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Sie stand oben auf dem Dach und blickte stirnrunzelnd auf ihre Stadt hinab. Naja eigentlich war es seine Stadt, jedoch hatte Uriel ihr die Verantwortung überlassen. Sie war so zusagen sein Verwalter. Es raschelte kurz als Noelle die Flügel auf ihrem Rücken zusammen faltete.
Uriel und die anderen drei Erzengel hatten die Welt unter sich aufgeteilt. Michaels Gebiet waren Mitteleuropa sowie Afrika, Gabriel hatte Asien und Osteuropa zugeteilt bekommen, Raphael herrschte über Südamerika und Uriel gehörte Nordamerika. Doch auch wenn das sein Land war, hatte sie das Kommando über alles. Keiner der vier herrschte wirklich, sie hatten jeweils einen der höheren Engel eingesetzt um sich um dortige Angelegenheiten zu kümmern. So lag Noelle nicht ganz falsch mit der Annahme, dies, New York, sei ihre Stadt. Natürlich würde der werte Herr Bürgermeister dasselbe sagen, da er sich der Existenz der Engel nicht bewusst war, doch Noelle wusste es besser.
Mit auf dem Rücken verschränkten Händen, lies sie ihre grün – weißlich – gold – schimmernden Flügel vollständig verschwinden und schritt zur Tür in der Mitte des Daches.
Gemeinsam mit ihrer Schar aus Engeln und Gefallenen war sie die wahre Herrscherin über Amerika, nicht der Präsident. Das alles war perfekt getarnt durch das größte Unternehmen der Welt.....um genau zu sein einem der vier Teile des größten Unternehmens mit dem Namen Avatar Enterprises.
Asiens Vorstand und damit Herrscherin war Kana. Sie war innerlich so kalt wie sie äußerlich schön war. In Europa und Afrika hatte Samir, ein mürrischer und stiller Engel, das sagen.
Levi hingegen war eine Ausnahme zu den beiden strengen Anführern. Er herrschte nicht durch Angst und Schrecken sondern war ein überraschend angenehmer Zeitgenosse. Noelle versuchte es immer gut ausbalanciert zu halten. Denn obwohl sie eisern und streng sein konnte, war sie niemals grausam so wie Kana oder unbeugsam wie Samir. Ihre jeweiligen Teile des gemeinsamen Unternehmens führte jeder auf seine eigene Art und niemand duldete die Einmischung des anderen. So waren die Regeln.
Noelle kam gerade am unteren Ende der Treppe an als Nathaniel (Nathan) auf sie zutrat. Ihr ältester Freund und Vizepräsident der ''Firma'' war adrett gekleidet wie eh und je. Sein schwarzer Anzug mit der schwarzen Krawatte zeugten von erlesenem und vor allem teuren Geschmack.....und von der Tatsache das er ein Gefallener war. Sein dunkelbraunes stubbeliges Haar, dass ihm bis auf den Hemdkragen fiel und dabei vorne die braunen Augen die sie immer an Bitterschokolade denken liesen leicht verdeckten, rundeten das alles zu einem unverschämt gut aussehenden Kerl ab.
„Nola“, sagte er lediglich mit seiner geradezu unwiderstehlichen dunklen Stimme. Sie musste den Kopf weit zurück legen um ihm in die Augen sehen zu können. Was daran lag, dass sie winzig und er riesengroß war. Doch obwohl er größer und scheinbar auch körperlich kräftiger war, war Noelle die mächtigere von beiden.
„Nate. Gibt es schon Neuigkeiten aus Paris?“, fragte Noelle während sie gemeinsam in den mit goldenen Wänden und großen Spiegeln verkleideten Fahrstuhl stiegen.
„Nein. Jedoch bat Uriel um ein Gespräch mit dir!“
„Uriel?“. Das überraschte sie. Normaler weise ließ er sie alles alleine regeln und es kam selten zu Einmischungen. Alle drei Monate gab es ein Treffen, bei dem sie ihm die wichtigsten Dinge berichten konnte, aber das hatte bereits vor 2 Wochen statt gefunden.
„Ja, er sagte es wäre wichtig, und er meinte du solltest dir länger frei nehmen da es etwas dauern könnte. Er wird dir noch heute Abend den Zeitpunkt und den Ort für morgen schicken“. Seine Miene war wie immer undurchdringlich und unnahbar, Noelle jedoch wusste, dass er loyal und vertrauenswürdig war, bis zum Ende. Das hatte ihm auch den Platz an ihrer Seite verschafft. Im Laufe der Jahrhunderte hatte er mehr als einmal bewiesen dass er für sie durch die Hölle gehen würde. Auch wenn er niemals ein Ersatz für Noah sein könnte, so nahm er doch eine wichtige Stellung ein, auch in ihrem Privatleben.
„Na dann....“, meinte Noelle leicht verwundert und trat sobald die Türen sich öffneten in den Gang hinaus, um in den großen Raum, nach dem die jeweiligen Büros von ihr und Nate kamen, zu gehen.
„Verschieben sie bitte alle Termine für Morgen auf Donnerstag und das Abendessen mit Azrael auf Freitag“. Ohne auf eine Antwort ihrer Assistentin Ashley zu warten marschierten Nathan und sie weiter in ihr Büro.
„Ich werde James sagen, er soll mit Ashley alles klären damit ich einige deiner morgigen Aufgaben übernehmen kann“, meinte Nate während er bereits sein Black Berry aus der Tasche gezogen hatte um eine kurze Nachricht zu verschicken. Groß und muskulös lehnte seine dunkle Gestalt an der Tür und zeugte von einer Lässigkeit wie er sie in der Öffentlichkeit nie gezeigt hätte. Sein markantes Gesicht, das sonst so perfekt schien, war in leichte Denkfalten gelegt und man konnte den dunklen Schatten eines Bartes erkennen.
