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Die Vorstellung im Theater war zu Ende. Für Malena war sie überhaupt nicht zufriedenstellend gelaufen. Sie war abgelenkt, nicht auf dem Punkt. Zu viele Gedanken hatten ihren Kopf benebelt. Sie konnte sie einfach nicht weg drängen, um sich auf ihre Rolle und das Singen und Spielen zu konzentrieren. Kurz: sie hatte nicht gestrahlt.

Sie würde jetzt gleich ins Foyer gehen und Simona wie verabredet treffen – eine Journalistin, die sie vor einem Jahr bei einem Interview kennengelernt hatte, das Simona für eine überregionale Zeitschrift geführt hatte. Malena hatte sich schnell mit ihr angefreundet, denn Simona hatte Malena liebevoll zur Seite gestanden, als der überraschende und rätselhafte Tod von Sophie passierte. Schon in der Vorstellungspause hatte Malena sie angerufen und ihr von ihrer schlechten Konzentration und Unruhe auf der Bühne erzählt. Es hatte zwar niemand gemerkt, aber ich sie haderte mit sich selbst, denn sie war gewohnt, sich bei jeder Vorstellung das Höchste abzuverlangen. Sie hatte es sich zur Pflicht gemacht, bei jeder Vorstellung von der Seitenbühne aus den anderen zuzuschauen, wenn sie selber nicht dran war. Gerade bei den erfahreneren Darstellern konnte sie oft Dinge sehen, die sie nicht kannte und die sie versuchen wollte für sich zu nutzen. Genau das gelang ihr bei der heutigen Vorstellung nicht. Sie schaute nicht wirklich zu, sie glotzte nur. Sie musste sogar in ihre Garderobe zurückgehen, weil sie einen Moment für sich allein brauchte. Die Gespräche in den letzten Tagen mit Simona und vor allem die Beschäftigung mit Sophies Notizen, die sie nach dem Tod erst vor kurzem in ihrem Zimmer in der gemeinsamen Wohnung gefunden hatte, ließen sie nicht los. Natürlich war Sophies Tod immer präsent, das war auch richtig so, aber in der letzten Zeit hatten verschiedene Abschnitte der Aufzeichnungen ihr mehr zu schaffen gemacht. Daraufhin hatte sie die Papiere noch mehrmals durch gelesen, ob sich nicht doch entscheidende Informationen finden ließen, die Aufschluss über ihren Tod geben könnten. Sie hatte nichts gefunden! Sie hatte aber auch nicht locker gelassen, denn da war diese kleine hingekritzelte Randbemerkung mit ein paar für Malena unverständlichen Symptombeschreibungen gewesen, die Sophie offensichtlich an sich beobachtet hatte. Genau die hatten sich immer tiefer in Malenas Kopf eingeprägt, obwohl sie zunächst nicht genau wusste, was sie bedeuteten. Aber sie ahnte, dass in ihnen mehr Brisanz steckte, als sie das bisher angenommen hatte. Ihr dämmerte langsam, dass ihre beste Freundin Sophie schon länger vor ihrem Tod etwas zu verbergen hatte. Oder sie wollte es nicht sagen. Nicht in diesen Aufzeichnungen. – Nur wo dann?

Malena hatte fast ihren nächsten Auftritt verpasst, so sehr kreisten ihre Gedanken und Spekulationen um Sofies Aufzeichnungen. Irgendein geheimnisvolles Netz schien sich um sie zusammen zu ziehen. Wie elektrisiert war sie hoch geschreckt, als sie ihren Namen zum zweiten Mal aus der Bühensprechanlage hörte. Als ob sie aus einer anderen Welt käme. Ihr war, als wäre sie doppelt, als lebte sie in zwei Welten. Das hatte sie noch unruhiger gemacht. Prompt war sie beim Auftritt über einen Kabelkanal gestolpert und wäre beinahe auf die Bühne gestürzt als normal aufgetreten – sehr zur Erheiterung ihrer Mitspieler. „Idioten!“, dachte sie.

Ihr Leben im Theater wurde neuerdings wieder zu sehr von den Vorkommnissen mit Sophie überlagert. Da war bisher nur in der unmittelbaren Zeit nach ihrem Tod so gewesen. Sie fühlte, dass sie das auf die Dauer nicht durchhalten konnte; ihre Leistung auf der Bühne würde demnächst merkbar beeinträchtigt werden. Das war sonst eigentlich nie so. Sie konnte sonst immer mit Mehrfachbelastungen gut umgehen. Aber besonders die Notizen, die sie ja unmittelbar vor ihrem Tod geschrieben haben musste, ließen alles anders erscheinen. „Ich muss dringend Oma Ingele anrufen und sie um Rat zu fragen“, hatte sie vor sich hin geseufzt und fühlte sich bei dem Gedanken an die Stimme der alten Dame und ihre sanfte Art mit Malena zu sprechen schon beruhigter. Sie hatte es dann auch geschafft, den Rest der Vorstellung ohne weitere Irritationen hinter sich zu bringen und freute sich jetzt auf Simona, der sie ihre Unruhe genauer beschreiben wollte. Sie musste einfach mit jemandem darüber sprechen, aber sie wusste auch, das nach allem Sprechen unweigerlich ein Treffen mit Nikolai K anstehen würde. Das war einfach die zwingende Entscheidung. Nikolai K war die Schlüsselfigur in dem ganzen Wirrwarr, denn er hatte damals als erster Sophie behandelt, als sie sich nicht wohl fühlte. Nur er konnte Malenas Unruhe und die brennenden Fragen nach Sofies Tod lösen. Er musste sich äußern, auch wenn er den wenigen bisherigen meist kurzen Treffen immer beharrlich geschwiegen hatte.

