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Zwei Wochen. Zwei Wochen bin ich jetzt bereits hier. In Kalifornien sind alle Leute schön und gebräunt und haben den ganzen Tag nichts anderes zu tun als am Strand zu liegen. Zumindest während der Sommerferien. Ich kann mich nur schwer daran gewöhnen. An das Wetter, die Menschen und vor allem mein neues Ich. In zwei Tagen beginnt die Schule und ich habe mir geschworen ganz neu anzufangen. Ich will nicht mehr die alte, stille und wohlerzogene Eve sein, sondern endlich leben. Das jedoch ist leichter gesagt als getan. Die ersten Schritte waren auf jeden Fall schon geschafft, ich hatte meine gleichgültigen und erfoglsorientierten Eltern leicht davon überzeugen können mich auf diese Schule für Hochbegabte zu schicken. Eine Wohnmöglichkeit hatte ich auch sofort, da meine Familie mehrere Häuser an der Westküste besitzt und eines ganz in der Nähe meiner neuen Schule. Direkt am Meer. Naja genauer gesagt auf einer Klippe mit direktem Zugang zu einem Privatstrand. Aber egal, denn ich wollte schon immer ans Meer.
Jetzt im Moment sitze ich auf der Fensterbank in einem der großen verlassenen Räume, welche fast alle leer sind und schaue auf die tosenden Wellen hinab. Die Sonne geht bald unter und der Horizont beginnt sich orange zu färben. Für solche Augenblicke bin ich hier, denke ich verträumt.
Von hier oben sieht die Welt fast immer schön aus, aber ich hatte auf die harte Tour gelernt, wie schnell sich alles ändern kann. Deshalb bereue ich die Entscheidung her gekommen zu sein auch nicht. Es war an der Zeit aus meinem verklemmten Leben auszubrechen.
Ich wurde als Evangeline Gilmore in eine alte, steinreiche, englische Familie hinein geboren, in der Disziplin genauso verlangt wurde wie Eleganz und Erfolg. Mein Vater ist ein anerkannter Chirurg, und meine Mutter ist Geschichtsprofessorin an einer Eliteuniversität an der Ostküste. Die Maßstäbe für mich und meinen Zwillingsbruder Vincent waren schon immer hoch gewesen. Ich hatte mich immer gefügt. Meine Eltern wollten ein braves Kind das man zwar sah aber nicht hörte und ich wollte nicht mehr als ihre Anerkennung. Doch Anerkennung hatte ich nie bekommen, nur Gleichgültigkeit und Kälte. Ich bin hochintelligent und habe deshalb nie Probleme in der Schule gehabt. Aber auch nur wenige Freunde. Nicht viele können verstehen wie es ist unter diesem Druck aufzuwachsen. Für die meisten sehe ich aus wie ein verwöhntes reiches Kind, aber all die Dinge die meine Eltern als Zeichen unseres Statuses ansahen waren mir egal. Alles was ich in den letzten 16 Jahren getan habe, war um ihretwillen geschehen. Sie wollten nicht dass ich Hosen trug sondern wie eine Dame gekleidet war, also trug ich nur Kleider und Röcke. Sie wollten eine gebildete Tochter, also lernte ich 3 Fremdsprachen. Sie wollten bei Festen mit mir angeben, also spielte ich unseren Gästen die verschiedensten Stücke auf dem Klavier oder der Violine vor. Und jetzt, mit 16 wache ich auf und merke, dass ich mein Leben versäumt habe. Das erste was ich getan habe, als ich hier ankam war meine Haare abzuschneiden. Meine langen seidigen Locken. Nun trage ich einen wuscheligen braunen Haarkranz welcher mein schmales blasses Gesicht gut zur Geltung bringt. Kurze Haare tragen nach der Sicht meiner Familie nur Männer und alte Frauen, aber nun, da es mein Leben ist, ist es mir egal was sie denken. Ich habe auch meine Brille gegen Kontaktlinsen ausgetauscht damit man das schöne leuchtende Grün meiner mandelförmigen Augen sehen kann. Zum ersten mal in meinem Leben habe ich Geld ausgegeben ohne irgendeinen speziellen Grund sondern einfach nur weil mir gerade danach war. Vince und ich bekommen viel Taschengeld und haben beide eine All-American-Express, welche ich bis zu diesem Moment noch nie benutzt hatte. Solange wir ihren Anforderungen genügen, ist es unseren Eltern egal wie viel Geld wir ausgeben. Das ist ihre Art eines Dankeschöns.
Ich sehe auf meine blasse schmale Hand an der ein einzelner silberner Ring glänzt und blicke dann wieder hinaus aufs Meer. Das Träumen musste ich mir als Kind auch abgewöhnen, aber jetzt nicht mehr! Jetzt träume ich wann und wo ich nur kann! Vielleicht lerne ich surfen oder Wasserskifahren, denke ich und weiß dass so etwas meine Mutter schockieren würde. Dabei muss ich schmunzeln. Ihr verkniffener Mund und die Stressfalten auf ihrer Stirn wenn sie erbost ist. Ich stehe von meinem Platz auf, da die Sonne fast völlig untergegangen ist und schlendere weiter durch viele leere Zimmer in denen die Möbel durch gespenstische weiße Laken abgedeckt sind. Auf dem Weg in die Küche fällt mein Blick auf den Kalender und ich schüttele nur den Kopf. So viele unnötige Termine haben mir mein bisheriges Leben schwer gemacht aber nun sind die einzigen Termine die ich noch habe, die Schule und alle vier Wochen eine Untersuchung. Ohne konkreten Plan in den Tag zu starten war neu für mich aber schlussendlich bin ich zu der Überzeugung gelangt dass es nichts besseres geben könnte. Drei mal die Woche rufe ich bei Vince in New York an, der dort auf eine Elite-Internat geht um sich für sein Jura-Studium vor zu bereiten. Als ich einen Blick durchs Küchenfenster auf den Strand werfe weiß ich auch bereits was ich heute Nacht machen werde. Ich werde baden gehen. Zwar nicht nackt, denn dafür bin ich einfach zu gut erzogen, aber auf jeden Fall spärlich bekleidet. Und was soll's? Dieser Teil vom Strand gehört sowieso mir! Also laufe ich hinauf in mein viel zu großes Zimmer um mir meinen blauen Bikini und darüber ein Strandkleid anzuziehen. Ich schnappe mir ein Handtuch und meine Badeschlappen. Die Tür knallt laut hinter mir zu als ich hinaus renne und dabei viel Sand aufwirble. Der Weg zum Strand ist steil, aber das ist mir egal, alles was zählt ist diese Verrücktheit und die Aufregung die es verursacht, wenn man nachts schwimmen geht. Unten angekommen lasse ich mein Badetuch und das Kleid einfach fallen und laufe auf das vom Mond beschienene glitzernde Meer zu. Die Wellen preschen ans Ufer und ich werfe mich direkt hinein. Obwohl das Wasser kalt ist, fühlt es sich trotzdem angenehm an. Immer wieder laufe ich gegen aufkommende Wellen an und lasse mich dann von ihnen mitreißen. Der Mond und die Sterne werden vom Wasser reflektiert und so leuchtet alles in einem strahlenden Silber. Wenn ich mich umdrehe und die Klippen hinauf blicke kann ich mein großes Haus sehen, das wie eine monströse Festung dort oben steht. In manchen Fenstern brennt Licht. Ich kann mein Zimmer erkennen, mit dem Balkon und dem kleinen Turm. Ich lege mich ins Wasser und lasse mich von den Wellen schaukeln, während ich die Sterne beobachte. Schöner könnte das Leben nicht sein, denke ich mir und lächle selig. Wenn Vince hier wäre, war mein nächster Gedanke. Mein Bruder fehlt mir. Ihm würde das hier sicher gefallen. Er wäre der gewesen dem solch eine Idee, wie nachts schwimmen zu gehen, als erstes eingefallen wäre. Das Wasser wird langsam kühler, aber ich bleibe noch etwas liegen. Selbst wenn ich jetzt zurück in mein altes Leben müsste, hätte sich die Reise nach Kalifornien für diese eine Nacht gelohnt. Als ich langsam aus dem Wasser steige glitzern Wassertropfen auf meinem Körper wie Perlen. Erst trockne ich mich mit dem Handtuch ab, dann breite ich es auf dem Boden aus um mich darauf zu legen. Wenn ich hier so liege und alles ist ruhig kann ich mich kaum an mein altes Leben in der Großstadt erinnern. Nach gefühlten 3 Stunden stehe ich auf und ziehe mir schweren Herzens mein Kleid wieder an. Mit dem Handtuch unterm Arm und den Schuhen in der Hand schlendere ich langsam den kleinen sandigen Weg hinauf zu meinem Haus. Vor der Tür drehe ich mich noch einmal um und lächle dem Wasser leicht zu. Ein leises Versprechen bald wieder zu kommen.