Noelle setzte sich nicht auf ihren riesigen Chefsessel vor ihrem ebenfalls großen Mahagoni Schreibtisch sondern auf die Kante und spielte mit einem gläsernen Briefbeschwerer. Stirnrunzelnd legte sie ihn zurück und stand auf, um ihr Jackett abzulegen und sich etwas zu trinken aus der Bar zu holen.
„Auch was?“, fragte sie angespannt, als sie ihrem eigenen Drink ein paar Eiswürfel hinzufügte.
„Nein“, kam die gewohnt knappe Antwort und wie aufs Stichwort blickten beide auf, als das Handy auf ihrem Schreibtisch läutete. Das Signal auf das sie gewartet hatten. Noelle ging mit den Drink in der Hand zurück, tippte auf das Display ihres I Phones und gab Nate die Uhrzeit ihres Treffens mit Uriel durch.
„' Morgen um 11 Uhr, Oben ', mehr steht da nicht... “, sagte sie achselzuckend.
„In wie weit wird das unseren Zeitplan beeinflussen?“, fragte sie Nathan, der schon wieder wie wild auf seinem Organzier herum tippte.
„Es wird schon gehen. Die Telefonkonferenz mit Apple kann ich übernehmen, aber das Treffen mit Kana wird ausfallen müssen. Und da du ja Freitagabend schon was vor hast wäre vielleicht der Nachmittag gut....“. Er überlegte eine wenig und teilte dann mit kurzen Instruktionen ihren beiden Assistenten alles wichtige mit. Zu ihrer Verabredung mit Azrael schwieg er. Es lag einfach nicht in seinem Wesen sich in Dinge einzumischen von denen er wusste, dass sie unumstößlich waren. Ein weiterer Zug den sie an ihm zu schätzen wusste: Pragmatik könnte in der Wirtschaftspolitik sehr nützlich sein.
Noelle wanderte unruhig im Raum auf und ab, bis sie schließlich an dem riesigen Fenster stehen blieb und auf die Lichter ihrer Stadt hinab sah. Nathan verstand den Wink und verließ das Zimmer um in seinem eigenen Büro weiter zu arbeiten. Als Noelle spürte das sie allein war, ließ sie sich seufzend auf ihren Stuhl fallen. Irgendetwas stimmte nicht. Uriel war nicht der Typ für überstürzte Handlungen, das hieß es war etwas wirklich schlimmes passiert. Und das er nicht irgendeinen Lakaien damit beauftragte, sondern sie, war ein noch viel schlimmeres Zeichen.
Sie hatte in letzter Zeit des öfteren leichte Druckwellen in der Luft gespürt und deshalb bereits eine Vermutung.
Um sich von ihren Überlegungen abzulenken begann sie ihren ganzen nervigen Papierkram durch zu arbeiten bis sich 2 Stunden später ohne ein vorheriges Klopfen die Tür auf tat, und Nate herein kam. Schweigend wartete er darauf dass sie zu ihm auf sah.
Als sie nach 5 stillen Minuten immer noch keine Anstalten machte ihn zu beachten, trat er einfach hinter sie und hob sie aus dem Stuhl.
„Heeeey!“
„Genug Arbeit für heute! Ich hab Hunger!“.
„Okay schon gut! Aber könntest du mich bitte wieder hinstellen?“. Stumm leistete er ihrem Befehl folge und ging zur Tür um sie ihr auf zu halten.
Sie nahm ihre Jackett und folgte ihm seufzend bis in die große Eingangshalle im Erdgeschoss.
„Mein Wagen oder deiner?“, fragte Noelle obwohl sie die Antwort bereits kannte. Das spitzbübische Grinsen auf seinem Gesicht ließ die Damen die sich zu dieser Stunde noch hier aufhielten in laute Verzückungsschreie ausbrechen. Sie schüttelte nur den Kopf und nach nicht einmal einer Minute fuhr einer der Angestellten Nate's schicken gelben Porsche vor. Er fuhr mit ihr in ein teures Restaurant und überließ den Wagen wieder einem der Angestellten.
„Ah! Bella Noelle! Tische wie immer?“, fragte der Kellner der die Platzreservierungen überprüfte mit italienischem Akzent.
„Ja Fillipo. Danke!“, antwortete sie mit einem warmen Lächeln während ein anderer Kellner sie bereits zu ihrem Stammtisch führte.
„Danke“, sagte Noelle als der Mann sie und Nate allein gelassen hatte, „das hatten wir bitter nötig!“
„Ja, die letzten Wochen waren sehr stressig“. Wortkarg wie immer. Genauso verlief auch der größte Teil des Essens, aber das machte nichts, denn im Grunde war Noelle genauso wie er.
„Könntest du bitte aufhören dein Essen zu zerlegen und anständig damit umgehen?“, fragte Nate Noelle während des Hauptgangs gereizt. Überrascht sah sie auf das Schlachtfeld aus Nudeln und Sahnesoße.
„Oh, Verzeihung!“, sagte sie überrascht, „weißt du ,es ist nur so, dass diese Woche mich total stresst und ich deshalb etwas abgelenkt bin“.
„Am Samstag, hm?“.
„Ja, wenn ich mich nicht verzählt hab, müsste es der 1.928 Jahrestag sein“, antwortete sie traurig, aber mit einem lächeln auf den Lippen.
„Fehlt er dir, Nola?“
„Klar, jeden Tag“.
„Es heißt das bei Engelszwillingen eine Seele gespalten und zwischen den beiden aufgeteilt wird...“
„Ja das hat unsere Mutter auch immer gesagt und so fühle ich mich auch.....als wäre meine Seele nicht mehr vollständig“.
„Dafür habe ich gar keine mehr“, sagte Nathan düster.
„Das stimmt nicht, Nate, du hast nur keine Flügel mehr“.
„Gibt es da einen Unterschied?“. Ihr brach das Herz bei diesen Worten, war sie doch schuld an seiner ganzen grausamen Situation.
