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Grenzgänger


Plötzlich war sie da. Wie vom Himmel gefallen, so stand sie vor mir. Ihre Augen lächelten mir zu. Irgendetwas lag in diesem Blick. Eine Erinnerung? Ein Versprechen? Sie irritierte mich mit diesem kleinen Lächeln, in dem weniger Freude, als vielmehr Spott zu liegen schien. Ihre geschlossenen Lippen, ihre Mimik, zeigten Belustigung. Oh ja, Belustigung, verbunden mit einer Andeutung, einem Ausdruck – der Herausforderung:
"Ich weiß mehr als Du – ich

weiß, wer Du bist!"
Ich konnte nicht anders. Ich musste auf diese Augen reagieren. Etwas sagen. Irgendetwas! "Kennen wir uns von woher?", stotterte ich, um dann sofort nachzubessern, "ich meine, ... , ähem, also ich bin fest überzeugt, ... , ich kann dich nicht einordnen - aber ich bin fast sicher: Wir sind uns schon mal begegnet." Ich verfluchte mich im selben Augenblick. Musste das in ihren Ohren nicht nach Anmache

klingen?
Sie schaute mich an, stumm. Von oben nach unten sah ich mich gemustert. Fehlte nur, sie hätte eine Augenbraue hochgezogen.
"Sie versuchen mit mir zu flirten." Knapp und mit leiser Stimme formulierte sie diesen einen Satz. Und sie sagte: "Sie"! Ihr Blick sprach eine andere Sprache. "Du musst dich schon mehr anstrengen. Denke nicht, ich würde es dir leicht machen. Versuch's gleich nochmal", sagte er mir.
"Flirten ist gefährlich! Zu leicht übertritt man dabei Grenzen." Ich geriet in Fahrt, unterstützt von ihrer zustimmenden Mimik. "Flirten ist ein schönes Spiel. Wunderschön! Wenn alle Beteiligten dasselbe wollen und sich an die Grenzen halten." Wieder sah ich sie nicken. Ein erster Erfolg?
"Ließen Sie sich denn anflirten?" Ohne Einleitung perlte die Frage durch die plötzlich statisch aufgeladene Atmosphäre. Sie gab kein Wort der Erklärung dazu. Nur ihr Blick war womöglich noch eine Spur spöttischer geworden. Und ich glaubte auch eine gewisse Anspannung zu erkennen. "Jetzt sag bloß nichts Falsches!"

, wies ich mich an. Zu leicht wäre das mühsam aufgebaute Verhältnis zu torpedieren. Ich schenkte ihr mein schönstes Lächeln, das für besondere

Anlässe.
"Wenn wir uns vorher darauf einigen, alles zu vermeiden, was uns verletzen könnte", gurrte ich mit meiner gewinnendsten Stimme, "dann gerne." Ich sah ihr in die Augen - nichts! Das war immerhin auch keine Ablehnung! "Wichtig ist", schob ich nach und wies mit dem Kinn auf den Ring an ihrer Hand, "dass wir beide keine Konsequenzen beabsichtigen. Flirten ja – mehr aber nicht." Sie war so wunderschön.

Und ihr Nicken brachte mich um den Verstand!
"Wir dürfen dabei nicht nur an uns denken." Ich sah ihre gerunzelte Stirn und beeilte mich, den Gedanken zu Ende zu führen: "Jeder von uns hat doch einen anderen, auf den er acht geben muss, den er nicht verletzten darf!"
"Einverstanden!", seufzte sie und verzog das Gesicht – zu einem bezaubernden Lächeln. "Und versprich Du mir, dass wir über alles sprechen können – egal wie schwer es uns fällt. Keine einsamen Entscheidungen", bat sie, hielt inne und schaute mich fest an. "Du musst mir versprechen, dass Du mich nicht wortlos verlässt – niemals!"
Der Blick in ihre unergründlich tiefen Augen verriet mir, wie wichtig dieses Versprechen für sie war. Natürlich sagte ich es ihr zu.
Und wir redeten! Die ganze Nacht! Nächtelang! Erzählten von uns. Wer wir waren. Warum wir wurden, wie wir waren. Wir sprachen über Musik und Bücher, über die Menschen und die Welt. Unsere Wahrnehmungen stimmten oft überein, unsere Gedanken folgten einem Takt. Wir wussten, wann der andere etwas sagen wollte. Und was! Bevor das erste Wort gesprochen war. Längst schienen die Grenzen des Flirts überschritten – war es Liebe.
Ich wagte den ersten Schritt: Wollte nach ihr greifen, sie küssen.
"Du kennst deine Grenze nicht!", sagte sie, drehte sich um, breitete ihre Schwingen aus und verschwand auf Nimmerwiedersehen im Himmel.


