Cover

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6




1



Schon seit knapp zwei Jahren gehe ich jeden Nachmittag in die Stadtbibliothek, um mich im Sinne der Tiermedizin weiterzubilden. Meine Ausbildung zur Tiermedizinischen Fachangestellten würde nächstes Jahr enden. Doch die Zwischenprüfung stand vor der Tür, also hatte ich nur eins im Kopf: lernen.
Bis heute.
An diesem recht kalten Tag im November hatte ich Schule gehabt, was beudetet, dass ich früher zu dem mir schon vertrauten Ort gehen konnte.
Als ich meinen angesammelten Bücherstapel auf einen der vielen Lesertisch stellte und mich setzte, schien alles wie sonst auch zu sein. Guter Dinge schlug ich das erste Buch auf, um gleich darauf das nächste zu öffnen. Bald schon lagen fünf aufgeschlagene Bücher um mich herum auf dem Tisch. In der goldenen Mitte war mein Notizblock platziert. Der Stift war gezückt, die Brille zurechtgerückt. Ich verschwand in der Welt der Medizin, von der Anatomie der Katze, über den Hund bis zum Pferd.

Nach einiger Zeit machte ich der schwindenden Konzentration wegen eine kleine Pause und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Als ich mich zu meiner Tasche an meiner Seite hinunterbeugte um meine Wasserflasche hinauszuholen, hielt ich auf halbem Wege inne, als mein Blick jemanden traf, den ich hier noch nie gesehen hatte. Er saß schräg neben mir, scheinbar total vertieft in einen Roman von Leah B. Natan, was ich dem Cover des dunklen Buches entnehmen konnte. Mein Herz begann augenblicklich heftig zu pochen. Meine Augen schienen mir einen Streich zu spielen, denn einen solchen Typen hatte ich noch nie gesehen... Er schien eine Mischung aus sämtlichen Nationen zu sein. Denn sein Haar war feuerrot, während seine sanft geschwungenen Mandelaugen verrieten, dass er unmöglich reinblütig sein konnte im Anbetracht des Haares. Asiaten hatten kein angeboren rotes Haar, zumindest kam es äußerst selten vor. Zudem war seine Haut von wunderbar goldener Farbe.
Ich wusste nicht, wie lange ich schon so verharrte, doch als er das Buch zuschlug, es auf den Tisch legte und direkt zu mir rübersah, wurde mir erst bewusst, wie dämlich ich aussehen musste. Halb nach unten gebeugt, die Finger am Reisverschluss meiner Tasche und die Augen immens auf ihn gerichtet...
Schneller, als der Stuhl erlaubte, richtete ich mich auf, nur um im darauf folgenden Augenblick hintenüber zu kippen und rücklings auf dem Boden zu landen. Das Gepolter in genau dem Moment verriet mir, dass der Stuhl ebenso unglücklich auf dem Boden gelandet sein musste, wie ich.
So lag ich also da, alle Viere von mir gestreckt und mit weit aufgerissenen Augen, wie eine Schildkröte. Gelächter ertönte, aber auch entrüstetes Murmeln.
„Mist...“, fluchte ich zischend und versuchte mich aufzurichten. Das hatte ich auch geschafft, allerdings wünschte ich mir liegen geblieben zu sein, denn plötzlich stand ER vor mir. Erst sah ich nur die Sneakers, dann seine hinter der Jeans verborgenen Knie... und schließlich sein Gesicht, als er sich vor mich hockte und aus strahlend blauen und belustigten Augen ansah. Ich hatte das Gefühl zu fallen... direkt in seine Augen, die noch tiefer zu sein schienen, als das Meer. Mein letzter Gedanke war: Wie können diese Augen nur so schön sein?, als alles schwarz wurde.

„Sie hat keine Gehirnerschütterung. Es scheint lediglich an dem Aufprall gelegen zu haben. So wie es aussieht, scheinen Sie ihr im wahrsten Sinne des Wortes den Verstand genommen zu haben, Herr O’Brien.“ Der Angesprochene lachte vergnügt.
„Das scheint erfreulich, jedoch war es nicht meine Absicht ihr zu schaden.“ Sein Blick schweifte ab und blieb auf der jungen Frau hängen, welche tatsächlich in Ohnmacht gefallen war, als sie ihn sah. „Irgendwie träumt doch jeder Mann davon, dass so etwas passiert, wenn eine Frau einen sieht.“
Der Arzt schnaubte belustigt. „Erzählen Sie mir nicht, Sie seien es nicht gewohnt...“ Eine Antwort erhielt der Arzt nicht.

Als ich die Augen öffnete, sah ich ein grelles Licht, direkt vor mir und mein erster Gedanke war: Ich bin tot!
Als ich sie schloss und wieder öffnete, war der zweite Gedanke: Verdammt, was macht DER hier!?
Die blauen Augen sahen mich nicht wie vorher belustigt, sondern besorgt an. Und das gefiel mir nicht besonders. Ich wollte mich aufrichten, wurde aber zurückgehalten. Wie sollte es auch anders sein...
„Nix da, liegen bleiben.“ Diese Worte aus seinem Munde waren melodische, fast erotische Klänge und schickten mich in eine rosarote Welt. Nach einer Weile erst wurde mir klar, was er da überhaupt gesagt hatte.
„Sie wagen es mir Befehle zu erteilen? Wir kennen uns kein bisschen und Sie sagen mir, was ich zu tun habe...“ Ich wurde durch einen Finger zum Schweigen gebracht. Moment... Er hielt mir einfach den Mund zu!?
Der in diesem Moment wohl größte Fehler ist, den Kopf ruckartig zu bewegen, nachdem man hart auf eben diesen gefallen war. Aber so schusselig und unbedacht ich nun mal war... riss ich den Kopf zur Seite um seinem Finger zu entkommen und schrie auf vor Schmerz, welcher von der linken zur rechten Schläfe zuckte, um sich schließlich hinter der Stirn zu sammeln und fröhlich dagegen zu pochen.
„Tja, das haben Sie nun davon, junge Dame“, schallte seine dunkle Stimme zu mir rüber.
„Sehr hilfreiches Kommentar, Herr Vampirroman-Leser“, zischelte ich zurück und funkelte ihn wütend an... noch wütender, als er tatsächlich anfing, fies zu grinsen. Knurrend ließ ich meine Hand zu meiner Stirn gleiten und schloss wieder die Augen.
„Nun mal gaaanz langsam. Immerhin war ich es, der Sie hierhergefahren hat, als Sie wie ein Sack zurück und in Ohnmacht fielen.“ Er lehnte sich auf dem Besucherstuhl zurück und verschränkte die Arme. „Sie könnten wenigstens ein bisschen dankbar sein. Natürlich hätte ich Sie auch da liegen lassen können, aber da ich neugierig aufgrund ihrer anhaltenden Beobachtung wurde...“ Er hielt inne und beugte sich vor, um meinem gleichmäßigen Atmen zu lauschen. „Na sowas...“, sagte er dann und erhob sich. „Da schläft sie einfach ein.“ Mit einem geflüsterten Abschiedsgruß verließ er dann das Krankenzimmer.
Ich öffnete die Augen und sah zur Tür. „Ich bin dankbar... und wohl ziemlich lachhaft.“ Mich über mich selbst ärgernd drehte ich mich auf die Seite und musste einen Moment lang die Augen zukneifen. Solche Kopfschmerzen hatte ich noch nie... Ich hoffte inständig, nur eine Nacht hierbleiben zu müssen. Denn am nächsten Tag sollte meine Zwischenprüfung stattfinden. Und... Auch wenn ich mich wohl zur Lachnummer gemacht hatte, wollte ich ihn unbedingt wiedersehen...

Das ich ihn so bald wiedersehen würde hatte ich nicht erwartet...


