. Näher gekommen, sah ich, dass der See gar nicht schwarz war. Er war durchsichtig, Wasser, und doch schillerten unzählige Farben darin. Dieser See hatte einen Geist, dass spürte ich.

Ich kniete mich davor hin, ins Gras und verneigte mich. Es fühlte sich richtig an. Ein Blick zur Seite zeigte mir, dass die Schamanin sich ebenfalls verbeugte. Das in dem See, nein, der See fühlte sich mächtig an. Wir standen auf.
„Zieh dich aus.“ Sie zog ihr Kleid ebenfalls aus. Wollte sie baden gehen? Sie drehte sich zu mir um und sah, dass ich mich nicht auszog.
„Man sollte den See so betreten, wie man auf die Welt gekommen ist.“ Ich musste schmunzeln, ich war nicht nackt auf die Welt gekommen. Aber ich verstand, was sie meinte. An einem so besonderen Ort sollte man allen unnötigen Ballast ablegen. Ich zog mich aus, was sich bei dem Hemd als schwierig erwies. Die Flügel rissen die Schnitte noch tiefer ein. Ich zog mein Band aus den Haaren. So standen wir nackt vor dem See. Sie hatte ihren Zopf geöffnet und alles abgelegt. Ich betrat einen feuchten, kühlen Stein und die Magie floss in mich, wie der kühle Strom des Wassers. Als ich den Fuß ins Wasser tauchte, vergaß ich alles. Ich vergaß, dass die Schamanin da war, dass ich ein Engel war, dass ich mich verirrt hatte. Und dass Ares mir wehgetan hatte. Ich vergaß alles. Ich spürte nur noch die Magie des Sees. Und dann tauchte ich unter.
Das war alles so bunt. Und dunkel. Ich war eins mit dem Wasser. Es durchflutete meinen Geist, füllte mich aus. Ich schwebte.
Dann durchzuckte es mich wie Blitze. Ich wurde auseinandergerissen. Elektrische Stromschläge, aus mehr schien ich nicht zu bestehen. Und der Geist sprach zu mir. Er flüsterte mir zu, leise ins Ohr. Er berührte mich an einem tiefen Punkt meiner Seele. Lange, lange tat er das. Dann wurde es still. Ich trat auf das Ufer und mich erfüllte das warme, helle Licht der Erleuchtung.

Still setzte ich mich in das Gras und wartete auf die Schamanin. Wie still alles war. Es schien alles zu leuchten. Ich wartete lange, doch es kam mir wie eine Sekunde vor. Mora kam aus dem Wasser. Wir standen im Einklang auf, eins, vereint durch die heilige Erleuchtung des Geistes. Wir verließen nackt die Höhle und liefen. Vollkommen ruhig wanderten wir den Weg ab, der uns zu unserem Ziel führte. Ich fühlte mich eins mit dem Wald, als wäre ich selbst ein Tier, der Frische des Waldes entsprungen. Wir gingen. Und wir lächelten. Es war schön. Dann standen wir vor dem Schloss. Wir mussten lange gewandert sein, vielleicht eineinhalb Tage, doch es fühlte sich nicht so an. Ich blickte an den Mauern des Schlosses hoch, über die Türme. Wie schön es aussah. Ich wollte die Wiese betreten, doch die Schamanin hielt mich mit einer Hand zurück. Sie lächelte mich an.
„Wir brauchen Kleidung.“ Irritiert blickte ich sie an. Kleidung?
„Wir werden welche brauchen, wenn wir den Leuten hier nicht den Schreck ihres Lebens einjagen wollen. Warte hier.“ Damit ließ sie mich zurück. Ich setzte mich auf den Boden. Bald kam sie wieder, die Arme vollgepackt mit Kleidung. Sie gab mir meine. Diese Sachen sahen längst nicht so kompliziert aus, wie die, die ich vorher angehabt hatte. Sie gefielen mir besser. Ich riss zwei Löcher in das Hemd und zog sie an, zwängte mich hinein. Als wir über die Wiese liefen, kehrte langsam die Realität zurück. Das leise Gefühl des Lichts blieb zurück. Ich sah Mora an.
„Weißt du, ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, als müsste ich etwas sagen. Seit wir an der Quelle waren.“ Während ich das sagte, wurde mir klar, wie sehr das stimmte. „Es ist ein Wort. Karan.“

Das war es. Es kam wie selbst über meine Lippen. „Das ist mein Name.“ Das wurde mir nun klar. Mora sah mich von der Seite an.
„Das ist ein Wort aus der Sprache der Wilden. Vor langer Zeit war hier eine große Wildnis, in der freie Völker lebten. Das war lange Zeit bevor Ares angefangen hat, zu regieren. Die Quelle stammt aus dieser Zeit. Sie hatten mächtige Geister und Bräuche, diese Völker. Obwohl sie heute von den meisten als minder intelligente Wilde abgetan werden. Karan kommt aus der Sprache der Wildesten dieser Menschen. Es bedeutet „göttliches Licht““. Göttliches Licht. Karan. Ja, das war es. Das war mein Name.

Der Tagebucheintrag eines Zauberers




Wieso nur? Warum hatte ich ihn bloß fortgeschickt? Das Schlimmste war, dass er tatsächlich gegangen war. Verdammt. Ich haute mit der Faust auf den Tisch und der Offizier zuckte leicht zusammen.
„Ich möchte, dass ihr den Engel auf der Stelle findet. Schickt so viele Männer los, wie ihr entbehren könnt. So viele wie möglich.“
„Das werden um die zweihundert sein, Herr.“
„Wenn das reicht. Lasst sie den gesamten Wald durchkämmen, und zur Sicherheit auch noch die nächsten Städte.“ Ich schaute auf die Landkarte. „Weiter als bis Irmengard kann er nicht gekommen sein. Aber konzentriert euch mehr auf den Wald.“ Der Offizier sah mich zweifelnd an, er überlegte, ob er dem Befehl entkommen konnte. „Aber Herr, der Wald ist voller Magie. Es könnten viele Männer sterben.“ Vor Wut wurden meine Augen rot. Ich wirbelte herum, packte den Mann beim Kragen und zog ihn heran. Leise zischte ich ihm ins Ohr: „Sie werden sterben, wenn sie mir den Jungen nicht zurückbringen.“ Der Mann wurde leichenblass. Ich konnte beobachten, wie eine Schweißperle ihm die Schläfe hinunterlief. Ich ließ ihn los und drehte mich wieder zur Landkarte. „Solltet ihr ihn morgen nicht haben, kommt gar nicht erst wieder. Ihr werdet das Schloss nur mit ihm lebend betreten.“
Er nickte und verschwand aus den Räumen. Seufzend schaute ich aus dem Fenster. Die Zauberer hatten mich gestern in den Keller gerufen, kurz nachdem der Engel verschwunden war. Sie hatten mir ein Buch gezeigt, in einer fremden Sprache. Ich konnte sie schnell entziffern und hatte die restliche Nacht damit verbracht, das Buch zu lesen. Je mehr ich gelesen hatte, desto panischer war ich geworden. Schließlich ließ ich den Offizier so schnell wie möglich zu mir kommen. Der Engel. Seit er hier war bereitete er mir nur Kopfschmerzen und es wurde immer schlimmer. Ich setzte mich an den Schreibtisch und zog das Buch hervor.

3. Jahr nach dem großen Krieg, Tag der Sommersonnenwende


Im letzten Jahrhundert erschien ein Wesen. Es kündigte sich durch drei Wochen pausenlosen Regen an. Der Regen machte die Leute traurig und gereizt. Besonders die Kinder litten darunter. Es erschien plötzlich, ohne Vorwarnung in einem starken Licht. Wir begegneten ihm zunächst mit Misstrauen, doch er gewann mit der Zeit unser Herz. Er war gut, so gut, wie man es sich nur vorstellen kann. Wir gaben ihm den Namen Janden. Er blieb lange Zeit in unserem bescheidenen Kloster.

Er half den Menschen, heilte ihre Wunden, machte sie glücklich, wenn sie traurig waren und gab ihnen Hoffnung. Er hätte für immer dableiben können, doch eines Tages machte er sich auf den Weg. Er sagte, er wollte Wesen wie er eines war, finden. Er ging mit einer solchen Entschlossenheit in den Augen los, dass ich mir keine Sorgen um ihn machte. er würde überleben. Doch ich machte mir wegen etwas anderem Sorgen. Leider war ich mir sicher, dass ich ihn eines Tages wiedersehen würde. Und mein Gefühl sagte mir, dass das nächste Treffen mit Problemen verbunden sein würde.

Ich sollte Recht behalten. Nun ist es schon länger als ein Jahrhundert her, dass Janden weggegangen ist, und ich glaubte schon, dass mich mein Gefühl getäuscht hatte. Doch an diesem Tag kehrte er zurück. Er kam heute Nachmittag an. Wir begrüßten uns herzlich und er blieb da. Er hat ein Gefolge mitgebracht und er stellte sie mir alle stolz vor. Es sind Wesen wie er und er nennt sie Engel. Wie es scheint, gibt es sie in jedem Alter und es sind Männer und Frauen. Sie werden lange bei uns verweilen und wir werden eine Menge bei ihnen lernen, da bin ich mir sicher. Sie besitzen Magie, ein wenig wie wir Zauberer. Jeder ist anders, jeder besaß seine ganz eigene Magie. Manche heilen Menschen, manche kämpfen und andere verbringen ihre Zeit in der Natur. Doch wie von meiner Seite befürchtet bleibt es nicht so ruhig.
Er hatte heute Nacht eine Version. Janden fing an, wie wahnsinnig zu schreien und dann brachte er Worte hervor, ich war geistesgegenwärtig genug sie mitzuschreiben. Zum Glück hatte eine Schülerin etwas zum Schreiben dabei. So will ich diese Worte hier wiederholen:
Manche Nacht fällt Schnee
Es wird im Frühling Schnee fallen
Ein Engel wird geboren
Er kommt aus dem Licht
Er fällt ins Licht
Licht und Dunkel treffen aufeinander
Das Feuer steigt auf
Und aus der Asche entsteht eine Knospe
Die Blume erblüht
Licht und Dunkel werden sich vereinen
Und die Blume blüht
Lache, Kind, lache
Denn die Vergangenheit wird verändert werden
Wie die Zukunft und die Gegenwart
Ein Lachen wird die Welt erhellen
Und du wirst glücklich sein
Finde den Weg
Der dir den Weg weist
Und vertraue auf dein Glück
Und besinne dich auf deine Stärke
Und du kannst im Licht wachsen
Und erstrahlen

Das schreibe ich auf und hinterlasse es der Nachwelt, auf dass der Engel, für den diese Vision bestimmt ist, diese Zeilen liest und deutet. Ich kann es nicht, vielleicht lebe ich nicht in der richtigen Zeit dafür. Doch diese Worte bedeuten Großes, wir werden vorsichtig sein müssen.


Damit klappte ich das Buch wieder zu.

Ein sanftes Gespräch




Ich lehnte mich nach hinten und schloss die Augen. Ich war mir sicher, dass der Engel aus der Prophezeiung mein Engel war. Langsam erhob ich mich und lief zum Fenster. Die Blätter an den Bäumen wiegten sich leise im Wind und die Sonne schien golden vom Himmel. Ich hatte die letzten Tage schon zu viel Sonne gesehen, meine Augen schmerzten langsam. Ich kniff sie zusammen. Wie merkwürdig. Blendete mich die Sonne nun schon so sehr, dass ich Dinge sah, die nicht existierten? Oh, nein. Nein, tat ich nicht. Ich atmete ganz tief ein, um mich zu beruhigen. Dieser Engel. Stöhnend sank ich auf den Stuhl. „Womit habe ich das bloß verdient?“ Vor zwei Minuten hatte ich zweihundert Männer losgeschickt um ihn zu suchen und schon lief er völlig unbeteiligt über den Rasen. Kopfschüttelnd sah ich zu, wie er auf das Schloss zulief, in den Sachen eines Pferdeburschen. Eigentlich war es fast lustig. Langsam sollte ich mich daran gewöhnen, an seine Art, einen großen Tumult auszulösen und dann irgendwo vollkommen ahnungslos aufzutauchen. Mich wunderte es dann auch nicht besonders, direkt hinter ihm die Schamanin über den Rasen stolzieren zu sehen. Ich rief einen Diener hinein und befahl ihm, die Soldaten von dem Auftauchen des Engels zu unterrichten. Dann wartete ich auf die Schamanin. Ich war mir sicher, dass sie in spätestens fünf Minuten vor mir stehen und sich aufregen würde. Und tatsächlich, kurz nachdem der Diener gegangen war, flog die Tür auf und die Schamanin fegte wie ein Wirbelsturm hinein. Als sie vor mir stehenblieb, blitzten ihre Augen mich an und sie holte tief Luft. Wie es schien, war sie schneller hierhergekommen, als es ihr guttat, denn bevor sie sprach, stand sie eine Weile vor mir und verschnaufte erst einmal. „Du wirst langsam alt.“ Sie griff die Runzeln in ihrem Gesicht und zog sie nach unten, sodass ihr Gesicht zu einer furchtbaren Grimasse wurde. „Ich bin schon alt, noch nicht gemerkt?“ Doch dann wurde sie wieder ernst und der wütende Ausdruck kehrte zurück. „Es ist wie immer, du machst irgendetwas ohne vorher nachzudenken. Wie kommst du nur auf die verrückte Idee, den Jungen allein in den Wald zu schicken? Genauso gut hättest du in das Land der Engel gehen, und dort ein Massaker veranstalten können. Du hast nur Glück, dass ich ihn gefunden habe, bevor ihm etwas zustoßen konnte. Doch wäre es nur das gewesen! Er ist in den alten Wald gekommen, ohne über die drei Steine zu gehen und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie er das geschafft hat.“ In den alten Wald. Das war einer der gefährlichsten Orte in diesem Land. Es war nur ein Teil des Waldes, der an das Schlossgelände angrenzte, doch wenn man darin war, dann kam er einem unfassbar groß vor. Tatsächlich waren die einzigen, die in den alten Wald gelangen konnten, Zauberer und Schamanen. Und das auch nur über die drei Steine, die die Zauberer aus dem Westen vor einiger Zeit erschaffen hatten. Einen anderen Weg gab es nicht um hineinzukommen. Allerdings gab es viele Wege herauszukommen. So kam es immer wieder vor, dass verschiedene Wesen, teils Dämonen, teils Tiere aus dem Wald krochen und das Schloss oder die umliegenden Städte angriffen. Bisweilen waren die Angriffe so schlimm, dass selbst ich mitkämpfen musste. Bei dem Gedanken, dass der Engel alleine durch diesen Wald gegangen war, überkam mich ein ganz komisches Gefühl. Fast so etwas wie Schuld.
„Und als du ihn gefunden hast, war er unversehrt?“ Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und begutachtete mich mit einem grübelnden Blick. „Ich konnte es ja selbst kaum glauben, aber es war tatsächlich so. Im Gegenteil, er saß sogar vollkommen friedlich auf einer Lichtung und aß Sirnenkraut. Ich glaube, das erste, was ihn wirklich erschrocken hat, war meine Ankunft.“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, also saßen wir beide still da. Nach einer Weile brach die Schamanin das Schweigen. „Er hat jetzt übrigens einen Namen. Karan hat er sich genannt.“
„Wie ist er denn darauf gekommen?“ Kurz blickte sie mich an.
„Auf dem Rückweg ist er ihm eingefallen.“ Ich spürte, dass sie mir etwas verschwieg, doch ich fragte nicht nach. Wenn es etwas Wichtiges war, dann würde sie es mir sagen.

„Wo ist er jetzt?“ Nicht, dass er wieder irgendetwas ausheckte, auf das nächste Abenteuer konnte ich gut verzichten. Ich stand auf und schob unauffällig das Buch dabei unter einen Stapel Papiere. Die Frau musste das nicht sehen. Als ich auf die Tür zuhielt, stand sie ebenfalls auf. Demonstrativ hielt ich die Tür auf, zum Zeichen, dass sie gehen sollte. Doch bevor sie ging, blieb sie noch einmal vor mir stehen. „Bezwinge einmal deine Sturheit und rede vernünftig mit ihm.“
„Mir wäre nicht aufgefallen, dass man mit Engeln vernünftig reden kann.“ Zynisch schüttelte sie mit dem Kopf. „Ich bin zwar alt, aber Gott sei Dank, nicht halb so verbohrt wie du.“ Schnell huschte sie um die nächste Ecke. Alte Verrückte. Aber sie hatte Recht, ich musste eine Lösung finden, was ich mit ihm machen sollte und dafür musste ich, wohl oder übel, mit ihm reden. Gedankenversunken ging ich die langen Flure entlang in Richtung Speisesaal. Ich seufzte tief, als ich um die Ecke bog und den Engel sah, wie er mit einer Dienerin sprach. Anscheinend trieb das Schicksal gerade seine Späße mit mir, also ging ich geradewegs auf ihn zu. Wo ich Späße doch so mochte.
Die beiden bemerkten mich erst, als ich direkt vor ihnen stand. Das Mädchen verbeugte sich hastig und machte sich schnell aus dem Staub. Der Engel, wie hatte er sich doch gleich genannt? Karan, er schaute mich vorsichtig an, doch als er merkte, dass ich diesmal nicht wütend war, sah er mich leicht lächelnd an. Ich merkte, dass er inzwischen gelernt hatte, seine Kraft zu beherrschen, sodass ich es nun nicht mehr so unangenehm fand, in seiner Nähe zu stehen. Allerdings hatte er auch, in der Zeit, in der er weg gewesen war, einen eigenen Geruch entwickelt, und das gefiel mir überhaupt nicht. Er roch nach Erde und Wald, nach Sonnenschein und Lachen, nach etwas Würzigem, und etwas Süßem, dass ich nicht bestimmen konnte. Eine Blume?
Ich atmete tief durch. Was sein muss, musste sein. Dann redete ich eben mit ihm.

"DU BIST MIT EINER FRAU BADEN GEGANGEN?"