Als Malena im Foyer ankam, war ihr plötzlich klar, dass das schwierige Treffen mit Nikolai K nur hier im Foyer stattfinden konnte. Nachdem Malena noch ein paar Autogramme für einige bis zuletzt wartende Zuschauer gegeben hatte, sah sie Simona auf der linken Foyerseite bei einer hinter ein paar Säulen versteckten Sitzgruppe. „Das ist der Ort, an dem ich diesem Kerl meine Fragen stellen werde“, entfuhr es Malena halblaut; der Ort war einerseits etwas abgeschieden und andererseits mitten im Geschehen des allgemeinen Theaterrummels. So konnten irgendwelche hinterhältigen Überraschungen vonseiten Nikolai K's und seinen Gorillas nicht passieren. Jetzt hatte Simona Malena auch bemerkt. Sie sprang auf und umarmte sie: „Was ist bloß in deinem Kopf los, Malena? Schön dich zu sehen!“ „Oh Gott, Simona, es war eine ganz schlechte Vorstellung von mir. Zu viel Durcheinander in meinem Innern. Zu viele Irritationen in Bezug auf Sophie...“ „Damit musst du sicher auch weiterhin rechnen, Malena. Komm wir verschwinden und lassen den Abend gemütlich in einer Kneipe ausklingen!“ „Lass uns noch einen Augenblick hier sitzen bleiben. Ich habe da eine Idee. Ich hoffe, du findest sie gut.“ Malena setzte sich neben Simona so hin, dass sie den Rest des Foyers gut im Auge hatte. „Was hast du vor, Malena?“ Malena schaute immer noch prüfend um sich und schien zufrieden: „Ich werde mich hier mit Nikolai K treffen“, sagte Malena bestimmt und machte dazu eine einladende Handbewegung über das gesamte Foyer. „Wie kommst du denn darauf? Warte mal, was ist passiert?“ Simona war sofort hellwach. Ihre etwas vom Tage und von der Arbeit müden Augen fingen neugierig an zu blitzen. Sie reckte sich hoch und sah Malena prüfend an. Dann blickte sie um sich und nickte, langsam verstehend. Sie grinste Malena an. „Guter Ort! – Wenn alles gut geht! Bei diesem Mafioso weiß man nie.“ Dann platzte es aus Malena heraus: „Nikolai K war vorgestern in der Vorstellung. Er hat mir beim Schlussapplaus eine Rose auf die Bühne geworfen, an der das hier befestigt war.“ Malena nahm jetzt ein kleines Päckchen aus ihrer Tasche und schob es Simona auf dem Glastischchen rüber. Da lag es einen Moment unberührt. Als ob es nicht dort hin gehörte. Eine kleine mit violettem Samt überzogene Schachtel lag fremd und geheimnisvoll auf der Glasfläche. Simonas Blicke gingen irritiert zwischen dem Päckchen und Malena hin und her. „Sollte das ein Antrag werden, Malena? Na dann: herzlichen Glückwunsch! Warum hast du mir nichts davon erzählt?“ Malena musste jetzt doch lachen, wenn auch der Moment, als Nikolai K ihr das Päckchen beim Schlussapplaus auf die Bühne geworfen hatte, alles andere als komisch war. Er war eher unheimlich. Sie nahm die kleine Schachtel und öffnete sie: da lag ein kleiner seltsamer Ohrring. „Das sieht irgendwie nicht nach einem netten Angebot aus“, sagte Simona leise und starrte das Ding an. Malena legte den dazu gesteckten Zettel neben das Kästchen. Simona nahm ihn in die Hand und las ihn vor: „Auf der Bühne bist du brillant. Vielen Dank für die Vorstellung. Das ist der richtige Beruf für dich! Lass die Pfoten von anderen ‚Berufungen’!“ Stille. Malena spürte instinktiv, dass Simona Nikolai Ks Geschenk nicht sehr viel anders interpretierte als sie selbst. Simonas Blick löste sich von dem Zettel; sie schaute Malena an. „Ich verstehe, warum du dich mit ihm treffen willst. Ziemlich mutig. Der Ohrring und der Zettel sind eine Drohung. Der willst und musst du begegnen. Das Treffen müssen wir gut vorbereiten, und ich werde auf jeden Fall dabei sein.“ Simonas Entschiedenheit machte Malena Mut und gab ihr Kraft. Plötzlich wusste sie, wie das Treffen genau ablaufen musste. „Ist doch klar, Simona! Wir treffen uns nicht am Abend nach der Vorstellung. Das ist unkalkulierbar. Da kommt eventuell nicht genug bei raus, wenn wir gestört werden, oder es kommen Zuschauer dazu. Das macht Nikolai K nicht mit. Wir treffen uns am Vormittag.