Grenzläufer


Sie war gegangen. Manchmal konnte ich sie am Himmel fliegen sehen. Ich konnte sehen, dass sie weit entfernt ihre Kreise zog. Viel zu weit weg. Undenkbar, ihr zuzurufen. Sie war gegangen. Und ich versank in einem Loch – einem Loch langsamen Verlusts, dumpfen Schmerzes und endloser Trauer. Die Gewissheit, dass sie für immer fort wäre, war wie eine Wand. Wie eine Nebelwand, die zwischen mir und jeglicher positiven Regung stand. Selbst in den Momenten, in denen ich ihren Gesang hörte, wollte ich sie aus meinen Gedanken drängen, sie endlich vergessen, mich ihr verweigern. Ich wollte einfach nur - weiter leiden! Trübsinn? Trauer? Leid? Trotz!
Doch dann ... plötzlich spürte ich sie. Noch bevor ich ihren Flügelschlag hören konnte, und lange bevor ihre Silhouette am Himmel auszumachen gewesen wäre. Musik lag in der Luft. Die Atmosphäre war erfüllt von Harmonien und Kadenzen. In mir erklangen Stimmen, deren wortlose Gesänge mir von ihr erzählten. Konnte ich der Botschaft trauen? Durfte ich mich den Versprechungen hingeben? Oder war es nur mein Unterbewusstsein, das meinen Wunsch zu einer gefühlten Gewissheit werden ließ? Der Wunsch, sie würde sich nach mir gesehnt haben. Der Wunsch, sie würde ...
... und sie tat es! Sie schwebte vom Himmel zu mir herab, und für mich gab es keine Zweifel mehr: Sie war zurückgekommen! Sehnsucht und Wärme lag in ihrem gesenkten Blick. Da war etwas, das ihre beredsamen Augen langsam enthüllten. Eine Vision! Eine Zusage!? Sie umfasste mich – nur mit ihrem Blick, in dem so viel Erleichterung und Zuneigung zu liegen schien. Ihre geöffneten Lippen, ihre Mimik, zeigten Erregung. Oh ja, Erregung, die sie in Worte kleidete, in einen eindeutigen Satz zusammenfasste:
"Jetzt weiß ich, dass ich dich will – vielleicht sogar mehr als Du mich!"
Ich fühlte mich unfähig, etwas zu sagen. Meine Kehle war mir eng geworden. Zu eng, um Gedanken zu Worten zu formen. Zu eng, um Worte wiederzugeben. Zu eng, um Worten zu Lauten zu formen. Ich konnte sie nur anblicken. Stumm.
Mit wehmütigen Augen sah sie mich an, traurig und angstvoll. Sie wartete auf eine Reaktion, versuchte etwas zu erkennen, aus einer Geste, einem Wort. Sie wartete auf ein Zeichen, eine Möglichkeit, die Situation aufzulösen. Und alles, was sie von mir bekam, war: Abwarten. Ihre Augen wurden seidig sanft und füllten sich mit Tränen.
"Sag' doch was, Du kannst mich hier nicht so stehen lassen – ohne ein Wort." Zitternd und mit leiser Stimme formulierte sie diesen einen Satz. Und sie sagte: "DU!"
Ihr Blick sprach dieselbe deutliche Sprache: "Du musst mich anhören. Denke nicht, ich würde es mir leicht gemacht haben. Ich habe mich allein gefühlt, verlassen – einsam war ich, so ganz ohne dich."
Doch auch jetzt blieb ich stumm.
"Als ich allein mit mir war, nachdem ich dich stehen gelassen hatte, als es nur mich und meine Gedanken gab – da merkte ich, dass niemals zuvor jemand so nahe an mich herangekommen ist, so viel meiner Zeit und Aufmerksamkeit beansprucht hat wie Du. Mit dir habe ich es gewagt. Ich habe es gewagt, meinen Panzer abzulegen. Ich habe dir Gedanken anvertraut, von denen ich bisher noch niemandem etwas erzählt habe. Meine Haut ist sehr dünn geworden, ich bin dadurch verletzlich und angreifbar. Mir ist elend und ich wollte mich nur noch verkriechen - wenn ich nur wüsste, wohin."
"Was willst du mir sagen? Bitte, sag' jetzt nichts, was mich weiter herunterzieht."

Meine Gedanken kreisten in einer engen Spirale – ich wollte nicht hoffen. Trotzig schwieg ich weiter.
"Das alles sollte ich dir gar nicht erzählen, nimmt es doch unserer gemeinsamen Zeit ein Stück weit die Unschuld. Es klingt auch bitter, was es nicht ist, niemals war! Dir aber nicht zu erzählen, wie es mir geht, wäre ein noch größerer Fehler - in meinen Augen. Glaube mir, ich wollte es, aber wie sollte ich Dich jemals vergessen können oder wollen? Den Mann, den ich liebe?"
"Ja, ja, sag es noch mal! Du liebst mich! Ich liebe dich! Was wollen wir mehr? Ein Traum wird wahr. Was soll schon passieren? Die Welt ist bunt. Das Leben ist schön!"

Meine Gedanken überschlugen sich, Raketen stiegen in den Gedankenhimmel auf und zerplatzten zu traumhaften Kaskaden aus Milliarden bunter Sternschnuppen. Ich bekam dennoch kein Wort heraus – dachte ich! Doch da war etwas, das herauswollte, das sich seinen Weg nach draußen bahnte, und plötzlich hörte ich mich sprechen: "Was kann ich tun? Dich umarmen und festhalten und dir ins Ohr flüstern, dass ich dich nie wieder davonfliegen lassen will?"
"Ich bin völlig aus dem Leim geraten, kriege nichts richtig auf die Reihe, sehne mich nach deiner Nähe und würde dir am liebsten furchtbar in den Hintern treten."
Meine Freude war nicht von dieser Welt. Endlich konnte ich – durfte ich – den Schritt nach vorne gehen, sie umarmen, festhalten, an mich drücken und – lieben!
"Noch kein Mensch hat mich dermaßen beschäftigt, wie du das tust", flüsterte sie in mein Ohr.
Ja, ja, sag es noch mal! Du liebst mich! Ich liebe dich! Alles ist in Ordnung!

***



"Irgendwie passt der Engel nicht in das Bild,"

die Pflastermalerin seufzte und wischte mit dem Handrücken über das Pärchen, dass sie in die blühenden Mohnfelder skizziert hatte. "Da gehört mehr Realität hinein. "



***



Die sommerliche Brise strich mir sanft über den Nacken. Die leichte Abkühlung brachte mich zurück ins hier und jetzt. Sie

fehlte mir. Schmerzlich. Obwohl, war sie

jemals bei mir gewesen?

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Tag der Veröffentlichung: 14.08.2011

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