2


Am nächsten Morgen fragte man mich nach meinem Befinden. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass es mir besser ginge. Die Medikamente die sie mir nach dem Frühstück gaben, hatten es wirklich in sich. Ich machte einen Aufstand, dass ich unbedingt rausmusste, da ich eine wichtige Prüfung am Abend haben würde. Nach langem Gezeter meinerseits und den Vernunftbeklärungen seitens des behandelnden Arztes, gab dieser schließlich auf. Nach wohl stundenlanger Aufklärung der Nebenwirkungen der Medikamente die er mir mitgab durfte ich endlich ins Taxi steigen und Heim fahren.
Die nahende Prüfung bedeutete für mich: lernen! Leichter gesagt, als getan. Die Schmerzen kehrten zurück, die Medikamente hatten aufgehört zu wirken. Höchstwahrscheinlich hatte ich meinen Schädel überstrapaziert und das rächte sich. Mit ungutem Gefühl legte ich mich also ins Bett, um mich auszuruhen.

Dem Wecker sei Dank bekam ich es fertig frühzeitig aufzustehen und mich fertig zu machen. Das ungute Gefühl und die Schmerzen wichen der Übelkeit. Ich war aufgeregt und hoffte inständig, ich würde bestehen.
Der Taxifahrer lieferte mich pünktlich an der Berufsschule ab und erleichterte mein Portemonnaie abermals um einige Euro, wobei mir einfiel, dass mein Fahrrad noch bei der Bibliothek in der Travemünder Straße stand…
Als wäre das nicht genug gewesen, eilte ich trotz überschüssiger Zeit ins Gebäude und fiel aus allen Wolken, als ich IHN vor dem Prüfungsraum auf der Bank sitzen sah. Wie am Tage zuvor, war er in ein Buch vertieft und bemerkte mich erst gar nicht. Doch als ich den lautdämpfenden Teppich im Flur verließ und die Fliesen betrat, sah er wegen des Klackerns meiner Stiefel auf. Wie angwurzelt blieb ich stehen und erschlug mich innerlich für die Wahl meiner Fußbekleidung. Ich lächelte entschuldigend und zugleich beschämt und setzte mich auf die einzige Sitzgelegenheit in Nähe des Prüfungsraumes... direkt neben ihn.
„Guten Abend“, sagte er gut gelaunt und mit einem Lächeln. Ich lächelte zurück... meine Stimme schien verschwunden zu sein. „Ich hoffe, es geht Ihnen schon besser. Wäre nicht so schön, würden Sie die Prüfung aufgrund Ihrer Kopfschmerzen nicht bestehen.“ Ich nickte nur und fragte mich, was er hier zu suchen hatte und woher er wusste, dass ich hier meine Prüfung zu machen hatte. War er vielleicht auch Auszubildender in diesem Bereich?
Die gesamte Zeit über hatte er nicht aufgesehen und weitergelesen.
Als dann alle eingetroffen zu sein schienen, erhob er sich und verstaute sein Buch in seiner Tasche. „Nun gut. Wollen wir anfangen?“ Er richtete die Worte an alle Schüler und versetzte somit nicht nur mich in Staunen. Mit einem breiten Grinsen zückte er ein nicht kleines Schlüsselbund, fand den richtigen Schlüssel auf Anhieb und schloss die Tür zum Prüfungsraum auf. Mir fiel die Kinnlade beinahe schon auf die Knie... Er war unser Prüfer!?
Ja, dem Anschein nach schon. Er platzierte seine Tasche auf dem Stuhl und seinen Hintern auf dem Pult und wartete, bis sich alle an einen ihm zugewiesenen Tisch gesetzt hatten, auf welchem schon die Prüfungsblätter und ein Stift bereit lagen. Schließlich stand er wieder auf. „Dies ist die Zwischenprüfung für die Auszubildenden im Bereich Tiermedizin und Tiermedizinische Wissenschaften. Mein Name ist Daisuke O’Brien und ich werde für heute Abend Ihr Prüfer sein. Wenn ich es sage bitte ich Sie die Blätter umzudrehen, Ihre Namen in die linke obere Ecke zu schreiben und die schriftlichen Aufgaben innerhalb von hundertzwanzig Minuten zu lösen. Ist die Zeit abgelaufen, legen Sie Ihre Stifte unverzüglich zur Seite. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Glück! Sie dürfen anfangen.“ Er setzte sich wieder auf das Pult und nahm sein Buch zur Hand. Doch ehe er es aufschlug, warf er mir einen Blick zu. Ich bemerkte es nur aus dem Augenwinkel, jedoch bin ich mir sicher, dass er tatsächlich mich angesehen hatte. War er vielleicht besorgt um mich? Einerseits hoffte ich es, andereseits hatte ich seine Gesichtszüge nicht gesehen und war unsicher, ob er mich mit seinem Blick nicht sogar ausgelacht hatte.

Schließlich forderte er dazu auf, die Stifte niederzulegen und die Bögen wieder umzudrehen. Ich atmete tief ein und lange wieder aus. Ich hatte es geschafft. Alle Aufgaben waren gelöst und ich hatte ein gutes Gefühl. Jedoch fiel mir in dem Moment, da ich aufsah und ihn erblickte, ein, dass er es sein würde, der sich die Bögen durchsehen würde. Der Verzweiflung nahe griff ich mir an die Schläfen und ließ den Kopf hängen.
„Frau Laurent? Geht es Ihnen nicht gut?“ Ich erschrak und hob den Kopf wohl etwas zu schnell. Kurzweilig wurde mir schwarz vor Augen, doch lichtete sich die Düsternis schnell wieder, ließ allerdings ein ganz fieses Pochen im Hinterkopf zurück.
„Ja...“, murmelte ich, mir den Nacken massierend.
„Gut. Darf ich nun Ihre Prüfungsblätter an mich nehmen?“ Leises Lachen tönte an meine Ohren. Mir in Gedanken eine Ohrfeige verpassend reichte ich ihm die Blätter, auf welchen ich gelegen hatte ohne aufzusehen. Ich wollte endlich nach Hause, mich verkriechen und nie mehr hervorkommen.
„Okay. Ich hoffe sehr, dass Sie alle Ihr bestes gegeben haben. Sie sind nun entlassen und werden nächste Woche Ihr Ergebnis erhalten. Wünsche noch einen schönen Abend.“ Mit den Worten standen alle auf und gingen. Nur ich blieb sitzen. Eine noch viel schlimmere Übelkeit als die vorige machte sich in mir breit. Ich wollte aufstehen und gehen, aber der folgende Schwindel verhinderte dies. Da saß ich nun auf meinem Stuhl, einem Häufchen Elend gleich und wieder einmal alleine mit ihm.
„Muss alles auf einmal kommen...“, fragte ich mich selbst und ließ meinen Kopf auf den Tisch sinken.
„Tja, es kann nicht immer alles perfekt sein, oder?“ Da war sie wieder, diese volltönende Stimme, die mir kalte und heiße Schauer über den Rücken laufen ließ. Bildete ich mir das nur ein, oder hörte sich seine Stimme anders an, wenn er mit mir sprach? „Wollen Sie nicht nach Hause?“
„Würde ich liebend gerne, aber mein Körper scheint gerade keine Lust zu haben, sich zu bewegen.“ Ich nuschelte diesen Satz direkt auf die Tischplatte, aber anscheinend hatte er es trotzdem verstanden.
„Na, dann trage ich sie hinaus. Ich glaube nicht, dass Sie die heutige Nacht hier verbringen wollen, zudem dies auch nicht erlaubt ist.“ Ich hörte, wie er auf mich zukam und hob so schnell ich konnte den Kopf um ihn anzusehen.
„Schon okay, ich gehe ja schon...“ Gesagt, getan? Nein. Gesagt, getan und fast umgekippt... Hätte er mich nicht aufgefangen.
„Ja, das reicht als Demonstration. Kommen Sie, ich stütze Sie und bringe Sie nach Hause.“
Waaaaaas!? Nach Hause bringen... Von ihm... Nein!
„Ehm... Hören Sie, ich denke, dass es gleich wieder gehen wird. Helfen Sie mir bitte nur hinaus. Wenn ich an der frischen Luft bin, wird’s wieder gehen.“ Ich sah auf. Er grinste...
„Glauben Sie wirklich, Frau Laurent?“ Sein Blick glitt zu mir hinunter. Von meinen Augen über meinen Busen und zurück.
„Ja, jetzt erst recht!“, fauchte ich und riss mich von seinem stützenden Arm los. Taumelnd und mich an die Tischkante krallend griff ich nach meiner Tasche und starrte ihn wie ein trotziges Kind an. „Nicht dass Sie denken, ich hätte keinen Respekt vor Ihnen. Aber wer sich einen solchen Blick erlaubt, hat den Respekt seiner Schülerinnen gar nicht verdient.“
Stolpernd steuerte ich die Tür an, nicht auf das Flackern vor meinen Augen achtend. Bis ich auf halbem Wege aufs Neue in seine Arme fiel und mich erbrach.