Hier stehe ich nun. Vor einer riesigen pompösen Burg. Naja eigentlich vor meiner neuen Schule, aber der Unterschied ist kaum zu erkennen. Wie bei den meisten Privatschulen tragen hier alle Uniformen. Schwarzer Rock/Hose, weiße Bluse/Hemd und ein schwarzes Jackett. Die Jungs tragen blau karierte Krawatten, wir Mädchen Schleifen. Wenigstens keine Kniestrümpfe, denke ich, die karierten Socken sind schon schlimm genug. Mit teuren Autos und Chauffeur fahren die Schüler vor. Hier werde ich mit meinem Escalade gar nicht auffallen. Ich straffe die Schultern und gehe auf die Eingangstür zu. Im Inneren schlägt mir sofort der Geruch reicher Leute entgegen. Unverwechselbar. Ich rümpfe die Nase und biege rechts um die Ecke ins Sekretariat ein.
„Hallo“, sagt eine leise Stimme zu mir sobald ich die Tür geöffnet habe. „Du bist Evangeline?“.
Die Frau hinter dem Schreibtisch ist klein und zierlich. Bestimmt nicht größer als ich, und ich bin gerade mal 1,55 m groß. Ihr Frisur sitzt tadellos und hinter der riesigen Brille lachen mich freundliche blaue Augen an.
„Ja“, sage ich einfach nur. Von ihrer Freundlichkeit fühle ich mich leicht bedrängt, wie immer eigentlich wenn jemand ohne Grund übermäßig glücklich ist.
„Ich habe hier deinen Stundenplan“, flötet sie fröhlich weiter, „er ist persönlich an dich angepasst. Die Klassenzimmerzahl steht immer dahinter. Ebenso steht dort oben in der Ecke die Zahl deines Spinds und der Code“. Mit einem leichten Lächeln nehme ich das Blatt entgegen und murmle ein Danke bevor ich hinaus gehe. Da ich als Hauptfächer hauptsächlich Sprachen gewählt habe, ist mein Stundenplan voll damit. Hinzu kommen noch Geschichte und Musik. Dieses Jahr habe ich etwas ganz verwegenes getan. Ich habe mir nämlich als Wahlfach Gesang ausgesucht. Singen ist für meine Mutter keine anständige Form der Musik. Aber die neue Eve kümmert sich um solche Dinge ja nicht mehr. 1. Stunde Italienisch. Perfekt. Auf der Rückseite des Blattes befindet sich eine Karte vom gesamten Schulgelände. Da das Schuljahr neu angefangen hat, muss ich mich wenigstens nicht bei jedem Lehrer einzeln bekannt machen, sondern bin genauso neu wie alle anderen. Die Tür zum Klassenraum steht offen also trete ich einfach ein und versuche den Lehrer ausfindig zu machen. Es ist eine Sie. Groß, schlank, dunkle leicht gelockte Haare. Ich setze mich an einen Tisch in der zweiten Reihe.
„Hallo, du bist sicher Evangeline!“. Die Lehrerin ist vor mich getreten. Ich sehe überrascht auf.
„Ja, aber nennen sie mich bitte Eve!“. Nie wieder Evangeline!
„Gerne! Ich bin Ms. Avano. Die meisten anderen kenne ich ja schon von letzten Jahr, aber du kannst dich gern kurz vorstellen, wenn du möchtest“, bietet sie mir an.
„Nein danke“, ist alles was ich sage und sie nickt freundlich. Obwohl ich mir geschworen habe, mich zu ändern würde das zu weit gehen. Mich vor eine gesamte Klasse zu stellen und von meinen Hobbys zu erzählen. Alleine bei dem Gedanken daran graust es mir.
Einige Schüler die herein kommen bemerken mich und tuscheln. Hauptsächlich irgendwelche Mädchen denen Zicke schon auf der Stirn steht. Die Jungs drehen sich ebenfalls nach mir um. Einfach ignorieren! Als die Schulglocke ertönt klingt sogar diese ein wenig aufgeblasen.
Die Stunde vergeht wie im Flug da Ms. Avano sich die ganze Zeit mit mir beschäftigt und testet wie gut ich bin. Mein Italienisch ist beinahe makellos und sie ist mehr als nur erstaunt.
„Eve!“, ruft die Frau am Ende der Stunde, „warte doch bitte noch kurz!“.
Ich packe den Block und die Stifte in meine Tasche und hänge sie mir um die Schulter.
„Du bist sehr gut!“, meint sie dann, als ich vorne bei ihr am Pult stehe.
Die alte Eve hätte jetzt gelächelt und verneint. Aber wieso sollte ich nicht zugeben dass ich gut bin? Schließlich stimmt es ja.
„Danke“, sage ich also nur, „ ich habe mich als Kind bereits sehr für Sprachen interessiert“.
„Das ist schön! Bitte nimm dir bevor du gehst noch ein Buch aus dem Schrank dort hinten!“.
Die nächsten beiden Stunden auf meinem Plan sind Französisch und Mathematik und auch hier ist der Lehrer wieder mehr als zuvorkommend. Es ist anders als an meiner alten Schule. Hier kümmert sich jeder Schüler nur um sich selbst oder seinen festen Freundeskreis. Zwar werde ich von manchen nach meinem Namen gefragt oder wo ich herkomme aber mehr auch nicht. Die längste Zeit der Pause bin ich damit beschäftigt meinen Spind zu suchen und die Bücher die ich bereits habe hinein zu tun. Ich werde beim vorbei gehen von vielen angestarrt. Von manchen abwertend von anderen bewundernd. Aber es ist mir egal. Die neue Eve kümmert sich um solche belanglosen Dinge nicht mehr.
