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Es ist Tag neun meiner persönlichen Zeitrechnung und ich treibe seit über einer Stunde im Wasser. Morgen früh habe ich einen Termin im Krankenhaus. Zehn Tage sind das Limit, dann leiten sie die Geburt künstlich ein. Doch momentan sieht es so aus, als hätte sich mein kleiner Untermieter doch noch entschieden freiwillig das Feld zu räumen. Vor ein paar Stunden haben die Wehen eingesetzt und nun liege ich in der viel zu engen Badewanne und notiere akribisch genau die Abstände zwischen den Schmerzwellen. Die Schwimmhäute, die sich langsam zwischen meinen Fingern bilden sind zwar ungewohnt, aber praktisch um warmes Wasser auf die große runde Insel vor mir zu schaufeln. Auch wenn ich hier drin zum Fisch mutiere, so kann ich doch wenigstens sicher sein, dass die Wehen echt sind. Endlich! Nur noch sieben Minuten Abstand.
Ich hieve mich mühsam aus dem Wasser und rufe ein Taxi. Der Fahrer muss auf dem Weg mehrmals anhalten, weil die Schmerzen im ruckelnden Auto unerträglich werden. Er wird von Mal zu mal blasser und sieht wahrscheinlich eine der zahlreichen Filmszenen vor sich, in denen beherzte Taxifahrer kreischende Säuglinge zur Welt bringen. Gibt es spezielle Geburtshilferatgeber für Taxifahrer?

Im Krankenhaus stellt die Hebamme fest, dass mein Muttermund verschlossen ist wie eine Auster. Sie schickt mich kurzerhand zwei Stunden schlafen. Schlafen? Trotz Schmerzmittel beiße ich bei jeder Wehe in das Kissen um meine Bettnachbarin nicht zu wecken. Nach endlosen siebentausendzweihundert Sekunden geht es endlich los. Ich bekomme den berüchtigten Einlauf und mir wird schwarz vor Augen. Eine Schwester spurtet herbei, hilft mir auf die nächstbeste Liege und hängt mich an einen Tropf um meinen Kreislauf zu stabilisieren. Im Geiste verabschiede ich mich von der geplanten Wassergeburt. Die Hebamme stellt fest, dass mein Muttermund sich immer noch stur weigert auch nur einen Zentimeter nachzugeben. Dabei habe ich mir die letzten zehn Samstagvormittage mit Nadeln im Knie um die Ohren geschlagen, weil sich durch die Akupunktur angeblich der Muttermund schneller öffnet. Ein neuer Schlauch wird angeschlossen und wehenverstärkendes Mittel tropft in meine Vene. Die Schmerzen werden auch tatsächlich stärker. Nur leider ist das der einzige Effekt. Inzwischen ist es mir vollkommen egal wie und wo ich mein Kind bekomme, Hauptsache es ist bald vorbei. Mir wird klar, warum trotz der vielen Alternativen immer noch über achtzig Prozent der Kinder ganz profan im Bett zur Welt kommen.

Plötzlich kommt Unruhe auf. Die Herztöne meines Babys werden schlechter. Die Hebamme quetscht das Rohr eines Trichters durch meinen störrischen Muttermund, sticht die Fruchtblase auf und entnimmt dem armen Wurm Blut am Kopf. Wie gut, dass ich nicht sehen kann, was sie da tut. Zum Glück ist alles in Ordnung. Der Kleine möchte endlich hinaus, stößt aber mit dem Kopf gegen den Muttermund wie gegen eine Mauer. Kein Wunder, dass sein Herzschlag ein bisschen aus dem Takt kommt. Mittlerweile bin ich am Ende meiner Kraft. Eigentlich wollte ich die Geburt ohne Narkose durchstehen – im Wasser. Jetzt liege ich hier auf dem Trockenen und jammere nach einer Peridural-Anästhesie.

Mein Muttermund hat mittlerweile beschlossen, dem Kleinen und mir nicht länger das Leben schwer zu machen und weitet sich. Jetzt kann der Anästhesist wenigstens die PDA an der Wirbelsäule legen. Das heißt er könnte, wenn ich so könnte wie er das gerne hätte. Ungeduldig herrscht er mich an, ich solle endlich einen richtigen Buckel machen, damit der Narkoseschlauch nicht ständig herausrutscht. Leichter gesagt als getan mit einem Bauch von der Größe eines Pezziballs. Im Geiste lasse ich den Arzt mit einem riesigen Kürbis unter dem Kittel Gänseblümchen pflücken.
„Hopp, hopp, noch ein bisschen tiefer Herr Doktor!“

Es folgen zwei weitgehend schmerzfreie Stunden und ein leichter Asthmaanfall. Dann setzten endlich die Presswehen ein. Schade nur, dass die PDA nicht mehr wirkt. Ich fluche und schreie: „ Ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr!“
Die Wut gibt mir die Kraft zum pressen. Dammschnitt, Dammriss – ich merke nichts davon. Ich will es nur noch zu Ende bringen - egal wie.

Dann endlich ist es geschafft. Die Hebamme fragt mich, ob ich Himbeerblättertee getrunken habe, weil ich so viel Blut verliere. Nein, natürlich nicht, schließlich habe ich einen Haufen Bücher zum Thema Geburt gelesen. Die zuständige Ärztin kommt und verbringt die nächste Stunde damit, mir eine kunstvolle Zickzack-Naht zu verpassen. Ich merke es kaum, denn ich habe meinen Sohn gesehen. Im Gegensatz zu anderen rot-verknitterten Babys ist er glatt, rosig und wunderschön. Ich kann nicht glauben, dass so etwas Wundervolles in meinem Bauch herangewachsen ist. Eigentlich kenne ich diesen kleinen Menschen noch gar nicht und doch ist er von der ersten Minute an das Wichtigste in meinem Leben. Ich halte ihn im Arm und denke an eine Textzeile aus dem Song „The string“ der Weilheimer Band „the Notwist“: „.. something to die for..“

Es ist der 16. August 2000 und ich weiß, dass ich nie mehr nach dem Sinn des Lebens fragen werde.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.02.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Tim, ohne den es diese Geschichte nicht geben würde

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