Kann es noch peinlicher werden? Nein, Gott sei Dank nicht.
Er hat mich also mitgenommen, meinen gemurmelten Wegweisungen zu meiner Wohnung vertraut und mich heil davor abgesetzt. Während ich nach meinem Schlüssel suchte stand er hinter mir, bereit mich aufzufangen. ‚Nur für den Fall, dass Sie wieder den Drang verspüren den Boden zu küssen’, hatte er gesagt. Dies entlockte mir tatsächlich ein kleines Lachen, welches eher halbherzig ausfiel, da ich Angst hatte, das Pochen in meinem Schädel könne sich dadurch verstärken.
Endlich hatte ich meinen Schlüssel gefunden, drehte mich aber noch einmal zu ihm um. „Vielen Dank für alles. Ich hätte das schon früher tun sollen, aber...“
„Sie sind zu stolz“, beendete er dreisterweise meinen Satz und grinste. Statt mich aber aufzuregen, lächelte ich nur schwach und nickte sogar. Ja, das schien zuzutreffen. „Ist schon in Ordnung. Ist ja nicht so, als würde ich nicht das Gleiche von anderen erwarten. Ich helfe gerne, mit der Hoffnung, dass es andere auch für mich tun würden.“ Okay, dieser Satz ließ mich nun wirklich fast aus allen Wolken fallen. Soetwas hatte bisher kein anderer Mann gesagt, zumindest nicht im richtigen Leben.
„Ja, das stimmt wohl.“ Mehr fiel mir nicht dazu ein... und ich hasste es.
„Ich würde es befürworten, wenn Sie sich lieber noch einmal ins Krankenhaus begeben und durchchecken lassen würden. Anscheinend haben die Ärzte etwas übersehen, denn es sieht ganz nach einer Gehirnerschütterung aus.“
„Na ja, ich muss zugeben, dass ich meine Entlassung praktisch erzwungen habe. Ich wollte schließlich nicht die Zwischenprüfung verpassen.“ Ja, das passte zu mir. Meine eigene Gesundheit kommt erst nach meinen Pflichten.
Er nickte und machte einen machtlosen Eindruck. „Sie scheinen ein willensstarker Mensch zu sein. Schlecht ist das nicht, aber zuviel davon schon.“ Er drehte sich um und ging zu seinem Wagen. „Also denn, ich werde mich ihren Prüfungsblättern als erstes widmen. Mal schauen wie Sie abgeschnitten haben, ansonsten ließe es sich sicher einrichten, Sie nachschreiben zu lassen. Immerhin waren Sie in keinem guten gesundheitlichen Zustand.“
„Das wäre toll, dankeschön.“ Ich lächelte und stand noch lange vor meiner Haustür, den letzten Abend Revue passieren lassend.


3


Wieder brach ein neuer Morgen an. Ich packte meine Sachen und rief mir ein Taxi, das mich zum Krankenhaus bringen sollte. Ja, ich folgte dem Ratschlag des jungen Doktor O’Brien und lieferte mich selber ein. Denn nach der letzten Nacht war ich mir meiner Gesundheit zu hundert Prozent unsicher. Geschlafen habe ich kaum, stattdessen Medikamente gefuttert, nur um sie kurz darauf wieder zu erbrechen. Das Hämmern in meinem Schädel wollte einfach kein Ende nehmen... Dementsprechend schien ich auch auszusehen, denn der Taxifahrer erschrak fast, als er aus dem Wagen stieg um mein Gepäck einzuladen. „Junge Frau, Sie sehen aus, als hätten Sie die letzten drei Nächte kein Auge zugetan.“
Ich verdrehte die Augen. „Eigentlich war es nur diese eine letzte Nacht, aber danke für Ihr Mitgefühl. Im Krankenhaus werde ich sicher genesen.“ Ich stieg ins Auto und sprach kein einziges Wort mehr bis wir ankamen.

„Es freut mich, dass Sie nun doch zur Vernunft gekommen sind, Frau Laurent. Es war leichtsinnig von Ihnen schon so früh zu gehen.“
„Ja ja, ich weiß. Diese Jugend von heute, weiß einfach nicht was gut für sie ist und macht was sie will... Bla bla bla. Ob es dabei um meine Ausbildung und somit meine Zukunft ging ist in dem Falle egal. Könnten Sie mir jetzt bitte die Diagnose mitteilen, die ich ohnehin schon weiß?“ So, das hatte wohl gesessen. Er verriet mir, dass ich eine Gehirnerschütterung hätte. Was für eine Überraschung! Und schließlich ließ er mich allein, mit meinem Becher voller Pillchen und einem mit einem bitteren Säftchen. Ja, juhu, noch mehr Medikamente! Dies war für das und das für dies. Ich hatte nicht richtig zugehört, hauptsache meine Schmerzen würden vorbei gehen und ich wieder schnell gesund werden, um mich meiner Ausbildung widmen zu können.
Da lag ich dann also, mit einem Buch auf meiner Brust, auf das ich keine Lust hatte und starrte an die weiße Decke. Es war nun früher Nachmittag und ich wünschte mir nie hierher zurückgekehrt zu sein.