Direkt nach der Pause kommt mein Lieblingsfach – Musik. Bei solchen gewählten Hauptfächer sind in einer Klasse meist nicht mehr als 5-10 Schüler. Um in die Musikklasse zu kommen muss man mindestens 2 Instrumente spielen.
Ich komme in den Raum und dieses mal ist es sogar noch auffälliger dass alle Augen auf mich gerichtet sind. Klar, bei nur 8 Personen.
„Hallo, ich bin Eve“, sage ich in die Stille hinein, „ich bin neu hier“.
„Ah, ja genau!“, sagt ein großer schlaksiger Mann, der am hinteren Ende des riesigen hohen Raumes steht.
„Ich bin Mr. Gartner. Ok Schüler wir sind vollzählig setzt euch bitte“. Die Stühle sind im Kreis aufgestellt und ich setzte mich direkt neben ein viel zu dünnes kleines Mädchen mit roten Haaren und vielen Sommersprossen.
„Also Eve, dann sag uns doch mal was du für Instrumente spielst und wie lange schon!“. Na Toll, jetzt muss ich mich doch vorstellen.
Ich stehe auf und versuche dabei einen Überblick über alle zu bekommen.
„Ich spiele Klavier seit 12 Jahren, Violine seit 10 Jahren und Querflöte, genauso lang“. Ich höre ein beeindrucktes Raunen und spüre gleichzeitig missbilligende Blicke.
„Perfekt“, sagt unser Lehrer sichtlich erfreut und dann teilt er uns in Zweiergruppen ein und schickt diese in verschiedene Ecken des Raumes. Gemeinsam mit einem großen blonden Jungen gehe ich zum Klavier.
„Hallo, mein Name ist Alex“, stellt er sich vor und lächelt.
„Eve“, sage ich und ergreife seine ausgestreckte Hand. Er sieht nett aus. Blond, braune Hundeaugen und Grübchen.
„Lass dich von den anderen nicht einschüchtern!“, meint er dann plötzlich, während wir auf den Lehrer warten, „für manche hier ist alles ein Wettkampf“. Bei den Worten muss ich lächeln. Nicht lange zuvor war ich genauso gewesen aber nun weiß ich dass es wichtigeres gibt.
„Danke“, sage ich deshalb und erinnere mich daran, dass ich ja netter werden wollte, „und wie lange spielst du schon?“.
„Seit 8 Jahren“. Langsam kommen wir ins Gespräch und ich stelle fest, dass ich den Jungen mag.
Unser Lehrer gibt uns ein Stück dass man zu zweit spielen muss. Und während wir gemeinsam üben unterhalten wir uns weiter, über Musik, die Schule, seine Familie. Aus den Augenwinkeln sehe ich die anderen. Die einen spielen Cello, manche Klarinette und andere Gitarre.
Nach dieser mehr oder weniger unterhaltsamen Stunde habe ich Studierzeit. Diese verbringe ich hier im Musikzimmer und übe noch ein bisschen. Das habe ich an meiner alten Schule auch gern gemacht. Wenn ich aus dem Fenster schaue kann ich einen Teil der Turnhallen und die Sportplätze draußen sehen. Während ich zu einem Stück übergehe, welches ich völlig blind spielen kann, blicke ich weiter raus und beobachte die Jungs die Sprinten üben. Der größte unter ihnen, der bis zu diesem Zeitpunkt weit hinten lag, fängt an aufzuholen, bis er am Ende als erster ins Ziel kommt.
Die anderen schlagen ihm auf den breiten Rücken oder sie stützen sich ab. Aus meiner Entfernung ist es schwer zu unterscheiden. Ich wende den Blick ab und konzentriere mich wieder auf mein Spiel. Die Tür zu diesem Raum ist geschlossen und draußen kann mich niemand hören, also summe ich leise zu dem Lied. Die Freistunde neigt sich ebenfalls dem Ende zu und mit jeder Minute die vergeht werden die Vögel über meinem Kopf und die Schmerzen mehr bis ich es nicht mehr aushalte und aufhören muss zu spielen. Ich greife in meine Tasche und ziehe eine orangefarbene Dose heraus. Ich spüle eine Tablette mit Wasser herunter und schließe kurz die Augen. Die Kopfschmerzen werden leichter und meine Sicht klarer. Ein Blick auf die Uhr sagt mir dass es Zeit wird zu gehen. Die nächsten drei Stunden habe ich erst Deutsch, Latein und Geschichte In Latein treffe ich wieder auf das rothaarige Mädchen und Alex. Mein Letztes Wahlfach stellt sich als eine Art Chor heraus und mein Lehrer ist wieder Mr. Gartner. Ich bekomme kaum etwas von meinem restlichen Tag mit, da meine Kopfschmerzen trotz der Tablette immer stärker werden und so bemerke ich auch kaum wie mich auf dem Weg zu meinem Auto jemand an rempelt und alle meine Bücher aus meiner Tasche fallen. Verwirrt und nicht ganz klar im Kopf blicke ich zu einem Jungen auf der gute 2 m groß zu sein scheint. Seine dunklen lockigen Haare hängen ihm in die Stirn und dahinter sehen mich zwei eiskalte blaue Augen an. Wie durch einen Schleier hindurch bemerke ich dass es der große Sportler ist, der bei dem Rennen gewonnen hat.
„Alles in Ordnung?“, fragt mich eine tiefe Stimme.
„Ich.....Ja....mir ist nichts passiert“.
Er bückt sich um meine Bücher wieder aufzusammeln. Im ersten Moment will ich ihm helfen, doch beim kleinsten Versuch mich zu bücken, fährt mir ein heftiger Schmerz in den Kopf.
„Danke“, sage ich leise und versuche zu lächeln.