Wäre sie noch die alte Noelle gewesen, hätte sie ihm helfen können. Die alte Noelle hätte sein durch die Jahrhunderte geschundenes Herz in ihre geistigen Arme genommen um damit den Schmerz zu lindern, um ihn zu trösten. Die Noelle die sie jetzt war jedoch konnte nichts anderes tun als seine Hand zu ergreifen um ihm ihr Mitgefühl zu zeigen. Wie erwartet entzog er sich ihr und verbarg seinen Schmerz tief in sich drin.
Gefallene waren verstoßene Engel die den Zorn der Erzengel auf sich gezogen hatten. Und dieser Zorn war emens, denn sie bekamen nicht die Todesstrafe, nein, ihnen wurde das Wertvollste genommen,.......... ihre Flügel. Da könnte man einem auch gleich das Herz heraus reißen. Wobei vielleicht nicht für jeden das Wertvollste. Sie hätte alles gegeben um Noah noch einmal zu sehen, auch ihre Flügel. Mit diesem traurigen Gedanken und einem blutenden Herzen widmete sie sich wieder ihrem Essen.


Nathan sah sie schweigend an und fragte sich, was wohl in ihrem Kopf vor ging. Jetzt wäre die Fähigkeit der Erzengel, Gedanken lesen zu können wirklich nützlich gewesen. Er wusste dass unter ihren kurzen dunkelroten Locken ein geradezu erschreckend intelligentes Köpfchen steckte .
Nate hatte sie damit, dass er sich ihr entzogen hatte, verletzt. Aber sich bei anderen aus zu weinen lag einfach nicht in seinem Wesen, genauso wenig wie in ihrem. Seinem Beschützerinstinkt war das jedoch reichlich egal. Obwohl Nola die Mächtigere war, hatte er immer das Bedürfnis auf sie Acht zu geben. Sie war mit ihren 1, 58 m gerade zu lächerlich winzig und ihr süßes herzförmiges Gesicht machte das ganze nicht gerade besser. Verdammt, sie hatte sogar Sommersprossen!
Das alles war natürlich auch die perfekte Tarnung. Niemand würde erwarten, dass dieses kleine rothaarige Mädchen mit den strahlend blauen Augen gefährlich wäre. Er jedoch kannte die Wahrheit. Nola war nicht nur mächtig, sie wusste auch mit dieser Kraft um zu gehen. Viele große Geschäftsmänner waren unter ihrer stählernen Stimme zusammen gesackt. Viele Engel erzitterten bei einem Blick aus ihren zornblitzenden eisigen Augen. Früher einmal war Nola anderes gewesen, nicht kalt und wütend, sondern leuchtend und lebendig wie ein Sprühregen aus tausend Farben. Damals, als er noch ein Engel gewesen war, hatte sie heller gestrahlt als die Sterne. Noahs Tod hatte mehr zerstört als nur Nates Flügel. Auch Nolas Herz und damit die wundervollste Gabe der Welt waren verloren gegangen.
„Du siehst so nachdenklich aus?“, fragte sie ruhig, „ich hoffe unser Gespräch hat dich nicht dazu gebracht dich in Selbstmitleid zu suhlen?“. Ihre Stimme klang neckisch und hatte einen leicht ironischen Unterton.
„Nein“, sagte er lediglich und vor seinem geistigen Auge schwebte ein Bild der alten Nola, wie sie lachend ihr Scherze mit ihm getrieben hatte.


Der nächste Morgen kam und das Treffen hing bereits wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf, als sie noch dabei war den Ausschaltknopf auf ihrem Wecker zu suchen. Ihr Bett, riesig groß damit genug Platz für ihre Flügel war, war viel zu warm und bequem. Jedoch wusste sie, dass man einen Erzengel nicht warten ließ, selbst nicht wenn man der Engel von New York war. Noelle kämpfte sich aus dem Bett und schüttelte erst einmal ihre Flügel aus, sodass ein paar grasgrüne Federn zu Boden fielen. Sie trottete ins Badezimmer, welches ebenso für Flügel ausgerichtet war wie das Schlafzimmer. Dort stellte sie sich unter die Dusche und wusch die Müdigkeit weg. Ihr Hausmädchen, eine noch junge Gefallene, hatte zwar ein wundervoll duftendes Frühstück zubereitet, jedoch blieb ihr nicht die Zeit es zu genießen. So schlang sie alles schnell herunter um danach hinaus in den Garten zu gehen.
Ihr Haus, welches aus grauen Steinen und ebensolchem Holz bestand, war groß, zweistöckig und mit vielen riesigen Fenstern. Es befand sich weit außerhalb der Stadt. Um genau zu sein, stand es auf einer großen, hügeligen Lichtung mit einem kleinen Bach. Sie hatte es sich wegen der Abgeschiedenheit ausgesucht.....und weil genug Platz für Abflüge und Landungen war. In der Mitte des Rasens breitete sie die Flügel aus und die letzten Wassertropfen die vom Duschen noch übrig waren wurden aufs Gras geschleudert. Ein kurzes Abstoßen mit den Füßen, ein kleiner Flügelschlag und schon war sie in der Luft. Durch ein Schild geschützt, das sie für Menschenaugen unsichtbar machte, flog sie auf die große Stadt zu, die sie als ihre eigene bezeichnete. Der Flug war befreiend. Ein wahrlich unbeschreibliches Gefühl. Menschen könnten es gar nicht verstehen und Gefallene weinten ihrer Existenz lang nach darum, es verloren zu haben. Der Wind peitschte ihr die kurzen Locken ums Gesicht und ihre dunkelgraue Anzughose flatterte leicht. Sie breitete die Flügel weiter und neigte sie leicht nach oben. Und schon stieg sie an. Stieg höher und höher, bis nur noch dichte Wolken zu sehen waren. Direkt über dem Zentrum New Yorks ließ sie sich wieder tiefer fallen, um dann schließlich auf dem flachen Dach ihres Firmengebäudes zu landen. Dort wartete Nathan auf sie. Schick wie immer, in seinem völlig schwarzen Anzug und den zauseligen braunen Haaren stand er direkt an der Ausgangstür bereit.