Der nächste Morgen aber belehrte mich eines besseren, denn ich merkte, dass ich diese Nacht wirklich gut geschlafen hatte. Gut erholt und halbwegs schmerzfrei verputzte ich das spärliche und irgendwie geschmacklose Krankenhaus-Frühstück mit großem Appetit. Könnte es sein, dass ich durch die Pillchen und das Säftchen nicht mehr schmecken konnte? Na, auch egal. Meine Schmerzen waren in den Hintergrund gerückt und ich war gut drauf. Eine gute Gelegenheit raus und etwas spazieren zu gehen.
Da ging ich also im Krankenhauspark spazieren und erfeute mich mehr oder weniger am diesigen Wetter... Als ich beschlossen hatte, raus zu gehen, hatte die Sonne geschien. Nun war sie vor mir geflohen. Aber egal, ich war trotzdem gut drauf und setzte mich auf eine hübsche Bank, wo ich dem Rauschen des kalten Winterwindes lauschte.
Bis mich eine innere Stimme dazu bewegte nach links zu schauen und IHN zu sehen. Okay, ich gebe es zu. Ich mag den Typen echt gerne, aber so langsam hatte ich wirklich das Gefühl, er würde mich verfolgen... Da ging er, kam auf mich zu. Das rote lange Haar trug er an diesem Tage offen und es tanzte im Wind, wie es die bunten Blätter im Herbst getan hatten. Ich war mir sicher, dass er wusste, welch einen Auftritt er da gerade bot. So majestätisch und selbstbewusst können nur die Prinzen und Helden im Fernsehen auftreten, dachte ich zumindest. Und sieh mal einer an: er hatte einen Blumenstrauß dabei. Wollte er mich besuchen oder war zufällig noch jemand hier, den er kannte? Schließlich hatte ich ihm nicht verraten, ob ich nun freiwillig wieder ins Krankenhaus gehen würde, oder nicht. Ich hätte wohl noch Zeit gehabt zu fliehen... Aber vielleicht können es einige nachvollziehen, wenn ich absolut schnulzig sage, ich war so geblendet von seinem inneren Licht, dass ich mich nicht rühren konnte. Das allerbeste an der ganzen Sache war wohl, dass er tatsächlich die Sonne mitbrachte. Plötzlich wichen die Wolken beiseite und gewährten der Sonne freien Weg auf die Erde. Unfassbar und wie im Märchen. Mein strahlender Ritter! Fehlte nur noch das weiße Ross...
Und dann stand er vor mir.
„Schönen guten Tag, Frau Laurent“, begrüßte er mich gut gelaunt. „Ich bin erleichtert, Sie tatsächlich hier anzutreffen. Geht es Ihnen wieder gut?“ Er hielt mir den Strauß vor die Nase.
Größer hätten meine Augen nicht werden können. Er war also auf blauen Dunst hierhergekommen und hatte sogar Blumen mitgebracht! Okay, der Typ war verrückt. Und das gefiel mir.
„Ich... ähm... Nun, ja. Danke...“ Ich hatte mir, als er auf mich zugekommen war, fest vorgenommen nicht rot zu werden. Pläne ändern sich manchmal in letzter Sekunde...
„Das freut mich.“ Er lächelte freundlich und setzte sich zu mir. Schnell überlegte ich, ob ich mich geschminkt hatte... Sicher sah ich aus, wie ein Wrack. „Und da es Ihnen wieder gut geht, würde ich Ihnen gerne eine Frage stellen.“
„Ja?“, piepste ich und hätte mich gerne in Luft aufgelöst. Herr Dr. O’Brien lehnte sich zurück und sah mich an.
„Warum haben Sie mich in der Bibliothek so angestarrt?“
Darauf hatte ich gewartet... und trotzdem kam diese simple Frage zu plötzlich. Nervös an meinem Strauß nestelnd dachte ich nach.
„Also... Das war, weil...“ Ich warf einen Blick zur Seite und stellte fest, dass er mich regelrecht beobachtete. Also sah ich schnell wieder weg. „Nun... Das war, weil ich Sie noch nie dort gesehen habe. Zumindest nicht um diese Uhrzeit.“
„Hm.“ Mehr sagte er nicht dazu, was mich verwirrte und wieder zu ihm schauen ließ. Er sah mich immer noch an... fast lauernd, die Augen leicht zusammengekniffen. „Ja, ich gehe nicht oft dorthin. An diesem Tage war mir so danach, es ist wirklich gemütlich dort. Nur deshalb?“
„Ja... Nein... Ach, warum interessiert Sie das überhaupt?“ Ich war einem Nervenzusammenbruch nahe. Dem Himmel sei Dank ließ er von der Beobachtung ab, lehnte sich wieder zurück, wobei er die Arme über die Lehne der Bank breitete und richtete die Augen geradeaus auf einen der kahlen Bäume.
„Und ich hatte schon den Eindruck, ich könnte ihnen optisch gefallen. Aber da dem nicht so ist...“
Ein entsetztes Keuchen entfuhr mir und ich vergrub schnell mein Gesicht in dem Strauß, der Gott sei Dank groß genug war, um es zu verbergen. Mir schoss das Blut ins Gesicht.
„Alles in Ordnung?“, fragte er vorsichtig und legte, wohl aus Besorgnis, eine Hand auf mein Knie – was mir aber den Rest gab. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und ließ die Blumen fallen. Schnell las ich sie wieder auf.
„Ja ja, natürlich! Ich muss jetzt wieder rein... Die wollten... noch eine Untersuchung durchführen und... Vielen Dank, Dai… Herr O’Brien!“ Ich floh.


4


Am Abend kehrten die allesverzehrenden Kopfschmerzen zurück und ich war wie ausgeschaltet. Schlafen konnte ich nicht, also lag ich mit stetig wachsender Langeweile im Bett und versuchte die Poren an der Decke zu zählen.
Bald aber lenkte mich die Erinnerung an das Treffen mit Daisuke ab. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, ihn beim Vornamen zu nennen? Eigentlich ist das kein Problem, denn einen ganz so großen Altersunterschied können wir nicht haben. Trotzdem war er an diesem Abend mein Prüfer, mein Vorgesetzter. Im Grunde ist er das noch immer, aber...
„Herrgott nochmal! Wie kann der überhaupt in seinem Alter einen Doktortitel besitzen!?“ Ich hatte nicht bemerkt, dass ich das laut ausgesprochen habe, aber die Schwester, die ins Zimmer kam, sah mich mit einer Mischung aus Belustigung und Besorgnis an.
„Meinen Sie etwa Dr. Herrmann? Nun, der hat...“
„Nein, nein... Von dem war nicht die Rede. Der ist auch schon alt genug für einen Doktortitel.“ Hehe, ich freute mich über ihren Gesichtsausdruck. Dieses Entsetzen. Wie kam es nur, dass ich so fies war... Lag es an der Langeweile? Wie dem auch sei, ich schickte sie hinaus, hatte partout keine Lust mein Bett zu verlassen, damit sie es neu beziehen konnte. Das hätte sie schließlich auch heute Vormittag tun können, als ich ohne Erlaubnis spazieren war.
Mir fiel schließlich ein, dass es gar nicht so abwegig war in so jungen Jahren bereits den Titel des Doktors inne zu haben. Es gab einige junge Ärzte…
Mein Blick verweilte den gesamten Rest des Abends bis in die Nacht hinein auf dem Strauß, welchen er mir schenkte. Erst da bemerkte ich, dass es Rosen waren. Blumen der Leidenschaft und Liebe…

Am nächsten Tag war er wieder da, der begehrenswerte Doktor mit der erotischen Stimme und dem hübschen Gesicht. Ich wünschte mir, in dem Moment da er den Raum betrat, ich wäre nicht mehr da. Am liebsten aus dem Fenster springen... Kennt sicher so ziemlich jeder, dieses Gefühl. Er ließ sich einfach neben mir auf dem kleinen Zweisitzer nieder und füllte praktisch den gesamten Raum mit seiner bloßen Anwesenheit.
„Gefallen Ihnen die Rosen? Ich dachte, sie würden Sie etwas aufmuntern. Ein solcher Ort ist immer recht bedrückend, nicht wahr?“
„Ja, da haben Sie recht. Sie gefallen mir wirklich sehr.“
„Sie sind aus meinem Garten. Ich kaufe keine Blumen, die wildwachsenden duften wenigstens noch.“ Er machte eine Pause. Sein Blick verweilte auf den Rosen, bis er aufsah. „Ach, ich habe noch etwas für Sie.“ Geschäftig kramte er in seiner Tasche und zog einige Bögen Papier heraus. Ich erkannte sie schon als meine Prüfungsarbeit. „Sie haben mit Bravour bestanden!“, verkündete er feierlich und gab mir meine Arbeit in die Hände. Ich konnte meinen Augen kaum trauen, als ich das Endergebnis sah.
„Das... Ich habe bestanden!“ Es war nur ein Reflex... Ich wollte ihn nicht umarmen, es passierte einfach. Eine kleine Weile brauchte ich, um das zu bemerken. Nämlich erst dann, als er die Umarmung erwiederte. „Oh! Entschuldigung!“ Schnell löste ich mich von ihm und wieder wurde ich rot, machte einer Tomate Konkurrenz.
„Macht doch nichts“, lachte er und stand wieder auf. „Es freut mich, Sie so wohlauf zu sehen. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie wieder nach Hause können. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.“ Dieses leicht schräge, schelmische Lächeln werde ich nie mehr vergessen. Auch dass er mir zugezwinkert hatte, bevor er die Tür hinter sich zumachte...
„Aber... warum soll ich das tun?“, fragte ich die Tür. Ich wusste, dass er schon weg war. Betrachten wir es einfach mal als eine richtig verspätete Frage, die mir einfach nicht früher über die Lippen kommen wollte.
Mit absolut gemischten Gefühlen ließ ich mich zurücksinken und schlug mich wieder einmal innerlich. Ich wollte ihn schon immer mal gefragt haben, wie es kommt, dass er als Asiate so himmlisch blaue Augen und so feuerrotes Haar haben konnte. Eigentlich konnte man es sich denken. Er war sicher ein Mischling... „Faszinierend...“, murmelte ich und schloss die Augen, um ihn mir noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