„Alles in Ordnung?“, frage ich das Mädchen. Anfangs wollte ich sie eigentlich anfahren besser aufzupassen, aber ein Blick in ihre rauchigen grünen Augen hat gereicht um mir zu zeigen dass etwas nicht stimmt.
„Ich...Ja...mir ist nichts passiert“, antwortet sie mit einer leisen sanften Stimme. Ich sammle ihre Bücher vom Boden auf und halte sie ihr hin.
„Danke“, sagt sie und sieht zu mir hoch. Ihr Blick ist abwesend und es scheint als würde sie durch mich hindurch sehen.
„Geht es dir wirklich gut?“.
„Ja....ich muss.....muss nur mein Auto wiederfinden“, sagt sie und sieht sich verwirrt um. So durcheinander wie sie jetzt ist, kann ich sie nicht Autofahren lassen. Ich seufze. Na toll.
„Wie wärs wenn ich dich nach Hause fahre“, biete ich ihr schließlich leicht genervt an, „du siehst ein wenig daneben aus“.
„Nein ich.......das kann ich schon selber......ich hab nur leichte Kopfschmerzen“.
„Ja das glaub ich dir sofort. Steig ein, dein Auto kannst du ja nachher holen“. Sie macht keine Anstalten sich zu bewegen also packe ich sie etwas unsanft am Arm und schiebe sie in die entsprechende Richtung zu meinem Jeep.
„Anschnallen!“, sage ich als wir sitzen und im ersten Moment sieht sie mich nur verwirrt an bevor sie folge leistet. Dann greift sie in ihre Umhängetasche und holt eine Dose mit Tabletten heraus. Ihre Hand zittert leicht. Sie nimmt 3 davon und lehnt dann ihren Kopf mit geschlossenen Augen an die Tür.
Aus den Augenwinkeln beobachte ich sie und mir fällt auf wie klein sie ist. Ihre Haare sind braun und umrahmen ihr Gesicht in weichen kurzen Locken. Ihre Hände die sie in winzigen Fäusten auf ihrem Schoß liegen hat sind zierlich und blass und es tut mir fast leid, dass ich sie vorher so grob gepackt habe. Dann schüttele ich den Kopf. Was soll das? Wegen dieser PERSON musst du jetzt einen Umweg machen.
„Danke“, höre ich wieder diese helle Stimme und werfe ihr kurz einen bösen Blick zu.
Sie hat die Augen wieder offen und blickt aus dem Fenster.
„Hier musst du abbiegen“, sagt sie und deutet auf eine Abzweigung.
Wieder rege ich mich auf. Wenn jemand solche Kopfschmerzen hat, sollte er nicht in die Schule kommen. Die Tabletten scheinen zu wirken denn der Blick den sie mir zu wirft wird immer klarer.
„Danke“, wiederholt sie, nur dieses mal lauter.
„Das wäre nicht nötig gewesen“.
Ja klar, sie hätte keine drei Schritte mehr geschafft!
„Ich bin Eve“, versucht sie es erneut.
„Tyler“.
Als keine weitere Erklärung von mir kommt dreht sie sich wieder von mir weg und schaut aus dem Fenster. Zwischen durch sagt sie mir immer wieder mal wo ich abbiegen soll und nach 30 langen stillen Minuten halte ich in einer großen pompösen Einfahrt vor einem regelrechten Schloss. Es stellt sich heraus dass sie keine 5 min Fußmarsch von mir entfernt wohnt
„Kommst du jetzt alleine klar?“, frage ich genervt als sie dabei ist aus zu steigen.
Im ersten Moment blinzelt sie nur, dann verdüstert sich ihr Blick etwas.
„Ja! Keine Angst mein Auto hole ich später schon selbst! Aber trotzdem Danke!“. Mit einem letzten bösen Blick auf mich hüpft sie aus dem Auto und geht auf ihr Haus zu. Ich sehe noch wie die Tür krachend hinter ihr zu fällt und zucke leicht zusammen. Vielleicht hätte ich doch netter sein sollen, schließlich ging es ihr nicht gut. Aber sie hat meinen gesamten Zeitplan durcheinander gebracht! Und dann ist sie nicht einmal richtig Dankbar! Was hat sie erwartet? Dass ich Luftsprünge mache weil ich sie nach Hause fahren darf? Dass ich sie noch rein trage? Diese verdammten hochnäsigen Schnösel! Leise vor mich hin grummelnd biege ich aus der Einfahrt und fahre zu mir nach Hause.