Schweigend trat er auf sie zu und überreichte ihr ein paar Akten.
Noelle blätterte kurz durch alle und gab sie ihm zurück.
„Du weißt was du zu tun hast! Aber um die Sache mit Kawasaki kümmere ich mich selbst. Ich glaube es reicht wenn ich es kurz gegenüber Kana erwähne. Dann erledigt sich das schon von selbst“. Der junge und ehrgeizige Engel aus Japan versuchte sich immer mehr in amerikanische Angelegenheiten einzumischen um seine Macht zu festigen. So etwas würde seine Herrscherin, Kana, nicht gut heißen. Unter ihrem Regime zählte allein ihr Wort.
Nate sah auf die Uhr und fragte: „Es ist erst 10 Uhr, wie wäre es mit Frühstücken?“.
Noelle rechnete kurz in ihrem Kopf die Flugdauer bis nach ''oben'' nach und nickte.
„Klar, aber du bezahlst!“.


Eine halbe Stunde später war sie satt und in guter Laune. Sie stieg in den Aufzug um zurück aufs Dach zu gelangen. Dort verdeckte sie wieder ihre Gestalt und breitete ihre Flügel aus. Kurzer Sprung, kurzer Flügelschlag und sie flog. Der Weg dauerte 20 min. Doch die vergingen recht schnell.
Sie hatte das Gefühl es wären erst 5 min. vergangen als sie ankam. Wie immer war sie ganz verzückt von dem Anblick der sich ihr bot.
''Oben'' bestand aus einer riesigen auf Wolken gebauten schneeweißen Stadt. Die meisten Gebäude ähnelten eher Tempeln als Häusern. Sogar das Gras, die Bäume und die Wege waren weiß. Doch über allem lag ein undefinierbarer Glitzern, wie als wäre die Stadt ständig von der Sonne beschienen.
Die Treppe die sie vom Landeplatz aus hinauf gegangen war, war mit einem Geländer aus Wolken versehen gewesen. Überhaupt bestanden hier viele Dinge aus flauschigen Wolken.
Der Weg den sie zu Uriels Tempel einschlug war gesäumt von weißen Rosenbüschen und kleineren Bäumen. Ihre Schritte hinterließen auf dem Boden kleine leuchtende Stellen. Das Innere des Tempels bestand aus einer riesigen Halle mit einer großen Freitreppe, die in die wirklichen Räume im oberen Geschoss führte.
Eine kleine Engelsfrau in einem weißen Leinengewand trat auf Noelle zu.
„Hallo“, sagte sie mit der wunderschönen Stimme, die für Engel typisch war, „der Meister erwartet sie bereits im großen Saal. Folgen sie mir bitte“.
Ohne auf eine Antwort zu warten faltete sie ihre stein – grauen Flügel auf dem Rücken zusammen und schritt anmutig die Treppe hinauf. Noelle folgte ihr schweigend.
Im großen Saal, der nichts anderes als ein riesiger Raum mit einem großen Thron am hinteren Ende war, ließ sie sie mit ihrem Meister allein.
„Noelle“, sagte die beruhigende tiefe Stimme von Uriel zur Begrüßung. Er saß elegant auf seinem Thron und hatte die Hände auf den Lehnen liegen.
„Uriel“.
Noelle neigte kurz den Kopf. Wie immer verschlug ihr seine Erscheinung den Atem. Er hatte lange glatte hellblonde Haare, die ihm weit über die Schultern reichten und seine Augen strahlten grün-blau wie die See. Seine Flügel sahen, wie die der anderen Erzengel, aus als seien sie aus purem Gold. Er stand auf und lautlos schwebte seine große mächtige Gestalt über den Boden auf eine Tür zu. Noelle ging ihm nach und folgte ihm die Treppe hoch. Oben angekommen stand sie in einem Zimmer welches vielleicht mit einem Salon zu vergleichen gewesen wäre. Uriel deutete auf ein kleines Sofa und setzte sich dann gegenüber in den Sessel.
„Ich komme besser gleich auf den Punkt, da deine Zeit nur knapp bemessen ist, wie ich weiß“. Er lächelte schwach, aber es berührte seine Augen nicht. Das wunderte Noelle. Normalerweise war Uriel keine unangenehme Gesellschaft. Im Gegensatz zu den anderen Erzengeln schien er seine Menschlichkeit noch nicht völlig verloren zu haben. Das passierte zwangsläufig bei Engel seines Altern, die zu viel Zeit ''oben'' verbrachten und sich immer weniger den Menschen widmeten.
Sie riss sich aus ihren Gedanken, als Uriel sagte: „Noelle, wir haben ein Problem. Du wirst es wahrscheinlich sogar schon selbst gespürt haben...“.
„Nein!“, sagte sie erschrocken, als sie ihre Vermutung bestätigt bekam, „ein Nephilim! Wie kann das sein. Es hätte doch bei der Geburt bemerkt werden müssen!“.
„Nicht zwangsläufig, das weißt du! Nicht wenn der Vater es verschweigt“.
„Wie weit ist er oder sie bereits?“, fragte Noelle nach kurzem Überlegen.
„Sie müsste jetzt ca. 16 Jahre sein, wenn ich mich nicht täusche“.
„Und was hast du vor?“. Sie schreckte auf: „Du willst sie doch nicht töten, oder?“.
„Nein“, sagte er bedächtig, „es wurde nie geregelt was passiert falls ein Engel doch noch einmal die Regeln bricht, nachdem Massaker von damals“.
Er sprach von der systematischen Auslöschung aller Engel, die die Regeln gebrochen und Mischlingskinder gezeugt hatten. Ebenso wurden damals alle Nephilim getötet. Das war vor über 500 Jahren gewesen. Seitdem war etwas Vergleichbares nie mehr vorgekommen.