Endlich, ich konnte wieder nach Hause. Mir ging es gut und ich musste nur wenige Medikamente schlucken. Immer dann wenn es schlimmer und unerträglich wurde.
Es war nun eine ganze Woche vergangen. Seit dem letzten Besuch, wo er mir mein Ergebnis überreicht hatte, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich fragte mich, warum.
„Wahrscheinlich hatte er einfach zu viel zu tun“, sagte ich zu mir selber, um mich zu beruhigen. Aber die Befürchtung, dass ich ihn durch meine Umarmung geschockt haben könnte, ließ sich einfach nicht abschütteln.
Schließlich stieg ich aus dem Taxi und stand vor meiner Wohnung. „Zu Hause...“, flüsterte ich erleichtert und ging rein.
Das erste was ich tat: baden. Diese ungemütlichen Wannen im Krankenhaus... Da konnte man einfach nicht entspannen.
Das zweite: eine richtige Mahlzeit! Ja, essen was ich will, wie ich will und wo ich will. Und noch während ich in meinem Bett saß, Talkshows schaute und meine Nudeln mit Ketchup aß, kamen wieder die Gedanken.
War das jetzt der Anfang oder schon das Ende? Er hatte mich besucht, mir Rosen mitgebracht, sich um mich gesorgt... Allerdings war er in den letzten Tagen meines Krankenhausaufenthaltes nicht mehr zu Besuch gekommen.
„Sicher habe ich ihn verschreckt... Ach, was bin ich auch so tollpatschig und dumm!?“ Der Appetit war mir vergangen und ich hatte den Drang rauszugehen. Vielleicht würde er mir ganz zufällig über den Weg laufen.

Nun, er lief mir nicht über den Weg. Durchgefroren und mit schmelzendem Schnee im Haar kam ich wieder nach Hause. Obwohl es schon März war, war es doch noch sehr winterlich vor der Haustür.
Mit einem heißen Tee und meiner Bettdecke kuschelte ich mich auf mein Sofa und sah Fern. Morgen würde Samstag sein. Vielleicht ließe sich eine Kollegin überreden, auszugehen.

„Nicht? Das ist schade, ich weiß nämlich nichts mit meinem Wochenende anzufangen“, sprach ich halb verzweifelt in den Hörer.
„Tut mir wirklich Leid, Süße. Aber ich habe es meinen Eltern versprochen und da ich sie schon recht lang nicht mehr gesehen habe...“
„Ja, kann ich verstehen. Na ja, wird schon werden. Ich wünsche dir und deinen Eltern viel Spaß!“
„Danke. Beim nächsten Mal, ja?“
„Okay. Machs gut!“
„Bye bye, Robbie!“ Ein Geräusch tönte an mein Ohr, was sich sehr nach einem Bussi anhörte. Na, wenigstens eine kleine Aufmunterung. Mit einem Lächeln legte ich auf und ließ mich auf einen Küchenstuhl sinken.
„Na denn... Was macht eine Frau, wenn sie Sehnsucht nach einem ihr halbwegs unbekannten Mann hat und sich einsam fühlt?“ Sie ist der Verzweiflung nahe, das weiß ich jetzt.


5


Der Montag ist wie ein kompletter Neustart, wenn man knapp zwei Wochen im Krankenhaus war. Ich ging zur Arbeit und freute mich riesig, über den Empfang den man mir bot. Und das Geschenk, welches sie mir überreichten... Nun, ich gebe Tipps. Es ist männlich, unheimlich flauschig, sehr klein, sehr süß und es bellt.
Ich freute mich natürlich. War nur sehr erstaunt ein solches Geschenk zu erhalten. Ich nannte ihn Mojo, wie der Hund von Lestat de Lioncourt, der Held aus der Vampirromanreihe von Anne Rice.

Nun hatte ich also einen Hund. Und ich weiß, wer auf diese verrückte Idee gekommen war, mir einen solchen Gefährten zu schenken.
„Komm schon, gib’s zu, Amy!“, lachte ich und piekste meiner liebsten Kollegin in die Seite.
„Ja ja, schon gut, es war meine Idee. Aber komm schon, erst einmal ist er echt niedlich und zweitens, er wird dir sicher ein guter Freund werden. Außerdem gibt es kaum Tierärzte die nicht wenigstens Fische haben.“ Da hatte sie wohl recht. Ich war sehr dankbar.
Einen Haken gab es aber bei der Sache, sich einen Hund im Welpenalter ins Haus zu holen... Denn leider sind die kleinen noch nicht stubenrein. Was für eine Sauerei, aber bald schon wird er verstehen, was es heißt, Bescheid zu geben, wenn da etwas ansteht.

Wieder war eine Woche vergangen und ich erinnerte mich eines Abends, dass ich mich bei ihm melden sollte, wenn ich wieder zu Hause wäre. Schimpfend suchte ich also nach meinem Telefonbuch... Mojo tappelte ständig hinter mir her. Ich hatte bald schon Angst, ihn in meiner Nervosität platt zu treten, also stopfte ich ihn mir in meine Bauchtasche am Pullover.
Nach langer, langer Suche hatte ich es wiedergefunden... halb zerfleddert. „Guck nicht so unschuldig, ich weiß, dass du das warst!“ Wohl als Entschuldigung gab Mojo mir gleich tausend Küsschen auf die Nase, ehe ich ihn wieder runterließ.
„O’Brien... O... Ooooo... Hab ich dich!“ Mit rasendem Herzen tippte ich die Nummer ein... und drückte auf Auflegen. Ein Kloß hing mir im Hals, der nicht weggehen wollte. „Ach Mojo, warum ist es so schwer!?“ Ein Fiepsen gefolgt von einem kurzen Kläffer. „Du hast Recht, ich sollte mich nicht so anstellen und es einfach tun!“ Ich stand auf, drückte auf Wahlwiederholung... und legte erneut nach dem ersten Freizeichen auf. „Aaaaaargh!“ Nach dem Raufen meiner Haare sah ich aus wie Struwelpeter, was sich leicht feststellen ließ, da ich in so gut wie jedem Raum mindestens zwei Spiegel hängen oder stehen hatte.

Nach einem Kaffee und viel innerer Vorbereitung nahm ich das Telefon erneut zur Hand. Ich wartete... und wartete... Bis eine Frau ans Telefon ging.
„Im Hause O’Brien, guten Abend. Was kann ich für Sie tun?“
„Äh... Also... Mein Name ist Laurent. Ich... Ist Herr O’Brien im Hause?“ Verdammt, ich fragte mich, wer sie war. Und warum meldete sie sich mit so... geschwollen Worten?
„Nein, tut mir Leid, Frau Laurent. Sie können sich mit Ihrem Tier an seine Vertretung Dr. Schmidt wenden. Ich könnte dem Herrn auch etwas ausrichten, wenn er zurückkehrt.“
„Nein... Können Sie mir sagen, wo er sich gerade aufhält? Oder ob er ein Handy dabei hat?“
„Der Herr Doktor ist zurzeit nicht im Lande. Er hat geschäftliches in Japan zu erledigen. Und auch, wenn er ein Handy hat, steht es mir nicht frei, Ihnen die Nummer mitzuteilen.“
„Na denn... Wann wird er wieder da sein? Ich würde mich lieber persönlich mit ihm unterhalten.“ Ich war so langsam gereizt.
„Nun, er wird wohl dieses Wochenende zurück sein. Ich werde ihm ausrichten, dass Sie angerufen haben. Auf wiederhören.“
„Hey!“ Sie hatte aufgelegt. „Blöde, alte...“ Ich drehte mich zu Mojo um, nahm ihn auf den Arm und hielt ihm die Ohren zu, um einige richtig deftige Schimpfwörter vom Stapel zu lassen.
Sobald ich mich wieder beruhigt hatte, setzte ich mich in die Küche und begann aufs Neue zu grübeln. Was hatte er denn so wichtiges in Japan zu erledigen? Hatte es etwas mit Tieren zu tun? Immerhin war er er Tiermediziner. Oder war noch etwas, was ich noch nicht in Erfahrung gebracht hatte?
„Ich würde so gerne mal nach Japan...“, sprach ich meinen Wunsch laut aus und seufzte. Ja, ich wollte wirklich dort hin. Schon seit ich fünfzehn war, war es mein Wunsch gewesen, dieses Land zu besuchen. Seit ich diesen Wunsch hegte, befasste ich mich auch mit der Sprache, der Kultur und des Lebens in Japan. Doch wenn kein Wunder geschah und ich ganz plötzlich reich werden würde, würde ich mir diesen Wunsch wohl nie erfüllen können. Oder aber... Ich würde einen reichen Mann heiraten, der zur Hälfte Asiate war und mich mitnahm, um mir sein Land zu zeigen. „Na, nun reicht es aber wirklich mit den Träumereien, Robynne!“ Ich schlug es mir aus dem Kopf und machte mich daran, meine Wohnung auf Vordermann zu bringen.