“ Simona winkte sofort ab. „Zu gefährlich, Malena. Da ist hier überhaupt nichts los; da hat er dich in der Hand. Ich habe eine bessere Idee…“ „Hör mir zu, Simona. Ich versuche Nikolai K noch heute Abend anzurufen und ihn für übermorgen zu kriegen. Ich weiß, dass da eine Führung hier im Theater stattfindet, und um elf Uhr machen die auf der anderen Seite im Foyer – da befindet sich eine Cocktailbar – ein Informationstreffen mit der Masken- und Kostümabteilung. Da kannst du als Photographin dabei sein, und auf der Bühne läuft eine Umbesetzungsprobe mit dem ganzen Ensemble. Also optimale Variationsmöglichkeiten in jeder nur erdenkliche Richtung. Was meinst du?“ Simona hielt nun doch den Daumen hoch. Zustimmung! Die beiden standen wortlos auf und umarmten sich. Beide waren plötzlich aufgeregt und etwas zittrig vor dem, was da auf sie zukommen würde. „Mensch, Malena, bis zu dem Treffen müssen wir in allen Punkten auf dem gleichen Informationsstand sein. Für alle Fälle.“

Malena und Simona glichen noch einmal alles, was sie bisher an Fakten im Zusammenhang mit Sophies Tod und der zwielichtigen Rolle des großen Nikolai K gesammelt und ausgetauscht hatten, miteinander ab und versuchten die neu hinzugekommenen Erkenntnisse vor allem aus Sophies Aufzeichnungen einzuordnen. Simona horchte bei der Erwähnung der hingekritzelten Randbemerkungen von Sophie auf: „Wenn Sophie mit solchen Symptomen vorher nie zu tun hatte, müssen wir untersuchen, welcher Zusammenhang dahinter steht. Oder wir müssen durch irgendjemand Kompetenten alle überhaupt möglichen Zusammenhänge herstellen lassen. Vielleicht kommen wir ja noch auf ganz andere Ergebnisse.“ „Was denn für andere Ergebnisse? Was meinst du damit, Simona?“ „Ich weiß nicht; aber meine Nase wittert plötzlich eine Sensation, und meine Nase trügt mich meistens nicht.“ „Was heißt denn hier ‚Sensation’? Geht es dir nur um die Sensation?“ „Jetzt reagiere nicht gleich gereizt! Ich weiß, wovon ich spreche! Der Kerl ist mit allen Wassern gewaschen. Wir müssen uns auf das Extremste gefasst machen!“ Plötzlich war ihr Ton hart geworden. „Malena, wir müssen alle Informationen in einen Zusammenhang bringen. Und das muss jemand machen, der kompetent ist. Es kann durchaus sein, dass wir in ein Wespennest stechen. Und dann wird das Treffen mit Nikolai K entscheidend und hochbrisant.“ Malena wurde von Simonas Fieber angesteckt. Plötzlich fiel ihr jemand ein. Wieso war sie nicht früher darauf gekommen? „Natürlich kenne ich jemanden. Wie blöd bin ich eigentlich? Oma Ingele. Oma Ingele im Schwarzwald. Die kennt einen Prof für Physik und Chemie an der Uni Freiburg, mit dem sie viel über die Krankheit von meinem kleinen Freund Michel gesprochen hat. Das ist die Idee. Ich rufe sie sofort morgen früh an.“

Malena und Simona hatten sich jetzt richtig festgebissen und machten immer bessere Fortschritte in der Vorbereitung für das Treffen mit Nikolai K. Sie merkten nicht, wie die Zeit verging. Plötzlich stand das Personal des Sicherheitsdienstes vom Theater vor ihnen und bat sie freundlich, aber bestimmt, das Theater zu verlassen, sie müssten abschließen. Das Foyer hatte sich schon lange geleert und wirkte gespenstisch still, denn inzwischen brannte auch nur noch die Notbeleuchtung. Sie entschuldigten sich bei den Wachleuten und verließen als Letzte das Theater durch den Haupteingang. Eifrig weiter redend standen sie in der kühlen Abendluft einer schönen Septembernacht. „Mein Gott, was wir zusammen erleben. Ist das nicht verrückt, Malena?“ „Wirklich wahr. Eigentlich spannend oder? Wenn es nicht auch noch so brutal wäre.“ „Apropos ‚brutal’: sag mal, wir reden und reden und schmieden Pläne, aber bist du eigentlich sicher, dass du Nikolai K wirklich zu einem Treffen bringen wirst?“ Darüber hatte Malena noch gar nicht nachgedacht. Sie setzte sich erst einmal auf die überdachte Treppe vom Eingangsbereich des Theaters und überlegte.

Die Treppe führte nach unten auf die Straße, und der obere Teil war nicht einsehbar, ein paar Pflanzen machten diesen Bereich zu einem lauschigen Eckchen. Malena lachte auf: „Nikolai K soll sich unterstehen, einem Treffen mit mir nicht zuzustimmen. Ich weiß zu viel und denke, dass auch er weiß, dass ich weiß. Er weiß auch von deiner Existenz und deinem journalistischen Engagement. Nee, nee, da brauchst du dir keine Gedanken zu machen.“ Damit stand sie auf und die beiden schlenderten die Treppe hinunter, jede in ihre Gedanken vertieft und daran denkend, was auf sie zukommen würde.