„Habt ihr den Vater bereits identifiziert?“, fragte Noelle.
„Ja und hingerichtet“.
Dieses mal erschrak sie nicht. Das verstand sie. Er hatte gegen eine der wichtigsten Regeln verstoßen. Er wusste was er tat.
„Erst war ich mir nicht sicher was aus ihr werden sollte“.
„Was sagen die anderen Erzengel?“.
„Sie wissen noch nichts davon. Bis jetzt sind die Druckwellen die von ihr ausgehen noch nicht stark genug um bis zu ihnen zu gelangen. Und selbst wenn sie es wüssten, liegt diese Entscheidung bei mir“.
Sie war nicht irgendein Engel. Keiner der Jüngeren, die noch nicht ganz trocken hinter den Ohren waren. Ihre Stellung erlaubte ihr die nächste Frage.
„Glaubst du das wirklich? Wenn sie etwas dagegen hätten, würde sie so etwas wie Grenzregeln nicht aufhalten!“
„Ich weiß, aber die Frage hat sich so wieso erledigt. Elias hat von ihr geträumt“.
„Du weißt, dass das nicht unbedingt etwas heißen muss. Die Zukunft steht nicht auf Stein geschrieben.“, sagte sie bedächtig.
„Ich weiß. Doch das Mädchen ist etwas besonderes. Genauso wie der Junge.“
„Junge?“. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Ja, ich habe seinem Vater geschworen für sein Überleben zu sorgen“.
Das war nicht gut. Schwüre waren für Engel bindend. Sie konnten unter keinen Umständen gebrochen werden.
„Nahum war ein alter Freund von mir. Ich musste ihn jedoch töten, nachdem auch er die Regeln gebrochen hatte“.
Noelle verstand sofort.
„Noch ein Nephilim“.
„Ja“, antwortete Uriel, obwohl es eine Feststellung von ihr gewesen war, keine Frage.
„Wie gesagt, er ist etwas besonderes. Du kanntest Nahum, oder?“.
„Ja. Er war sehr mächtig“.
„Er war fast so alt wie ich. Das heißt er war nicht nur mächtig, er war mächtig

! Früher wussten wir nicht welche Auswirkungen das haben kann. Wenn ich neben dem Jungen stehe kann ich seine Kraft schon jetzt ein wenig spüren.“
„Und das Mädchen?“
„Sie ist bei weitem nicht so mächtig wie er, aber ihre Kräfte sind stärker als sie sein sollten, deshalb entwickelt sie sie auch bereits jetzt“.
„Das ist nicht so ungewöhnlich, das hat es früher auch schon ein paar mal gegeben“.
„Schon, jetzt wissen wir jedoch, welche Auswirkungen mächtige Väter auf die Stärke und die speziellen Fähigkeiten der Nephilim hat. Ihr Vater war Balthasar“.
„Der Blutgeborene?“, fragte sie nach seinem Spitznamen.
„Ja, wenn sie auch nur ein paar seiner Talente geerbt hat, dann kann sie uns nützlich sein, oder besser gesagt dir!“.
„Was soll das ganze mit mir zu tun haben?“.
„Folge mir bitte“, sagte er einfach und stand wieder auf, um in den Raum neben an zu gehen.
Im Zimmer stand nichts anderes als ein Sessel und ein kleines Bettchen.
„Der Junge ist hier?“, fragte sie überrascht.
„Ja“, antwortete Uriel und stellte sich neben die Wiege. Auch Noelle kam ein Stückchen näher heran.
„Wie alt ist er?“, fragte sie.
„4 Monate“.
Jetzt konnte sie sich nicht mehr zurück halten und warf einen Blick auf den Jungen. Große blaue Augen sahen sie an und sie hatte das Gefühl als würde er sie neugierig mustern.
Sie streckte die Hand nach ihm aus, zuckte jedoch sofort wieder zurück, als der Kontakt ein seltsames Kribbeln in ihr auslöste.
„Was ist das?“, fragte sie Uriel misstrauisch.
„Mächtig, oder?“.
„Wow! Damit hatte ich nicht gerechnet. Wie kann er bereits als Baby schon so stark sein?“.
„Er hat noch keine konkreten Fähigkeit, jedoch schon großes Potential. Wie wir jetzt wissen liegt es daran dass sein Vater so alt und mächtig war“.
Sie blickte noch einmal in die Wiege und wieder hatte sie das Gefühl, von dem Baby beobachtet zu werden. Er streckte ein kleines Händchen nach ihr aus und gab einen undefinierbaren Laut von sich.
Vorsichtig, da sie Angst hatte, ihm weh zu tun, hielt sie ihm ihren Zeigefinger hin und sofort schloss sich seine Hand darum. Ihr wurde leicht ums Herz und belustigt sah sie ihm eine Weile dabei zu wie er mit den kleinen Zehen wackelte.
„Wie ich sehe versteht ihr zwei euch bestens“, hörte sie Uriel, der bis jetzt geschwiegen hatte, sagen.
„Was hast du jetzt vor, mit ihm zu machen?“, überging sie seinen Satz einfach.
„Die große Frage ist wohl eher, was du zu tun gedenkst“.
„WAS“, rief sie überrascht und entzog dem Baby, als sie sich in Uriels Richtung drehte, unabsichtlich den Finger. Keine Sekunde später fing er schon an zu weinen und zu strampeln. Sofort legte sie ihren Finger wieder in seine Hand und er hörte auf.
„Wie meinst du das?“, fragte sie nun in leiserem Ton, da das Baby sich um ihre Hand eingerollt hatte und dabei war ein zu schlafen.
„Ich überlasse dir die Aufgabe, auf den Jungen auf zu passen“.
Das sagte Uriel ohne mit der Wimper zu zucken.
„Wie bitte?“.
„Du hast mich schon verstanden. Das Kind braucht jemanden der sich um ihn kümmert“.
„Und da bin dir automatisch ich eingefallen?“.
„Du konntest früher doch so gut mit Kindern. Und außerdem muss er ja auch beschützt werden. Wenn erst mal seine Stärke bekannt wird, werden viele Dämonen und Engel hinter ihm her sein“.
„Du weißt dass ich nicht mehr so bin wie früher!“, antwortete sie ihm auf sein erstes Argument, „und wäre es nicht sicherer, wenn er hier bleiben würde?“.
„Das darf er nicht, und das weißt du auch“, meinte Uriel, jetzt schon ein wenig gereizt, da er mit ihr diskutieren musste, „er ist kein Engel und Menschen dürfen diesen Ort nicht betreten. Ich dachte erst, ich könnte dich dazu überreden es zu tun. Aber da du so starrsinnig bist, bleibt mir nichts anderes übrig als es dir zu befehlen!“.
„Ach ja?“, fragte Noelle spitz.
„Ja“. Seine Stimme donnerte fast schon. Es war nichts mehr zu sehen, von dem Mann, mit dem sie sich gerade eben noch so freundlich und gelassen unterhalten hatte. Jetzt war er nicht mehr ihr Freund sondern ein jahrtausende alter Erzengel. Und sie stand unter seiner Macht.
Widerwillig neigte sie leicht den Kopf. Als sie wieder hoch schaute, war er auch schon verschwunden und hatte sie mit dem Kleinen allein gelassen.
Dieser hielt ihren Finger so fest umklammert, dass sie ihn fast nicht mehr spürte.
Vorsichtig zog sie ihn aus dem Griff des schlafenden Babys und schaute es finster an.
„Tja Baby, jetzt gibt es nur noch uns“.


„Das soll wohl ein Scherz sein“, sagte Nate, als sie mit dem Baby auf dem Arm in ihrem Büro auf und ab ging.
„Ja ganz witzig!“, antwortete Noelle gereizt und von ihrer Stimme wachte das Kind auf.
Sofort als es die finstere Gestalt am anderen Ende des Raumes bemerkte fing es an zu schreien.
„Na toll! Verschwinde hier, Nate, Baby mag dich nicht!“
„Baby?“
„Was? Er hat halt noch keinen Namen. Und jetzt geh! Er hat Angst vor dir!“
„Super! Jetzt werde ich schon von einem Baby raus geschmissen“, murmelte er finster vor sich hin, während er durch die Tür nach draußen trat.
Baby hörte auf zu weinen und schmiegte sich vertrauensvoll an Noelle.
„Was mach ich jetzt nur mit dir?“, fragte sie Baby zweifelnd.
Darauf antwortete er indem er einen seltsamen jedoch unverkennbaren Duft absonderte.
„Oh nein! Das lässt du schön bleiben“.
Sie trug Baby, die Arme weit von sich weg gestreckt aus dem Zimmer und drückte ihn Ashley in die Hände. Verständnislos schaute diese ihre Chefin an.
„Er hat in die Hose gemacht“, versuchte die Frau es dann.
„Ja, und sie kümmern sich darum“, antwortete Noelle ohne mit der Wimper zu zucken.
„Was? Wie denn?“.
„Keine Ahnung! In dem riesigen Gebäude gibt es sicher eine Frau die zufällig Windeln dabei hat!“.
„Und was dann?“
„Dann“, sagte Noelle gereizt und leicht verzweifelt, „dann, fahren sie gemeinsam mit Baby los, um Sachen einzukaufen, die Baby so braucht!“.
Ohne auf eine Erwiderung der jungen Engelsfrau zu warten verschwand sie in Nates Büro.
Überrascht sah Nathan von seinen Unterlagen auf, als sie den Raum betrat.
„Was mach ich jetzt nur?“, fragte Noelle verzweifelt, während sie sich mit deutlich weniger Eleganz als sonst, in einen der Sessel fallen ließ.
„Nola“, sagte er unerwartet sanft, „du solltest das alles nicht so streng sehen. Natürlich kommt eine schwere Zeit auf dich zu. Aber ich habe so das Gefühl, als ob Uriel sich mehr dabei gedacht hat, als wir uns jetzt vorstellen können“.
Vollkommen verdutzt sah sie ihn an.
Nate stand auf, um ihr einen Drink von der Bar zu holen und setzte sich dann ihr gegenüber auf die Schreibtischkante. Seine wuseligen Haare strich er sich aus den schoko-braunen Augen, sodass sie seinen besorgten Blick sehen konnte.
„Du weißt, dass du zu mir kommen kannst wenn du etwas brauchst, oder?“, fragte er dann.
„Natürlich! Wobei das schwer werden könnte, da Baby dich ja nicht leiden kann“.
Das lockerte die ungewohnt rührselige Stimmung zwischen ihnen etwas auf.
„Er hat einfach keine Ahnung was gut ist! Aber du solltest ihm trotzdem einen Namen geben, und nicht ständig nur ''Baby'' sagen!“.
Sie nahm einen großen Schluck Whisky und antwortete dann: „Ich überlege noch! Schließlich muss der Junge mit dem Namen leben!“.
„Wenn du dir nicht bald etwas einfallen lässt kaufe ich dir ein Baby-Namen-Buch“, grummelte er, und Noelle war froh, dass er wieder der alte böse Nate war. Der verständnisvolle Nathan hatte ihr leicht Angst gemacht. Manchmal glaubte sie, er hatte zwei Persönlichkeiten.
„Und“, fragte er dann, „wo hast du >Baby< gelassen?“.
„Das hab ich mit Ashley weggeschickt“, antwortete sie ungerührt.
Er riss leicht die Augen auf.
„Weggeschickt? Ich dachte du solltest auf das Kind aufpassen und es nicht in der bösen weiten Welt aussetzten?!“.