Der nächste Tag eröffnete sich mir als eisig kalt und diesig. Meinem Körper schien es genausowenig zu gefallen, wie meiner Seele. Völlig ausgelaugt, wie nach einer Party, stieg ich sogar in den Bus, um zur Praxis zu fahren. Rad fahren war einfach undenkbar!
Amy und Dr. Madlon waren in wildem Aufruhr, als ich dort ankam. Hin und her eilend teilten sie mir mit, dass gleich eine trächtige Rassekatze bei uns eintreffen würde, der wir wohl mit einem Kaiserschnitt abhelfen mussten. Völlig perplex versuchte ich den beiden nicht im Weg zu stehen und zum Umkleideraum zu gelangen, wo mein Kittel hing. Als ich es geschafft hatte, stand auch schon die aufgelöste Besitzerin mit der schreienden Mandarine in der Tür.
„Bitte, beeilen Sie sich! Ich habe das Gefühl, meine süße Mandarine macht es nicht mehr lange...“, heulte sie in den Raum und setzte ein mit Glitzer und Gold verzierten Korb auf dem Behandlungstisch ab. Ich dachte mir meinen Teil und eilte zu ihr.
„Machen Sie sich keine Sorgen, wir machen das schon.“ Ein freundliches Lächeln meinerseits und als Antwort ein klagendes Heulen der Besitzerin. Sie schien ihre Katze fast zu überbieten.
„Robynne! Kleinste Dosis, versteht sich von selbst!“ Der Doktor hatte gesprochen und ich sprang. „Amy! Katze! OP!“ Kurz und knapp, wie immer, wenn er mit seiner Tochter sprach. Während ich den Apparat mit Betäubungsgas vorbereitete und Amy den schreienden Korb an sich riss, versuchte der Doktor die rotzende Besitzerin zu beruhigen und rauszubugsieren. „Es wird gut gehen, machen Sie sich keine Sorgen um ihre Katze“, säuselte er. Es folgte ein giftiger Blick seitens der Besitzerin.
„Hauptsache sie behält keine Narbe nach der Operation! Sie ist schließlich eine Rassekatze! Und hat Preise zu gewinnen! Wie würden die Richter reagieren, wenn sie erfahren, dass sie operiert wurde!?“
Wir drei blickten schockiert auf die Frau. Wie gerne hätte ich ihr für diese Aussagen eine reingehauen... Aber es nützte alles nichts, die Katze hatte Vorrang.

Zum Glück ging alles gut. Die kleinen Kätzchen waren wohlauf, ebenso die Katzenmama, die bedröppelt damit zu tun hatte, das Gleichgewicht zu halten.
„Vielen Dank, Herr Doktor“, war alles, was die Frau zu sagen hatte, schnappte sich den Korb mit sieben Katzen, knallte einen Batzen Scheine auf den Tisch und war weg. Bedrücktes Schweigen herrschte im Raum. Dr. Madlon ließ sich erschöpft auf seinen Stuhl sinken, während Amy und ich den OP aufräumten.
„So eine dumme, alte Schachtel! Was denkt die sich eigentlich!? Solchen Leuten sollte man verbieten Tiere zu halten! Hauptsache sie behält keine Narbe! Hallo!? Geht’s noch!? Die Frau spinnt doch!“ Ich ließ mich so richtig gehen. Amy schien sich einfach ihren Teil zu denken und schrubbte die Matte, auf der die Katze lag. „So ein schönes Tier... Ich wette, die arme Kleine muss schon morgen wieder auf eine Ausstellung. Solch preisbesessene Menschen denken gar nicht erst daran, dass eine Mama bei den Babys zu sein hat, bis sie groß genug sind. Ach, ich würde alles dafür geben, ihr die Tiere abzunehmen.“ Amy klatschte die Matte wieder auf den Tisch, sauber geschrubbt, desinfiziert und glänzend.
„Robbie... Es bringt den Katzen auch nichts, wenn du dich aufregst. Wir können nichts tun. Solange die Tiere artgerecht gehalten werden und nicht am Verhungern sind, macht der Tierschutz auch nichts. Wir haben keine andere Wahl, als den Vorfall zu vergessen und unserer Arbeit nach wie vor nachzugehen.“
So sprach ein mit beiden Füßen im Leben stehender Mensch. Verdammt ja, sie hatte recht!