In diesem Augenblick war unten von der Theatervorfahrt her das Geräusch einer zugschlagenden Autotür zu hören. Es war irgendwie besonders laut und wurde begleitet von hastigem Laufen Richtung Treppe. Das Auto schien mit laufendem Motor unten zu warten. Jetzt sprang eine Gestalt zielstrebig die Treppen hoch. Sie war in der Dunkelheit nur schattenhaft zu erkennen und kam direkt auf die beiden zu. Malena hielt Simona mit alarmierendem Blick am Arm. Sollte das ein Überfall werden, dann saßen sie richtig in der Falle. Oder war es eher eine Flucht? Sie wollten sich gerade an der Seite der Treppe an der Gestalt nach unten vorbei drücken, als der – relativ klein gewachsene und schmächtige – Mann Simona entschieden an die Hand nahm und sie und Malena wieder mit nach oben zog, wo sie nicht gesehen werden konnten. Malena zerrte wie verrückt an Simona, um mit ihr so schnell wie möglich auf die Straße zu kommen. Sie wollte gerade laut los schreien, spürte aber, dass Simona zögerte. Dann zischte sie ihr zu: „Stopp, Malena! Ist okay. Das ist für mich.“ Malena war verwirrt, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als Simona zu folgen, bis sie die schützenden Pflanzen auf dem oberen Treppenabsatz erreicht hatten und die Gestalt warnend den Finger auf den Mund legte. Er schaute gehetzt nach unten, ob er verfolgt wurde. „Was ist los, verdammt noch mal? Sie haben uns einen riesigen Schrecken eingejagt. Malena, das ist der Informant, der mir vor kurzem die CD mit Informationen über das Unternehmen von Nikolai K in Moskau zugespielt hat.“ Malena war noch starr vor Schrecken und ließ sich kaum beruhigen. Sie wollte eigentlich nur weg. Aber Simona hielt sie mit allen Kräften zurück. „Warte, Malena. Komm mal wieder runter!“ Der Typ vergewisserte sich noch einmal, dass ihm niemand gefolgt war und wandte sich dann an Simona: „Wer ist sie?“ „Sie bleibt hier. Sie weiß alles.“ Simona war plötzlich glasklar und ruhig. Sie hatte etwas von einem Mafioso, der seine Strategien klar vor Augen hat. „Was wollen sie? Was soll der Aufstand?“ Es war ein junger Typ, könnte fast ein Student der Germanistik sein, dachte Malena noch. „Etwas durchgeistigt, große Augen. Verdammt mickriger Typ!“ Aber in seinen Augen stand die blanke Angst. „Sie dürfen die Daten von der CD nicht weiter benutzen. Auf keinen Fall. Bitte! Geben sie sie mir zurück!“ „Ja, glauben sie denn im Ernst, dass ich nur dieses eine Exemplar besitze und das immer bei mir in der Tasche trage? Was ist los? Ich hatte bisher gar nicht vor, den Inhalt zu veröffentlichen. Das muss ja erst verifiziert werden. Und überhaupt: was soll das Ganze hier mitten in der Nacht?“ „Die Informationen auf der CD sind nicht nur belegt, sondern haben durch verschiedene Ereignisse in den letzten Tagen eine hochbrisante Bedeutung erhalten. Ich darf damit nicht mehr in Verbindung gebracht werden, sonst komme ich in existenzielle Schwierigkeiten. Ich habe den Hinweis erhalten, das Land sofort zu verlassen. Ich brauche Zeit, um das ohne Gefahr durchzuführen und mich in Sicherheit zu bringen. Bitte, tun sie jetzt nichts, sonst bin ich geliefert.“ „Ist ja gut, ist ja gut!“ sagte Simona, „aber ab wann darf ich die Informationen benutzen?“ „Ich gebe ihnen Bescheid. Ich bin selbst daran interessiert, dass das Material an die Öffentlichkeit gelangt und viele andere auch. Aber davon später mehr, wenn ich in Sicherheit bin. Ich werde mich bei ihnen melden.“ „Wie kann ich sicher sein, dass sie sich wirklich bei mir melden?“ „Bitte, glauben sie mir. Sie haben meine Mobilnummer, die wird bleiben, und ich gebe ihnen jetzt die Nummer von meiner Mutter. Damit haben Sie die Garantie, dass ich erreichbar bin.“ „Okay! Ich vertraue ihnen. Eins möchte ich aber noch wissen…“ Er hatte eine Telephonnnummer auf einen Zettel geschrieben und ihn Simona in die Hand gedrückt. Dann rannte er die Treppen runter, ohne noch weiter auf Simonas Frage einzugehen. Er riss die Autotür des wartenden Wagens auf, und dann war nur noch zu hören, wie der Wagen mit quietschenden Reifen los fuhr. Simona war sofort hinterher gerast, gefolgt von Malena. Kaum hatten die beiden den Platz vor dem Theater erreicht, war der Wagen schon auf die große Kreuzung gerast und fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit stadtauswärts. Leider gab es gleich nach der Kreuzung eine Straße, die von rechts kam. Aus dieser Straße schoss in dieser Sekunde ein Motorradfahrer auf die große Straße auf das Auto zu. Der Autofahrer hupte laut und vollführte dann eine Vollbremsung, die das Motorrad ins Schleudern brachte. Simonas ‚Informant’ konnte gerade noch ausweichen, geriet dabei aber auf die andere Straßenseite und verlor die Gewalt über sein Fahrzeug. Er knallte mit voller Wucht gegen die Befestigungsmauer der S-Bahn, die parallel über der Straße fuhr. Der Wagen wurde durch den Aufprall