Endlich im Haus lehne ich mich an die Tür und lausche auf das Geräusch des weg fahrenden Jeeps.
Kurz erschauere ich bevor ich mit langsamen Schritten in die Küche gehe um ein wichtiges Telefonat zu führen.


Ich parke vor unserem Haus und möchte gerade meine Jacke vom Rücksitz nehmen, da fällt mir die schwarze Tasche neben mir auf. Ich seufze entnervt. Auch das noch!
„Hallo, Schatz!“, ruft meine Mutter aus der Küche, „Du kommst spät!“.
„Ja ich wurde aufgehalten“. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, aber als ich meine Autoschlüssel auf dem Tisch ablege und mich umdrehe, steht sie bereits direkt hinter mir und schaut mich mit diesem speziellen Blick an den nur Mütter drauf haben.
„Setz dich, iss ein paar Plätzchen und erzähl“.
„Also“, beginne ich, nachdem ich den ersten Keks runter geschlungen habe. Nachdem ich ihr die gesamte Geschichte erzählt habe steht sie auf und holt eine neue Packung Plätzchen.
„Hier die hast du dir verdient! Braver Junge, du hast das richtige getan! Das arme Mädchen!“. Sie streicht mir nachdenklich über die Haare.
„Ist sie die neue die ein paar Häuser weiter unten wohnt?“.
„Ja, in dieser riesigen Festung“.
Meine Mutter setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber und legt das Kinn auf ihre Hände.
„Ich habe gehört sie wohnt dort ganz alleine“. Oh nein! Dem Blick meiner Mutter zu entnehmen erwacht gerade ihr Beschützerinstinkt.
Ich traue mich kaum von Eve's Tasche zu erzählen, denn ich weiß was dann kommt. Doch sobald sie mich wieder so anblickt rutscht es mir einfach heraus.
„Ok, nach dem Essen gehst du zu ihr rüber, bringst sie ihr und bietest ihr an sie morgen mit zur Schule zu nehmen!“.
„WAS?“, frage ich erschrocken..
„Na klar, schließlich steht ihr Auto noch auf dem Parkplatz!“, sagt meine Mutter und steht auf um die anderen zu rufen.
„Cal! Dorien! Nate! Kommt rein, es gibt Essen!“.
Die Hintertür wird aufgerissen und meine beiden Brüder kommen herein gestürmt.
„Hallo Kleiner“, sagt Cal und schnappt mir den Keks aus der Hand. Er und Dorien setzen sich zu mir an den Tisch und fangen an zu streiten.
„Wo habt ihr denn euren Vater gelassen?“. Unschuldige Blicke werden ausgetauscht und kurz darauf kommt mein Vater triefend nass durch die Tür und blitzt die beiden böse an.
Meine Mutter lacht laut auf und schickt ihn nach oben zum umziehen.



Testergebnisse. Gewachsen. Verbreitet sich rasant. Wie benommen sitze ich auf der Hollywoodschaukel in meinem großen Garten und schaue aufs Meer. Vorsichtig bewege ich die Schaukel mit den Füßen hin und her. So viele Dinge gehen mir durch den Kopf. Und doch ist es als wäre er leer. Mein Gehirn gaukelt mir vor, diese wunderschöne Stimme von heute Nachmittag zu hören.
Am Gartentor sehe ich eine dunkle Gestalt vor dieser einzigartigen rot-orangenen Kulisse stehen beachte sie aber nicht weiter.
„Hallo“, höre ich wieder diese einzigartige tiefe Stimme und denke im ersten Moment es ist wie vorher nur Einbildung.
Obwohl die Person immer näher kommt, mache ich mir nicht die Mühe meinen Kopf zu drehen.