6


Da saß ich also wieder. Zu Hause in der Küche, rauchend, Cappucchino trinkend, mit einer Frauenzeitschrift vor mir, die mich schon jetzt wieder ankotzte. Wie kann man nur soviel zum Jammern haben? Mich plagte weder eine Migräne, noch hatte ich Schmerzen während meiner Menstruation oder irgendwelche Gewichtsprobleme... Ich war zufrieden mit meiner Figur. Diese Models, welche Kindergrößen tragen waren mir schon immer zuwider. Nicht weil ich eifersüchtig war, sondern einfach aus Überzeugung, dass Frauen mit Kurven schöner sind, basta. Und dann diese Moden! Widerlich! Wer sich nach der neuesten Mode kleidete, hatte in meinen Augen einfach zu viel Geld und somit zu viel Langeweile. Immer das Gleiche…
Ich seufzte. Mein Cappu war schon ausgetrunken, die Zeitschrift im Mülleimer.
„Ob er wieder da ist? Daisuke...“ Mir ging ein Licht auf. Daisuke O’Brien... Das war doch eindeutig ein japanischer Name und ein irischer Zuname! Hatte er vielleicht gar nichts Geschäftliches in Japan zu tun, sondern besuchte einen Teil seiner Familie dort? „Boah, ich bin so blöd!“ Ich suchte mein Telefon... fand es aber nicht. Der Drang ihn anzurufen wurde stärker und stärker... Als es klingelte. An der Haustür. Wie ein Eiszapfen stand ich im Flur und horchte. Wäre ich eine Katze gewesen, hätten meine Ohren wohl gezuckt und sich in wirklich jede Richtung gedreht. Es klingelte wieder... Und diesmal begann auch Mojo anzuschlagen. Wie ein Flitzebogen kam er aus meinem Schlafzimmer geschossen und sprang an der Tür hoch. Okay, nun musste ich handeln. Ich ging zur Tür, spähte durch den Spion und keuchte. „Das kann doch alles kein Zufall sein...“, nuschelte ich und war hin und her gerissen. Schließlich nahm ich den nicht mehr sooo kleinen kläffenden Wurm namens Mojo auf den Arm und öffnete.
„Hey, ich wollte gerade wieder gehen. Dachte schon Sie seien nicht daheim.“ Er stand bereits wieder an der Haustür, machte auf dem Absatz kehrt und kam auf mich zu, den Blick nicht von Mojo abwendend. „Also...“ Er räusperte sich und nickte in Höhe meiner Brust. „Ein wirklich niedlicher kleiner Hund...“ Mojo schien interessiert zu sein. Die Nase zuckte wild hin und her und die Augen wurden noch größer, als sie es eh schon waren.
„Ja... Das ist Mojo“, stellte ich ihm vor und trat erst einmal zur Seite. „Wollen Sie nicht hereinkommen?“
Er schluckte, schien nachzudenken und trat schließlich ein, Mojo immer noch beobachtend. Dann stand er in meinem Flur, wie bestellt und nicht abgeholt.
„Mojo... Seltsamer Name für einen noch so kleinen Hund. Lestat hatte einen ausgewachsenen Schäferhundmischling, den er so nannte.“ Ich lachte und schloss die Wohnungstür ab. Das tat ich immer, denn ich war ein sehr vorsichtiger Mensch.
„Ja, das mag stimmen. Aber er wird ja nicht ewig in dieser praktischen Größe bleiben. Soviel ich weiß, wird so ein Dobermann bis zu 70 Zentimeter groß…“
„Ja, richtig... Er... beisst nicht, oder?“ Bildete ich mir das nur ein, oder sah er mich peinlich berührt an?
„Nein, er ist ein wirklich lieber. Ich hoffe es mach Ihnen nichts aus, wenn er sie ein wenig beschnuppert...“ Ich hatte Mojo runtergelassen. Dieser stemmte seine kleinen, für einen Welpen dieser Rasse doch recht großen Vorderpfoten gerade an die Wade meines Besuchers und schnupperte was das Zeug hielt.
Mal abgesehen davon, dass mein Traummann und Prüfer zu Eis erstarrt war, schien er nichts dagegen zu haben inspiziert zu werden. „Sagen Sie... Warum haben Sie Angst vor Hunden? Ich dachte Sie wären...“
„Bin ich auch. Aber ich habe mich auf Pferde spezialisiert und stehe nicht so auf das kleine Tiervolk.“ Trotzdem nahm er sich ein Herz und hockte sich hin, um Mojo seine Hand hinzuhalten. Freudiges Schwanzwedeln und eine Lawine aus nassen Küssen waren die Antwort. „Na, aber so wie es aussieht, mag er mich.“ Wieder dieses Lächeln, was mich dahinschmelzen ließ.
„Also, was verschafft mir die Ehre?“, fragte ich und ging in die Küche.
„Ich wollte einfach mal vorbeischauen. Mir war zu Ohren gekommen, dass Sie angerufen hatten. Tut mir Leid, dass ich nicht anwesend war. Komme ich etwa ungelegen?“ Das Rascheln verriet mir, dass er seinen Mantel ausgezogen hatte. Oh Schreck, wollte er etwa länger bleiben?! Warum fragt er dann erst, ob er ungelegen gekommen war?
„Oh, das ist nicht so schlimm. Ich war nur ein wenig verwundert... Möchten Sie Kaffee, Tee oder lieber was Kaltes?“ Ich drehte mich um und erschrak. Plötzlich stand er vor mir und sah sich um.
„Lieber einen Tee, es ist kalt draußen... Sie haben es wirklich gemütlich hier. Klein aber fein, stimmt’s?“ Oh lieber Himmel, hör doch auf zu lächeln! Ich war wie verzaubert...
„Ja... Ehm... Setzen Sie sich doch. Ich... Was für einen wollen Sie denn? Ich habe Früchtetee, Schwarzen Tee... Zitrone?“, stammelte ich und war mir dessen auch bewusst. Reiß dich zusammen, Robynne!
„Ja, Zitrone bitte.“ Mojo war regelrecht verrückt nach ihm. Er sprang einfach auf Daisukes Schoß, setzte sich und sah ihn mit kullerrunden Augen an. „Hey, Kleiner...“, begrüßte er den Hund nervös und streichelte eher unsicher über den schmalen Kopf mit den viel zu großen Ohren. „Ein heranwachsender Dobermann, hm? Süßer, kleiner, bald ziemlich großer Mojo...“ Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen und nahm ihm die minimale Last vom Schoß.
„Haben Sie damals schlechte Erfahrung mit Hunden gemacht, oder woher kommt die Angst?“ Ich fragte einfach während ich mich hinsetzte und in meiner Tasse rührte.
„Nun ja... Mir hat kein Hund was getan, aber einem damaligen Klassenkameraden. Wir waren auf dem Weg nach Hause, als ein Mann auf einem Fahrrad mit zwei danebenherlaufenden Hunden an uns vorbei fuhr. Es ging alles sehr schnell... Die Hundeleinen verhedderten Sich in den Reifen, als die Tiere uns beschnuppern wollten, wodurch der Mann mit seinem Rad überschlug. Die Hunde waren wohl so erschrocken, dass sie einfach zubissen. Dem Jungen musste der halbe Arm abgenommen werden... Seitdem... habe ich großen Respekt, auch vor kleinen Hunden und gar Welpen.“ Die ganze Zeit über hatte er mit gesenktem Kopf in seiner Tasse gerührt. Nun aber sah er auf.
„Wow... Nun kann ich es nachvollziehen. Das muss wirklich ein Schock gewesen sein. Wenn es Ihnen lieber wäre, könnte ich Mojo so lange wegsperren.“ Ich wollte mich schon erheben, doch hielt er mich mit gehobener Hand auf.
„Nein, ist schon in Ordnung. Ich vertraue Ihnen und dem kleinen.“
„Okay. Sie müssen es nur sagen, das wäre kein Problem“, teilte ich ihm mit Nachdruck mit. Ich wollte nicht, dass er aus reiner Höflichkeit seine Ängste unterdrückte.
„Nein, wirklich.“ Wieder lächelte er und nahm einen Schluck von seinem Tee. Ich verfiel währenddessen meinen Träumen. Es ist schon erstaunlich, dass ich gerade einem solchen Mann begegnet war. Wenn ich ehrlich sein soll, war genau er derjenige, von dem ich immer geträumt hatte. Gutaussehend, freundlich, gebildet und asiatisch. Konnte mir mein Glück tatsächlich so hold sein?
„Frau Laurent? In welcher Welt befinden Sie sich gerade?“, fragte er und wedelte mit einer Hand vor meiner Nase, was mich wieder zurückholte.
„Ja? Ja... Nein, entschuldigung.“ Ich lachte nervös. „Möchten Sie noch einen Tee? Und verraten Sie mir dann, was Sie hierherführt?“
Er nickte lächelnd und hielt mir seine Tasse hin. „Wie ich schon sagte, ich wollte nur mal bei Ihnen vorbeischauen, Sie besuchen, mich mit Ihnen unterhalten... Wissen Sie, die unglücklichen Umstände, auf welche Weise ich Sie kennengelernt habe, machten mich irgendwie neugierig. Zudem glaube ich Ihnen nicht, dass Sie mich an dem Tage in der Bibliothek so angesehen haben, weil ich Ihnen unbekannt war.“ Mist, warum wusste ich, dass er es nicht bei meiner Aussage belassen würde? Entweder war er absolut von sich selbst eingenommen, oder er machte sich einen Spaß daraus, Frauen zu verwirren.
„Ich habe eher das Gefühl, dass es ein Verhör statt einer Unterhaltung wird“, gab ich wohl ein bisschen zu sarkastisch zurück.
„Gut, dann wird es ein Verhör. Sie stellen Fragen, ich beantworte sie und stelle Ihnen eine Gegenfrage. Es war sowieso meine Absicht, Sie besser kennenzulernen.“