auf die Straße zurückgeschleudert, schlingerte unkontrolliert auf die andere Seite – andere Autos konnten gerade noch ausweichen - und kam durch den Zusammenprall mit den auf dem Seitenstreifen parkenden Autos zum Stehen. Ein penetrantes Dreiklanghorn gellte durch die Nacht und hörte nicht auf. Es kam von dem Unfallwagen. Der Fahrer lag offensichtlich bewusstlos auf dem Lenkrad. Ein Taxifahrer hatte bereits die Feuerwehr angerufen, während Simona und Malena zu dem Wagen rannten. Der Fahrer und Simonas Informant gaben kein Lebenszeichen mehr von sich. Der Kopf des Fahrers lag zerschmettert auf dem Lenkrad und Simonas Informant war mit voller Wucht durch die Windschutzscheibe geschleudert worden und lag mit verkrümmtem Körper halb auf der Motorhaube. Von dem Motorradfahrer keine Spur. Niemand hatte auf ihn während dieser Situation geachtet. Malena wurde schlecht. Sie musste sich übergeben. Sie schleppte sich etwas vom Unfallort weg und musste sich erst mal setzen. Simona hingegen reagierte ganz anders. Nachdem sie sich kurz vergewissert hatte, dass Malena für den Moment genug mit sich selbst zu tun hatte und nicht übermäßig litt, hatte sie schon einen kleinen Notizblock gezückt und mit journalistischer Routine das Kennzeichen des Wagens notiert. Blitzschnell hatte sie auch noch ein paar Photos geschossen. Jetzt eilte sie zu Malena, zog sie hoch und ging mit ihr langsam zum Theater zurück. Dort setzten sie sich auf die Treppe und warteten, was passierte. Malena hatte abgeschaltet und wollte auch gar nichts mehr mitbekommen. Sie sprach kein Wort und starrte nur vor sich hin. Simona hatte den Arm um sie gelegt, um ihr klarzumachen, dass sie bei ihr war. Malena schloss jetzt die Augen. Sie realisierte nicht, wie Feuerwehr, Notarzt und Polizei vorfuhren. Im Laufe der nächsten paar Minuten machte Simona bei der Polizei ruhig und knapp Angaben zur Situation. Aber nur, wie sie den Unfall gesehen hatte. Nichts von dem Treffen mit dem Mann auf der Treppe. Malena wurde gar nicht erst angesprochen, so stumpf und leer saß sie auf der Treppe. Simona hatte die Berichterstattung übernommen und Malena auch vor den Beamten abgeschirmt. „Was für ein Abend! Was für eine Nacht!“, drang es langsam in Malenas Kopf; dann folgte ein zweiter irritierender Gedanke, der sie allerdings auch ihre Übelkeit vergessen ließ: „Irgendetwas geschieht gerade; irgendetwas Bedrohliches kriege ich nicht zu fassen; irgendetwas Schreckliches senkt sich gerade auf uns herab.“ Sie schaute Simona an, die neugierig verfolgte, was sich auf der Kreuzung tat. „Simona“, wisperte sie mit rauer Stimme. „Simona, was sollen wir tun?“ „Na, Malena, wie geht es dir? Besser?“ „Sollten wir vielleicht die Polizei informieren?“ „Bist du wahnsinnig, Malena. Wir sagen nichts, gar nichts!“ Malena hatte noch nicht die Kraft, nachzuhaken. Außerdem hielten sie ihre vagen Gedanken fest, und sie wollte nur noch nach Hause, um zu schlafen und danach in Ruhe darüber nachzudenken, was zu tun sei. Sie wusste, dass sie vor einer Wand standen, die sie nicht sofort durchbrechen konnten. Sie war nicht nur zu hoch, sondern sie war vor allem gefährlich. Als sie nach einer Weile den Krankenwagen mit lauter Sirene davon fahren hörte, schreckte Malena aus ihrer Paralyse hoch und sah erschrocken um sich. Langsam realisierte sie ihre Umgebung wieder klar und freute sich, dass Simona neben ihr saß und sie im Arm hielt. Es war schon nach Mitternacht, und Malenas Schock begann sich zu lösen; sie begann zu weinen. Simona hielt sie fest und kramte dann ihr Handy hervor, um ein Taxi zu rufen. „Wir kriegen das schon hin, Malena. Mach dir nicht zu viele Gedanken. Wir werden das alles sortieren und dann entscheiden, wie wir vorgehen.“ „Ich will nach Hause, Simona. Ich habe keine Kraft mehr heute.“ Sie fuhren mit dem Taxi zusammen zu Malenas Wohnung und Simona setzte die erschöpfte Malena in die Küche und machte ihr einen Tee. Schritt für Schritt konnte sie sich beruhigen und wieder denken. Simona wirkte dagegen klar und wach. Sie war eben eine versierte und erfahrene Journalistin und hatte wahrscheinlich schon einige Situationen ähnlicher Art miterlebt.

„Na, Malena, du warst ja ganz schön weggetreten. Wie geht es dir jetzt?“ Malena lächelte immerhin schon wieder. Sie schüttelte sich und trank in großen Zügen ihren Tee. Dann fragte sie mit klarer Stimme: „Was hat das alles zu bedeuten? Ich fürchte, wir hängen da ganz schön tief in was drin, oder?“ „Stimmt. Aber lass mal, wir kommen da auch wieder raus.“ „Wie du redest! Ich hoffe nur, das es uns gelingt. Allzu oft stehe ich Situationen in der Preisklasse wie heute Abend nicht durch. Der Typ vorhin hatte ja wohl Todesangst. Der Unfall war geradezu vorprogrammiert.“ „Wenn das überhaupt ein Unfall war!“ „Was sagst du da, Simona? Du meinst…“ Mitten in die entstehende Stille hinein klingelte plötzlich das Telephon. Malena ließ es klingeln, sie verspürte nicht den geringsten Antrieb, jetzt mit jemandem zu sprechen. Aber Simona war aufgesprungen und hatte das Telephon geholt. Sie drückte es Malena bestimmt in die Hand. „Geh dran. Das kann nur mit dem Unfall von eben zu tun haben – um diese Uhrzeit. Wir können jetzt nicht aufhören mit unserer Arbeit.“ „Kann das nicht bis morgen warten?“ „Nein, kann es nicht.“ Sie hatte schon die Empfangstaste und die Lautsprechertaste gedrückt. „Hallo! Wer ruft so spät noch an?“ „Ich bin es, Per Oleg Storm.“ Malena schnappte nach Luft, so überrascht war sie, den Kompagnon von Nikolai K am Telephon zu haben. Und plötzlich schoss die Wut in ihr hoch: „Du wagst es bei mir anzurufen? Nachdem ich monatelang nichts von dir gehört habe; kein Wort von dir zu Sophies Tod, und du steckst mit diesem Gangster Nikolai K unter einer Decke?“ Simona schaute Malena entgeistert an, wie sie plötzlich in Fahrt kam. Sie setzte gerade dazu an, ihm ihren ganzen Frust entgegen zu schleudern, als Simona ihr den Finger auf den Mund legte und ihr zu verstehen gab, Ruhe zu bewahren. Malena verstand, dass das hier ein wichtiger Anruf werden konnte und schob deshalb mit zuckersüßer Stimme hinterher: „Ja, guten Abend Herr Storm! Was verschafft mir die Ehre zu so später Stunde?“ „Bitte, Malena, jetzt keinen Zynismus. Höre mir genau zu: Unternehme bitte nichts in Richtung Aufklärung der Ursache von Sophies Tod. Nicht jetzt. Es würde sehr gefährlich für alle Beteiligten werden, für alle, dich und mich eingeschlossen.“ Malena hielt kurz die Hand über das Mikrophon, um sich mit Simona zu verständigen. Aber sie bedeutete ihr, dass alles gut läuft und sie solle vorsichtig die Konversation weiter führen. Malena war jetzt wieder richtig wach und besann sich auf ihre ureigensten Fähigkeiten, Menschen in ein Gespräch zu verstricken. Das war schon in der Schule ihre Stärke gewesen. Wenn schwierige Themen anstanden, ging sie positiv-humorvoll direkt auf den Knackpunkt zu und zog damit die Kontrahenten meistens auf ihre Seite. „Du willst es also wagen, mich um ein Stillhalteabkommen zu bitten, werter Mister Oleg Storm? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein. Eigentlich bin ich gerade dabei, Euer ganzes System aufzudecken. ALLES! Und damit wärst du ja wohl auch ziemlich in den Arsch gekniffen, oder?“ Simona fasste Malena erneut am Arm, um ihr mitzuteilen, nicht über das Ziel hinaus zu schießen. Malena gab ihr zu verstehen, dass sie genau wüsste, was sie zu tun hätte. „Gibt es irgendeinen zwingenden Grund, dich nicht in die Pfanne zu hauen. Dann immer her mit den Argumenten! Aber nur mit guten! Sonst bist du für mich gestorben.“ „Malena, bitte! Du willst mich in die Enge treiben. Ja, du hast mich da schon. Und du hast ja auch Recht. Aber ich schwöre dir: Alles soll geklärt werden, aber alles zu seiner Zeit. Bitte glaube mir: ich bin mehr denn je zuvor an einer Klärung von Sophies Tod interessiert. Vor allem aber an der Enttarnung von Nikolai K. Ja, ich sage bewusst „Enttarnung“, denn das Institut in Moskau ist nicht nur das große Forschungsinstitut für mentale und physische Projekte in Bezug auf die Zukunft der Gesundheit der Menschheit. Es ist vor allem zu einem Treffpunkt zwielichtiger Pharmaunternehmen und ihrer raffgierigen Lobbyisten geworden. Ich kann das jetzt nicht weiter ausführen, denn ich habe selber alle Hände voll zu tun, das Schlimmste zu verhindern. Jemand versucht Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen, die eine Riesenlawine ins Rollen bringen werden. Es würde zu viel, ich meine, auch zu viel Positives, zerstört werden. Ich bin dabei, das Projekt zu retten, richtig zu stellen und dem Projekt die Wende zu geben, die es verdient hat und die es wieder potent und wertvoll macht.“ Simona schlug Malena auf die Schulter. Ich schaute sie entgeistert an, während sie mir zuzischte: „Frag ihn nach dem Informanten!“ „Oleg Storm, ehemals Schwedi genannt, als wir beide uns noch besser kannten und mochten: du und ich, wir sind keine Geschäftspartner. Warum also sollte ich weiter mit dir reden?“ „Bitte, Malena. Alles soll aufgeklärt werden, und auch du sollst alles wissen, was du wissen willst. Aber jetzt bitte ich dich: Unterstütze mich. Nur dieses eine Mal.“ „Ich kenne den Informanten, Mister Storm!“ „Was heißt das, du kennst den Informanten? Das kann gar nicht sein.“ Malena und Simona kapierten sofort, dass Oleg Storm offensichtlich nicht alles wusste. Langsam und fast genüßlich ruhig wiederholt Malena ihren Satz: „Ich kenne den Informanten. Ich habe ihn heute Abend getroffen, zufällig. Ich konnte mich aber nicht lange mit ihm unterhalten, obwohl er viele Fragen hatte. Er ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.“ Gebannte Stille setzte ein, und die beiden Frauen schauten sich mit einem triumphierenden Lächeln an. Sie realisierten, dass sie dem Anrufer gegenüber gerade im Vorteil waren. Von Oleg Storm war noch immer nichts zu hören. Die beiden Frauen ließen die Zeit verstreichen, sie mussten ja nichts sagen. Dann hörte man eine ernste und deprimierte Stimme am anderen Ende der Leitung: „Malena, du hast eben einen Witz gemacht oder? Wann war das und wo?“ „Klinge ich witzig? Es war heute Abend vor dem Theater. Kurz hinter der großen Kreuzung stadtauswärts um ca. elf Uhr. Er ist zu schnell gefahren und hat einen Motorradfahrer nicht rechtzeitig genug gesehen.“ „Dann hat er meine Warnung nicht mehr gehört. Ich hatte ihm eine SMS geschickt, nicht zum Theater zu fahren. Er hat keinen Unfall gebaut. Er ist umgebracht worden. Er war einer meiner Mitarbeiter.“ Malena war aufgesprungen, und auch Simona stand kerzengerade und erschrocken neben ihr. Beide warteten, aber es folgten keine weiteren Erklärungen. „Malena, bitte, gib mir drei Tage Zeit. Ich melde mich bei dir, ehrlich. Jetzt bin ich umso mehr selber in Not und muss aufhören. Danke, und mach es gut. Ich melde mich bestimmt.“ Er hatte aufgelegt. Wir schauten uns an, gespannt und etwas unsicher. „So habe ich Oleg Storm noch nie reden hören. Das war ernst. Auch was er zu Nikolai K gesagt hat. Er scheint echt in Schwierigkeiten zu sein. Hier kommt langsam ein Schockerlebnis nach dem anderen zum Vorschein.“ „Gut gemacht, Malena. Aber ihr scheint ja auch sehr vertraut miteinander zu sein, oder verstehe ich da was falsch, wenn du ihn Schwedi nennst? Du hast mir letztendlich wenig von ihm erzählt bisher.“ „Ja, Simona, da hat sich mal fast was angebahnt mit ihm. Aber er ist viel zu viel unterwegs in der Welt, und ich habe es eigentlich nicht ansatzweise geschafft, ihn näher kennenzulernen. Und für einen schnellen Bums bin ich eher selten zu haben. Außerdem wurden unsere Versuche permanent überlagert von Nikolai K's überkandidelter Vereinnahmung. Da sah niemand Land, der auch nur in der Nähe des Projektes positioniert war. Oleg Storm steckte ja sowieso bis zum Hals mit drin. Und da hat sich wohl eine gefährliche Ausschluss-Situation entwickelt, so wie Oleg Storm eben gesprochen hat. Was das genauer bedeutet, ist schwer zu sagen, so wie die beiden auf Gedeih und Verderben aneinander gekettet sind. Oleg Storm ist auf jeden Fall so was wie der Gesamtorgnisator und Supervisor. In seinen Worten und seiner Haltung eben am Telephon steckte viel Irritation und grundlegende Erschütterung. Das kenne ich von Schwedi überhaupt nicht. Er tat mir zwischendrin leid. Ich weiß überhaupt nicht, warum.“ „Hei, Malena, das sind Verbrecher, wenn ich nur anfange zu überlegen, wie das wahrscheinlich alles zusammenhängt. Nach heute Abend ist nichts mehr unmöglich. Und was hattest du wirklich mit ihm?“ „Ich mochte ihn sehr, aber durch die Geschichte mit Sophie und meine ersten Vermutungen, dass ihr Tod nicht einfach so passieren konnte, ist das richtig gegen die Wand geknallt. Er hängt da bis zum Hals mit drin und hat mich nicht informiert, zu keinem Zeitpunkt.“ Malena stiegen plötzlich die Tränen in die Augen. Es war so viel passiert, und jetzt kam noch dieser ‚Schwedi’ auf den Plan und wühlte sie auf. Sie hatte lange nicht mehr mit ihm gesprochen, und irgendetwas an ihm hatte sie berührt. Sie wischte sich die Tränen weg und sagte etwas unsicher: „Weißt du, Simona, es hängt mit seiner behutsamen Art zusammen, verbal nicht um sich zu schlagen, sondern sehr sensibel auf alles bei mir zu reagieren. Das hatte ich schon früh so an ihm gemocht. Und eben am Telephon hat er das zwar auch versucht, aber er ist grundlegend erschüttert, glaube ich. Egal, wie tief er in der ganzen Scheiße mit drin hängt. Ist diese ganze Nummer vielleicht ein bisschen zu groß für uns, Simona?“ Simona nahm Malena in den Arm und strich ihr beruhigend übers Haar. „Nein, Malena, ist sie nicht. Sie geht dir nur sehr nahe, weil auch deine Seele in der Geschichte gefangen ist, und das ist immer schwierig. Und wenn ich dich ansehe, fängt es mir auch an weh zu tun.“
„Es gibt nur einen Weg da raus“, sagte Malena plötzlich und löste sich abrupt von Simona. Wie sie da stand, mit beiden Füßen auf dem Boden und mit einem Blick, der genau sagte, was sie wollte, strahlte sie große Entschiedenheit aus. Und dann kam es: „Ich werde jetzt Nikolai K anrufen und ihn für übermorgen ins Theater einladen. Scheiß egal, wie spät es ist!“ Prompt nahm sie das Telephon und wählte eine Nummer. Simona setzte sich still auf einen Stuhl in der Küche und schaute Malena unverwandt an, ohne ein Wort zu sagen. Es war Malena wichtig, dass Simona dabei blieb, wenn sie mit diesem Mann sprechen würde. Sie ging ans Fenster und drehte Simona den Rücken zu, den Hörer am Ohr. Sie brauchte trotz allem eine Fokussierung auf sich selbst und wollte nicht durch Simonas Blicke abgelenkt werden.