„Hallo?“, versuche ich es noch mal, doch selbst jetzt, als ich nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt stehe, scheint sie mich nicht zu bemerken. Eigentlich wollte ich wütend herein stürmen ihr die Tasche, gezuckert mit ein paar Vorwürfen geben und dann gleich wieder gehen.
Aber als ich vor ihrem Tor stand und sie wie versteinert dort saß konnte ich es nicht.
Endlich dreht sie mir den Kopf zu und blickt zu mir auf. Sie rutscht ein Stück auf ihrer Bank und zeigt mir somit dass ich mich setzen kann. Was ich zu meiner Überraschung auch tue.
„Du hast vorhin deine Tasche vergessen“, sage ich und lege sie ihr in den Schoß.
„Danke“, antwortet sie und legt die Hände darauf.
„Tut mir wirklich leid!“, sagt sie ein paar Sekunden später. Überrascht sehe ich sie an.
„Ich weiß, es muss so ausgesehen haben, als wäre ich undankbar, aber so ist das nicht“.
„Ist schon gut“, würge ich weitere Erklärungsversuche ab.
„Nein“, sagt sie überzeugt, „es ist nur so, dass ich mir eigentlich vorgenommen habe mir von anderes nicht mehr alles vorschreiben zu lassen und mit deinem Befehlston hast du mich so zusagen eiskalt erwischt“. Während sie redet blickt sie weiter auf die untergehende Sonne. Schweigen tritt ein.
„Und wieso sitzt du hier?“, frage ich sie.
„Das Leben hat mich mal wieder eingeholt“, sie schweigt einige Zeit, „ wie kommst du überhaupt hier her?“.
„Über den Strand. Ich wohne nur ein paar Minuten von hier entfernt.“. Sie lächelt, als ich den Strand erwähne, schaut mir aber weiterhin nicht ins Gesicht.
„Hast du dein Auto schon geholt?“.
„Nein, ich......ich war beschäftigt!“.
„Wie wärs wenn ich dich morgen mit zur Schule nehme, dann musst du heute nicht mehr mit dem Bus in die Stadt fahren“.
Zum ersten Mal heute Abend wendet sie mir ihren Blick direkt zu. Ihr grünen Augen sehen mich überrascht an.
„Ich bin nicht immer so unfreundlich wie heute nach der Schule“, sage ich. „Zwar meistens aber wenn möchte kann ich auch nett sein“.
„Und ich bin nicht immer so verwirrt“, antwortet sie lächelnd und dreht ihren Kopf wieder zum Meer. Ich merke dass das eben so eine Art Entschuldigung zwischen uns war.
Ein wenig bleibe ich noch sitzen, bevor ich langsam aufstehe und mich verabschiede.
Auf dem Weg nach Hause denke ich darüber nach was gerade geschehen ist. Ich wollte eigentlich wütend auf sie sein, aber nur ein Blick auf sie hat gereicht, dass meine Wut verraucht ist. Sie sah irgendwie traurig aus. Allein.
Langsam schlendere ich den Strand entlang bis ich zu unserem Haus gelange. Im Gegensatz zu ihren steht es auf nicht auf einer Klippe sondern nur etwas erhöht und hat einen eigenen Steg.
Ich klettere den kleinen Hang hinauf und laufe ins Haus. Drinnen höre ich bereits unseren Hund bellen.



Bis lange in die Dunkelheit hinein sitze ich noch draußen. Wieder ist mein Kopf leer und ich merke kaum wie die Sonne am Horizont verschwindet. Vorsichtig schwinge ich mit der Schaukel hin und her. Leise beginne ich ein kleines Lied zu singen und für einen kurzen Augenblick ist es als würde ich keine fliegenden ChickenWings sehen und als wäre nicht diese seltsame Stimme in meinem Kopf die mir unzusammenhängende Dinge ins Ohr flüstert.