Manchmal denkt man, dass man nicht glücklicher sein könnte. Wenn aber so unangenehme Situationen wie diese auftreten, möchte man am liebsten im Erdboden versinken... oder die nächstbeste Fluchtgelegenheit ergreifen und in den Backofen kriechen.
„Also gut, Herr Dr. Daisuke O’Brien.“ Ich setzte mich, stellte ihm seine Tasse hin, klammerte mich an meiner fest und sah auf. „Was... Warum gucken Sie mich denn so an?“ Mit hochgezogener Augenbraue und einem schiefen Lächeln blickte er mich an, als wäre ich irgendwas komisches, was er noch nie gesehen hatte.
„Sie haben meinen Namen richtig ausgesprochen. Das schaffen nicht viele in diesem Land. Auch wenn man einigen sagt, wie er ausgesprochen wird, schaffen sie es selbst beim dritten Versuch nicht. Ich bin begeistert.“ Zur Bestärkung seiner Worte und wohl auch seiner ehrlichen Bewunderung nickte er und lehnte sich wieder zurück. Diese lässige Haltung machte mich fast wieder unhaltsam.
„Wird wohl daran liegen, dass ich mich für Japan interessiere. Alles was dieses Land ausmacht, steht auf meiner Interessenliste. Die Namen stehen dabei an zweiter Stelle.“
„Interessant. Und was steht an erster, wenn ich fragen darf?“ Er war tatsächlich interessiert. Das erkannte man mehr als leicht an dem Gesichtsausdruck und den Augen... Oh, diese Augen!
„Äh... An erster Stelle steht bei mir die Sprache. Ein Japaner würde mich wahrscheinlich auslachen, ich wäre ihm dafür nicht mal böse. Ich würde mich liebendgerne weiterbilden, aber für einen Sprachkurs oder sogar eine Reise fehlen einer einfachen Auszubildenden die Mittel.“ Nachdenkliches und abwartendes Stirnrunzeln seinerseits. „Entschuldigen Sie, wenn ich das einfach so frage. Vielleicht steht es mir nicht zu, aber... Was genau sind Sie?“ So langsam musste ich innerlich schon grün und blau sein, so oft wie ich mich schlug für ausgesprochene Dinge, die ich wohl lieber nie gesagt hätte. Aus dem Grunde war ich umso erstaunter als er lachte, herzhaft lachte, sich vorbeugte und mich mit einem tiefen Blick strafte.
„Was denken Sie denn was in mir steckt?“ Das war nun wirklich nicht fair. Wenn ich jetzt antworten würde, ihm meine Vermutungen offen legen würde...
„Ich denke, dass Sie...“ Meine Gedanken schwappten hin und her. Was dachte ich eigentlich? Was seine Augen und sein Haar betraf, war ich mir sicher, dass europäisches Blut in ihm fließen musste. Und der Rest... Sein Name war eindeutig Japanisch beziehungsweise irisch.
„Ich verrate Ihnen schon mal welcher Nationalität mein Vater angehörte. Er war eindeutig deutscher Ire. Mit der anderen Hälfte haben einige große Probleme, weil sie die feinen Unterschiede nicht kennen.“ Das fiese Grinsen übersah ich diesmal und betrachtete ihn eingehend. Ich hatte schon viele Filme gesehen, wo Japaner mitspielten. Auch auf all den Internetseiten auf denen ich Informationen über Japan nachgelesen hatte waren Bilder von den Menschen dieses Landes. Schon war ich mir sicher und lächelte freudig.
„Japaner. Ganz sicher.“ Wow, das klang wirklich sicher...
„Tja, Rätsel gelöst“, sagte er und lehnte sich wieder entspannt zurück. „Und woher wissen Sie das jetzt? Haben Sie auch die Gesichtsformen studiert?“
„Nein, so genau nehme ich es dann doch nicht.“ Ich lachte. „Aber Film und Internet haben mich geprägt.“
„Nicht schlecht. Jetzt habe ich auch den Grund für Ihr Interesse an mir.“ War ich erleichtert, dass er diese Schlussvolgerung gewählt hatte. Wäre er darauf gekommen, dass ich japanische Männer zum Anbeißen und ihn sogar zum Auffressen geil finde...
„Sie stehen auf japanische Männer, oder irre ich mich da?“ ... würde ich doch glatt kurz davor sein, wieder einmal vom Stuhl zu kippen, was ja nun auch passierte. Perplex, vollkommen baff und knallerot kippte ich den kleinen Rest meines Tees aus, als ich mit meinem Arm abrutschte, den ich zuvor auf den Tisch gelegt hatte. „Ha, ich hatte wohl recht!“ Er klatschte in die Hände und schien sich so richtig zu freuen. „Aber Frau Laurent, Sie müssen sich doch nicht schämen...“, säuselte er dann und schenkte mir ein unwiederstehliches Lächeln. Putzend und innerlich fluchend überlegte ich mir, was ich ihm dafür an den Kopf werfen könnte. Als es dann so weit war und ich mich vor ihm aufgebaut hatte, wollte mir kein einziger Ton entweichen. „Hm? Wollen Sie mir jetzt eine Standpauke halten?“ Ja, er amüsierte sich köstlich.
„Eigentlich hatte ich das vor, allerdings haben Sie vollkommen recht mit Ihrer letzten Aussage.“ Ehm... Das wollte ich eigentlich nicht sagen. Als mir das klar wurde, war mein erster Reflex mir an die Stirn zu greifen und ertappt aufzustöhnen. Der nächste war, dass ich mich umdrehte, um mich mit meinen Händen auf der Arbeitsfläche meiner Küche abzustützen und erst mal wieder klare Gedanken zu fassen.
„Oh... Wirklich...“, sagte er leise. „Wenn das so ist... Darf ich Sie zum Essen einladen?“ Ich wirbelte herum und starrte ihn an.
„Meinen Sie das im Ernst!?“ Das war eindeutig zu kindisch.
„Äh... Ja. Ja, das meinte ich ernst.“ Gut, er konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, wodurch ich mich bestätigt fühlte. „Sagen wir gleich am Montag um zwanzig Uhr. Ich hole Sie ab. Und ziehen Sie was Schickes an.“
„Ja, werde ich...“, murmelte ich und musste erst mal schlucken.
„Schön, das freut mich. Ich muss Sie jetzt leider verlassen. Es gibt durch meine Abwesenheit recht viel nachzuholen.“ Er stand auf. Oh nein, bitte geh nicht! Aber eine stille Bitte ist nun mal still, nicht hörbar. Schon stand er an der Gaderobe und zog sich seinen Mantel über. Ich eilte ihm hinterher und wusste nicht, was ich tun sollte.
„Das... ist wirklich schade. Ich habe mich sehr über Ihren Besuch gefreut.“
„Na, das war auch meine Absicht“, teilte er mir mit, drehte sich um und sah mir direkt in die Augen. Erst da bemerkte ich, wie nah er mir war und wie eng mein Flur. „Ich wünsche Ihnen noch ein schönes Wochenende. Bis Montag.“ Ein letztes Lächeln, ein Zwinkern und schon war er verschwunden.
„Wie ein Phantom...“ Mein Gefühl führte mich in die Irre. War das jetzt wirklich geschehen, oder hatte ich es mir wieder nur erträumt? Hatte er mich wirklich zum Essen eingeladen? Am Montagabend? „Oh mein Gott!“ Ich schlug meine Hände gegen meine Wangen und spürte, wie heiß diese waren. Obwohl ich mich zum Deppen gemacht hatte – wie immer – hatte er mich eingeladen, einen Abend mit ihm zu verbringen. Und ich wusste nicht, was ich ‚schickes’ anziehen sollte...
Wieder in der Küche um die Tassen in den Geschirrspüler zu räumen, fiel mir ein kleines Päckchen auf, das auf dem Tisch lag. Lange starrte ich es an, bis mir der Gedanke kam, dass er dies wohl vergessen zu haben schien. Ich schnappte mir das wirklich winzige Päckchen und wollte ihm schon hinterhereilen, als mir eine typisch japanische Sitte in den Sinn kam.
Bekam man Besuch, brachte dieser grundsätzlich ein kleines, nicht zu teueres, aber auch nicht zu billiges Geschenk mit, um zu demonstrieren, dass man die Freundschaft gerne aufrechterhalten würde. Ganz nach dem Sprichwort: ‚Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft’. So blieb ich also in der Tür stehen und sah nachdenklich das kleine Present an. Ein kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen. „Na, das ist aber nicht ganz so typisch, das Geschenk verstohlen liegen zu lassen.“ Normalerweise überreichte man es dem Gastgeber mit beiden Händen und einer kleinen Verbeugung. In diesem Falle war er wohl nicht so versessen auf absolut korrekte japanische Verhaltensweisen.
Fast andächtig setzte ich mich in die Küche und öffnete langsam das Päckchen. Zum Vorschein kam eine kleine Kette mit dem japanischen Zeichen für Gesundheit daran.
Gerührt und erfreut nahm ich sie heraus und sah sie mir genauer an. Mit einem Nicken nahm ich mir vor, sie von jetzt an immer zu tragen. Vielleicht würde mich dieses Zeichen auch vor meiner Schusseligkeit bewahren.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.07.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /