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Sie riefen immer ‚Ah!’ und ‚Oh!’, wenn ich durch die Straßen der Stadt ging, um mich in der besten Schenke niederzulassen, die ich kannte. Sie öffneten ihre Fächer und hielten sie vor ihre verheißungsvollen Gesichter. Hinter den Fächern erklang jedes Mal Getuschel und leises Kichern. Ich mochte es nicht, denn ich war ich und würde niemals jemand anderes sein.
Das ‚Mitternacht’ war ein sehr berühmtes Gasthaus für Geschöpfe der Nacht. Unscheinbare Gestalten hielten sich dort auf, tranken aus Behältern mit unbestimmbarem Inhalt.

Normalerweise ging ich nur hierher, wenn ich bereits getrunken hatte und gesättigt war, doch heute wollte ich mein Nachtmahl hier einnehmen, in aller Ruhe, nur um jemanden wiederzusehen, der es mir mit all seiner männlichen Pracht angetan hatte.
So bestellte ich also das Blut eines Jünglings, der unglücklicherweise in die Klauen mieser Diebe geraten war und sein Leben mit einem Dolchstoß in die Herzgegend verlor. Ich kannte ihn, hatte ihn eigens in dieser Nacht hierher gebracht, auf dass man mir an dem heutigen Abend als einzigem das junge Blut servieren möge. Hübsch war er, blonde Locken, blaue Augen... wunderbare Lippen, die so bezaubernd süß schmeckten und doch von so mancher Sünde verdorben waren. Er war ein Stricher. Ein kleines Spielzeug für mich. Es hatte Spaß gemacht.

Man brachte mir also das Blut. Ich roch daran und inhalierte den aromatischen Duft. Ja, es weckte Erinnerungen in mir, Erinnerungen an unzweifelhaft leidenschaftliche Augenblicke, als ich noch sterblich war.
So saß ich also da, trank in kleinen, genießerischen Schlucken meinen menschlichen Wein und beobachtete wachsam die Tür. Jeden Moment konnte er hereinkommen, er, dessen Namen ich noch nicht kannte.

Schließlich, es mögen Minuten, empfunden wie Stunden, vergangen sein, betrat er die dunkle Schenke. Sachte ließ er die Tür hinter sich zufallen. Seine leuchtenden Augen streiften jeden Gast der Schenke, somit auch mich. Bildete ich es mir in meinem Liebesrausch nur ein, oder blitzten seine sternenklaren Augen bei meinem Erblicken auf?
Langsamen Schrittes trat er an den Tresen und bestellte sich das Blut einer jungen Frau. Er möge es gemerkt haben, oder auch nicht, es war mir gleich. Mein Blick verweilte auf seinem seidenglatten, schokoladenbraunen Haar, welches ihm, zu einem Zopf gebunden, bis ins Kreuz fiel. Sein Leib verkörperte in meiner Fantasie pure Sinnlichkeit und Leidenschaft. Ja, ich verzehrte mich nach ihm, nach seiner Nähe, nach seiner kühlen mondhellen Haut. Smaragdgrüne Augen funkelten zu mir rüber, schienen zu lächeln. Mit dem Becher Blut in der Hand drehte er sich um und kam direkt auf mich zu. Seine Miene schien mich stumm um Erlaubnis zu fragen, ob er sich zu mir setzen dürfe. Ich nickte. Geschmeidig ließ er sich nieder, stellte den Becher auf der Tischplatte ab und lehnte sich mit den Armen und gefalteten Händen auf sie. Den Blick hielt er gesenkt. Ich spürte leichte Zittrigkeit in seiner Stimme, als er begann zu sprechen.
„Verzeiht... Doch bemerkte ich Eure Blicke.“ Seine Stimme klang melodisch, jungenhaft und voller Sinnlichkeit. Ich schmolz dahin. „Was erwartet Ihr von mir?“ Nun blickte er auf, voller Ehrfurcht mir gegenüber. Spürte er mein Alter? Meine Erfahrung?
„Ich erwarte nichts von Euch“, antwortete ich nach Kurzem und vertiefte meinen Blick. Seine Augen verschlangen mich, zogen mich in eine Welt der Lust und Hingabe. Ich begann zu lächeln. „Aber ich hege das Gefühl, dass Ihr etwas von mir erwartet.“ Er schien erschrocken über meine Worte, bemühte sich es zu verbergen, doch sah ich es trotzdem. Seine Augen wandten sich nicht von den meinen ab, doch wurden sie dunkler, verschleierten sich leicht.
„Ich weiß nicht, was Ihr meint...“ Ich lachte leise und nahm einen Schluck von dem Blut, welches noch vor mir stand.
„Ihr sucht einen Gefährten. Ebenso wie ich einen suche. Einen Vampir, jung und hübsch, unerfahren, ängstlich angesichts der Ewigkeit, die ihn erwartet. Ich möchte Euch die Schönheit der Nacht zeigen, Euch die Ewigkeit erleichtern. Lange war ich einsam.“ Ich hielt inne, gab ihm die Chance aufzuspringen und davonzugehen. Doch blieb er sitzen, sah mich unentwegt an. Noch keinen einzigen Schluck hatte er von dem Blut der jungen Frau genommen. Ich wusste, dank meiner Beobachtungskunst, dass er sich des Nachts kein einziges lebendes Opfer zu Gemüte nahm. Stattdessen trank er das Blut, das diese Schenke ihm darbot, das Blut, welches von den vielen Männern und Frauen stammte, die jede Nacht den finsteren Gestalten zum Opfer fielen.
Ihm wohnten die menschlichen Gefühle inne. Das Mitgefühl dem Leben gegenüber. Er sehnte sich nach dem Leben, nach der Sonne. Ungewollt war er zu dem geworden, was er nun verkörperte. Ich verspürte den Drang, ihm den Genuss frischen Blutes zu zeigen.

Schließlich erhob er sich, bedachte mich mit einem seiner kühlen Blicke, die mir jedes Mal einen Schauer den Rücken hinunterfahren ließen. Er liebte mich auch, schon lange... so lange, wie ich ihn. Er willigte ein, die Ewigkeit mit mir zu teilen. Mit der Bedingung, ihn nie mehr allein zu lassen. Ich erhob mich ebenfalls, ging um den Tisch herum, stand dann unmittelbar vor ihm. Meine Hand hob sich an sein wunderschönes Gesicht. Meine Finger berührten wächserne Haut. Leises Kribbeln ließ meinen Leib kurzzeitig erzittern, als ich meine Lippen auf die seinen senkte und ihm einen Kuss ewiger Liebe schenkte. Ich spürte, wie auch sein Leib erbebte, angesichts dieser ungewohnten Berührung.

Sanft lächelnd ließ ich von ihm ab, ließ meine Hand langsam seine Wange hinunter zu seinem Hals gleiten. Stummes Einverständnis verleitete uns zu einem Nicken. Gemeinsam traten wir hinaus in die Nacht. Nicht ewig würde sie anhalten, doch würde eine weitere Nacht folgen, in der wir unsere gemeinsame Liebe erleben konnten.

Keine weiteren ‚Ah!’ und ‚Oh!’ folgte meinen Schritten, wenn ich an ihnen vorüber ging. Denn mein Geliebter war stets an meiner Seite, gab ihnen zu verstehen, dass ihre Sehnsüchte umsonst waren.
Ich liebte ihn, nicht sie.

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Tag der Veröffentlichung: 07.04.2010

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