Die ersten Sonnenstrahlen fallen durchs Fenster und kitzeln mich im Gesicht. Vorsichtig blicke ich auf die Uhr. 6 Uhr morgens. Kurz spiele ich mit dem Gedanken einfach liegen zu bleiben. Mich übermannt eine Müdigkeit die nichts mit meinem Körper zu tun hat sondern nur in meinem Kopf ist. Aber das ist der falsche Weg. Entschlossen stehe ich auf und mache mich für die Schule fertig. Im Badezimmer sehe ich in den Spiegel. Ich bin blasser als sonst und habe Augenringe, aber diese über schminke ich gekonnt. Den ersten Kaffee trinke ich in vier kräftigen Zügen aus, den zweiten schlürfe ich genießerisch und den dritten gieße ich mir in meinen Thermobecher und setze mich, während ich auf Tyler warte, an den großen Flügel im Wohnzimmer und spiele. Ich bin müde darum ist das Lied langsam und traurig. Ich höre ein Hupen von draußen und schnappe mir meine Tasche und den Becher. Tyler sitzt in seinem Jeep und schaut grimmig. Nichts ist mehr zu sehen von der Ruhe zwischen uns gestern Abend.
Er nickt mir zu Begrüßung nur zu, und schweigend steige ich ein, klemme mir den Becher zwischen die Knie und schnalle mich an. Die Tasche lege ich vorher auf den Rücksitz. Obwohl niemand etwas sagt, ist es keine unangenehme Stille. Wir kommen bei der Schule an und ich gebe mir einen Ruck (Hoch lebe die neue Eve!) und lächle ihm kurz zu bevor ich aussteige. Der zweite Tag verläuft genauso wie der erste. Ich sitze im jeweiligen Klassenzimmer und bin die perfekte Schülerin. In der Pause gehe ich dieses mal in die Cafeteria. An der Schlange zum Essen stehe ich direkt hinter Alex und dieser lädt mich ein bei ihm und seinen Freunden zu sitzen. Ich bin drauf und dran abzulehnen, erinnere mich dann aber wieder an meinen Vorsatz. Also hole ich mir einen grünen Apfel und eine Flasche Wasser und folge ihm zu einem der runden Tische an dem ein recht durchschnittlich aussehender braun haariger Junge, ein großes blondes Mädchen und die kleine Rothaarige von gestern sitzen. Er stellt mir die größere von beiden als seine Schwester Lynn und den Jungen als ihren Freund vor. Das Mädchen aus unserem Musikkurs heißt Ali. Während Lynn breit grinst und sofort Platz für mich macht ist Ali eher zurückhaltend. Und den Namen des Jungen habe ich bereits nach wenigen Sekunden wieder vergessen.
„Und woher kommst du, Eve?“, fragt Lynn mich, bevor sie herzhaft in ihr Sandwich beißt.
„Aus New York“.
„Ziemlich große Stadt“, sagt sie mit vollem Mund und kaut dann genüsslich weiter. Erstaunt sehe ich ihr dabei zu wie sie während der nächsten 20 min ihr Essen, das von Ali und die Hälfte von dem ihres Bruders verschlingt.
„Puuh! Ich glaube jetzt bin ich satt!“. Sie scheint meinen Blick zu bemerken und fängt an schallend zu lachen.
„Ich glaube ich weiß was du jetzt denkst!“, sagt sie dann zu mir.
Kurz überlege ich, entschließe mich dann aber die Wahrheit zu sagen.
„Wenn du glaubst ich denke: Soll ich dir noch ein Mac-Menü bestellen oder reicht eine Familienpizza? Dann ja, du weißt was ich denke“.
Wieder fängt sie an zu lachen und ihr schießen die Tränen in die Augen.
„Ich glaube ich mag dich!“, sagt sie, als sie wieder Luft bekommt, „weißt du ich bin Leistungssportlerin und brauche die Kohlenhydrate, deshalb muss ich soviel essen“.
„Leistungssportlerin?“, frage ich nun interessiert.
„Ja, Leichtathletik“. Jetzt bin ich wirklich überrascht und auch leicht beeindruckt.
Sie fangen an sich über ihren letzten Wettkampf zu unterhalten und ich nutze die Zeit indem ich mich etwas in der Cafeteria umsehe. Ich beobachte ein paar Mädchen wie sie tuscheln und sich unglaublich lächerlich aufführen und ein paar Jungs die zwanghaft versuchen ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass von der Pause nur noch 5 min übrig sind, also esse ich schnell meinen Apfel, damit ich die Tabletten nicht auf leeren Magen nehmen muss. Während ich versuche sie unauffällig zu schlucken, spüre ich einen Blick auf mir. Verwundert drehe ich den Kopf etwas nach recht und sehe direkt in zwei eiskalte blaue Augen. Tyler sitzt an einem Tisch am anderen Ende des Raumes. Bei ihm sind ein paar große Sportlertypen die allesamt genauso essen wie Lynn. Wir sehen uns für einen Sekundenbruchteil in die Augen bevor er den Kopf abwendet um sich mit seinem Freund zu unterhalten. Kurz bevor wir los müssen vibriert mein Handy. Ich hole es heraus und lese die Nachricht die Vince mir geschickt hat:

Hey Evie!
Wie läufts bei dir denn so?
Weißt du schon was neues?
xoxo Vince



Ich muss lächeln. Niemand außer ihm nennt mich Evie. Und niemand sonst dürfte das.


Hallo Vince,
bei mir steht alles wie immer ...
aber ich habe gestern mit Derek gesprochen
näheres erzähle ich dir heute Abend am Telefon.
Eve



Bevor die anderen etwas merken, stecke ich mein Handy wieder zurück in meine Rocktasche und stehe gemeinsam mit ihnen auf um zum Unterricht zu gehen.
Meine Feitstunde verbringe ich wieder im Musikzimmer. Wenn ich aus dem Fenster sehe kann ich Tyler sehen, wie er mit ein paar anderen Basketball spielt. Ich versuche mich auf das Stück zu konzentrieren. Als die Tür aufgeht hebe ich erschrocken meinen Kopf.
Ein großer Junge steht wie angewurzelt in der Tür. Ohne mit dem Spielen auf zu hören lächle ich ihn an.
„Hallo“, sage ich.
Er kommt einen Schritt auf mich zu und lächelt ebenfalls.
„Hallo ich bin Dorian! Ich habe draußen vor der Tür Musik gehört und wollte nachsehen wer so wunderschön spielen kann.“
„Danke“, sage ich leicht verlegen, „Ich bin Eve“.
Kurz reißt er die Augen auf und dann wird sein Lächeln sogar noch breiter.
„Dann bist du also das Mädchen, welches meinen Bruder fast zur Weißglut getrieben hätte?“.
„Dein Bruder?“. Ich sehe ihn mir etwas genauer an. Groß, breitschultrig, schwarze Haare, blaue Augen.
Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
„Du bist Tyler's Bruder?“, frage ich und wundere mich, warum mir die Ähnlichkeit zwischen den beiden nicht sofort aufgefallen ist.
„Ja“, sagt er und zieht einen Stuhl zu mir heran um sich zu setzten, „ich bin eine Klasse über ihm“. Wieder dieses schelmische Grinsen.
„Also was war das eben für ein Stück?“.
„Nichts all zu bekanntes“, antworte ich achselzuckend und wende mich wieder dem Klavier zu um weiter zu spielen.
„Du hast doch nichts dagegen oder?“, fragt er und hält einen großen Block und einen Bleistift in die Höhe.
Wieder zucke ich mit den Schultern, höre aber nicht mit dem Spielen auf. Einige Zeit sitzen wir schweigend nebeneinander, während er mich zeichnet.
„Du siehst mir gar nicht nach einem Künstler aus, eher nach einem Sportler“, meine ich und drehe meinen Kopf leicht in seine Richtung.
„Gut erkannt“, sagt er und lächelt leicht, aber sein Blick bleibt konzentriert, „mein Hauptfach ist auch Sport, aber jeder darf doch eine zweite Leidenschaft haben oder nicht?“. Er blickt kurz auf um nochmal mein Gesicht zu studieren und ich kann mir ein Lachen nur schwer verkneifen.
„Du bist ganz anders als Tyler“, rutscht es mir dann heraus.
Wieder lacht er.
„Ja mein kleiner Bruder ist etwas.....naja....wie soll ich sagen.....am besten beschreibt man ihn als, von jedem genervt und immer schlecht drauf“.
„Du hast fies vergessen“, sage ich und zu meiner Überraschung fängt er wieder an zu grinsen.
„Er war schon immer sehr ernst und leicht griesgrämig“.
Bis zum Ende der Stunde verfallen wir wieder in Schweigen und als ich mir das Bild dann ansehe, entrutscht mir ein leises „Oh!“.
„Und?“, fragt er.
„Wow“, mehr bekomme ich nicht heraus. Das Bild ist eine fast perfekte Kopie von mir. Zwar glänzen meine Augen nicht so und auch meine Haare sehen nicht so weich aus, aber ansonsten könnte es mein Spiegelbild sein.
„Und wieso gleich nochmal hast du Sport als Hauptfach gewählt?“, frage ich leicht sarkastisch.
Er lacht, bedankt sich für die schöne Stunde und winkt mir zum Abschied noch einmal zu.