„Ich habs doch nicht ausgesetzt“, sagte sie mit einem leichten Lächeln, „und außerdem weiß bis jetzt niemand von dem Jungen, oder? Also wird ihm schon nichts passieren“.
Nate schüttelte nur den Kopf und stand auf, um aus seiner Fensterfront auf die Stadt zu sehen.
„Und was machst du jetzt?“.
Noelle zuckte mit den Schultern.
„Was soll ich anderes machen, als das, was Uriel mir aufgetragen hat? Als erstes möchte ich dich bitten, der Sache mit dem Nephilim-Mädchen nachzugehen“.
Als nichts mehr zu sagen war, ging sie zurück in ihr Büro um zu arbeiten. Wer weiß wie lange sie noch Zeit hatte, bis Ashley zurück war.


Noelle schlief ruhig und fest in ihrem riesigen weichen Bett.
Im Traum stand sie gerade Noah gegenüber der ihr wie früher immer über die Haare strich. Er machte den Mund auf, um ihr etwas zu sagen. Sie erschrak fürchterlich, als ohrenbetäubendes Geschrei herauskam und setzte sich ruckartig im Bett auf. Keuchend atmete sie ein und aus, und merkte, dass das Gebrüll aus ihrem Zimmer kam. Das Baby war aufgewacht.
Sie fasste sich ans rasend schnell klopfende Herz und stand auf.
Vor dem großen Fenster mit dem Erker stand das kleine Bettchen, das ihre Assistentin gestern besorgt hatte.
Darin lag ein zappelnder und weinender Junge und verlangte nach Aufmerksamkeit.
Seufzend streckte sie die Arme nach im aus und nahm ihn hoch.
„Was ist den, Baby? Hm?“. Noelle schaukelte ihn vorsichtig und ging mit ihm im Zimmer auf und ab. Ihr kam eine Idee und sie hielt ihn hoch um an ihm zu schnüffeln.
„Nein. Das ist es auch nicht. Hast du vielleicht Hunger?“, fragte sie in der Hoffnung er würde ihr antworten. Auf gut Glück ging sie mit ihm hinunter in die Küche. Dort legte sie ihn vorsichtig auf die Arbeitsplatte der Kochinsel. Aus einem der Schränke suchte sie das Babymilchpulver und in nicht mal 5 Minuten hatte er kleine auch schon eine Flasche im Mund. Erleichtert seufzte sie auf, als er zu saugen begann.
Als er fertig war und sie die Flasche kurz aus wusch und zurück stellte, waren seine Äuglein auch schon wieder zu gefallen. Ein Blick auf die Uhr sagte Noelle, dass es bereits 4 Uhr war und müde schleppte sie sich und den Jungen wieder hinauf in ihr Zimmer. Wo sie sich erschöpft vorn über auf das Bett fallen ließ, den Jungen neben sich.

Nate stand in der Tür zu Noelles Büro und starrte sie entgeistert an.
Nola sah nicht nur müde aus, sondern so, als hätte sie eine ganz Woche lang nicht geschlafen, nicht wie in Wirklichkeit nur eine 1 Nacht.
Er beobachtete schweigend wie sie am Schreibtisch saß und über irgendwelchen Akten hing.
Hier im Büro versteckte sie ihre Flügel nicht und Nathan konnte nicht umhin, sie unentwegt an zu starren.
Selbst nach fast 1928 Jahren schmerzte der Verlust seiner Flügel immer noch. Sie waren einzigartig gewesen. Dunkelblaue Federn, die zu den Spitzen hin immer heller geworden waren, fast silbern. Natürlich waren sie nicht so schön wie Noelles oder Noahs sie gewesen waren, aber dennoch einzigartig.
„Mach die Tür zu! Es zieht!“.
Nate trat ein und schloss die Tür hinter sich.
„Na? Ist da wer gereizt?“, fragte er und ließ sich auf die Kante ihres Schreibtisches fallen.
Wütend blickte sie auf und ihre Augen blitzten ihn kalt an. Schweigend blickte er zurück und nach fast einer Minute wandte sie den Kopf ab und blies schwermütig den Atem aus.
„Tut mir leid“, sagte sie und drehte den Kopf wieder in seine Richtung, „ aber der Junge wollte einfach nicht einschlafen! Ich habe wirklich alles versucht!“.
Suchend sah Nathan sich um.
„Wo ist er überhaupt?“.
Nola lies ihren Blick resigniert neben sich auf den Boden wandern, woraufhin Nate sich nach vorne beugte um über den Tisch sehen zu können.
Da lag er, friedlich schlafend in seiner kleinen Trage.
„Wenn man ihn so sieht könnte man gar nicht glauben, dass er so viele Scherereien verursachen kann, was?“, fragte Nola mit einem bösen Blick und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
„Und hast du dir schon einen Namen überlegt?“
Nolas Blick verdüsterte sich wieder und sie sah fast niedlich aus, als sie kurz die Backen auf blies und die Luft wieder ausstieß.
„Ach keine Ahnung! Ich überlege schon die ganze Zeit. Ben, Dorian, John. Findest du er sieht aus wie ein John?“, fragte sie ihn. Nate zuckte nur mit den Schultern und sah stirnrunzelnd zu dem Kind hinab.
„Ich finde nicht, dass er aussieht wie ein John... vielleicht wie ein Lucas?“
„Weißt du was ich bräuchte? So ein Namenbuch! Schließlich kann ich ihn nicht ewig Baby, Junge oder Wurm nennen!“
„Besonders letzteres ist sicher nicht gut für sein männliches Selbstbewusstsein“, räumte Nate trocken ein.
„Haha. Als wüsste ich das nicht selbst! Aber das mit dem Namen ist wirklich wichtig! Den behält er für immer. Da kann ich ihn schlecht Norbert oder etwas Ähnliches nennen“
Wie erwartet lachte Nathan nicht, verzog jedoch kurz seinen Mund zu einem Grinsen.