„Da bist du ja! Wo warst du bloß die ganze Zeit? Wir haben dich, du glaubst gar nicht wie lang, gesucht.“ Völlig aus der Fassung gebracht stand Jana vor mir.
„Ich war baden.“ Völlig unverständig schaute sie mich an. „Du warst baden?“ Sie sah mich an, als hätte ich einen Scherz gemacht. Völlig begeistert nahm ich sie an der Hand. „Ich habe dir übrigens etwas Großartiges zu sagen. Ich habe einen Namen.“
Abgeklärt sah sie mich an. „Na, raus damit.“
„Karan!“ Total begeistert wartete ich auf ihren Begeisterungssprung.
„Das ist ja wirklich ganz toll.“ Sofort verging mir mein Lächeln. Wieso freute sie sich denn nicht? „Gefällt er dir nicht?“ Sie verdrehte nur die Augen.
„Weißt du eigentlich, was Wills und ich uns für Sorgen gemacht haben? Wir haben dir doch gesagt, du sollst auf dem Zimmer warten.“
„Das habt ihr mir nie gesagt.“
„Und dann tauchst du mehrere Tage danach wieder auf und erzählst mir, du bist baden gegangen.“ Sie regte sich furchtbar auf.
„Mit der Schamanin.“ sagte ich beiläufig.
„DU BIST MIT EINER FRAU BADEN GEGANGEN?“
„Sollte ich denn mit einem Mann baden gehen?“
„Nein, aber… aber… und die Schamanin hat nichts gesagt?“
„Um es genau zu nehmen, hat sie schon etwas gesagt.“ gab ich zu. Jetzt schaute Jana mich an, als wäre ich ein ungezogener Junge, der nur Stück für Stück mit der Wahrheit herausrückte. „Aha. Und was?“
„Ich soll mich ausziehen.“ Langsam wurde ich müde und hungrig. Es wurde Zeit, den Koch wieder etwas zu ärgern.
„Ich gebe auf. Das ist zu viel für mich. Geh doch wohin du…“
Sie brach mitten im Satz ab. Erschrocken blickten wir beide zur Seite. Oh, oh. Da stand Ares. Unsicher blickte ich ihn an. Würde er wieder so bissig sein, wie beim letzten Mal? Jana jedenfalls, schien fest damit zu rechnen, denn sie war schneller weg, als ich gucken konnte. Jetzt blickte ich ihn an, und sah, wie seine Gesichtszüge plötzlich einen weicheren Ton bekamen, auch wenn ich nicht wusste, wieso.
Dann verhärteten sie sich wieder und er nahm eine Haltung ein, als wolle er mit mir verhandeln. Beim besten Willen, ich wurde aus ihm nicht schlau.
Dann sprach er mit einer Ehrlichkeit, die mich verwunderte.
„Es ist erstaunlich. Selbst wenn du nicht hier bist, machst du mir solchen Ärger.“
Erschrocken unterbrach ich ihn. „Ich wollte keinen Ärger machen, wirklich nicht.“
Unbeeindruckt setzte er sich in Bewegung. Ich ging mit und er redete im Gehen weiter. „Nein, dafür bist du nicht der Typ. Aber trotzdem machst du es.“ Er sah auf einmal sehr alt aus. „Manche Dinge kann man nicht vorausahnen, doch ich wünschte mir nur allzu sehr, du wärst niemals hier aufgetaucht.“ Verletzt sog ich die Luft ein. Er hatte ein außergewöhnliches Talent dafür, mir wehzutun, stellte ich zynisch fest. „Ich frage mich, warum du mich nicht einfach wieder fortgeschickt hast, wenn ich so ein Problem bin.“ Ich startete zum Gegenangriff.
„Weil man sich seine Feinde am besten nahe hält.“ Ich biss die Zähne zusammen. Schmerzlich entschloss ich mich, dass mit den Wortgefechten sein zu lassen. Da hatte er definitiv mehr Talent als ich. Also versuchte ich das, was ich immer tat. Ich sah die Dinge von der positiven Seite. „Du wirst sehen, ich werde schon noch lernen, keinen Ärger zu machen.“ Er verfolgte mit den Augen die Anordnung der Steine an der Wand. „Ich habe eher die Vermutung, dass das erst der Anfang war.“

Wir kamen an ein Fenster und schauten hinaus. Neugierig beugte ich mich nach vorne. Anscheinend war ich noch gar nicht an dieser Stelle des Schlosses gewesen, denn anstatt dem üblichen Wald erstreckten sich viele Häuser in die Ferne. Das war eine Stadt. Die Häuser waren aus Stein gebaut und überall waren Karren und Menschen. Ich sah Familien auf einen Punkt zugehen. Ich folgte dem Weg und sah einen Marktplatz. Dort waren überall bunte Stände aufgebaut und Menschen bereiteten sich vor. Einige legten Waren und Obst auf ihre Stände. Ich sah Männer, die Werkzeuge und Sachen auf den Boden legten. Grinsend beobachtete ich Kinder, die versuchten, einen Apfel zu klauen, und jedes Mal aufs Neue vom Mann, dem der Stand gehörte, schimpfend fortgejagt wurden und sich dann kichernd wieder anschlichen. Da wollte ich unbedingt hin. Doch erst muss ich mit Ares sprechen, erinnerte ich mich seufzend.
Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Ares mich von der Seite beobachtete. Undeutbar sah er mir ins Gesicht, dann ging er einfach weiter. Ich spürte, dass er nicht mehr mit mir zu bereden hatte, also blieb ich stehen und sah im nach. Er war wirklich seltsam. Seine dunkle Aura hatte sich in mir festgesetzt, und ich hatte Angst, dass ich sie nicht mehr loswerden konnte. Und in mir, regte sich langsam der Verdacht, dass wir für mehr bestimmt waren, als dass wir bis jetzt wussten.

Der Feuermarkt



Hahaha, das war ja wunderbar. Überall waren Menschen um mich herum. Ich schaute völlig begeistert Männern zu, denen Feuer aus dem Mund kam. Dahinter spielten Menschen auf Instrumenten. Eine Frau entlockte einer Geige himmlische Töne und ein Mann spielte auf einer Flöte, sodass es klang, als wäre Feuer der Nacht entsprungen. Dazu tanzten junge Mädchen in kurzen Kleidern, wirbelten umher, und holten immer mehr Leute zu sich und tanzten mit ihnen. Ich schob mich schnell nach hinten, als eine Frau auf die Menschengruppe zukam, in der ich stand. Ich wollte beobachten und hören, nicht tanzen.
Ich kam an unzähligen bunten Ständen vorbei. Die Marktfrauen schrien lauthals ihre Waren aus. Die Menschen beäugten mich misstrauisch, wohl wegen meiner Flügel.
Doch das änderte sich, als Kinder auf mich zu gerannt kamen. Sie waren zwar schmutzig und arm, doch ich sah ihre Mütter nicht weit entfernt stehen, bereit einzugreifen, sollte ich doch gefährlich sein. Sie kicherten und lachten und zogen mich zu einem Stand mit Obst. Ich musste laut lachen, als ich sah, dass es der Stand und die Kinder waren, die ich vom Fenster aus gesehen hatte. Das bestätigte mich nur noch, als der Mann herausgerannt kam, mit einem Mantel wild um sich schlagend, und schrie:
„Ihr schon wieder! Macht, dass ihr davon kommt, ihr Gören! Wenn ihr einen Apfel wollt, dann bezahlt ihn gefälligst…“ Er hielt inne, als er mich hinter den Kindern stehen sah. Er betrachtete mich von oben bis unten, und atmete schließlich tief ein, in der Erwartung von Schwierigkeiten. Ich ging lächelnd auf ihn zu und hockte mich zu den Kindern. Ich zog sie zu mir heran und schaute zu dem Händler hoch. „Meine Freunde möchten wirklich nur ein paar Äpfel. Sie bitten auch ganz lieb darum.“ Erwartungsvoll schaute ich die Kinder an und sie fingen auch sofort an: „Bitte, bitte, wir nehmen auch ganz kleine.“ Ein Junge neben mir zeigte mit der Hand die Größe einer Nuss und ich fing an zu lachen. „Genau“, fing ich an, „Wir nehmen sogar so kleine.“ Mein Daumen und mein Zeigefinger waren kaum sichtbar voneinander entfernt. „Hm.“ Mit einem unwilligen Blick gab sich der dickbauchige Mann geschlagen. Mit Freudenschreien rannten die Kleinen zum Stand und griffen sich die Äpfel, die sie tragen konnten. Der Mann stand dahinter und rief immer wieder solche Sachen hinein, wie: „Hey du, nimm lieber die, die sind nicht mehr ganz so frisch.“ oder „ Steck dir keine in die Tasche, ich sehe das genau.“ Als die Kinder sich schließlich lachend aus dem Staub machten, sank der erschöpfte Mann vollkommen erschlagen auf seinen Stuhl. Ich ging zu ihm. „Ich danke euch. Ihr habt Gutes getan, diesen Kindern die Äpfel zu geben.“ Der Mann schaute mürrisch zu mir hoch. „Wer oder was seid ihr eigentlich?“ Überrascht schaute ich ihn an, mit dieser Frage hatte ich gar nicht mehr gerechnet. „Ich bin ein Engel, mein Name ist Karan.“
„Der meine ist Jamm und ich bin schon angestammte fünfunddreißig Jahre auf diesem Markt.“
„Eine beachtliche Zeit.“ So klang es jedenfalls bei dem sehr stolzen Tonfall von dem Mann. Er stand unter Ächzern auf und schaute mir eindringlich in die Augen.
„Ich will euch einen Rat geben. In diesem Land waren schon seit vielen tausenden von Jahren keine Engel mehr. Unser König ist ein Dämon und nicht gut auf Engel zu sprechen, er wird euch nicht gerade mit Samthandschuhen anfassen, wenn ihr versteht was ich meine.“ Dabei zuckte er verschwörerisch mit den Augenbrauen. „ Solltet ihr klug sein, macht, dass ihr lieber so schnell wie möglich davon kommt.“
Ich beugte mich ebenso nach vorne und blickte ihn stechend an. „Und, sagt mir, wohin soll ich dann gehen?“ Er lehnte sich nach hinten und zuckte mit den Schultern. „Es soll weit von hier entfernt, ein Land geben, in dem Engel die Kontrolle haben. Es ist zwar ein ganz schönes Stück Weg bis dahin, bestimmt ein paar Monatsmärsche, aber es wäre der einzige Ort, der mir einfiele.“ In mir spannte sich alles an. „Es gibt noch mehr Engel?“
Er wandte sich ab und stopfte seine Handschuhe in einen Korb. „Sonst hätte ich es nicht gesagt. Nun geht, ihr macht mir noch Ärger.“ Ich ging. Doch ich war nicht weit gekommen, als sich Frauen vor mir scharten. Die Mütter der Kinder, wie ich erkannte.
Eine große, schlanke Frau mit schwarz-braunen Haaren und dunklen, vertrauenserweckenden Augen stellte sich vor. „Ich heiße Aura. Es tut mir leid, dass wir vorhin so misstrauisch waren. Danke, dass du unseren Kindern geholfen hast.“
Diese Frau war rein, ein guter Mensch. Ich fühlte eine Wärme in mir aufsteigen, als ich sie ansah. „Schon gut, das habe ich gerne getan.“ Nun kamen auch die anderen drei Frauen vor, bedankten sich und stellten sich vor. Ich begrüßte sie alle herzlich und beantwortete ihre Fragen. Schließlich kamen noch mehr Leute dazu und hörten zu, wie ich die Fragen beantwortete. Ich sah zu, wie ein Mann in brauner Lederkleidung kam und ein Arm um Auras Hüfte legte, sie zu sich heranzog und sie liebevoll anblickte. Wo vorher Wärme gewesen war, glühte jetzt das Glücklichsein in mir. Wie schön sie war, sie hatte die wahre Liebe gefunden. Und ich wünschte es ihr von ganzem Herzen. Sie sollte glücklich sein. Die beiden kamen umschlungen zu mir. „Das ist mein Mann, Khor. Das ist Karan. Er hat den Kindern ein ordentliches Mittagessen eingebracht.“, sagte sie schmunzelnd und schlang ihren Arm fester um Khor. Ich lächelte und wollte ihn grüßen, als er mich am Unterarm packte und beherzt zugriff.
Nachdem ich mich von dem ersten Schrecken erholt hatte, begriff ich. Es war eine Geste des Vertrauens, des Respektes. Ich fühlte mich zum ersten Mal stolz, denn er hatte mich mit sich selbst gleichgestellt. Es war eine freundschaftliche Geste.
Ich redete noch lange mit ihnen, erzählte ihnen, wie ich im Schloss lebte. Zwischendurch kamen die Kinder angerannt und zeigten mir eine Puppe aus Leinen, die sie auf der Straße gefunden hatten. Ein kleines hübsches Mädchen mit roten Locken fragte mich, wie ich sie nennen würde. Ich musste nicht lange überlegen. „Ich würde sie Ayna nennen.“ „Ja, das ist ein schöner Name. So heißt du jetzt, Ayna!“
Ich blieb noch bei ihnen bis die Nacht hereinbrach. Dann machte ich mich auf den Weg zurück zum Schloss. Als ich am Tor ankam, wollte ich schon anfangen, den Wachen zu erklären, wer ich war und das ich ins Schloss gehörte. Doch noch bevor ich anfing, unterbrach mich eine der Wachen und sagte einfach: „Schon gut, Ares hat uns Bescheid gegeben.“ Damit ließen sie mich durch. Ich fragte mich, woher Ares wusste, dass ich auf dem Markt gewesen war. Leise ging ich über einen kleinen Steinweg durch den Garten auf das Schloss zu. Das Schloss wölbte sich in der Dunkelheit drohend über mich und ich beeilte mich zum Haupttor zu kommen. Der Schein von Fackeln umfing mich, als ich durch das Tor trat.

Die Tafel der Auserwählten


Kurz öffnete ich die Augen. Dann stöhnte ich und drehte mich auf den Bauch.
„Es kann doch nicht schon wirklich Zeit zum Aufstehen sein.“ Lachend kam Wills zu mir. „Das kommt davon, dass du dich gestern bis in die Nacht hinein am Markt vergnügt hast.“ Spielerisch drohend kam sie auf mich zu. „Mein lieber Freund, wenn du nicht jetzt sofort aufstehst, wirst du noch das große Morgenessen verpassen.“ Verwirrt setzte ich mich auf. „Was für ein Essen denn?“ Davon wusste ich ja gar nichts. Wills kam geschäftig auf mich zu. „Das Essen der Adligen.“ Das hatte ich nicht wirklich wissen wollen. „Und wieso muss ich dabei sein? Ich bin doch gar kein Adliger.“ „Ares hat es so gewollt. Jetzt beeil dich, wir müssen dich einkleiden.“
„Schon wieder?“ Seufzend stand ich auf. „Schon gut, gib mir die Sachen.“ Misstrauisch schaute sie mich an. Ich musste schmunzeln. Sie hielt mich wirklich für ein Kind. Aber es war ihr nicht übelzunehmen, man brauchte ein ungeheures Feingefühl, um ein Kind von einem Engel zu unterscheiden. Schließlich überreichte sie mir die Sachen und eilte hinaus. Kurz vor der Tür rief sie mir noch eindringlich zu, „Trödel nicht herum, du musst heute bereit sein. Sie sind schon alle ganz gespannt auf dich.“ Als die Tür hinter ihr zuging, atmete ich erst einmal auf. Sie schien ganz schön überarbeitet zu sein, diese hektische Eile war sonst nicht Wills´ Art.
Seltsam berührt von der Stille und Friedlichkeit dieses Morgens, trat ich zum Fenster. Die Wiese war leer, bis auf einige Bedienstete, die mit Brotkörben und anderen Speisen zum Tor liefen. Leise zog ich mir die Sachen an und trat vor den Spiegel. Meine dunklen Augen schauten viel wacher und aufmerksamer aus, als ich war. Kurz band ich meine Haare zusammen, dann machte ich mich auf den Weg nach draußen. An der nächsten Ecke erwartete mich Wills schon. „Da bist du ja endlich. Komm schon.“ Damit zerrte sie mich mit. Auf dem Weg sprach sie ständig irgendwelche Diener an und gab ihnen Befehle, sodass ich keine Chance hatte, mit ihr zu reden.
Schweigend folgte ich ihr also bis ans andere Ende des Schlosses, wo wir an einer schweren Holztür stehenblieben. Ich schüttelte den Kopf. Die Türen dieses Schlosses sahen alle gleich aus, der Erbauer hatte wirklich keine Fantasie gehabt. Wills zog sich zurück und mir wurden die Türen geöffnet. Zwei Diener standen seitlich an der Wand und verneigten sich. Einen kurzen Moment stockte ich verwirrt, dann besann ich mich, dass sie sich vermutlich vor jedem verbeugen mussten, der durch diese Tür kam. Männer und Frauen in edler Kleidung strömten durch die drei anderen Türen an den Wänden. Begeistert schaute ich mich um. Der ganze Saal war in ein warmes helles Licht getränkt, das von den großen vollen Kronleuchtern an der Decke kam. Die Wände waren mit spiegelähnlichen lachs-goldfarbenen Tapeten ausgeschmückt und der Boden von einem matten Gold, das nicht zu protzig wirkte. Überall waren Blumenbouquets angebracht. In der Mitte standen mehrere schwere Tafeln, alle festlich gedeckt und voll mit Menschen. Im seitlichen Drittel des Raumes war eine Erhebung im Boden, dieser Teil des Saals wirkte wie ein Podest. Darauf stand eine einzige Tafel, besetzt mit einigen Leuten. Ich vermutete, diese Tafel war für einige besondere Leute gedacht. Ares allerdings sah ich nirgendwo. Ich wollte mich gerade fragen, wohin ich mich setzen sollte, als links neben mir ein Diener auftauchte. Er verbeugte sich und fragte: „Darf ich euch zu eurem Platz bringen, mein Herr?“ Ja, ich nickte. Also führte er mich direkt zum Tisch auf dem Podest. Ich konnte meinen Schreck nicht verbergen. Wie konnte denn das passieren? Wollte mich da irgendjemand ärgern? Ich konnte doch nicht auf diesem Podest sitzen. Ich wollte nicht, dass alle mich anguckten und merkten, dass ich da eigentlich gar nicht hingehörte. Hm. Ich hatte schon so eine Ahnung, wer sich das ausgedacht hatte. Ich setzte mich also auf den Stuhl und betrachtete die Leute um mich herum. Was seltsam war; niemand sprach ein Wort. Alle setzten sich und schwiegen. An meinem Tisch saßen fünf Frauen und acht Männer, einer direkt neben mir. Schließlich kam noch eine sechste Frau und setzte sich an meine andere Seite. An der Art, wie sich alle daraufhin entspannten, sah ich, dass nun keiner mehr fehlte. Sprechen tat trotzdem niemand. Mit der Zeit fühlte ich mich immer unwohler und ich hatte das immer stärker werdende Bedürfnis, den Mann neben mir anzusprechen. Mein Gefühl schrie jedoch dagegen an und gewann. Was gut war, denn bald verstand ich den Grund.
Eine Weile nachdem alle auf ihren Plätzen saßen, ging die Tür erneut auf. Ich drehte mich verwundert um und fragte mich, wer so spät noch in den Raum kam.
Ares betrat den Raum, in Begleitung von zwei Wachen, die nachdem sie den Raum betreten hatten, sich an die Wand stellten. Daraufhin kamen zwei lange Reihen Diener herein, welche die verschiedensten Speisen trugen und sich ebenfalls in Reih und Glied an der Wand aufstellten. Mir lief das Wasser im Mund zusammen beim Anblick dieser Köstlichkeiten. Doch ich musste warten, denn als Ares zu seinem Platz ging, erhoben sich alle von ihren Stühlen. Schnell machte ich es ihnen nach. Dann stand er hinter seinem Stuhl und sah abwartend in die Halle. Er ließ seinen Blick über die Reihen streifen. Kurz blieb sein Blick an mir hängen, dann schaute er nach vorne. Nach ein paar Sekunden verbeugten sich alle synchron, einschließlich mir. Jetzt setzten sich die Leute und fingen an, sich zu unterhalten. Auch die Diener lösten sich von der Wand und brachten die Speisen an die Tische. Ah, deswegen die Schweigsamkeit vorhin. Und alles nur, weil Ares den Raum betreten hatte. Innerlich lachte ich, was für ein Getue. Der Mann neben mir wandte sich mir freundlich zu und griff meinen Unterarm. Das war hier wohl eine allgemeine Geste der Freundlichkeit. Auch Khor hatte mich so begrüßt. Ich lächelte auch und wir fingen ein Gespräch an. „Ich heiße Lor Westen. Ich bin ein Minister Ares´. Man hat mir schon viel von dir erzählt.“
Dieser Mann wurde mir sofort sympathischer, als er mich mit du, anstatt mit euch ansprach. Das klang viel natürlicher. „Karan. Freut mich.“ Wir wurden durch das Auftauchen von gelben Gemüse unterbrochen. Jeder tat sich etwas auf, dann wurde die Schüssel weitergereicht. Als ich sie weitergab, viel mein Blick zufällig auf Ares´ Platz. Er hatte gar keinen Teller, stellte ich verwundert fest. Er saß mit einer aufmerksamen Eleganz auf seinem Stuhl und nippte an einem Glas Wein. Essen tat er nichts, sein Zeitvertreib bestand darin, die Menschen zu beobachten. Etwas verwirrt wandte ich mich wieder Lor zu. „Ich habe schon etwas von Ministern gehört“, Das sagte ich vor Allem, um ihn nicht damit zu kränken, dass ich gar nichts wusste. „Allerdings kenne ich mich nicht wirklich damit aus. Was bist du für ein Minister?“ Er erklärte es mir und bald stellte ich ihm noch andere Fragen. Ich freute mich, eine solche Informationsquelle gefunden zu haben. Ich mochte ihn, das stellte ich bald fest. Er hatte eine reife, erwachsene Art, die ich sehr angenehm fand. Lor stellte mich auch meiner Nachbarin vor. So peinlich das auch war, ich konnte ihren Namen beim besten Willen nicht aussprechen, geschweige denn, ihn mir merken. Aber sie war sehr nett. Ihr Wesen erinnerte mich ein bisschen an eine saftige exotische Frucht. Ich wurde rot, als ich das dachte. Doch Unterhalten konnten wir drei uns prächtig. Das Essen ging weit über Mittag hinaus, sodass es dann irgendwann eigentlich kein Morgenessen mehr war. Darüber dachte ich gerade nach, während Morijaj, Morjej, na ja, wie auch immer, und Lor sich über die Herrschaft irgendeines alten Königs aufregten. „Es ist unmöglich. Es ist schon ein Wunder, dass er sich überhaupt noch auf seinem Thron halten kann“, ließ die Frau gerade verlauten. Sie hatte ein sehr feuriges Temperament. Lor dagegen schien wesentlich ruhiger. „Egal wie alt er ist, man muss-„
Plötzlich erschütterte ein lautes Beben den Saal. Erschrocken hielt ich mich an meiner Stuhllehne fest, doch der Stuhl fiel um und schlitterte über den Boden, vom Podest hinunter. Aah, mein Kopf kam hart auf dem Boden auf. Mir war ganz schwindelig. Kaum was sehend hielt ich mir den Kopf. Rundherum waren die Schreie der Menschen zu hören.