Er war nach einmal klingeln am Apparat, hatte offensichtlich nicht geschlafen und war nicht im Geringsten erstaunt, als er Malenas Stimme hörte. Sie kam ohne Umschweife zur Sache: „Ich bin es, Malena. Wir müssen uns sehen. Am besten in drei Tagen. Da habe ich am ehesten Zeit.“ Sie drehte sich kurz zu Simona um, als ob sie jetzt doch ihre Nähe brauchte. Simona saß weiterhin ganz still und aufmerksam da. Malenas Blick fiel auf die laut tickende die Uhr in der Küche, während sie auf Nikolai K's Antwort wartete: es war drei Uhr morgens. Simona war ihrem Blick gefolgt. Die beiden lächelten sich an. Nikolai K schien das wahrgenommen zu haben: „Three o'clock in the morning, Malena, nice time to call! Zeit der Entscheidungen, oder?“ Malena drehte sich wieder zum Fenster und ließ ihre Blicke über den Hinterhof gehen, ohne dass sie etwas genauer ansah. „Was ist, kannst du?“ „Nein, ich kann nicht. Ich muss so schnell wie möglich nach Moskau. Es ist absolut dringend.“ „Moskau muss warten. Entscheide dich. Ich denke, du weißt, was auf dem Spiel steht.“ „Ich kann nicht, Malena, selbst wenn ich wollte. Es muss reichen, wenn du dich mit Felix triffst. Ihr habt euch doch eh viel zu sagen.“ „Lass Felix aus dem Spiel, Nikolai K. Du bist gefragt, niemand sonst. Es ist zu viel passiert in den letzten Tagen, und langsam fällt mir das Kombinieren immer leichter.“ Malena blieb kalt und lief dadurch zu immer größerer Form auf. Sie fühlte, dass sie Nikolai K in der Enge hatte. Sie war kalt wie ein Fisch, bekam nicht das Zittern, hatte keine Angst und wusste nur noch, dass er kommen musste. Sie würde ihn zwingen. Wieder sah sie für einen kurzen MOment zu Simona rüber. Die hatte sich tief in ihren Stuhl rutschen lassen und schaute inzwischen gebannt auf Malena. So hatte sie sie auch noch nicht erlebt. „Was weißt du schon, was passiert ist, Malena, und deine Kombinierereien sind auch nicht immer gültig gewesen.“ „Nikolai K, ich werde den Teufel tun und mit dir diskutieren. Du kommst, oder es wird schlimm.“ „Du fängst an, mir zu drohen? Das schaffst du nicht. Niemals.“ „Oleg Storm hat mich angerufen. Einer seiner Mitarbeiter ist ermordet worden. Oleg Storm hat mir von der aktuellen Situation des Projektes erzählt…“ „Oleg Storm ist der größte Verräter aller Zeiten!“ Plötzlich schrie Nikolai K los, so dass Malena das Telephon weit weg von ihrem Ohr halten musste. „Ich will nichts mit diesem Verbrecher zu tun haben. Er kann gar nichts wissen.“ Malena und Simona schauten sich an. Was wollte Nikolai K mit seinen letzten Worten sagen? Malena schaute Simona etwas unsicher an, aber Simona gab keine Kommentare ab. Spannung breitete sich in der Küche aus. Es war jetzt an Malena, sich die aufkommende Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Umso bestimmter entgegnete sie: „Eure Streitereien müsst ihr alleine austragen. Ich habe keinen Grund, an den Aussagen von Oleg Storm zu zweifeln. Ich will jetzt eine Entscheidung, und die kann ich nur mit dir herbeiführen, das weißt du. Und außerdem: Oleg Storm ist nicht meine einzige Informationsquelle.“ Auf der anderen Seite rührte sich nichts. Es knisterte in der Leitung, als ob sich die Spannung auf die Leitung übertragen würde. Nach einer langen Pause knurrte es durch die Leitung: „Okay, Malena. Wann und wo?“ „In drei Tagen um elf Uhr im Foyer des Theaters. Da sind wir ungestört, und ich habe danach noch eine Probe, die ich nicht ausfallen lassen kann.“ „Oleg Storm ist ein Schwein. Das lasse ich nicht auf mir sitzen. Ich komme um elf ins Theater. In drei Tagen.“ Plötzlich wurde er noch einmal wütend. Malena hatte einen wunden Punkt getroffen, wusste aber noch nicht genau, welcher das war. „Dieses Schwein hat sich aus dem Staub gemacht und glaubt, mir Konkurrenz machen zu können. Das wird ihm nicht gelingen. Was hast du denn verdammt noch mal mit ihm zu schaffen. Höre nicht auf ihn! Verdammt noch mal, höre ihm einfach nicht zu! Entschuldige, Malena. Wir klären das. Wir klären alles. Ich bin da, um elf Uhr im Theater.“ „Und lass Felix aus dem Spiel!“ „Ach, Felix! Your former one and only! Ja, ist ja gut. Bis dann.“ „Lass verdammt noch mal Felix aus dem Spiel“, wollte Malena noch sagen, aber da hatte Nikolai K schon aufgelegt. Was für eine Nummer! „Was sollte eigentlich dieses ‚ach, Felix’? Kannst du mir das vielleicht sagen, Simona.“ Malena wandte sich mit einem Lachen im Gesicht zu ihrer Freundin . Sie konnte eine gewisse Schadenfreude nicht länger verhehlen: in Nikolai Ks Projekt schien nicht nur das Projekt selber nicht in Ordnung zu sein, sondern auch unter den Mitarbeitern und den so genannten ‚Freunden’ schien nicht mehr alles zu stimmen. Zwischen Oleg Storm und Nikolai K musste allerdings etwas Schwerwiegendes vorgefallen ein. Simona war aufgestanden und kam auf Malena zu. Sie legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte mit aufrichtiger Bewunderung: „Gut gemacht, Malena, super! Und Oleg Storm ist raus aus dem Projekt, oder habe ich das falsch gesehen?“ „Der Ausraster von Nikolai K hat mich total aus den Socken gehauen. Da bin ich absolut überfragt. Aber das müssen wir herausfinden. Das kann von großer Bedeutung für das Treffen im Theater sein. „Weißt du, Malena, ich habe mir überlegt, dass ich anonym als Photographin im Foyer präsent sein werde. Nikolai K hat mich ja noch nie gesehen. Ich begleite sozusagen die Teilnehmer der Führung und schieße fleißig Photos. Da fällt es auch nicht auf, wenn ich ein paar von diesem Nikolai mache. Auf diese Weise haben wir authentische Belege für das Treffen.“ „Gute Idee, Simona. Es wird langsam spannend. Mal sehen, wohin uns das Treffen führt. Das müssen wir morgen noch mal besprechen.“ „Morgen früh bin ich bei der Polizei, um nochmals eine detaillierte Aussage zu machen. Dich haben sie gar nicht vorgeladen, weil du mehr oder weniger neben dir standst.“ „Gut, Simona. Ich muss jetzt ins Bett. Ich kann keinen Gedanken mehr fassen. Wir können uns ja morgen um zwölf zum Kaffee treffen.“ „Okay, Malena, ich rufe dich an, wenn ich bei der Polizei fertig bin.“ Malena wankte ins Bett, nachdem sie Simona noch schnell zur Tür gebracht hatte, fiel der Länge nach in ihr Bett und war sofort weg.

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Tag der Veröffentlichung: 18.05.2011

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