Pünktlich zwanzig Minuten vor acht trat Nico vor die Haustür. Er rückte seinen Schulranzen auf dem Rücken zurecht, pustete eine blonde Haarsträhne aus den Augen und sah nach oben. Heute war der letzte Schultag vor den Sommerferien und der Himmel war schon jetzt tiefblau und nahezu wolkenlos. Was wollte man mehr? Pfeifend machte er sich auf den Weg und lag in Gedanken bereits in Italien am Strand. So kam es, dass er das neunjährige Mädchen mit den langen braunen Haaren erst bemerkte, als er eigentlich schon an ihr vorbei war. Erstaunt blieb Nico stehen und drehte sich um. Das war doch Lisa aus seiner Klasse. Sie stand mit eingezogenem Kopf neben einem Auto mit geöffneter Fahrertür und blickte unsicher zu Boden. Aus dem Wageninneren drang eine süßliche Männerstimme und eine große, behaarte Hand lag auf Lisas Arm. Nico stutzte. In seinen Ohren klangen die eindringlichen Warnungen der Lehrerin und seiner Mutter nach.
„Niemals, unter keinen Umständen dürft ihr euch von Fremden ansprechen lassen. Egal welche Gründe sie nennen, steigt niemals in ein fremdes Auto. Schreit laut und lauft weg!“
Unschlüssig sah er zu dem Wagen mit dem fremden Kennzeichen. Ob Lisa den Mann kannte? Leise schlich er sich näher heran und lauschte.
„Ich muss weiter, sonst komme ich zu spät zur Schule“ hörte er das Mädchen mit dünner Stimme flüstern.
Der Mann antwortete mit schmeichelnder Stimme:
„Aber du magst doch gerne Hundebabys, oder? Du musst nur zwei Minuten auf den Kleinen da hinten aufpassen. Ich telefoniere kurz, dann fahre ich dich zur Schule. Du kommst auch ganz bestimmt nicht zu spät!“
Nicos Knie wurden weich, seine Hände begannen zu zittern.
„Lauf weg! Lauf weg!“ hämmerte es in seinem Kopf. Doch was würde dann mit Lisa geschehen? Gelähmt vor Angst sah er, wie sich die große Hand um das zierliche Handgelenk des Mädchens schloss.
„Bitte lassen sie mich los!“ Lisas Stimme zitterte und sie versuchte zaghaft den Arm weg zu ziehen.
Mit dem Mut der Verzweiflung stolperte Niko hinter dem Auto hervor und schrie:
“Lass sie los! Hau ab!“
Der Fahrer zuckte zusammen und lies vor Schreck das Mädchen los. Niko stürmte vorwärts, packte Lisas Hand und rannte blindlings die Straße entlang, seine jammernde Klassenkameradin - hinter sich herzerrend. Erst als er die erstaunten Schreie der anderen Kinder hörte, hielt er an und stellte verwundert fest, dass er automatisch Richtung Schule gerannt war. Keuchend blieb er stehen und ließ die schluchzende Lisa los. Wie durch einen Schleier nahm er wahr, dass einige Jungten aus seiner Klasse lachend mit den Fingern auf ihn zeigten.
„Schaut mal, der Niko hat sich in die Hose gemacht Der ist in der vierten Klasse und braucht noch Windeln wie ein Baby.“
Das war zuviel für Niko. Er ließ sich auf den Boden fallen und fing an hemmungslos zu weinen. Eine Lehrerin wurde auf den Tumult aufmerksam und brachte die beiden Kinder zu Frau Braun, der Schulleiterin. Frau Braun jagte der erbärmliche Anblick der zwei einen gehörigen Schrecken ein. Sie bat die Lehrerin Nicos Turnbeutel vom Haken vor dem Klassenzimmer zu holen, nahm eine Schachtel Kekse aus ihrem Schrank und füllte Teewasser in den Kocher auf dem Fensterbrett. In der trockenen Turnhose fühlte sich Nico gleich viel besser und nach einer Tasse Tee und ein paar Keksen hörte auch Lisa langsam auf zu zittern. Dennoch dauerte es noch eine ganze Weile, bis sich die Beiden genug beruhigt hatten, um die ganze Geschichte zu erzählen. Frau Brauns Augenbrauen wanderten immer näher zusammen und als die Kinder zu Ende erzählt hatten atmete sie tief durch, griff zum Telefonhörer und alarmierte die Polizei. Dann ordnete sie an, dass alle Schüler und Lehrer sich so schnell wie möglich in der Turnhalle einfinden sollten. Wenig später stand die Rektorin auf der kleinen Bühne der Turnhalle und erzählte was passiert war. Sie schärfte den Kindern ein auf ihrem Schulweg nun ganz besonders vorsichtig zu sein kündigte an, dass sämtliche Eltern telefonisch informiert werden würden. Dann rief sie Nico zu sich und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
„An ihm könnt ihr euch alle ein Beispiel nehmen, er ist ein richtiger Held.“
Da rief ein Junge hämisch dazwischen:
„Schöner Held – pinkelt sich vor Angst in die Hose!“
Einige Kinder lachten und Nico starrte betreten zu Boden.
Die Rektorin sah mit zusammengekniffenen Augen in die Runde:
„Ihr glaubt Helden kennen keine Furcht? Da liegt ihr falsch. Nichts erfordert mehr Mut, als die eigene Angst zu überwinden. Wer diesen Mut aufbringt und noch dazu um einem anderen Menschen zu helfen, der ist ein wahrer Held. Denkt mal darüber nach!“
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2009
Alle Rechte vorbehalten