Ein Kampf, der neue Einsichten bringt


Wie erstarrt schaute ich auf die Menschen, die schreiend durch die Gegend liefen. Ich selbst lag auf dem Boden und konnte mich nicht bewegen. Ich wusste nicht wieso, aber anscheinend musste ich mir mehr wehgetan haben, als ich gedacht hatte. Ich versuchte mich gegen die Barriere zu stemmen und mich zu bewegen, doch ich schaffte es nicht. Aber ich musste doch! Die Angst überkam mich und ich flatterte wie wild mit den Flügeln. Es wollte nicht gehen. Die Leute, die an mir vorbeirannten, beachteten mich nicht. Sie hatten zu viel Angst. Erschöpft sank ich auf den Bauch zurück und hoffte sehnlichst, dass ich das heil überstehen würde. Mit geschlossenen Augen versuchte ich nichts mehr zu hören. Als nächstes ging ein Rütteln durch den Boden. Ich versuchte mich festzuhalten und krallte mich mit den Händen am glatten Boden fest. Zitternd krümmte ich mich zusammen und wartete, bis das Beben aufhörte. Schließlich war es vor rüber und ich öffnete die Augen. Der Boden war noch ganz. Plötzlich merkte ich, dass ich die Finger bewegen konnte. Langsam testete ich es auch bei den Armen und Beinen aus. Ich konnte mich wieder bewegen. Erleichtert sprang ich schnell auf. Der Saal war verwüstet, doch darum kümmerte ich mich nicht.
So schnell ich konnte, rannte ich zum Ausgang. Draußen auf dem Flur angekommen, überlegte ich, in welche Richtung ich rennen musste. Ich musste weg von der Gefahr. Unbedingt. Nach links. Ich wollte schon losrennen, doch dann stoppte ich. Die Angst verschwand. An ihre Stelle kam etwas anderes. Ein Drängen in meiner Seele, ich musste woanders hin. Schnell rannte ich in die entgegengesetzte Richtung, anstelle der Angst nun ein ehrliches reines Gefühl, das mich zum Lächeln brachte.
Ich wusste nicht, wohin ich rannte, doch ich ließ mich von meiner Intuition leiten.
Immer weiter, für jeden Außenstehenden scheinbar ohne Ziel. Doch ich wusste ganz genau, wohin ich wollte. Deswegen überraschte es mich auch nicht sonderlich, als ich schließlich vor dem Haupttor stehenblieb. Draußen war alles voll. Voll mit Menschen. Mit Soldaten, wie ich erkannte, als ich genauer hinschaute. Über ihnen ragte ein riesiger Schatten in die Höhe. Wie erstarrt blickte ich auf dieses riesige Ungetüm. Es war umgeben von schwarzen Tieren, fast so groß wie ich. Neben dem Monster allerdings, wirkten sie wie Insekten. Doch ich war noch nicht am Ziel angelangt. Von Sinnen kämpfte ich mich durch die Körper, die mir den Weg versperrten. Ich war selbst überrascht, mit welcher Willensstärke und Entschlossenheit ich mir einen Weg durch diese Kolosse von Männern bahnte. Vermutlich war ich von aller Vernunft verlassen, doch ich war mir völlig sicher. Nach allzu kurzer Zeit kam ich an eine Stelle, an der ich etwas sehen konnte. Ich konnte es nicht fassen; da stand Ares. Um ihn standen die Soldaten, sie schlossen einen Kreis um ihn. Und ihm gegenüber stand das riesige Tier. Zum ersten Mal in meinem Leben, spürte ich Wut, heiß zischend in mir fließen. Wie konnten sie ihn da nur so allein stehen lassen, Auge in Auge mit dem Ungeheuer? Ab und zu wagte sich ein Soldat mit einem Speer oder einem Schwert vor, doch sie wurden allesamt von diesen widerlichen riesigen Insekten umgebracht. Und Ares sollte ganz allein mit ihm kämpfen. Nein, das konnte ich nicht zulassen!
Ich sah gerade noch, wie Ares sein Schwert aus der Scheide zog und auf das Tier zuging, und schon rannte ich los. Ich musste ihm helfen, ihn beschützen! Schneller denn je schob ich mich bis zu Ares durch. Dort angekommen, nahm ich mir ein Schwert vom Boden, das neben einem toten, blutenden Mann lag. Mir wurde übel, als ich das sah. Doch der Rausch war zu stark, als dass ich das wirklich hätte wahrnehmen können. Mutig entschlossen trat neben Ares. In dem Blick, den er mir zuwarf, lag etwas Wahnsinniges. „Geh sofort zurück, du dummer Junge.“ Schnell schaute er zu dem Ungeheuer. „Was bildest du dir ein? Glaubst du, du könntest dagegen kämpfen?“ Ich griff das Schwert fester und ging geradewegs, ohne auf Ares zu hören, auf das Monster zu. Ohne eine Gesichtsregung brachte ich das Schwert in die richtige Stellung und griff an.
Sofort stürzten Schwärme dieser riesigen Insekten auf mich zu. Ich kämpfte mich durch, wie wenn ich echte Insekten wegschlagen würde. In meiner Wut konnten sie mir nichts tun. Sie ließen sich schneiden wie vertrocknete Blätter. Ich hatte mich bald durch die Schwärme durchgekämpft. Als meine Sicht frei wurde, sah ich Ares ein Stück weit neben mir mit diesen hässlichen Biestern kämpfen. Er nickte mir zu. Jetzt kämpften wir Seite an Seite, miteinander. Kaum hatte ich zu Ende gedacht, musste ich vor der riesigen Tatze zurückspringen, die neben mir landete. Sofort stach ich zu und riss damit eine rot klaffende Wunde in das schuppige Bein. Als ich hoch schaute, sah ich wie hässlich das Monster tatsächlich war. Sein Gesicht war völlig entstellt. Es waren menschliche Züge darin zu erkennen, völlig verunstaltet und gemischt mit allen möglichen anderen Wesen. Ich konzentrierte mich und sprang auf ein Bein des Tiers. Von da an lief ich nach oben, sprang auf die Schultern. Das Wesen wollte mich abschütteln und ruckte einmal heftig mit dem Oberkörper. Das reichte, um mich mein Gleichgewicht verlieren zu lassen und ich fiel. Ich versuchte mich noch an den Schuppen festzuhalten, doch ich rutschte ab. Ich schloss die Augen und spürte die Luft an mir vorbeizischen. Ein kurzer Moment Freiheit, dann spürte ich etwas Starkes an meiner Hand. Ich öffnete die Augen- über mir war ein grinsender Ares, der mich langsam wieder hochzog, auf eines der grau-grünlichen Beine. „Nicht so schnell, sonst komm ich nicht mit.“ Ich lächelte ebenfalls. Er bot mir eine Hand an. „Zusammen, in Ordnung?“ Ich packte seine Hand und drückte sie. „Zusammen!“
Diesmal ging ich schlauer vor. Ich spürte, was Ares tat und ergänzte seine Bewegungen. Er spürte meine Bewegungen und vervollständigte sie. Das bedeutete Zusammen. Wir waren stärker als das Monster. Durch uns kam es bald zu Fall. Es stieß einen furchtbaren Schrei aus und stürzte auf die Seite. Dort blieb es liegen. Zur Sicherheit ging Ares noch einmal zu dem Bauch des Untiers und stieß dem Wesen sein Schwert ins Herz. Dann kam er wieder zu mir. Die Soldaten um uns stießen Jubelrufe aus. Er stellte sich neben mich und betrachtete, sein Schwert abwischend, das Monster. „Ich sage dir, das wird nicht der letzte Dämon gewesen sein, der das Schloss anfallen wird.“ Er betrachtete die Waffe, die ich in den Händen hielt. „Wir müssen dir ein besseres Schwert besorgen.“ Dann ging er in die Menschenmenge und rief den Männern laute Befehle zu.

Ich hänge kopfüber in einem Baum


„Psst, mach doch nicht so ein Lärm.“ Lor Westen hing kopfüber in einem Baum, über ihm die höchst konzentrierte Schamanin. Sie hockte mit vorgebeugtem Oberkörper auf einem Ast und lugte zwischen den Blättern nach draußen. „Du könntest mir mal helfen, mir läuft das ganze Blut in den Kopf.“ Mora verengte die Augen zu Schlitzen, sie beobachtete etwas. „Selbst das wird bei dir wohl nicht viel helfen. Jetzt sei doch endlich still!“
Ächzend versuchte er, sein Bein aus dem Astgestrüpp zu befreien, hatte aber nur geringen Erfolg. „Jetzt sag mir endlich, warum du mich mitgeschleppt hast. Oder brauchtest du nur jemanden zum Ärgern?“ Hastig, aber leise kletterte sie die Äste nach unten, zu Lor. „Jetzt hör mir mal gut zu, ich habe dich mitgenommen, damit du mir hilfst und nicht, damit du wie eine tote Maus im Baum herumhängst.“ Darauf konnte er nur stöhnen. „Furchtbar, wie unnütz ich bin. Vertreibe mir meine Zeit damit, meine Beine in Ästen festzuklemmen.“ Er hielt sie mit einer Hand an ihrem grauen, groben Hemd fest, damit sie nicht wieder abhaute. „Aber könntest du mir jetzt bitte helfen?“ Seufzend beugte sie sich hinab. Dann riss sie mit einem Ruck seine Beine aus den Ästen. Erleichtert setzte er sich auf und rieb sich die roten Stellen an den Beinen. Mora saß da und starrte ihn mit einem höchst irritierenden Blick an. „Was ist?“ Die Schamanin hatte einen stechenden Blick, den nicht jeder allzu lange ertragen konnte. Sie fing allerdings nach der Frage an, von einem Ohr zum anderem zu grinsen. „So unordentlich habe ich dich ja noch nie gesehen.“ Sie hatte Recht. Aber das war auch kein Wunder. Stundenlang hatte sie ihn über Felder stampfen und durch Moore waten lassen. Nun waren seine Haare ganz verstrubbelt, seine Hose schmutzig und der Kopf knallrot, vom langen Kopfüberhängen. Doch bald folgte er ihr nach oben und die beiden sahen auf eine gepflasterte Straße des Dorfes Ozjak hinab. Ein Karren nach dem anderen fuhr holpernd unter ihnen vorrüber und die Menschen schoben sich zwischen Karren, Pferde und Händler über die Straße. „Suchst du jemanden?“, fragte er sie flüsternd. „Was denkst du denn? Natürlich.“ Eine Weile suchten ihre Augen die Menschenmenge ab, dann lehnte sie sich nach hinten, gegen den Baumstamm und schien zu warten. „Wenn du jemanden suchst, hättest du dann nicht alleine gehen, oder wenigstens einen Diener mitnehmen können? Aber warum ausgerechnet ich?“ Er blickte sich um. „Außerdem hättest du auch nicht unbedingt auf einen Baum klettern müssen. Hätten wir uns unter die Leute gemischt, wären wir ebenfalls so wenig aufgefallen.“ Gleichmütig blickte sie durch das Blätterdach auf die Menschen. „Ich habe dich mitgenommen, weil das, was ich zu erfahren hoffe, auch dich etwas angeht. Außerdem muss jeder mal mit mir mitkommen und jetzt warst du an der Reihe.“ Er schaute sie an. „Und warum der Baum?“
„Besondere Menschen erfordern besondere Maßnahmen. Und der Mann, mit dem ich sprechen will, ist sehr besonders. Ohne ein entsprechend unerwartetes Auftauchen, würde er sich gar nicht erst dazu herablassen, mit mir zu reden.“ Lor wollte gerade zu einer Bemerkung ansetzen, als Mora sich plötzlich vom Ast fallen ließ. Mit offenem Mund schaute er ihr hinterher. Da flog sie. Schnell kletterte er zu den untersten Ästen, wo Mora bereits in Hockstellung wartete. „Was machst du…“
Schnell hielt sie ihm den Mund zu und legte einen Zeigefinger an ihren Mund. Daraufhin schaute sie wieder nach vorne. Von weitem näherte sich ein alter Mann. Seine Haare waren ganz zerzaust und sein oberer Schädel war vollkommen kahl. Er war dürr und mittelgroß und trug einen schwarz-lila Umhang, mit dem er wie eine Fledermaus aussah. Ganz gemächlich lief er die Straße hinunter, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Als er an den beiden vorbei war, sprang Mora lautlos vom Ast und schlich sich hinter ihn. „Mein alter Freund.“ Gänzlich unüberrascht drehte er sich um. „Meine liebe Mora, du hast zwar Talent, doch du bist zu durchschaubar. Ich wusste schon vor Jahren, dass du diesen Baum auswählen würdest, um mich zu überraschen.“ Mittlerweile war auch Lor zu den Zweien getreten. „Na nu? Wer ist denn das?“ Lor deutete eine leichte Verbeugung an, er spürte deutlich, dass dieser Mann mächtiger war als er. „Gestatten, mein Name ist Lor, ich bin ein Freund von Mora. Und ihr seid…?“ Der Mann blickte ihn abschätzend an. „Das braucht euch nicht zu interessieren. Nennt mich einfach Öp, solange ihr hier seid.“ Lor zog die Augenbrauen hoch. „Öp?“
„Öp.“ Er führte die beiden zu seinem Haus, oder seinem “zeitweiligem Unterschlupf“, wie er es nannte.
Es war mehr eine verbeulte Höhle aus Holz und Steinhaufen als ein Haus, umgeben von einem völlig demolierten Zaun. Doch Öp führte sie hinein, als würden sie ein Adelsanwesen betreten. Mit durchgestrecktem Rücken und würdevoller Miene setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden. „So, nun sprecht. Was wollt ihr von mir?“
Mora stellte sich mit eingestützten Armen vor ihm hin. „Wenn man Gäste hat, dann fragt man sie, ob sie etwas trinken wollen, mein Lieber.“ Er breitete die Arme aus.
„Schau dich um, ich habe nichts. Aber wenn ihr Durst habt, dann geht doch einfach zu dem Fluss, der durch die Stadt fließt. Ich muss euch allerdings warnen; der Fluss ist schon etwas gelblich.“ Sie seufzte ergeben und ließ sich ebenfalls nieder. „Nun gut. Wir sind hier, weil wir Informationen brauchen.“ Er riss die Augen auf und sprang auf.
„Die kann ich euch nicht geben. Tut mir leid, da müsst ihr es woanders versuchen.“ Mit aller Kraft versuchte er Mora zum Aufstehen zu zwingen, doch diese blieb stur sitzen. Nach einer Weile ließ er sich keuchen zurück auf den Boden fallen. Mit einer unerträglich hohen Stimme fing er an, hysterisch zu quietschen. „Du vermaledeites Weibsstück, du! Ich musste bestimmt schon zwanzig-mal meinen Namen wechseln, nur weil du Informationen wolltest. Das kann so nicht weitergehen!“
„Nun bleib mal ganz ruhig. Wir brauchen die Informationen, weil Ares vorhat, einen Krieg gegen Koren zu führen. Er ist so überheblich, dass er gar nicht mit Schwierigkeiten rechnet. Ich allerdings habe die Befürchtung, dass das nicht so einfach werden wird. Und du weißt sicher alles, was ich wissen muss, habe ich Recht?“ Er drehte sich mit dem Rücken zu Lor und Mora und schnalzte mit der Zunge.
„Gib mir einen vernünftigen Grund, warum ich einem dreckigen Vampir helfen sollte.“ Lor wandte sich an Mora. „Wieso bist du der Meinung, dass es Schwierigkeiten geben könnte? Außer dass die Armee von Koren ein wenig gewachsen ist, sehe ich keine Probleme.“ Sie schaute beunruhigt auf die Straße. „Ich bin vor einiger Zeit korenischen Offizieren auf der Durchreise begegnet. Es war auf einer Handelsstraße in Sinn und sie hatten sich verkleidet, sodass sie dachten, keiner erkenne sie. Die zwei sprachen von einer Art Schlüsselwaffe, oder so ähnlich. Ich habe das Gefühl, dass das für uns wichtig sein könnte.“ Öp blickte über seine Schulter zu Lor. „Für uns? Wer bist du denn?“ Mora lächelte ein hinterhältiges Lächeln. „Das, mein Freund, ist Lor Westen. Du solltest ihn kennen. Kriegsminister von Ares. Sohn von Grilda Westen, du bemerkst sicherlich die Ähnlichkeit.“ Er krabbelte über den Boden zu Lor und beugte sich vor, um ihn genauer in Augenschein nehmen zu können. Dabei wehte die Fahne von verfaulten Zähnen über Lors´ Gesicht, der sich leicht nach hinten lehnte. „Tatsächlich, was für ein Zufall. Obwohl, wie ich dich kenne…“ Er drehte sich säuerlich zu Mora um. „Vermutlich hat du ihn genau deswegen mitgebracht, damit ich weich werde, stimmts´?“ Sie lächelte nur.
„Na gut, na gut, dann verrate ich es euch eben. Koren hat einen Zauberer aufgetrieben, der irgendwie die Tiere und Dämonen aus dem alten Wald befehligen kann. Mehr weiß ich nicht. Nun verschwindet!“
Mora und Lor standen auf und verließen die Hütte. Nervös ging Lor auf und ab. „Das gefällt mir gar nicht. Ares hat schon genug damit zu tun, wenn mal eines dieser Monster aus dem Wald ausbricht, aber wenn gleich mehrere kommen…“ Er runzelte besorgt die Stirn. „Was machen wir jetzt?“
Mora schaute nach vorne, tief in Gedanken versunken. „Jetzt gehen wir erst einmal zurück ins Schloss und geben Ares Bescheid.“ Und das taten sie.

Das Trio des Chaos

„Mein liebster Ares. Wie sehr hast du mir gefehlt!“ Kalt lächelnd kam sie auf mich zu und begrüßte mich mit einer kurzen oberflächlichen Umarmung. Hinter ihr kamen zwei Männer auf mich zu. Alle drei Vampire. Unwillkürlich musste ich an Karan denken. Ich werde aufpassen müssen. „Ares. Es tut gut, dich wiederzusehen. Endlich mal wieder vernünftige Gesellschaft.“ Genervt verdrehte er die Augen in Richtung der anderen beiden. Bei seinem Anblick musste ich lächeln. Ich fasste meinen Freund am Unterarm und wir umarmten uns. Er wurde jedoch zur Seite gedrängt, von dem anderen Vampir, der mit seinem üblichen sadistischen Lächeln über meine Schulter zum Schloss schaute. „Ich hoffe, uns wird bei dir nicht langweilig.“ Ich war aus Vorsicht vor den Schlossgarten gegangen. Sie sollten nicht gleich in den ersten Sekunden über alle herfallen. Jira, Toras und Zil. Das Trio des Chaos, wie sie manchmal von den älteren Vampiren spöttisch genannt wurden. Ein kindischer, doch äußerst treffender Name. Toras war noch der Vernünftigste, wahnsinnig waren jedoch alle drei. Sie hinterließen eine Spur aus Blut und töteten ohne Grund oder Sinn. Sie wirkten ganz normal, aber ich hatte sie anders erlebt.