„Wie alt ist er eigentlich?“
„Uriel meinte knappe 4 Monate. Ganz schön groß für das Alter, findest du nicht?“.
„Doch, groß und mächtig…. Ich kann ihn bis hier hin spüren“.
„Wenn seine Fähigkeiten weiter so wachsen, weiß ich nicht mehr wie ich ihn vor den anderen Engeln und ganz besonders vor den Dämonen verstecken soll“, meinte Nola, leicht verzweifelt.
„Meinst du, dass wird in nächster Zeit überhaupt nötig sein? Bis jetzt haben sie ihn ja auch noch nicht bemerkt“.
„Nein, aber wer weiß wie lange der Frieden anhält? Solche Neuigkeiten sprechen sich viel zu schnell herum. Vielleicht werde ich Azrael am Freitag nebenbei etwas ausfragen“.
„Und du meinst, er fällt darauf rein? Er ist nicht umsonst einer der Sieben!“.
„Und ich herrsche ja wohl nicht umsonst über New York“, meinte sie etwas verstimmt, „dieses Spiel mit Azrael, darum wer wohl besser und stärker ist, geht nun schon seit Jahrhunderten. Er wird sich nichts dabei denken. Wir versuchen immer den anderen ein wenig aus der Reserve zu locken“.
„Wenn du meinst“, sagte Nate nur und neigte leicht den Kopf.
„Wie sollen wir sonst dahinter kommen, was die andere Seite weiß?“.
„Als würdest du dich nur deswegen mit ihm treffen! Ich hab es dir schon mal gesagt, dass das was ihr da habt nicht gut ist! Weder für dich, noch für die Firma!“
„Und weißt du noch was ich geantwortet habe?“, fragte sie schnippisch, „ Dass es dich nichts angeht was ich in meiner Freizeit mit wem tue!“.
Damit war das Gespräch beendet, dass wussten sie beide. Nate neigte nur leicht den Kopf und ging dann ohne ein weiteres Wort.
Seufzend sank Noelle in ihrem Sitz zusammen.
„Ich war zu streng… war ich zu streng?“, fragte sie das Baby, in der Hoffnung auf eine Antwort.
„Na toll!“.
Mit dem Wissen, dass sie es wohl zu weit getrieben hatte, wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu und ließ alle Gedanken an den Streit hinter sich.

Er wusste, dass er es übertrieben hatte. Nola wurde nicht oft so wütend wie eben. Nur in den seltensten Fällen erhob sie die Stimme. Aber gerade eben hatte er einen wunden Punkt getroffen. Das war ihre Beziehung zu Azrael schon immer gewesen. Natürlich ging es ihn nichts an, aber seit dem Tod von Noah fühlte er sich irgendwie dazu verpflichtet auf sie aufzupassen. Lustig, wenn man bedachte, dass sie die Mächtigere von beiden war. Aber nach dem Tod seines besten Freundes hatte er irgendwie übergangslos den Platz des großen Bruders übernommen und versuchte nun schon seit über einem Jahrtausend dieser Rolle gerecht zu werden. Aber Nathan war durchaus klar, dass Noah auf mehr als nur eine Art ein großes Loch hinterlassen hatte. Er hatte natürlich nie versucht diesen zu ersetzen, aber er hatte durchaus gehofft, dass sich die Lücke irgendwann schließen würde, und sie beide normal weiter leben könnten. Es gab wohl nichts, worin sich Nathan je so geirrt hatte.
Nachdenklich saß er mit dem Rücken zu seinem Schreibtisch und starrte auf die riesige Stadt unter ihm.
So vieles hatte sich seit dem Tod seines früheren Freundes geändert. Die gesamte Hierarchie hatte sich verschoben. Noah war einer der stärksten Engel gewesen, die er gekannt hatte. Und Nola dazu der perfekte Gegensatz und ein guter Ausgleich für die Energie die er überall versprüht hatte, wo er aufgetaucht war. Er hatte gebrannt, während ihr sanftes Leuchten irgendwie seine Flammen zu löschen vermochten. Während er ein ruhiger, stummer Krieger gewesen ist, war Nola sein fröhlicher, offener Gegensatz.
Nach seinem Tod jedoch, hatte sie sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen und war auf eine Art verbittert, die jedem das Herz brach, der sie früher gekannt hatte.
Auch Nate selbst hatte sich verändert. Nicht nur, dass man ihm seine Flügel genommen hatte, er war ebenfalls stiller geworden. Nicht mehr so unbedarft und gedankenlos wie davor. Voller Schmerz über seinen Verlust hatte sich seine gesamte Welt verdunkelt. Das Gefühl für einen Engel ohne Flügel konnte man wohl am besten so beschreiben, wie das Fehlen der Seele. Alles war leer und grau. Als Gefallener gab es für einen kaum noch Freude. Wenn man dann noch den Tod seines Freundes dazu zählte, war es überhaupt ein Wunder das Nathan nicht schon längt versucht hatte, sein Dasein zu beenden.
Er wusste, dass ein gebrochenes Herz irgendwann heilte, aber der Verlust den Noelle erlebt hatte, war einfach zu groß gewesen, als dass irgendetwas ihn hätte mindern können.
Gedankenverloren spielte Nate an seinem Handy herum und sah dabei hinaus auf die Stadt.
Am Freitag wäre ihr Treffen mit Azrael. Wahrscheinlich die einzige Sache die sich niemals ändern würde. Ihre Beziehung zu dem dunklen Engel war schon immer kompliziert und schmerzhaft gewesen. Nate konnte es nicht verstehen. Ihr Verhältnis war ein ständiges Hin und Her und endete meistens mit Wut und Verzweiflung. Und trotzdem schienen sie nicht voneinander los zu kommen. Wie immer konnte er nur daneben stehen und zusehen, wie sich seine kleine Schwester, auch wenn sie nicht blutsverwandt waren, trotz besseren Wissens, selbst verletzte.

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Tag der Veröffentlichung: 02.07.2011

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