„Na, willst du uns nicht hereinlassen? Komm schon, wir sind auch ganz artig.“

Wie ein kleines Mädchen grinste sie mich an und zeigte so ihre spitzen Zähne. Normalerweise zeigten sich die Zähne eines Vampirs nur in höchsten Gefühlsaufwallungen, besonders bei Lust. Doch Jira war schon so vom Geist verlassen, dass sie in einem Dauerzustand der Lust war.

„Ich sehe schon, es kommen anstrengende Zeiten auf mich zu.“ Die drei lächelten mich daraufhin freundschaftlich an, jeder auf seine Art. Also drehte ich mich um und ging zum Schloss, sie folgten mir.  Wir kamen auf die Wiese und die drei schauten sich um. Die Überreste des Dämons lagen immer noch herum, die Diener waren seit gestern damit beschäftigt, sie wegzuräumen. Fasziniert hob Zil ein Insekt hoch. „Th th Ares, also wirklich! Was hast du denn da wieder für ein Massaker angerichtet? Den Armen so zuzurichten?! Hast du denn gar keinen Familienrespekt?“ Jira gab ihm von hinten ein Klaps auf den Kopf. „Was erlaubst du dir? Ares ist ja wohl von diesem niederen… Müll meilenweit entfernt.“ Ich seufzte, wie sollte ich das nur aushalten? Vermutlich würden sie die nächsten Wochen hierbleiben. Am Schloss winkte ich einem Soldaten. „Bring sie in ein Zimmer.“ Ich konnte keinem Diener diese Aufgabe überlassen, der Soldat konnte sich im Zweifelsfall wenigstens ein bisschen wehren.

Die Vampire folgten ihm, nicht ohne sich noch überschwänglich von mir zu verabschieden. Als ich um die nächste Ecke gegangen war, ließ ich einen Offizier zu mir rufen. „Die drei Leute, die gerade ins Schloss eingetreten sind, hast du sie gesehen?“ Er verneigte sich kurz. „Ja Herr, eine Frau und zwei Männer.“ Ich nickte und sprach weiter. „Sie werden vermutlich eine Weile bleiben. Im Moment befinden sie sich in den drei letzten unteren Zimmern des Nordflügels. Ich möchte, dass sie aufs Äußerste bewacht werden. Sie sollten immer beobachtet werden, von mindestens zwei Männern.“ Er nickte gehorsam. „Außerdem möchte ich, dass, sobald sie irgendwie gefährlich werden sollten, einer deiner Männer mir sofort Bescheid gibt. Greift allerdings niemals selber ein, hast du mich verstanden? Haltet euch lieber im Hintergrund.“ Er verbeugte sich und schritt davon. Ich hatte die düstere Ahnung, dass das eine unnütze Vorsichtsmaßnahme war. Es würde so oder so Opfer geben, ich konnte nur froh sein, wenn es eine geringe Zahl werden würde.

Ich lief zu meinen Zimmern und legte mich auf mein Bett. Ich konnte ein wenig Schlaf jetzt gut gebrauchen. Diese verdammten Vampire! Als hätte ich nicht schon genug Schwierigkeiten. Ein angehender Krieg gegen Koren; ich würde jede Menge Soldaten entbehren müssen. Es brachen immer mehr Dämonen aus dem Wald aus, obwohl, viel halfen mir die Soldaten dabei auch nicht. Ein Engel, von dem ich noch keine Ahnung hatte, wie ich ihn auf das Engelgebiet schaffen sollte. Von der Prophezeiung ganz zu schweigen. Und dann kommt auch noch die Gemeinschaft des Schreckens, das Trio des Grauens, wie auch immer, in mein Schloss. Vielleicht sollte ich sie umbringen? Den übrigen Dämonen wäre damit ein großer Gefallen getan. Mal sehen.

 

Langsam fielen mir die Augen zu. Wo Karan wohl gerade war? Hoffentlich fiel er ihnen nicht in die Arme. Er roch so gut… 

Plötzlich knallte die Tür. Oh, das konnte doch wohl nicht wahr sein! Da wollte man einmal schlafen. „RAUS!“ Entgegen meinem Befehl kamen die Schritte zu meinem Bett und Hände rissen mir meine Decke weg. Ich stöhnte. Nur ein Mensch konnte so resolut meine Decke wegreißen. „Aufstehen! Schlafen kannst du später, ich muss dir etwas wichtiges sagen.“ Die Schamanin. 

„Kannst du mich nicht einmal in Ruhe lassen!“ Mein Kopf hob sich und ich feuerte einen wütenden Blick in ihre Richtung ab. „Oh je, du siehst wirklich furchtbar aus. Du solltest mehr schlafen.“ Das war hoffnungslos. Ich sackte wieder zurück in mein Kissen. „Nein, hör mir zu. Ich war bei einem alten Freund von mir.“

„Das ist schön, jetzt geh.“

 „Also ich war bei einem alten Freund von mir, genauer gesagt, einem gut informierten Mann in Sachen korenischer Regierung. Er erzählte mir und Westen…“

„Was?“ Jetzt schaute ich sie verzweifelt an. „Du hast meinen Kriegsminister auf einen deiner kleinen Ausflüge mitgenommen?“

„Du hat ja noch nicht einmal bemerkt, dass er weg war. Jedenfalls hat Öp…“

„Öp?“

„Jetzt sei doch endlich mal still. Öp hat uns erzählt, dass Koren eine Art Geheimwaffe besitzt.“ Ich setzte mich misstrauisch auf. „Was meinst du damit?“

„Er sagte, die Regierung habe einen Mann, einen Zauberer, der die Macht hat, Dämonen aus dem alten Wald zu befehligen.“ Stille folgte.

„Es war also kein Zufall.“ Mora wandte sich mir stirnrunzelnd zu. „Was meinst du?“

„Wir wurden bereits angegriffen. Von einem Dämon aus dem alten Wald.“ Sie sprang auf. „Was?“ Das war´s dann wohl mit dem Schlafen. „Setz dich lieber hin. Es ist eine Menge passiert, seit du fort warst.“

Der Angriff

Ich lief unruhig in meinem Zimmer umher. Was mir am meisten Sorgen machte, war, dass ich nichts gegen diese unerklärliche Unruhe machen konnte. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast denken, ich machte mir Sorgen. Doch ich hatte alle derartigen Gefühle schon als Kind abgelegt. Trotzdem konnte ich nicht still sitzen. Was war denn bloß los?

Ich musste nach Karan schauen. Nein, das ging nicht. Ein Teil von mir weigerte sich einfach, diesem Engel zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Das durfte nicht sein. Es war nicht richtig.

Und doch, was war, wenn ihm etwas passierte? Ich wurde noch unruhiger. Das konnte doch nicht wahr sein! Wo war all meine Beherrschung geblieben? Ich stellte mich ans Fenster und schaute hinaus. Das Gras war grün und der Himmel blau. Und wenn ihm doch etwas passiert war? Dieser kleine Engel konnte doch nicht auf sich aufpassen. Er musste. Ich würde dieser kleinen Schwäche nicht nachgeben…

 

 

Ich lag auf meinem Bett und schaute an die Decke. Sie war hell. Ich atmete tief durch. Irgendwie konnte ich keine Ruhe finden…

Vielleicht sollte ich mal wieder in den Wald gehen. Ich musste an den Kampf denken. Meine Hände legten sich langsam auf mein Gesicht. Wie traurig, ich hatte spüren können, wie der Dämon gestorben war. Wie er gelitten hatte. Eine Träne stahl sich aus meinen Augen. Dann lächelte ich. Wie offen Ares beim Kampf gewesen war. Meine Hände legten sich wieder auf die Decke, neben meinem Körper. Ich würde hundert Dämonen töten, um ihn noch einmal so zu erleben. …Nein, was sagte ich da?

Ich würde in den Wald gehen.

 

 

Ich ging den Flur entlang und strich mit den Händen das Gemäuer entlang. Ich hatte mich strikt dagegen entschieden, nach Karan zu schauen. Und dann war ich gegangen.

Weil ich es musste. Es war kalt in diesem Teil des Schlosses. Kein Wunder. Es war der Teil -der Teil mit den verbotenen Räumen, dem magischsten Teil des Schlosses. Ich ging schneller.

Solche verdammten Vampire. Aber wo waren sie, wo sollte ich suchen? Nicht mehr in ihren Zimmern, soweit war ich mir sicher. Ich schloss die Augen und legte meine Hand an die Mauer. Wo war er? Meine Hand glitt weiter…im dritten Stockwerk, auf dem Weg nach unten.

 

 

Ich lief die Treppe hinunter, in einen Flur hinein. Plötzlich spürte ich etwas an meiner Handfläche, es fühlte sich an, als würde ich kalten Stein berühren, eine Mauer. Wie seltsam, ich berührte doch keine. Ich blieb stehen. Dann drehte ich mich um und lief in die entgegengesetzte Richtung weiter. Ich würde durch den Hintereingang gehen, an den Gärten vorbei, an den Blumen. Dort war ich immer gerne. Meine Flügel strichen leise an der Wand entlang. Dann trat ich durch ein Tor nach draußen und betrat die Gärten.

 

 

Ich roch Blumenduft. Ich schaute mich verwirrt um, hatten die Bediensteten Blumen in den Fluren aufgestellt? Nein, hier waren keine. Na ja, vielleicht hatte ich mich geirrt. Ich blieb stehen und erspürte wieder seinen Standort. Verdammt, das gab es doch nicht, jetzt hatte er eine völlig andere Richtung eingeschlagen. Jetzt würde ich ihn nicht mehr so schnell einholen können. Konnte sich der Junge denn nicht entscheiden? Schnell bog ab und lief schneller. Wohin wollte er denn nur?

 

 

Ich lief langsam weiter. Da war der Wald. Lange betrachtete ich ihn. Irgendwas war anders als vorher am Wald.  Es machte mir Angst. Doch ich ging hinein. Was auch immer anders war, es wurde nicht besser, wenn ich wieder ging. Ich betrat vorsichtig den Wald, einen Schritt vor den anderen. Meine Hände fingen an zu zittern. Mein Atem ging schneller. Ich hatte das Gefühl, um mich herum wären lauter unsichtbare Klingen auf mich gerichtet.

Schneller lief ich weiter. „Na, wen haben wir denn da?“ Schrecken durchfuhr mich. Es war eine Frauenstimme. Sie klang wahnsinnig. Schnell guckte ich mich nach Fluchtmöglichkeiten  um. Es gab keine. Drei Leute kamen aus unterschiedlichen Richtungen auf mich zu. Die Frau leckte sich lächelnd über die Lippen. „Schaut mal, was ich gefunden habe. Ein Engel, “ Blitzschnell war sie hinter mir und flüsterte mir, so dass ihre Lippen mein Ohr berührten, zu;

„So was habe ich ja schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Sind eine echte Rarität geworden.“ Sie hob meinen Flügel an und betrachtete ihn. Stocksteif stand ich da, wie gelähmt vor Angst. Mit diesen Menschen konnte man nicht reden.

Plötzlich rammte sie mir ihr Knie in den Rücken, ich fiel schreiend auf die Knie. Sie umrundete mich und hockte sich vor mir hin. „Mein Kleiner, sei doch nicht so empfindlich.“

Sie hob mein Kinn mit zwei Fingern an, was sich irgendwie eklig anfühlte, dann blickte sie mir mit einer Schmolllippe in die Augen.

Das machte mich rasend. Ich rammte ihr meine Faust ins Gesicht. Damit hatte sie nicht gerechnet. Überrascht wich sie zurück. Dann verfärbten sich ihre Augen rot. Wütend zischte sie um mich herum und griff von hinten meine Schultern. Plötzlich waren auch die anderen zwei da. Einer der beiden Männer hob mein Kinn wieder an und blickte mich an.

„Hübsches Kerlchen…Wollen wir ihn aufessen?“ Ich riss die Augen auf, meinte er das ernst?

Die Frau sagte von hinten: „Natürlich, wann haben wir denn sonst mal die Gelegenheit, von einem Engel zu trinken?“ Breit grinsend kam sie vor. „Wenn ich darf, würde ich gern die erste sein, die von ihm trinkt?“ Damit beugte sie sich schon nach vorne, zu mir, aber der andere Mann unterbrach sie. Er sah ernst und gefährlich aus, vielleicht erwachsener, aber nicht weniger gefährlich als sie. „Nein, ich werde als erstes von ihm trinken.“ Die Frau blinzelte ihn an. „Du, Toras? Wie du willst, aber lass uns noch was übrig, ja?“

Der erste Mann schnaubte. „Da kommt einem einmal was wirklich Besonderes unter die Finger und plötzlich drängelt sich Toras vor. Was für ein Spielverderber!“

Der Mann, der Toras hieß, beugte sich zu mir und legte meinen Hals frei. Ich spürte, wie die anderen zwei an meinen Armen zerrten. Es tat weh. Würde ich jetzt sterben?

Die Rettung

Kapitel 20

 

 

 

 

Seine kühlen Hände umfassten meinen Hals und er beugte sich langsam zu mir. Seine Lippen streiften meinen Hals. Ich versuchte mich wieder zu wehren, doch er war zu stark für mich. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich hatte einen riesigen Dämon getötet und jetzt schaffte ich es nicht, gegen ihn anzukommen? Eiskalte Panik machte sich in mir breit. Und dann spürte ich, wie er seinen Mund öffnete und zubeißen wollte. Ich schloss die Augen.

 

Und dann wurde er abrupt von mir weggerissen. Erschrocken riss ich die Augen auf, blickte mich nach der Ursache um. Ich erschrak, als ich Ares sah, er drückte den Mann auf den Boden. Seine Augen waren rot. Das war nicht gut, überhaupt nicht. Ich musste irgendetwas unternehmen! Ich schaute mich nach beiden Seiten um, doch die zwei anderen standen starr da und blickten fassungslos auf Ares. Er rammte den Mann mit voller Wucht auf den Boden, das hätte kein Mensch überstanden. Unfähig etwas zu tun, stand ich da und konnte nur zusehen.

„WIE KANNST DU ES WAGEN?“ Seine Stimme peitschte derartig, dass es mir in den Ohren wehtat. Gleich danach rammte er ihn noch einmal auf den Boden. Ich konnte fast nicht mehr hinsehen. Plötzlich kam Bewegung in die Sache, die Frau stürzte vor und packte Ares bei den Schultern. „Ares, du hast uns nicht gesagt, dass hier ein Engel ist. Da ist es doch verständlich, dass wir…“ Er schleuderte die Frau mit seinem Arm weg, sodass sie gleich ein paar Meter durch die Luft flog und dann ziemlich heftig in der Erde landete. Der zweite Mann wollte der Frau helfen und ging auf Ares zu, wich dann aber sofort zurück, als er dessen Blick sah.

Kluger Junge, schoss es mir durch den Kopf, das ist auch besser so für dich. Gott sei Dank brachte Ares den Mann nicht um, sondern ließ bald von ihm ab. Er ließ ihn los und stellte sich aufrecht hin. Man sah, dass er alle seine Willenskraft aufbieten musste, um sich nicht wieder auf ihn zu stürzen. Der Mann hatte allerdings seine rege Mühe, wieder hochzukommen. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass Ares trotzdem immer noch so wütend war. Deswegen konnte ich nur den Kopf schütteln über so viel Dummheit, als der zweite Mann langsam auf ihn zuging. „Was ist denn mit dir los? Du warst doch sonst auch nicht so zimperlich, wenn es darum ging, dein Essen mit uns zu teilen.“ Mir wurde schlecht, als ich das hörte. Wie viele Menschen hatten sie denn umgebracht? Ein Blick zu Ares verriet mir, dass die Explosionsschwelle wieder gefährlich anstieg. „Dieser Engel ist nicht zum Essen gedacht.“

Die Frau hatte sich mittlerweile wieder einigermaßen erholt und kam auf Ares zu. „Wenn er nicht als Essen gedacht ist, wieso hältst du ihn dir dann im Schloss?“  Das war eigentlich eine gute Frage. Jetzt schaute auch ich gespannt zu ihm. „Wenn ihr mir verratet, wie ich ihn sicher über die Grenze in das Land der Engel bringen kann, dann würde ich ihn sofort rausschmeißen. Aber ich glaube eher nicht, dass euch die große Idee kommt, oder?“

Langsam entspannten sich meine drei Angreifer, froh, dass man jetzt wieder normal mit ihm reden konnte. „Schick doch einfach ein paar Soldaten und zwei Zauberer mit ihm mit, oder so.“ Ares blickte sie verständnislos an. „Weißt du, was ihm da alles  passieren könnte? Es müssten doch nur ein paar stärkere Zauberer kommen, und sie würden ihn fertigmachen. Jetzt schaute sie ihn ebenfalls so verständnislos an, wie er sie. „Ja, und? Du hättest deine Pflicht gegenüber den Haustieren erfüllt. Es wäre doch nicht deine Schuld, wenn nicht alles nach Plan verlaufen würde.“ Waren sie sich eigentlich noch bewusst, dass ich direkt hinter ihnen stand? Doch als sie das sagte, wusste ich, Ares würde genau das jetzt tun. Ich hatte ihm schon genug Ärger beschert. „Der Engel bleibt im Schloss. Und sollte es einer von euch auch nur wagen, ihn anzusehen, rechnet mit keiner Gnade. Habt ihr das verstanden?“ Nein, damit hatte ich nicht gerechnet. Er sagte das so autoritär und selbstverständlich, dass man ganz vergaß, dass das nicht normal war. Doch sie stimmten alle ziemlich widerwillig zu. Ares drehte sich im Gehen noch einmal um und schaute mich an. „Komm.“ Langsam ging ich ihm, unter den Blicken der drei Vampire, nach. Eine etwas unangenehme Situation, unter den verächtlichen Augen meiner Angreifer nun Ares nachzustolzieren.

Als ich ihn erreicht hatte, ging ich hinter ihm her. Eine Weile gingen wir, ich starrte mit gesenktem Blick auf den Waldboden. Plötzlich blieb er stehen. Still stand er da und schaute mich nicht an. „Bist du verletzt?“ Ich war überrascht, mit einer so offenen Frage hatte ich nicht gerechnet. „Nicht wirklich.“ Er nickte und ging weiter. Wesentlich entspannter als vorher folgte ich ihm zum Schloss.

 

„Na, so was. Wie es aussieht, hat Ares den geheimen Wunsch nach einem Haustier, oder er empfindet tatsächlich so etwas wie Zuneigung für diesen Engel.“ Jira ließ eine Handvoll Blätter auf die Wiese fallen. Toras und Zil drehten sich alarmiert zu ihr um. „Was redest du für einen Unsinn?“ Zil ging zu Jira und hämmerte ihr mit der Faust auf den Kopf. „Kein Wunder, so hohl, wie das sich anhört.“ Jira fauchte ihn an und ging an ihm, wie an etwas Ekligem, Andersartigem, vorbei. „Was sagst du dazu, Toras? Hast du es auch gemerkt, oder hat dir Ares alles Hirn rausgeprügelt?“ Toras blickte mit gefalteten Händen Richtung Schloss. „Nein, es ist auch mir aufgefallen. Ich hoffe aber, wir irren uns. Ares hat ein beeindruckendes Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen.“ Zil lehnte sich auf Jira`s Schulter. „Na, aber mich wundert´s dann, dass du noch nicht heulend auf dem Boden liegst. Ist es nicht dein Lebensziel gewesen, Ares zur Heirat zu zwingen?“ Jira lächelte verschlagen und nahm mit spitzen Fingern Zil`s Arm von ihrer Schulter. „Wer sagt, dass ich das nicht immer noch kann?“ 

Ares wird wahnsinnig

Die dunklen Baumwipfel wiegten sich leicht im Wind und meine Füße hinterließen ein Rascheln auf dem, mit Nadeln bedeckten Waldboden. Mein Blick wanderte von der unsichtbaren Barriere, die die Dämonen zurückhielt, zu den Büschen neben mir. Langsam wanderte meine Hand zu dem Schwert, das ich von einem der Soldaten bekommen hatte. Ich strich darüber, um mich meiner Sicherheit zu vergewissern, ungeachtet der Tatsache, dass ich mit einem solchen Ding eh nicht umgehen konnte. Ich hatte andere Mittel um mich zu verteidigen…

Ich ging zur Barriere und strich mit meinen Handflächen über die bläulich schimmernde Magie. Spürte die Dämonen dahinter, die sich an die Barriere drängten, hinauswollten, mich spürten. Mich verlangte es danach, sie hinauszulassen. Ich brauchte nicht nach der Magie in meinem Inneren zu suchen, sie war da, drängte sich von alleine hoch. Ich spürte die Barriere, spürte meine Kraft, die Dämonen… und ließ sie frei.

Die gewaltige schwarze Masse rauschte über meinen Kopf hinweg, versuchte mich mitzureißen. Doch ich blieb stehen- ich war kein Opfer, ich war ihr Meister.

Sie lechzten, sie fauchten und wollten Rache, wollten denjenigen vernichten, der sie vor so langer Zeit eingesperrt hatte. Ich fühlte ihre Wut, sie füllte mich aus. Ich drehte mich um und ging los. Es gab jetzt nur noch ein Ziel- Ares.

 

Langsam wandte ich meinen Blick von den Soldaten, die Waren von Karren abluden. Die Zeit war gekommen, den Krieg gegen Koren zu beginnen. Auf den Treppen kamen mir Diener entgegen, vergaßen sich zu verbeugen wegen meinem abwesenden Blick. Sie wussten, dass er nichts Gutes bedeutete. Am Ende der Treppe blieb ich stehen und zum ersten Mal seit vielen Jahren erwachte der Großteil meiner Seele wieder zum Leben. Krieg. Endlich wieder. Ich strich über mein Schwert, einen guten Gefährten, der mich all die Jahre nun schon begleitet hatte. An dem so viel Blut klebte.

Von links kam Westen um die Ecke. Er stockte kurz, als er meine roten Augen sah, dann ging er bemüht gelassen weiter.

„Ihr wolltet mich sprechen, Herr?“ Er schaute mich in der Verbeugung von unten beobachtend an. „Es ist Zeit unseren Plan bezüglich Koren durchzuführen.“ Ich sah förmlich, wie sich in seinem Kopf die Schlussfolgerung bildete: es gab Krieg. Dann nickte er ernst. „Ich werde sofort alle nötigen Offiziere zusammenrufen.“ Ich hob den Kopf und ging einen Schritt näher zu Westen. „Was glaubst du, wer wird die Dämonen aus dem alten Wald bekämpfen?“

Er wich nicht zurück, dazu kannte er mich zu gut. „Ich vermute, ihr werdet diese Vampire, die neulich ankamen, darauf ansetzen.“

„Nein, sie werden sich nur mit Menschen abgeben; Dämonen schreien und bluten ihnen zu wenig. Nein, ich dachte da an etwas anderes…

 

„Und wenn sie alle sind? Was macht ihr dann?“ Die dickliche Frau hob den prall mit grünem Gemüse gefüllten Korb auf und wandte sich mir zu. „Sie werden nicht alle. Über den Winter reichen sie immer. Natürlich nur, solange kein solcher Vielfraß kommt wie du und sie uns alle wegisst.“ Kurz wusste ich nicht, was sie meinte, dann wanderte mein Blick schuldbewusst zu dem leeren Teller, der auf dem Tisch unter der Terrasse stand. Achtzehn Kekse waren ursprünglich darauf gewesen. Nachdem ich dort gewesen war, waren es allerdings nur noch drei. Ich hatte erst danach erfahren, dass die anderen Arbeiter auch noch etwas davon abhaben wollten. Peinlich berührt wandte ich mich schnell wieder meiner Arbeit zu, um dem vielsagenden Blick der Arbeiterin zu entgehen. „Karan, komm mal schnell her. Ich habe etwas entdeckt!“ Schnell lief ich zu der jungen Frau hinüber, die sich interessiert zum Boden beugte. Sie war noch sehr jung für eine Arbeiterin, doch auf dem Land fing man schon als Kind an zu arbeiten. Sie beugte sich über eine kleine Pflanze mit roten Rändern. Enttäuscht ging ich in die Hocke. „Ach so, das ist nur ein Tarantulpflanze.“ Erstaunt sah sie mich an. „Was ist ein Tarantolpflanze? Kann man damit jemandem Kranken helfen?“ Hoffnungsvoll sah sie mich an. „Tarantul. Und nein, du kannst deiner Großmutter damit nicht helfen.“

„Schade. Und was ist mit dieser hier?“ Seufzend nahm ich ihr die Jodanus aus der Hand. „Die ist hochgiftig.“ Ich erhob mich und nahm einen neuen Korb um weiterzumachen. „Komm jetzt. Wenn deine Großmutter etwas braucht, dann ist das Sonne und viel Schlaf. Hilf mir lieber.“ „Ist gut.“ Damit machten wir uns wieder an die Arbeit. Die umfassende Pflanzenkenntnis hatte ich von Mora. Bei unserem Ausflug hatte sie mir viel darüber beigebracht. Ich zog eine weitere Pflanze aus dem Boden und schnitt die Wurzel ab. Ein Blick zum Himmel zeigte mir die untergehende Sonne. Ich hatte mir mal wieder einen kleinen Ausflug gegönnt, zu den Feldern, nahe dem Schloss. Allerdings hatte ich weder Ares noch sonst irgendwem Bescheid gesagt, darum sollte ich wohl vor dem Einbruch der Nacht wieder im Schloss sein. Ich ging zu den Arbeitern am anderen Ende des Feldes. „Macht`s gut! Ich muss gehen.“ Ich winkte allen noch mal zu, während ich den Feldweg hinunter auf die Stadt zuging. An einer alten Linde blieb ich stehen. Meine Flügel juckten ganz komisch und ich spürte, wie ein unangenehmes Gefühl durch meinen Körper ging. Ich wusste nicht, was das bedeutete, also überlegte ich kurz und kam zu dem Schluss, dass es wohl am besten wäre, zum Schloss zurückzukehren. Wenn etwas passierte, dann wohl am ehesten dort.

Ich rannte den Weg entlang. Als ich in die Stadt kam, konnte ich nicht mehr rennen. Unmengen von Menschenmassen kamen mir entgegen, ich kam ärgerlich langsam voran. Doch als ich schließlich am letzten Karren vorbei gegangen war, erblickte ich endlich das Haupttor des Schlosses. Die Wachen beachteten mich kaum und als ich den Weg durch den Garten geschafft hatte, öffneten mir Diener das Tor. Kaum war ich eingetreten, blieb ich erstaunt stehen. Was war denn hier los? Ich fühlte mich, wie direkt in einem Sturm hineingeraten. Überall rannten Adlige, Soldaten, Diener und Mägde herum, jeder versuchte sich einen Weg durch das Gewirr zu bahnen. Irritiert trat ich in den Flur und schlug denselben Weg ein, wie die meisten anderen. Anscheinend wollten sie zur Haupthalle. Als ich am goldenen Türrahmen ankam, schaffte ich es, zur Seite zu treten und dem Menschenstrom zu entkommen. Ich wagte einen Blick in den Saal. Was ich sah, trug nicht unbedingt dazu bei, dass ich beruhigter war. Da saß Ares auf seinem Thron und sah ganz schön düster aus. Ich meine, noch düsterer als sonst. Was schon für sich eine beeindruckende Leistung ist. Daneben stand Lor Westen und redete. Was allerdings, war mir schleierhaft. Ich konnte seinen Worten beim besten Willen keinen Sinn entnehmen. Rundherum saßen Männer und Frauen in eindrucksvoller Kleidung und hörten ihm zu. Sie sahen nicht aus wie Adlige.

Zu meinem großen Glück sah ich in diesem Moment Mora, wie sie kopfschüttelnd aus der Tür trat. Sie sah aus wie jemand, der erfolglos versucht hatte, einen Irren zur Vernunft zu bringen. Einer schlimmen Ahnung folgend, wanderten meine Gedanken zu Ares. Wie es schien, war meine Besorgnis doch nicht ganz unbegründet gewesen. Schnell holte ich Mora ein und stellte mich vor sie. „Was ist denn hier los?“ Moras schaute hoch und wandte sich dann mit einem verzweifelten Schulterzucken ab. „Ares hat vollkommen den Verstand verloren. Ich habe versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, aber er hört mir ja nicht einmal zu.“ Langsam wurde ich ungeduldig. „Was hat er denn gemacht?“ Sie wandte sich mit einem erneuten Kopfschütteln zum Gehen. „Er hat vor, Koren anzugreifen. Es herrscht Krieg.“

Versammlung mit Schrecken

 Bemüht unauffällig schob ich mich durch die Sitzreihen, auf der Suche nach einem freien Platz. Schließlich drängte ich mich neben eine Frau mit aufwallendem Kleid (das drei Plätze auf einmal einnahm) und einem ernst aussehendem Mann mit grauem Haar. Das gab mir einen guten Seiteneinblick auf Ares und Lor. Ich hörte, wie sich die Leute auf ihren Plätzen leise murmelnd unterhielten und ihre Meinung dazu kundtaten.

„Das ist doch ganz unmöglich! Wie kommen die darauf, gerade jetzt den Krieg zu eröffnen. Mitten in der Erntezeit! Woher sollen wir denn dann die Lebensmittel bekommen?“ warf gerade eine Frau mit einer nasalen Stimme ein. Ihr antwortete ein ruhig und überlegt klingender Mann: „Es ist taktisch äußerst klug. Koren ist gerade in dieser Zeit nicht auf einen Angriff vorbereitet. Der König nutzt den Überraschungsmoment gekonnt aus.“ Daraufhin schnalzte die Frau nur mit der Zunge und ein anderer, fast hysterisch klingender Mann schaltete sich ein. „Ja, Ares braucht das ja nicht zu interessieren, ob uns irgendwann das Essen ausgeht! Solange es Menschen gibt, ist er ja versorgt, nicht wahr?“ Ich spitzte die Ohren. Wieso das? Ich meine, gut, Ares war zwar ein Dämon, aber er brauchte doch trotzdem Essen, oder? Und er aß doch keine Menschen… oder? „Ja, das ist eben der Vorteil, wenn man ein Vampir ist. Es sollte aber trotzdem in Ares´ Interesse liegen, seine Untertanen am Leben zu erhalten. Er wird sich schon was einfallen lassen.“ Stocksteif saß ich da. Hatte ich da gerade richtig gehört? Ares-Ein Vampir? Der Schock saß mir eiskalt im Nacken. Plötzlich kam mir die Erinnerung an die drei Vampire wieder hoch. Ares Augen waren rot gewesen, die Augen der Vampire waren rot gewesen. Ich schaute zu Ares. Seine Augen waren rot. Manchmal glaubte ich, ich hatte ein leichtes Aufmerksamkeitsproblem. Die drei Vampire hatten vom Essenteilen gesprochen. Es war so klar gewesen. Anscheinend hatte ich damals einfach zu viel Angst gehabt, um den Sinn der Worte zu verstehen. Dann fiel mir ein, dass ich ihn auch noch nie etwas essen gesehen hatte. Ares war ein Vampir.

Mein Blick glitt wieder zu ihm. Blieb an seinen Augen hängen, die konzentriert über die Menge huschten. Er schien über etwas nachzudenken. Es war faszinierend, je länger ich in seine Augen schaute, desto schwerer wurde es, den Blick abzuwenden. Blutrot waren sie… Ich fragte mich, wieso. War er wegen irgendetwas wütend? Oder hatte das einen anderen Grund? Plötzlich wandte er sich mir zu und blickte mich an. Mein Blick wurde direkt von ihm eingesogen. Erstarrt saß ich da und konnte mich nicht abwenden.

Sein Blick war so durchdringend, er schien mir direkt in den Kern meiner Seele zu blicken. Auf einmal breitete sich in mir so etwas wie Wärme aus. Es war, als würde sich eine warme goldene Ader durch meine Seele ziehen. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und mein Blick spiegelte die Wärme wieder, die sich in meinem Inneren ausbreitete. Nun war es Ares, der mich völlig gelöst anschaute, dann wandte er den Blick blitzschnell ab.

Enttäuscht ließ ich mich gegen die Lehne sinken. Mit seinem Blick verschwand auch sofort die goldene Wärme, die mir einen Augenblick lang vollkommenes Glück gegeben hatte. Ich warf ihm noch einmal einen, wie ich hoffte, durchdringenden Blick zu, in der Hoffnung, er würde noch einmal zu mir gucken. Doch das tat er nicht, vollkommen kalt schaute er nun demonstrativ in eine andere Richtung.

Mir war zum Heulen. Aber gut, das konnte man eben nicht ändern. Dann folgte ich seinem Beispiel und versuchte mich abzulenken. Mein Blick wanderte zu Lor, der gerade die Gebiete nannte, die geräumt werden mussten. Ab und zu ertönte lautstarker Protest von Adligen, denen gerade diese Gebiete gehörten. Lor beschwichtigte sie alle mit klug gewählten Worten, versprach Entschädigungen und ließ ab und an eine gut versteckte Drohung verlauten. Ich fand es bewundernswert, wie gut er mit Worten umgehen konnte. Es war direkt spannend, ihm zuzuhören.

Nach einer Weile besah ich mir die anderen Zuhörer und bemerkte, teils mit Schrecken, teils mit Freude, dass ich einige davon kannte. Zum Beispiel sah ich Jana nahe dem Eingang neben ein paar anderen Dienern sitzen. Sie betrachtete unverwandt Lor und schien mich gar nicht zu bemerken. Fesselten sie seine Worte so sehr?

Rechts von mir, nicht weit entfernt von Ares, saß die Frau mit dem unmerkbaren Namen, die ich beim Morgenessen kennengelernt hatte, kurz bevor der Dämon angegriffen hatte. Ich musste lächeln, eine wirklich sympathische Frau. Ihre schwarzen Locken standen noch wilder ab als sonst und sie verfolgte aufmerksam Lor´s Worte. Ihr linker Fuß wippte gleichmäßig dabei.

Als mir klar wurde, dass hier vermutlich alle Adlige des Schlosses versammelt waren, suchte ich die Reihen nach Linia ab, der Frau, der ich kurz nach meiner Geburt begegnet war. Sie hatte damals weinend im Gang gehockt, weil sie sich nicht aus einem ziemlich schwierigen Dilemma befreien konnte. Ich hatte sie getröstet und ihr dazu geraten, die Wahrheit zu sagen. Doch so sehr ich auch suchte, ich konnte die zierliche blonde Frau nirgends entdecken. Was wohl aus ihr geworden war? Hoffentlich hatte ich sie nicht noch mehr in Schwierigkeiten gebracht…

Doch dann entdeckte ich, mit Schrecken, die drei Vampire, die mich angegriffen hatten. Schluck. Ich ließ mich tief in meinen Stuhl sinken, in der Hoffnung, dass sie mich nicht entdeckten. Was für ein Zufall, da hatte ich doch gerade an sie gedacht… Die Frau saß in der Mitte und die drei hatten ihre Blicke gelangweilt nach vorne gerichtet. Doch als die Frau bemerkte, dass ich sie anstarrte, wandte sie ihren Kopf ruckartig zu mir. Mit aufgerissenen Augen saß ich, mehr oder weniger festgefroren, da. Sie schien meine Angst zu spüren, denn auf jeden Fall fing sie an zu grinsen und leckte sich mit der Zunge über die Zähne. Aufmerksam geworden durch das Verhalten der Frau, schauten nun auch die beiden Männer zu mir. Der links von der Frau warf mir ein diabolisches, wahnsinniges Grinsen zu, das zu sagen schien; ich habe dich zum Fressen gern! Der rechts schaute mich nur wütend an. Doch mein Blick ruhte weiterhin auf der Frau, irgendwie hatte ich vor ihr am meisten Angst. Da sie mich nur weiterhin mit einem Grinsen anstarrte, das meinen Untergang besiegelte, schaute ich schließlich sehr langsam weg. Vielleicht war das jetzt der richtige Moment, allen zu danken, meinen Freunden zu sagen, dass ich sie gern hatte und mein Testament zu schreiben.

Auf jeden Fall war ich sehr froh, als die Versammlung beendet war und ich mich schleunigst aus dem Staub machen konnte.

Ein Wiedersehen und ein Fehler

Die Sonne schien, als ich durch die Tür in das Freie trat. Tief atmete ich die frische Luft ein. Das Gras fühlte sich weich unter meinen Füßen an und der Wind streichelte meine Flügel. Ich beobachtete die Soldaten, wie sie Sachen von Karren abluden und Vorbereitungen trafen. Das taten sie, glaubte ich, schon eine ganze Weile lang. Unglaublich, wie man an so einem schönen Tag so etwas Anstrengendes tun konnte.

Nach einem kurzen Zögern entschied ich mich in die Stadt zu gehen. Die Leute wirkten geschäftig und riefen sich etwas zu oder unterhielten sich fröhlich. Ich winkte mehreren Leuten an den Verkaufsständen zu, die mich schon kannten. Ich schloss die Augen während ich ging und genoss die Sonne auf meinem Gesicht.

Plötzlich stieß ich mit jemandem zusammen. Überrascht öffnete ich die Augen. Die Frau kannte ich doch! Sie hatte ein ärmliches Kleid an und ein Tuch über den Haaren. Ein Korb mit Früchten und Gemüse schlenkerte über ihrem Arm, aber ich war mir trotzdem vollkommen sicher, dass das Linia war.  „Lin…“

„Pscht! Ähm… Verzeihung, es war nicht meine Absicht, euch zu stören. Mein Name ist Mynn.“ Dabei zwinkerte sie mir verschwörerisch zu. Ich konnte sie nur fassungslos anstarren. Mynn? Aber das war doch Linia. Und was machte sie in diesem Aufzug? Sie wollte mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass sie… „Ah tut mir leid, ja natürlich, Mynn. Natürlich. Ähm, wollen wir nicht ein kleines Stück gehen und du erzählst mir in der Zwischenzeit, wie es dir so geht?“ Ich merkte wie beim Sprechen meine Augenbrauen immer höher wanderten und zwang sie schnell wieder nach unten. Linia grinste.

„Ich muss zum Kreisplatz, wollt ihr mich nicht begleiten?“ Zusammen gingen wir erst schweigend über die Straße, dann fing ich an zu reden. „Ich bin überrascht dich hier zu sehen.“ Fatale Veränderung, damit musste ich mich auch erst mal zurechtfinden, die schwierige Adlige in einem Bauernkleid zu sehen. „Na ja, ich muss zugeben, es ist ziemlich viel passiert in den letzten Tagen.“ Noch einmal ließ ich meinen Blick über ihren Aufzug schweifen. „Das sehe ich.“ Sie räusperte sich verlegen, dann zeigte sie auf eine Bank, die ein wenig abgelegen unter einem großen Baum stand. „Setzen wir uns doch.“ Sie strich ihren Rock glatt und setzte sich. Ich ließ mich neben sie fallen. „Nun um ehrlich zu sein, ich hatte zuerst Angst.“ Sie senkte ihre Stimme. „Aber ich habe deinen Ratschlag befolgt. Ich habe ihm alles erzählt.“ Gespannt beugte ich mich vor. „Und?“ Sie zog sich verlegen ihr Tuch zurecht.

„Als erstes hat er angefangen zu lachen, er hat sich gar nicht mehr eingekriegt. Da dachte ich, jetzt lässt er mich auffliegen. Aber dann hat er sich an den Schreibtisch gesetzt und einen Brief geschrieben. Ich saß ungefähr eine Stunde lang da und habe wie erstarrt zugeguckt, wie er den Brief geschrieben hat.“ Sie musste über sich selber kichern. „Dann ist er aufgestanden und hat mir den Brief gegeben. Darin stand, dass er seine Stellung aufgibt und sie an seinen Cousin abgibt. Er hat mich ganz ernst angeguckt und gesagt, dass er mit dem Krieg sowieso nichts zu tun haben wollte. Und wenn ich keine Adlige mehr wäre, dann sähe er keinen Grund mehr, warum wir uns nicht als einfache Tischler ausgeben und in die Stadt ziehen sollten.“ Sie warf mir einen Blick zu und wurde knallrot. „Später hat er mir dann einen Heiratsantrag gemacht. Wir wohnen jetzt hier und ich muss sagen, ich komme besser zurecht, als ich es mir je erträumt habe.“

Völlig baff schaute ich sie an. Das war ja mal ein Kerl von der zackigen Sorte. „Und ihr seid jetzt verheiratet?“ „Nein, aber verlobt. Wir wollen heiraten, wenn der Krieg zu Ende ist. Im Moment müssen wir jetzt erst einmal den Krieg heil überstehen, und dann werden wir weitersehen.“ In mir breitete sich ein komisches Gefühl aus. Hoffentlich überstanden sie den Krieg auch. „Du hat gesagt, ihr arbeitet als Tischler. Aber wenn ihr doch zuvor Adlige wart, dann…“

„Er hat es von seinem Vater gelernt, sozusagen als Freizeitbeschäftigung.“ „Ah.“

Zufrieden blickte sie sich um. „Wir haben eine Wohnung bei einer jungen Frau bekommen. Sie kostet nicht sehr viel und das Mädchen war sehr nett zu uns. Wir haben ihr als Einzige von unserem Geheimnis erzählt und sie hat uns sehr geholfen.“ Ich nickte. Dann kam mir eine Idee. „Weißt du was? Komm morgen wieder hier her. Am besten in der Mittagsstunde. Ich möchte dir dann etwas geben.“ Verwundert sah sie mich an. „Was denn?“ Das wirst du ja dann sehen. Versprichst du mir, morgen da zu sein?“ Sie lächelte. „Einverstanden. Morgen Mittag, am Kreisplatz.“ Wir fassten uns an den Unterarmen und lächelten uns zu. Dann ging sie in eine Seitenstraße. In Gedanken versunken machte ich mich auf den Weg zurück ins Schloss. Die Diener hatten im Schloss einen Ring am Finger, mit dessen Hilfe sie gerufen werden konnten, wenn jemand etwas benötigte oder mit dem sie zum Beispiel Soldaten rufen konnten, wenn sie Hilfe brauchten. Theoretisch müsste das ja auch so klappen, dass wenn Linia in Gefahr war oder Hilfe brauchte, könnte sie mich mithilfe dieses Ringes rufen. Außerdem wäre sie damit eine Vertraute des Schlosses und könnte sich immer dahin zurückziehen. Wieso nicht? Einen Versuch konnte es ja nicht schaden.

Auf dem Weg zurück ins Schloss sah ich Lor durch den Garten laufen und mit Soldaten reden. Er schien wegen irgendetwas aufgebracht zu sein. Vorsichtig näherte ich mich ihm. „Was soll das heißen, er will nicht mitkommen?“ Der Soldat, der vor Lor stand, sah mittlerweile direkt eingeschüchtert aus. „Er meinte, dass er nicht auf ein Hopp Hopp zur Königsstadt kommen würde, nur weil Ares wieder mal ein paar Menschen umbringen möchte.“ Lor lief vor Wut rot an. „Was glaubt dieser alte Schnösel eigentlich, wer er ist? Er versteht wohl nicht ganz den Ernst der Lage. Glaubt er, wir führen zum Spaß Krieg? Versteht er eigentlich, dass wir in ernster Gefahr schweben?“ Der Soldat wandte den Blick zum Boden. Mir viel auf, dass es ein noch sehr junger Soldat war. Er hatte blonde kurze Haare und seine jugendlichen Züge verrieten noch gar nichts von der Grimmigkeit, die vielen der älteren Soldaten zu eigen war.

Er tat mir leid. Wer auch immer dieser Mann war, der Lor so außer sich brachte, an dem Soldaten musste Lor seine Wut ja nun wirklich nicht auslassen. „Lor!“ Abrupt wandte er sich mir zu und atmete tief ein als er mich sah. „Nun beruhige dich mal wieder.“ Ich baute mich vor ihm auf. „Du brauchst hier nicht gleich so herumzuschreien. Was hast du für ein Problem, vielleicht kann ich dir helfen.“ Ich hatte eigentlich erwartet, dass er sich nur noch mehr aufregen würde, aber zu meiner Überraschung beruhigte er sich tatsächlich. Er entließ den jungen Soldaten mit einer kurzen Handbewegung, dann seufzte er tief. Jetzt hatte er wieder etwas von dem alten Lor, den ich kannte. „Wir haben herausgefunden, dass es einen Zauberer gibt, der Dämonen aus dem alten Wald auf uns hetzt. Er arbeitet für Koren und hat scheinbar eine Möglichkeit gefunden, die Barriere, die die alte Welt umgibt, zeitweise zu durchbrechen.“ Oh, dass hatte ich ja noch gar nicht gewusst. „Und wer ist jetzt dieser alte Schnösel, der dich so aufregt?“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Ein sehr mächtiger Zauberer, der ein Stück von hier entfernt wohnt. Er könnte diesen anderen Zauberer möglicherweise aufhalten, aber leider ist er auch sehr… eigensinnig. Ich hätte es wissen müssen, es war reine Zeitverschwendung ihn überzeugen zu wollen.“ „Ah, ich verstehe.  Und wenn ich gehe?“ Lor schaute mich überrascht an. Dann lächelte er etwas traurig. „Die Idee ist gut, nur leider bezweifle ich, dass Ares dich einfach so gehen lassen würde.“ Wieso sollte Ares mich nicht gehen lassen? Machte er sich etwa Sorgen um mich? Ich musste grinsen. Wohl eher nicht. Dann kam mir eine ziemlich verrückte Idee. „Und wenn Ares einfach mitkommt? Ich meine, dann hätte er keinen Grund mehr mich nicht gehen zu lassen.“ Die Idee war totaler Käse, schon allein deshalb, weil Ares niemals mit mir zusammen auf Reisen gehen würde. Allerdings blieb Lor plötzlich stehen und sah so aus, als würde er ernsthaft über meine Idee nachdenken. Oh je, hoffentlich hatte ich mich da nicht schon wieder in irgendetwas hineingeritten. Als Lor sich dann entschlossen umdrehte und zielstrebig in Richtung Schloss ging, blickte ich ihm mitleidig hinterher. Der würde sein blaues Wunder erleben.

Das Geheimnis um Ares´ Angst

„Die Standart-Truppen von Koren befinden sich zurzeit hier, hier und hier.“ Der große, bullige Mann beugte sich über den Tisch und zeichnete auf der Karte, die über dem Tisch ausgebreitet war, drei Stellen ein. Es war ein Offizier, der den Auftrag erhalten hatte, Späher auszusenden, um die Lage und Stärke der gegnerischen Truppen auszukundschaften.

„Zwei der Truppen haben ungefähr je zwanzigtausend Mann“, er deutete auf den roten Kreis nahe der Königsstadt und den, vor den Weideflächen. „Die dritte hat nur zehntausend. Sie greifen vom Wald aus an, wo sie sowieso von den Dämonen beschützt werden. Sie fühlen sich sicher.“ Mein Blick wanderte über die Karte und blieb schließlich an den Augen des Mannes hängen. Aus Reflex zog er leicht die Schultern ein und senkte den Kopf. Menschen spürten Gefahr instinktiv. Und dieser Mann war nicht unbedingt mutig. „Das heißt also, die einzige Richtung, von der sie nicht angreifen werden, wird der alte Wald sein.“ Er verbeugte sich. „Ja, mein König. Sie sind sich sicher, dass wir uns nicht in die Nähe des alten Waldes trauen werden.“ Ich richtete mich auf und ließ einen Blick in die Runde schweifen. Acht Offiziere, drei meiner Vertrauten und vereinzelt ein paar Diener. Für diese Besprechung hatte ich den großen Konferenzsaal ausgewählt, weil uns hier niemand von draußen belauschen konnte. Außerdem war hier genug Platz für alle.

Einer meiner Vertrauten, ein schwacher Zauberer, allerdings sehr begabt was Logik anging, räusperte sich und trat vor. „Mein Herr, findet ihr nicht, es wäre an der Zeit, uns euren Plan darzulegen? Denn, bei allem Respekt, “ er warf einen Blick auf die Landkarte. „Ich kann keinen Ausweg erkennen.“ Ich setzte mich in Bewegung und ging langsam um den schweren Holztisch herum. Die Männer, die vorher nahe an Tisch gestanden hatten, wichen respektvoll vor mir zurück. „Das hatte ich auch nicht von dir erwartet, Ringa.“ Direkt vor ihm kam ich zum Stehen und blickte ihm in die Augen. „Da ich etwas mehr weiß als du und auch schon deutlich mehr Lebenserfahrung habe, solltest du das Erkennen von Auswegen lieber mir überlassen, meinst du nicht?“ Meine Stimme bekam beim Reden einen bedrohlichen Unterton. Ich konnte keine Überheblichkeit von jemandem gebrauchen, der so jung war, dass er sich nicht einmal die Hälfte meines Alters vorstellen konnte. Er wich eilig einen Schritt zurück und senkte den Kopf. „Natürlich, mein Herr.“ Ich setzte meinen Weg um den Tisch herum fort. „Wir werden die Soldaten an den korenischen Truppen vorbeiführen. Unsere Armee wird dann hinter den Gegnern lagern. Sobald Koren angreift und sich die aufgeteilten Truppen versammeln, wird unsere Armee als geballte Kraft einen Überraschungsangriff von hinten starten. Koren hat den Fehler begangen und seine Truppen geteilt. Wenn sie sich alle am Schloss wiedertreffen, werden die einzelnen Teile der Armee unter keiner gemeinsamen Führung stehen und werden ungeordnet und verwirrt sein, während wir unseren Angriff starten. Was es zu einem leichten macht, sie zu besiegen.“ Ein Offizier trat vor. „Mein Herr, aber wie habt ihr euch das vorgestellt? Die korenischen Soldaten werden trotz allem das Schloss und die Königsstadt angreifen und wenn unsere Soldaten von hinten angreifen, werden die Stadt und das Schloss völlig ungeschützt da liegen.“ Ein Grinsen schlich sich auf mein Gesicht. „Nein, werden sie nicht, denn ich habe bereits einige Ideen, wie man das Schloss schützen könnte.“ Die Männer sahen mich erwartungsvoll an. „Ich lasse die drei Vampire, die zurzeit im Schloss wohnen, doch nicht umsonst hierbleiben. Sie werden eine mächtige Waffe bekommen und können ihrer Mordlust dann einmal ungehindert frönen. Außerdem werde ich mir die Hilfe von einem alten Zauberer holen. Er wird in der Lage sein, eine Dämonen abweisende Barriere um die Stadt zu errichten, bis ich das Problem gelöst habe.“ Ringa konnte seine Überraschung über meine Worte nicht verbergen. „Wie wollt ihr das Problem lösen, mein Herr?“

„Ich habe vor, mit…“

In dem Moment wurde die Tür schlagartig aufgerissen und wir drehten uns um.

Westen kam hineingestürzt, mit einem aufgeregten Gesichtsausdruck. Er lief, so schnell er konnte, an den Tisch und blieb genau vor mir stehen.

„Mein Herr, ich muss euch dringend…“

In dem Moment schien ihm aufzufallen, wo er sich befand. Ich zog eine Augenbraue hoch.

„Wie schön, dass du es doch noch geschafft hast, unserer Besprechung beizuwohnen.“

Er atmete tief durch und versuchte sich augenscheinlich auszubremsen.

„Es tut mir leid, mein König. Gerade als ich auf dem Weg war, kam ein Bote an, der eine Nachricht von Shedan brachte.“ Endlich. „Was hat er gesagt?“ Westen räusperte sich und seine Mundwinkel gingen nach unten. „Nun, er meinte, er würde nicht kommen.“ Ich erstarrte und fühlte, wie meine Wut sich langsam wieder einen Weg nach oben bahnte. Möglichst beherrscht drehte ich mich um und sagte: „Die Versammlung ist beendet. Wir werden ein anderes Mal fortfahren.“ Ich spürte, dass die Männer nicht glücklich darüber waren, aber sie entfernten sich alle, einer nach dem anderen, aus dem Raum. Als der Letzte die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte ich mich wieder Westen zu. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, als ich sprach. „Wie meinst du das, er wird nicht kommen?“

„Ihr wisst, wie er ist. Er würde freiwillig in den Tod rennen, um seinen Kopf durchzusetzen.

Er wird uns nicht helfen, solange wir ihm nicht einen guten Anlass dazu geben.“

Ich ließ mich auf einen Stuhl gleiten. „Sprich weiter.“ Westen nahm seine übliche Pose an, wenn er versuchte, Leute für etwas zu überzeugen. „Nun, zufällig hat Karan mitbekommen, wie ich mich über Shedan aufgeregt hatte.“ Ich versteifte mich. Wieso musste dieser verdammte Engel sich immer in alle Angelegenheiten einmischen? Mein Verdacht bestätigte sich, als Westen weitersprach. „Er hat mir einen Vorschlag unterbreitet. Und während er sprach, ist mir klargeworden, wie genial sein Vorschlag ist. Denn wenn es etwas gibt, dass noch größer ist, als Shedans Sturkopf, dann ist es seine Neugier.“ Oh oh. Ich hatte einen Verdacht, worauf er hinauswollte. „Stellt euch vor, wenn tatsächlich einer der sagenumwobenen Engel vor seiner Haustür stehen würde und dieser ihn bitten würde, uns zu helfen. Nun, ich denke, dann kann er gar nicht anders, als Ja zu sagen. Besonders wenn Karan ein bisschen seine Überzeugungskraft spielen lässt.“ Siegessicher grinste er mich an. Mein Verdacht hatte sich also doch bestätigt. „Bist du wirklich so naiv, und glaubst, ich lasse Karan alleine in der Welt herumlaufen? Leider ist die Zeit, in der ich auf ihn aufpassen muss, bis er irgendwie ins Reich der Engel kommt, noch nicht abgelaufen. Sag mir also, wie stellst du dir das vor?“ Zu meiner Besorgnis breitete sich sein Grinsen nur noch weiter aus. Er hatte sich also etwas zurechtgelegt, falls ich das sagen sollte. „Richtig, genau das habe ich auch gesagt. Aber es gibt eine einfache Lösung. Ihr werdet mit ihm gehen.“ Eine Weile starrte ich ihn nur an, um zu sehen, ob er sich einen Spaß erlaubte. Als ich sah, dass das nicht so war, erhob ich mich und ging zum Fenster. „Könnt ihr euch vorstellen, wie meine Antwort lauten wird, Westen?“ Und dann sagte er etwas, womit ich niemals im Leben gerechnet hätte. „Habt ihr Angst?“ Er sagte das nicht aggressiv oder abschätzend, es war einfach nur eine Frage. Oder nein, vielmehr eine Feststellung. Und das Schlimmste war, dass er Recht hatte, auch wenn ich das nicht zugeben wollte. Ich blickte ihn an. „Wie kommst du darauf?“ Er wich zurück. Verwundert bemerkte ich, dass ich viel aufgebrachter geklungen hatte, als ich dachte. „Ich weiß nicht, aus welchem Grund ihr Angst habt. Aber ihr habt sie. Verzeiht mir, es ist nur ein Gefühl.“ Er sagte, dass es ein Gefühl war, aber ich wusste, dass er das vor allen Dingen sagte, um mich zu besänftigen. Er kannte mich schon zu lange. Westen verbeugte sich. „Ich werde mich nun zurückziehen, mein König. Ihr könnt ja noch einmal darüber nachdenken.“ Mir entging das wissende Lächeln nicht, dass er auf den Lippen hatte, als er den Raum verließ.

Ares´ Entscheidung

Ich lag im Bett. Ich konnte nicht schlafen. Es war kurz nach Mitternacht und die Menschen waren alle in ihren Räumen. Das ich nachts nicht schlief, war an sich nichts außergewöhnliches, es war die Zeit, in der ich erst richtig munter wurde. Doch heute Nacht gab es einen Grund.

Mir gingen die Worte von Westen nicht aus dem Kopf.

Habt ihr Angst?

Dass er es überhaupt wagte, mich so etwas zu fragen, sprach dafür, dass ich ihm in letzter Zeit zu viele Freiheiten gelassen hatte. Er war gut in seiner Stellung, das hieß aber nicht, dass er nicht ersetzbar wäre.

Aber ihr habt sie. Hatte ich Angst?

Ich schaute in die Dunkelheit. Wovor sollte ich Angst haben? Es war nur ein Engel, ein weiterer Abkömmling von der Rasse, von der ich schon so viele getötet hatte. Bei manchen war es einfach gewesen, bei manchen schwierig, aber noch nie hatte ich Angst gehabt.

Ich versuchte mir schon die ganze Zeit einzureden, dass ich Angst davor hatte, seinem Duft nicht mehr widerstehen zu können und ihn beißen würde. Karan würde sich vermutlich nicht einmal wehren.

Ich spürte den Druck an meinen Zähnen, ich sollte daran nicht denken. Er war verboten, wenigstens solange bis die Frist abgelaufen war. Zwei Monate. Der erste näherte sich dem Ende und noch immer kein Anzeichen der Engel. Sonst ließen sie sich nie so viel Zeit.

Aber nein, dass ich die Beherrschung verlieren könnte, war nicht der Grund für meine Angst. Nicht der einzige. Dass ich mich mit ihm beschäftigen, Zeit mit ihm verbringen musste, ohne meine Autorität als König oder die Mauern des Schlosses, die zwischen uns standen, das war der wahre Grund. Ich hatte Angst, dass ich ihm näher kommen könnte, als mir lieb war. Er besaß eine Anziehungskraft auf mich, die ihn gefährlich machte. Dass ich nicht mehr wegschauen konnte, wenn er lachte oder unruhig wurde, wenn ich nicht wusste, wo er war.

Dass alles waren Gründe, warum er zu einem immer größer werdenden Problem wurde. Ich sollte ihn eigenhändig ins Reich der Engel bringen, das wäre vermutlich das Beste, aber ich brauchte ihn noch. Er würde die entscheidende Waffe im Krieg gegen Koren werden.

Also musste ich ihn ertragen, bis er seinen Zweck erfüllt hatte.

Gefrustet von diesen Aussichten erhob ich mich vom Bett und ging zur Tür. Es war unmöglich mich zu hören. Ohne Umhang, der auf dem Boden schleifte, war ich sehr viel leiser.

Als ich am Spiegel vorbeikam, blieb ich stehen. Ich ließ meinen Blick über meine  offenen, halblangen, schwarzen Haare schweifen, über meine leichte Kleidung, über mein kantiges Gesicht. In der letzten Zeit hatte sich etwas an mir verändert. Alles an meinem Gesicht war scharf geschnitten und hart, dasselbe Gesicht, das mir schon seit über zweitausend Jahren im Spiegel entgegenblickte. Nur meine Augen waren anders. Es lag ein Ausdruck darin, den ich noch nie zuvor bei mir beobachtet hatte. Etwas, was ich nicht zuordnen konnte.

Ich schüttelte den Kopf und ging zur Tür. Ich brauchte Ablenkung.

 Im Flur war es totenstill. Meine Augen waren für die Dunkelheit geschaffen, so fand ich ohne Probleme den Weg in den Keller. Die einzigen, die hier unten standen, waren die Wächter. Sie verbeugten sich, als ich vorbeikam und schlossen mir die Türen auf, wenn ich in einen Raum wollte. Die Folterkammern, das war mein Ziel. Die kurze Zeit, in der ich in meinem Element sein durfte, würde mir die Ablenkung verschaffen, die ich dringend brauchte. Die Menschen, oder seltener auch Dämonen, die hier gefangen gehalten wurden, waren aus unterschiedlichen Gründen hier. Zum Teil wegen versuchten Mordes an unterschiedlichen mächtigen Personen oder weil sie versucht hatten, wertvolle Gegenstände aus dem Schloss zu stehlen. Manche hatten auch wichtige Informationen oder waren Spione.

Ich suchte mir bewusst jemanden aus, der keine Informationen hatte und somit zum Töten freigegeben war. Man schloss die schwere Tür auf und ich betrat leise den kalten Steinboden. In einer Ecke des dunklen Raumes kauerte ein Mann. Leichte Muskeln, groß, konnte sich schnell bewegen. Vermutlich ein Dieb.

Ich ging auf ihn zu, laut, damit er mich hörte. Wie erwartet hob er den Kopf und blickte mir in die Augen. Wie es schien, hatte man ihn schon mehrfach benutzt. Er war fast gebrochen.

Er wich soweit in die Ecke zurück wie möglich, als ich an ihm vorbeiging. Ich schloss den Raum auf, in dem sich Waffen aller Art befanden. Diesen Raum gab es in jeder Folterkammer. Ich suchte mir wie meistens ein einfaches Messer heraus. Peitschen oder Ketten waren mir zu extravagant. Schließlich ging ich wieder in die kalte Steinkammer. Der Mann fing an zu wimmern als er das Messer sah und auf meinem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Ich beugte mich zu ihm hinunter und ritzte ihn mit dem Messer am Hals. Tränen liefen ihm über die Wangen. Anscheinend war er wirklich schon geschafft. Das Blut lief seinen Hals entlang und der Duft stieg mir in die Nase. Das war die richtige Ablenkung.

Ich nagelte den Mann an der Wand fest und leckte mit der Zunge über seinen Hals. Bis zu der Wunde und ich fing an zu saugen. Der Geschmack und der Duft vom Blut hüllten mich ein und sorgten dafür, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Der Druck meiner Hände, die ihn an der Wand hielten, verstärkte sich und er stieß einen Schmerzenslaut aus. Widerwillig löste ich mich von ihm und leckte mir mit der Zunge über die Lippen. Ich wollte schließlich noch meinen Spaß haben.

Leicht fuhr ich ihm mit dem Messer über die Arme und hinterließ dünne Kratzer. Das Blut floss in Rinnsalen hinaus und sammelte sich auf dem Boden. Der Mann stöhnte schmererfüllt und ich sah ihn begierig an, lechzte nach jedem Schmerzenslaut, den ich haben konnte.

Es war nicht genug, ich rammte ihm das Messer in die Schulter und er fing an zu schreien. Besser. Liebevoll strich ich ihm mit dem Messer über die Wange und wieder fing er an, wie besessen zu schreien. Die Schneide glitt weiter über die Stelle hinter dem Ohr und wieder über den Hals. Ich genoss die Schreie dieses Menschen so sehr, ich hatte mich schon viel zu lange zurückgehalten. Ich zog das Messer über die Beine, über den Bauch…

„Schön zu sehen, dass dich diese ewige Enthaltsamkeit doch noch nicht ganz harmlos gemacht hat.“

Jira. „Was willst du?“ Sie kam lächelnd auf mich zu. „Du weißt genau, was ich will.“

Sie kniete sich neben mich und rammte lächelnd ihre Hand in den Brustkorb des Menschen. „Hast du wirklich geglaubt, ich würde mir eine solche Gelegenheit entgehen lassen?“ Verdammt, der war tot. Schade, ich wollte doch gerade erst richtig anfangen. Jira legte mir ihre blutige Hand auf die Brust. „Ich frage mich, wie lange du diese Form der Selbstverleumdung noch aushältst. Dass du jetzt schon Gefangene nimmst, um dein Vergnügen zu haben. Selbst mit dem Pakt mit diesen Bastarden von Engeln und der Gefahr hin, dass du den Menschen missfällst, wirst du dich nicht ewig so beherrschen können, mein Liebster. Irgendwann wird auch deine Natur hervorbrechen.“ Ich stand auf und ihre Hand glitt auf den Boden. „Es geht dich nichts an, wie ich mit diesem Problem zurechtkomme. Kümmere dich lieber um deine eigenen Probleme, damit wirst du genug zu tun haben.“ Ich ging auf die Tür zu. In Sekundenschnelle stellte sich Jira vor die Tür und versperrte mir den Weg. Ich ging unbeirrt weiter, bis ich ganz dicht vor ihr stand. Sie packte mein Hemd und blickte verlangend zu mir hoch. „Ich will dich. Ich möchte, dass du mit mir das machst, was du mit diesem Menschen dort gemacht hast. Ich möchte dich in meinem Bett sehen. Ich will dich.“ Ruhig umfasste ich ihr Handgelenk und drückte zu. Aber erst als es dreimal geknackt hatte, ließ sie mich los. Ich blickte ihr in die Augen und lächelte.

 „Ich würde einen so bedauernswert schwachen Vampir wie dich nicht einmal in mein Zimmer, geschweige denn in mein Bett lassen. Jira, ich werde dir den gehörigen Respekt noch beibringen, aber vorerst brauche ich dich noch. Ich werde in den nächsten Wochen verreisen und ich möchte, dass du gut auf deine Freunde aufpasst. Solange ihr in meinem Schloss und in der Umgebung seid, werdet ihr in keinster Art und Weise auffallen, hast du mich verstanden?“

 Ihre Körperhaltung war gekrümmt und ihr Blick gesenkt, als hätte ich ihr soeben einen Schlag verpasst. Sie hatte nicht mit dieser Antwort gerechnet. Schließlich verbeugte sie sich. „Ja, Mein Herr.“ sagte sie mit zittriger Stimme. Ich ging kalt an ihr vorbei, den Gang entlang.

 Damit hatte ich mich wohl entschieden.

Ich würde mit Karan reisen.

Janden

„Mora!“

Ich musste den Blick abwenden, denn das Licht um Janden wurde so stark, dass es blendete. Als  er das sah, ließ er das Licht schnell verblassen und lächelte mich entschuldigend an. „Tut mir leid, aber ich habe in letzter Zeit ziemlich wenig Kontakt mit Menschen gehabt, da vergesse ich manchmal, dass mein Licht die Menschen blendet.“

„Schon gut, schon gut.“ Karan hat sein Licht, das göttliche Licht, das aus jedem Engel strahlte, so gut unter Kontrolle, dass ich mich erst einmal wieder an die Helligkeit gewöhnen musste.

„Komm, wir gehen raus in den Garten. Und dann erzählst du mir, warum du hier bist, in Ordnung?“ Also setzte ich mich in Bewegung und stapfte durch den großen Raum. Hier war alles so, wie ich es Erinnerung hatte. An zwei Seiten fehlten die Wände, die Decke wurde durch  einige Säulen gehalten und an den anderen zwei Seiten waren große Tore. Durch eins war ich gekommen, das andere führte hinaus in den Garten. Der Saal entbehrte jeglicher Möblierung und war aus einem hellen Stein, der sehr Mamor ähnelte. Wie immer, wenn ich hier war, erstrahlte der ganze Saal in goldenem Sonnenlicht.

Das hier war die Stadt der Engel. So wurde sie von Außenstehenden genannt. Aber in Wirklichkeit war es viel mehr als nur eine Stadt. Es war das Zuhause aller Engel.

Wie zur Bestätigung meiner Gedanken hörte ich das Lachen zweier Kinder und im nächsten Moment rannten sie auch schon an mir vorbei. Zwei seltsame kleine Kinder mit weißen Flügeln und einem goldenen Leuchten, das sie umgab.

 Es war schön, dass sie hier ein Zuhause hatten. Vor der großen Teilung waren sie weit im Land verstreut und ein Zuhause, wo sie sich wirklich zugehörig fühlen konnten, existierte damals höchstens in ihrer Fantasie. Janden holte auf und lächelte mich glücklich an.

„Wie du siehst, wird meine kleine Familie immer größer.“ Er meinte damit keineswegs eine echte Familie, er bezeichnete alle Engel, die zu ihm fanden, so. Denn er hatte sie am Anfang zusammengesucht und zu einer Gemeinschaft gemacht. Und, auch ohne irgendwelche Blutsverwandtschaften, gingen sie wie eine Familie miteinander um. Janden öffnete das Tor für mich und wir traten auf eine große Terrasse. Überall waren Blumen und Pflanzen und neben der Tür waren eine Bank und ein kleiner Tisch aus dem Stein hinausgehauen. Zwei schon etwas ältere Kinder, ich würde sie auf vielleicht elf schätzen, saßen auf dem Tisch und unterhielten sich. Ich beobachtete, wie sich Janden von hinten an sie heranschlich und sie dann herunterschubste. Die Mädchen erschraken fürchterlich, ich war aber halbwegs beruhigt, dass sie mit den Füßen aufkamen. Als sie sich stinkwütend zu ihm umdrehten, fing Janden an zu lachen. Woraufhin sich, zu meiner Überraschung, die Flügel des einen Mädchens an den Spitzen feuerrot verfärbten. „Janden, du Blödmann.“ Er ließ sich von ihrer Wut allerdings nicht beeindrucken. „Sei mir nicht böse, Don. Eine Freundin von mir ist zu Besuch.“ Jetzt wanderte ihr schon etwas milderer Blick zu mir. Janden legte mir eine Hand auf die Schulter. Mit scheelem Blick wischte ich sie weg und setzte mich auf die Bank.

„Ich hätte jetzt nichts gegen einen Tee einzuwenden, um ehrlich zu sein.“

Janden wandte sich an Don und ihre Freundin. „Könnt ihr uns eine Tasse holen? Ich glaube, Emilia hat gerade welchen gemacht.“ Also setzten sich die beiden in Bewegung, die eine fröhlich, Don eher grummelnd. „Da schubst er mich von der Bank und dann soll ich dem werten Herren auch noch Tee bringen!“ Janden setzte sich zu mir auf die Bank.

„Also, nun erzähl. Obwohl ich ja irgendwie schon eine leise Ahnung habe, warum du hier bist…“

„Ach, wirklich?“ Mit zu Schlitzen verengten Augen guckte ich ihn an.

„ Naja, Ahnung ist vielleicht zu viel, sagen wir mal eher… Befürchtung?“

„Ja, ja, das trifft es recht gut.“ antwortete ich misstrauisch.

Die zwei Mädchen kamen näher und stellten uns den Tee auf den Tisch.

„Lasst es euch schmecken.“ Dann verschwanden sie wieder.

„Also, ich will gleich zum Punkt kommen, Janden. Es ist ja schon ein paar Mal passiert, dass Engel auf dem Gebiet der Dämonen geboren worden, aber ihr habt sie bis jetzt immer nach ein paar Tagen abgeholt. Karan ist jetzt schon seit fast ZWEI WOCHEN in Ares´ Schloss.

Und jetzt erzähl mir nicht, du weißt nichts davon! Ich weiß genau von deinem komischen Glas, mit dem du alles und jeden beobachten kannst. Und mein Gefühl sagt mir, dass du ihn schon eine Weile beobachtest.

Ich musterte ihn von der Seite. Er schaute mich nicht einmal an, sondern nahm seine Tasse und trank einen Schluck Tee. Schmunzelnd schaute er geradeaus. Es war zum Verrücktwerden. Nie nahm er mich ernst, wie mich das aufregte!

 Doch als er anfing zu sprechen, sah ich in seinem Blick die vielen tausend Jahre, die er bisher erleben durfte.

„Er macht sich gut, nicht wahr?“

„Hm!“

Er stellte die Tasse ab und sein Gesicht nahm einen nachdenklichen Zug an. „Er ist ein ganz besonderer Engel, weißt du? Ich beobachte ihn nun schon seit einer Weile und er wirklich ein Einzelfall. Ich kenne so viele Engel, aber er scheint keiner von mir gekannten Art zu entsprechen.“

Ich wusste es. Schließlich hatte ich ihn jeden Tag lang erlebt. Aber ich war gespannt, ob Janden eine Ahnung hatte. Stirnrunzelnd fuhr er fort.

„Er kann kämpfen, aber er fühlt nichts dabei. Er liebt den Wald, aber kann die Bäume nicht verstehen. Er scheint kein Heilerbedürfnis zu haben. Er zeigt keine Anzeichen von Magie, will kein Wissen ansammeln, er fühlt sich weder zum Tod hingezogen, noch lässt er sich vollkommen von seinen Gefühlen beeinflussen. Kurz gesagt, er ist mir ein Rätsel.“

Kein Wunder. „Du denkst zu viel nach.“ Er seufzte. „Ist eine Angewohnheit geworden.

Hast du nicht eine Ahnung, was er für eine Art sein könnte?“

„Nein, ich bin auch aus einem anderen Grund hier. Er ist ein Engel, gehört hier hin.

Uns steht ein Krieg bevor und Ares heult mir ständig die Ohren voll, dass Karan aus seinem Land und besonders aus seinem Schloss verschwinden soll.“

Janden lachte, zu meiner Überraschung, leise auf und führte die Tasse an seinen Mund.

„So? Ich hatte aber nicht das Gefühl, dass Ares Karan unbedingt loswerden will.“

 

Zum letzten Mal Auf Wiedersehen?!

Wann kam sie denn endlich? Ungeduldig blickte ich mich um. Mit Pünktlichkeit hatte es Linia, äh, Mynn nicht so. Ich hatte gestern Wills gefragt, ob man diese Ringe, die die Bediensteten trugen, auch auf andere Leute einstellen konnte. Sie hatte mir erklärt, dass derjenige, der den Ring trug, nur sagen musste, auf wen der Ring reagieren soll. Sie hatte mir dann zwei von ihnen besorgt. Ich hoffte nur, es funktionierte wirklich.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf dem Rücken und zuckte erschrocken zusammen.

„Buh!“ ich drehte mich zu der lachenden Linia um. In meinen Gedanken versunken hatte ich gar nicht gemerkt, wie sie sich von hinten an mich herangeschlichen hatte.

„Hast du mich erschreckt. Komm, ich will dir etwas zeigen.“ Ich ging mit ihr an den Rand des Platzes und beugte mich zu ihr hinab.

„Hör zu, du hast selber gesagt, der Krieg wird bald anfangen. Ich möchte dir etwas geben.“ Ich nahm ihre Hand und legte den Ring hinein. Sie beschaute sich ihn verwirrt und blickte mich dann fragend an. Ich zeigte ihr meinen Ring. „Das sind Gegenstücke. Sollte einer von uns einmal in Gefahr sein oder den anderen brauchen, werden wir das durch diesen Ring merken. Ich habe dir schon einmal geholfen, ich möchte also nicht, dass dir etwas passiert.“

Sie blickte mich immer noch verwirrt an. „Heißt das, du gibst mir diesen Ring, damit wir miteinander in Verbindung stehen können?“ Ich nickte.

„Damit ich dir helfen kann, solltest du einmal in Schwierigkeiten geraten.“

„Und wie?“

Ich zog den Ring über meinen Finger. „Du musst den Ring tragen und ihm meinen Namen sagen.“

„Dem Ring?“

„Ja.“ Ich hob meine Hand zu meinem Mund und sprach leise: „Linia.“ Sie machte es mir zögernd nach. „Und jetzt?“

„Jetzt sind wir verbunden.“

„Ah.“ Eine Weile standen wir schweigend da und wussten nicht, was wir sagen sollten, biss Linia das Wort ergriff. „Ich muss jetzt wieder nach Hause, Johannes wartet schon auf mich.“ Ich nickte. „Nimm den Ring nicht ab, man weiß nie, wann etwas passiert.“

 Sie sah aus, als wollte sie gehen, drehte sich dann aber noch einmal zögerlich um. „Wieso tust du das?“

Ich lächelte. „Das habe ich dir doch schon gesagt. Weil ich dich mag.“

Jetzt lächelte sie auch. Zum Abschied winkte sie mir noch einmal zu und ging dann fort.

Hoffentlich war meine Sorge unbegründet.

Langsam ging ich zum Schloss zurück. Ich dachte an Lor. Was er wohl gemacht hatte, nachdem ich ihm gesagt hatte, ich könnte ja zu dem Zauberer gehen, und er einfach weggerannt ist?

Ich ging noch eine Weile in der Stadt umher und beobachtete, wie die Sonne immer tiefer sank. Als ich schließlich am Schloss ankam, wurde es bereits Abend. Die Menschen gingen noch friedlich umher und ich sah ein paar Soldaten Wache schieben. Nichts deutete darauf hin, dass ein Krieg im Anzug war. Ob in Ares wohl die gleiche Friedlichkeit herrschte? Wohl eher nicht, dachte ich lächelnd.

Ich trat durch das hohe Tor. Wie ich es liebte, jedes Mal wenn ich durch dieses Tor trat, überkam mich ein Gefühl, dass mich an… ja, an was? An Heimat erinnerte. Ich bog um die Ecke und sah Lor vor mir stehen, mit einem Lächeln, das mich nur Schlimmes ahnen ließ. Oha. Er hatte die Arme verschränkt und blickte mich stumm an. Ich konnte beinahe seine Gedanken hören: „Frag mich! Frag mich!“ Ich  fragte ihn.

„Was hast du?“ Sein Lächeln wurde breiter und wir gingen gemeinsam den Gang hinunter.

„Nun, kannst du dich noch an deine Idee letztens erinnern?“

„Unschwer.“

„Ich habe Ares überzeugen können, mit dir zu kommen und Shedan zu überzeugen.“ Zufrieden schaute er mich an. Ich ging einfach an ihm vorbei.

„Na klar.“

3 Gründe, warum man sich besser in Acht vor Ares nehmen sollte

„So, jetzt ist Schluss!“

„Hmm?“

Verschlafen drehte ich mich um. Hä, was war denn jetzt los? In meinem Zimmer stand ein Ares und er sah wütend aus.

Ich realisierte, dass ich halbnackt war, dass Ares direkt auf mich zukam und mir die Decke wegriss und dass der Tag bereits angebrochen war.

„Was ist denn los?“ Es tat mir ja leid, dass Ares aufgebracht war, aber das war doch kein Grund, mich nicht ausschlafen zu lassen.

„Warte doch erst mal.“ Ich ließ ihn vor meinem Bett stehen und ging hinüber zum Schrank und zog mir ein Hemd über, ich fühlte mich nämlich reichlich unwohl unter Ares´ Blicken.

Während ich versuchte, meine Flügel durch das Hemd zu zwängen, wurde mir bewusst, wie seltsam diese Situation war. Ares, der sich sonst so gut wie nie blicken ließ, stand in aller Hergottsfrühe vor meinem Bett und wollte mich sprechen.

Oh, dann musste es vermutlich etwas Wichtiges sein, oder?

„Also?“ Ich setzte mich vor ihm auf das Bett.

Er stellte sich etwas entspannter hin und schaute mich strafend an. „Wo warst du gestern?“

Ich überlegte kurz. „Auf dem Markt, in der Küche und auf meinem Zimmer, glaube ich.“

Ares war kurz vor dem Explodieren. Das war wohl nicht die gewünschte Antwort.

„Ich war auch nur ganz kurz auf dem Markt…“

„Verdammt, warum warst du nicht am Tor???“

„Hä?“

„Westen hat dir doch gesagt, dass wir uns am Tor treffen?“

„Was?“

 Ares wütete zu meinem Schreibtisch und fegte das Tintenfässchen und die Blätter vom Tisch. Oha. Warum denn so aggressiv?

Dann kam er auf mich zu und blieb vor mir stehen, schwer atmend und deutlich um Fassung bemüht. Ich lächelte ihn an.

„Willst du mir nicht sagen, warum ich gestern am Tor hätte sein müssen?“

Er atmete tief durch und zu meiner Überraschung wurde er tatsächlich ein wenig ruhiger. Darüber freute ich mich. „Hat dir Westen nicht erzählt, dass wir zusammen zu Shedan reisen wollen?“ Das gab es doch nicht!

Mir klappte die Kinnlade herunter und ich würde sie nie wieder hoch bekommen. WAS?

Lor hatte die Wahrheit gesagt??? Ich kriegte die Krise. Außerdem wurden meine Wangen ungewöhnlich rot und ich spürte, wie die Scham heiß in mir aufstieg, also ließ ich mich nach hinten auf das Bett fallen.

„Ähm, ach so… Lor hat also die Wahrheit gesagt?!“ Alles in mir verspannte sich, während ich spürte, wie Ares sich erst versteifte und dann etwas in ihm immer weiter anschwoll. Oh weh, also wenn jemals der Zeitpunkt kommen sollte, aus diesem Schloss abzuhauen, dann war er jetzt gekommen.

Vorsichtig lugte ich zu Ares und sah, dass sein Gesicht völlig regungslos und kühl war. Seltsam, aber hatte ich nicht gerade seine Wut gespürt?

„Pack deine Sachen, wir brechen heute Nacht auf. Ich will dich pünktlich bei Sonnenuntergang an der Hintertür, die zum Garten führt, sehen.“ Damit drehte er sich um und ging aus dem Zimmer. Erst soll ich am Haupttor erscheinen und jetzt doch an der Hintertür. Das sollte mal einer verstehen.

Ich streckte mich erst einmal und gähnte ausgiebig. Schnell zog ich das Hemd wieder aus und breitete meine Flügel aus. Ah, wie ich das hasste, in ein Hemd eingesperrt zu sein.

Mein Gott, also hatte Lor wirklich die Wahrheit gesagt. Ich konnte es kaum fassen, ich würde mit Ares auf Reisen gehen. Während ich mich mit dem Wasser abwusch, stellte ich mir vor, wie das sein würde. Ich werde aus dem Schloss herauskommen!

Was mir Ares alles zeigen würde. Vielleicht werde ich neue Länder kennenlernen und neue Flüsse sehen, neue Leute kennenlernen und vielleicht, ja vielleicht, auch Leute treffen, die so sind wie ich, also Engel. Ich erwartete natürlich nicht, dass Ares mich ins Land der Engel schleppen würde, das wäre vermutlich nicht gerade sein Wunschurlaubsort.

Ich erinnerte mich aber noch zu gut an den Händler auf den Markt, der mir davon erzählt hatte. Vielleicht, wenn ich Ares fragte, könnten wir doch nur mal einen kurzen Abstecher dahin machen.

Mit dem Gedanken ging ich lächelnd wieder zu meinem Bett und begann mich anzuziehen. Dieses Hemd hatte Gott sei Dank Löcher für meine Flügel.

Gerade, als ich dabei war meine Stiefel anzuziehen, fiel mir etwas ein und mein Grinsen erlosch.

Ach ja, es war ja Ares, mit dem ich reiste. Dann würde die ganze Reise natürlich anders aussehen; er reiste …und ich hetzte ihm hinterher.

Seufzend band ich noch die Schnürsenkel zu und verließ das Zimmer. Wenn ich heute Abend schon losreisen musste, dann sollte ich mich jetzt vermutlich verabschieden.

Na ja, es würde ja nicht für immer sein.

Ich ging die langen Gänge entlang, auf dem Weg in die Küche. In die Küche, weil sich dort immer die meisten Diener aufhielten und ich dort um diese Zeit vermutlich auch Jana, Wills und Rose aufhielten. Irgendwie war ich mehr mit Frauen befreundet, als mit Männern, wie mir so auffiel. Das lag vermutlich daran, dass die meisten Männer mehr Abstand von mir hielten. Sie waren weitaus misstrauischer als die Frauen und konnten auch nicht gut mit etwas umgehen, das sie weder kannten, noch jemals gesehen hatten.

So waren die Menschen. Ich war tatsächlich erst seit ein paar Wochen auf der Welt, aber mir kamen sie eher vor wie Jahre.

Als ich an der Küchentür stand, beobachtete ich erst einmal die vielen Diener, die ständig hinaus und hinein strömten. Schließlich überraschte mich auch Wills von hinten.

„Na, willst du nicht mit hineinkommen?“ Ich nickte und wir gingen hinein.

Wills und ich setzten uns an einen der großen Holztische und ein Mann stellte uns zwei Tee hin.

„Es ist ungewöhnlich, normalerweise siehst du doch erst gegen Mittag aus, wie ein Lebendiger.“ Was sollte das denn heißen?

„Ich wurde heute von Ares geweckt.“ Ich lachte schallend auf, als Wills der gleiche Ausdruck ins Gesicht schlich, den ich heute Morgen hatte. Ihr klappte die Kinnlade herunter und ihre Augen waren groß.

„Er hat mir gesagt, dass wir zusammen für eine Weile weggehen werden um mit einem Zauberer zu reden.“

„Heißt das, du verreist?“ Ihr Mund stand immer noch offen.

„Ja, für eine Weile. Ich wollte euch Bescheid sagen, dass ihr euch keine Sorgen macht.“

Sie schien gar nicht zu realisieren, was ich sagte.

„Mit Ares?“ Es war komisch, seinen Namen aus ihrem Mund zu hören. Eigentlich sagte sie immer nur Der König. „Ja.“

Jetzt kam auch aus dem Nichts Jana aufgetaucht. „Was erzählt ihr beiden euch da interessantes?“

Wills wandte noch nicht einmal ihre schockierten Augen von mir ab. Also antwortete ich Jana. „Ich habe Wills gerade erzählt, dass ich für eine Weile verreisen werde.“

Jana setzte sich. „Aha, und wohin?“

„Das weiß ich zugegebener Maßen selbst noch nicht so genau.“

„Hä?“

 Jetzt kam wieder Leben in Wills. „Er will mit dem König zusammen zu einem Zauberer reisen.“ Jetzt klappte auch Jana der Mund auf. Gott sei Dank war ich verständnisvoll, sonst hätte ich hier schon längst angefangen loszuschreien, es ist doch bloß Ares!

„Und du willst mit Ares ganz allein in der Wildnis rumreisen? Hast du denn keine Angst?“

Also, jetzt wurde es mir zu doof! „Wovor soll ich denn bitteschön Angst haben?“

„Na, vor Ares“, riefen Jana und Wills im Chor. Zugegeben, das war jetzt schon wieder fast lustig.

„Wieso sollte ich denn vor Ares Angst haben?“, fragte ich jetzt schon etwas ruhiger.

Jana fing an zu lachen. „Hmm, warte, das ist wirklich schwierig. Warum sollte man vor Ares Angst haben? Oh, jetzt fällt mir etwas ein; vielleicht weil er ein Vampir und scharf auf dein Blut ist. Vermutlich sogar, weil er jähzornig ist, sich nicht unter Kontrolle hat und dich bei einem seiner kleinen Ausraster töten könnte. Ach ja, und da war ja auch noch die Tatsache, dass er ein Jahrhundertalter Dämon ist und du ein Engel, der keine Ahnung von seinen Kräften hat. Ares hasst Engel schon seit Jahrhunderten, also… lass mich kurz nachdenken, wird dein kleiner Ausflug wohl eher zum Überlebenskampf!“

„Siehst du, völlig ungefährlich.“ Und wieder klappten den beiden die Kinnlade runter.

Lor und Mora entdecken eine Leidenschaft für sich

Warum, wie kam ich auf diese gänzlich beschissene Idee? Ich würde mehrere Tage lang mit einem verfluchten Engel durchs Land reisen. Allein. Zu Fuß.

Nur weil ich wieder zu stur gewesen war und lieber mit Karan reisen wollte, als mich als Feigling bezeichnen zu lassen. Nach verdammten mehreren tausend war ich nicht klüger geworden. Welch eine demütigende Erfahrung.

Ich hörte, wie Karan die Stufen herunterkam, drehte mich um und lief los. Wenn ich schon mit diesem Engel für längere Zeit zusammen sein musste, dann konnte ich diese Zeit wenigstens so angenehm für mich und unangenehm für ihn wie möglich machen.

Ich spürte, wie er am Tor stehenblieb und mir einen verwirrten Blick hinterherwarf. Dann beeilte er sich, aufzuholen.

Eine Weile lief er schweigend neben mir her, dann seufzte er und blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dabei traf mich sein Duft. Wie ich diesen Engel hasste!

Als wir im Wald verschwanden, wurde mir bewusst, dass eine harte Zeit auf mich zukommen würde. Eine Zeit, die ich unbedingt durchhalten musste, wenn mein Herz nicht auftauen sollte.

 

„Meinst du, dass etwas zwischen den beiden passieren wird?“ fragte Mora den neben ihr stehenden Lor. Sie standen auf einem Balkon und schauten dem König und Karan nach. Lor hatte sich auf das Gelände gelegt und Mora schaute nachdenklich auf den Wald.

„Ich weiß es nicht, aber ich bezweifle es. Ich kenne Ares zwar nicht so lang wie du, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich ein Dämon in einen Engel verlieben kann.“

Lor sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, die allerdings nicht sein Gesicht erreichte.

Mora lächelte. „Da wäre ich mir nicht so sicher. … Wollen wir wetten?“ Amüsiert wandte sich Lor Mora zu. „Was wäre denn dein Wetteinsatz?“

 Mora überlegte. „Wenn du gewinnst, bekommst du von mir einen Trank, der deine Überzeugungskraft für zwei Stunden verdoppelt.“

Lor lachte. „Ich wusste gar nicht, dass du zur Hexe geworden bist. Und wenn ich verliere?“

Mora dachte kurz nach. „Dann musst zum nächsten Ball mit Jana gehen.“

Lor klappte der Mund auf. „Was?“

Mora nickte. „Also, abgemacht?“ Lor seufzte und schenkte der Alten einen undeutbaren Blick. „Nun, ich bin mir ziemlich sicher, dass Ares seinen Sturkopf wenigstens noch so lange durchsetzen kann. Also abgemacht.“ Die beiden gaben sich die Hand, Mora mit einem siegessicheren Grinsen auf dem Gesicht. Dann wanderten ihre Blicke wieder zurück zum Wald und Schweigen kehrte ein.

 

„Wie steht es, Zauberer?“ Mit einem emotionslosen Blick musterte der junge Mann mit den toten, schwarzen Augen, den Mann, der vor ihm stand.

 

„Es ist alles bereit. Die Dämonen haben Hunger. Wir haben Hunger. Wann dürfen wir endlich das Schloss angreifen?“ der ältere Mann mit dem karamellfarbenen Haar und den kalten Augen wandte sich ab. „Bald. Es wird nicht mehr lange dauern.“

Der Zauberer knirschte mit den Zähnen. Einmal aus der Eisesstarre ausbrechen und Gefühle die Kontrolle übernehmen lassen. „Wir wollen aber nicht mehr länger warten. Dort ist ein Engel im Schloss. Ich will ihn haben. Ich durfte schon lange keinen Engel mehr töten.“

Blitzartig drehte sich der König von Koren in einer Geschwindigkeit um, die man ihm ob seines Alters gar nicht zugetraut hätte.

„Wag es ja nicht, mir zu widersprechen. Ich habe dein Leben in der Hand und kann es schneller, als dir lieb ist, beenden!“ Der König von Koren war ein Feigling. Allerdings ein Feigling, der wegen seiner Angst so vorsichtig geworden war, dass man ihm nichts mehr anhaben konnte. Der Junge krümmte sich. „Das ist mir nur allzu bewusst.“

Der fette Bauch des Königs hob und senkte sich schnell und nur langsam beruhigte er sich wieder. „Gut.“

Damit wandte er sich erneut ab und verließ den Raum. Der Zauberer blickte ihm regungslos hinterher. Irgendwann werde ich ihn töten. Ihm seinen ekligen fetten Hals aufschneiden. Dafür sorgen, dass er sich niemals mehr so aufregen kann.

Bei diesem Gedanken schlich sich ein Lächeln auf die Lippen des jungen Mannes, ein Lächeln, das in jedem Ekel heraufbeschworen hätte, der es gesehen hätte.

 

Ares dreht durch

Die Sonne ging schon unter und Ares hatte bisher kein einziges Wort mit mir gesprochen. Ich meine, ich wusste ja, dass Ares nicht besonders gesprächig war, aber das hier ging echt zu weit! Unsere Reise bestand darin, dass Ares vorneweg lief und ich hinterher. Das war nicht menschlich!

Ich hatte in letzter Zeit immer mehr das Gefühl gehabt, dass Ares besser mit mir zurechtkam, aber das wurde gerade Stück für Stück zertrümmert.

„Ich hab langsam genug!“ Er drehte sich nicht einmal um. Ich hatte in der vergangenen Stunde ständig versucht, ihn anzusprechen, aber er hatte nicht einmal reagiert.

„Ich habe nicht darum gebeten, hier geboren zu werden. Und du hättest mich ja auch längst in das Land der Engel schicken können, aber das hast du nicht getan. Wieso, wenn ich dich doch so nerve?“ Ich ging schneller und überholte ihn. Drohend baute ich mich vor ihm auf.

„Warum nicht, Ares?“ Er sah mich aus, zu Schlitzen verengten Augen an und sprach dann leise: „Ist das alles? Ich hatte dir ein bisschen mehr Beharrlichkeit zugetraut, wenn es darum geht, mich zur Weißglut zu treiben.“ Gefährlich grinsend kam er mir näher. „Es ist doch so, nicht wahr? Seit du hier bist, versuchst du verzweifelt, irgendwelche Gefühle aus mir herauszukitzeln.“ Jetzt machte er mir Angst. Er ging auf mich zu.

Langsam berührte er mit seiner Hand meinen Hals und drückte zu. Ah! Das tat weh. Verständnislos schaute ich ihn an und sah, dass sich seine Augen rot verfärbt hatten. Es sah furchterregend aus.

Würde er mich jetzt töten? Langsam schob er mich gegen einen Baum und drückte mir dabei die Kehle zu. Als ich gegen den Stamm stieß, beugte er sich langsam  zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Das hat schon einmal ein Engel versucht. Und er hat es tatsächlich geschafft; ich bin wütend geworden. Und soll ich dir etwas verraten? Würde er sein Hemd zurückziehen, könntest du eine dreißig Zentimeter lange Narbe sehen, die sich von seiner Schulter bis zu seiner Hüfte zieht. Er hat es danach nie wieder versucht, mich in irgendeiner Weise zu reizen.“

 Der Schreck über die Erkenntnis, dass er mich momentan liebend gern töten würde, ließ mich die Schmerzen für einen Moment vergessen. Ich griff mit meiner rechten Hand auf meinen Hals, legte sie auf seine, in der Hoffnung, er würde mich loslassen.

Plötzlich weiteten sich seine Augen und er wich blitzartig, als hätte ich ihm einen Stromschlag verpasst, zurück. Kurz blickte er verwirrt zu mir, sah zu, wie ich den Baum herunterrutschte, mit einer Hand an meinem Hals und versuchte zu atmen, dann drehte er sich weg und ging ein Stück in den Wald.

Ich versuchte währenddessen wieder zu mir zu kommen. Warum hatte er so plötzlich von mir abgelassen? Und was war das für ein Engel, von dem er gesprochen hatte? War Ares etwa schon mal für längere Zeit mit Engeln zusammen gewesen?

In mir breitete sich, völlig ohne jeden Sinn, eine unbekannte Traurigkeit in mir aus, die ich weder verstand, noch zuordnen konnte.

Verwirrt rappelte ich mich auf und ging langsam zu Ares, der immer noch am Waldrand stand und in die Leere blickte. Was hatte er denn?

Ich ging langsam von hinten an ihn heran und berührte ihn leicht an der Schulter.

„Meinst du nicht, wir sollten weitergehen?“

Er blickte kurz zu mir, dann nickte er. Wir gingen wieder zurück auf den Weg und setzten, obwohl es mir anfangs etwas schwer fiel, unseren Weg fort.

Diesmal sagte keiner mehr etwas.

 

Im Haus der Erends

Wir waren schon mehrere Stunden durch die Nacht gewandert und ich dachte langsam, dieser Lauf würde niemals enden. Ares stieg unbeirrt über Äste, die am Boden lagen und schaute sich, obwohl es stockfinster war, nicht einmal um. Mir war es unbegreiflich. Als es finster wurde und wir den dunklen Wald betreten hatten, wurde das Licht, das mich ständig umgab, plötzlich viel stärker. Laternenfunktion?

Ares wandte sich allerdings schnell ab und konnte mich nicht einmal mehr angucken, weswegen ich es nun unterdrückte.

Nun, auf jeden Fall fragte ich mich nun schon zum gefühlt tausendsten Mal, ob Ares vorhatte, heute Nacht noch einmal stehenzubleiben. Die Bäume, der ganze Wald gab mir seine Kraft und war der einzige Grund, warum ich noch nicht umgekippt war vor Müdigkeit.

Als die Nacht schon fortgeschritten war und ich Ares´ Rücken mittlerweile eine halbe Stunde lang ununterbrochen wütend angestarrt hatte, wurde er endlich langsamer. Danke!

Ich nahm ein Licht wahr, das ein Stück entfernt von uns leuchtete. Ein Haus? Ares steuerte jedenfalls darauf zu. Jetzt war ich gespannt. Ares war im ganzen Land bekannt und in diesem Haus lebten ganz wahrscheinlich Menschen. Was hatte er also vor? Kurz schoss mir die Idee durch den Kopf, dass er die Menschen töten würde und wir dann dort übernachten würden.

Unsicher schaute ich Ares von der Seite an. Als hätte er meine Gedanken erraten, antwortete er tatsächlich und sprach damit zum ersten Mal seit Stunden.

„Die Menschen, die dort leben haben ein Gestüt und werden uns für die Nacht Unterkunft gewähren.“ Er sah mich drohend an. „Du wirst keinerlei Worte darüber verlieren, wer wir sind. Du solltest mich außerdem für unsere Zeit hier anders nennen. Deine Flügel können wir ja leider schlecht verbergen, “ sagte er mit einem Blick darauf und verzog den Mund.

Ich verstand nicht, wieso ich meine Flügel auch verbergen sollte!? Sie gehörten zu mir und Menschen erkannten auch unbewusst, dass ich anders war, wenn sie meine Flügel nicht sahen. Mal ganz abgesehen von dem Licht, das mich umgab…

Nun, wir gingen jedenfalls auf das Haus zu. Als wir aus dem Wald heraustraten, erkannte ich tatsächlich ein großes umzäuntes Gebiet und ein großes Haus mit mehreren Stockwerken.

In den zahlreichen Fenstern brannte goldenes Licht und vor der Tür war eine kleine Veranda. Es sah sehr heimelig aus.

Als wir näherkamen zog sich Ares die Kapuze über den Kopf. Warum denn das? Ich zuckte mit den Schultern. Es gab so viel, was ich nicht verstand.

Dann klopfte Ares an. Es dauerte eine Weile, aber dann wurde uns die Tür von einer jungen Frau geöffnet. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Zopf nach hinten gebunden und trug eine Schürze, an der sie sich die Hände abtrocknete, während sie uns betrachtete. Sie hatte ganz helle Augen. Eine freundliche Frau.

„Wie kann ich euch helfen? Es ist schon sehr spät.“ Misstrauisch schaute sie uns an. Kein Wunder, bei Ares´ dunkler Aura! Konnte er sich nicht einmal zurücknehmen?

Er sagte: „Wir wollen gern ein Quartier für die nächsten drei Tage.“ Was, für die nächsten drei Tage??? Ich dachte, wir wollten zu diesem Zauberer?

Die Frau sah uns nachdenklich an. „Und wer seid ihr?“ Ares sah sie ausdruckslos an. „Fremde. Und, wie lautet eure Entscheidung?“ Sie maß uns mit Blicken.

„Werdet ihr uns Ärger bereiten?“

„Nein.“

Sie nickte langsam. „Dann seid ihr willkommen. Aber ihr müsst bezahlen!“ Wir traten ein. Drinnen war der Boden mit hellbraunen Holzdielen belegt und uns gegenüber führte eine Treppe in den zweiten Stock. Ich sah, wie Ares einen braunen Lederbeutel unter seinem Umhang hervorzog und ein paar Goldstücke auf seine Hand schüttete und sie der Frau gab. Überrascht sah ich ihn an. Ich hatte nicht gewusst, dass er so viel Gold mit sich herumtrug.

Die Frau nahm sie und ließ sie unter ihrer Schürze verschwinden. Dann nickte sie.

„Kommt, ich zeige euch eure Zimmer.“ Sie führte uns die Treppe hoch in den etwas dunkleren zweiten Stock und dann in einen kleinen Flur, wo sie uns zwei kleine Zimmer zeigte, die sich gegenüberlagen. „Wenn ihr euch waschen wollt, da ist gleich um die Ecke das Zimmer. Gute Nacht.“ Damit drehte sie sich um und verließ uns.

 

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.:)
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch einer kleinen Idee, aus der wegen Angst, eine lebendige große Geschichte wurde. Danke.

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