In der letzten Stunde (Musik) erklärt uns unser Lehrer, dass er vorhat im Laufe des Schuljahres 3
Soli an die besten Schüler verteilen wird. Ein allgemeines Raunen geht durch den Raum. Wir sind nur 9 Schüler und jeder würde gern ein Solo singen.
Dann fragt er nach jemandem der für das Lied, welches er diese Stunde mit uns üben möchte, die Begleitmusik spielen könnte. Als sich niemand freiwillig meldet, hebe ich die Hand und setzte mich an den Flügel. Es ist kein schweres Stück. Während ich schon mal alleine übe, verteilt er die verschiedenen Parte an die anderen. Die Stunde verläuft schnell und ich habe sogar ein wenig Spaß.


Zu Hause sitze ich in der Küche und mache mich über mein Abendessen her.
Unser Hund liegt zu meinen Füßen und schnarcht leise vor sich hin, während meine Mutter wie immer hin und her wuselt um alles aufzuräumen, was sowieso schon sauber ist.
Dorian kommt herein, sieht mich, grinst und setzt sich mir gegenüber.
Nach ein paar Minuten Stille, blicke ich auf und sehe dass er immer noch genauso breit lächelt.
„Was?“, frage ich genervt.
„Nichts“, antwortet er achselzuckend und holt seinen Block und Stifte heraus.
„Du hast mir nur nicht gesagt, wie hübsch deine kleine Freundin ist“, sagt er, schlägt eine Seite auf und fängt an bei einem Bild die Farben und Feinheiten ein zu zeichnen. Verwirrt sehe ich ihn an und blicke etwas genauer auf seine Zeichnung. Lächelnd dreht er sie zu mir um und ich sehe in große mandelförmige Augen, die bereits leicht mit grün aus schraffiert wurden. Natürlich erkenne ich ihr Gesicht sofort und meine Augenbrauen senken sich wütend herab. Meine Mutter tritt hinter mich um sich das Bild ebenfalls anzusehen.
„Oh, ist das das neue Mädchen auf eurer Schule?“, fragt sie begeistert und mein Blick verdüstert sich noch mehr. Na toll!
„Wie wärs wenn wir das arme Mädchen mal zu uns zum Essen einladen? Sie sieht doch schrecklich dünn aus, findest du nicht?“. Diese Frage ist an Dorian gerichtet. Der ihr freudestrahlend zustimmt.
„Mom, sie ist weder einsam noch unterernährt! Vielleicht will sie einfach nur ihre Ruhe haben und lebt deshalb allein in dem Haus!“.
Sie übergeht mich einfach und fängt an Pläne zu schmieden, was sie kochen könnte, wenn Eve uns besucht. Dorian sieht mich weiter grinsend an und wackelt mit den Augenbrauen.



Na toll! Ich hatte fast den ganzen Abend dafür gebraucht meinen Bruder davon abzuhalten in den nächsten Flieger zu steigen und zu mir zu kommen. Das ganze hatte in einem Streit geendet und jetzt sitze ich an meinen Hausaufgaben und bin kurz davor meinen BlackBerry an die Wand zu werfen, wenn Vince nicht bald damit aufhört mir Nachrichten zu schicken. Das ist ein weiteres Problem....die Stimmungsschwankungen. Im einen Moment bin ich in bester Stimmung und in der nächsten würde ich am liebsten irgendwelche Dinge durch die Gegend werfen. So etwas haben Teenager normalerweise immer, aber ich nicht! Ich war immer beherrscht und ruhig. Aber in Augenblicken wie diesen, wo meine Wangen gerötet und meine Augen glasig vor Wut sind, würden selbst meine Eltern mich nicht wieder erkennen. Derek hatte mir erzählt das eine gewisse Persönlichkeitsveränderung nicht ungewöhnlich ist, aber das ich zur keifenden Furie werden würde, habe ich nicht erwartet. Und so schnell wie ich mich in die Wut hinein gesteigert habe, so schnell ist sie auch verraucht und lässt eine Gefühl von völliger Erschöpfung in mir zurück. Langsam lege ich den Kopf auf die Schreibtischplatte und schließe die Augen. Mir ist klar, dass ich mich lächerlich aufführe. Vince möchte mir nur helfen. Und doch kann ich das nicht zu lassen.

Tut mir Leid wegen vorher
wir telefonieren morgen ok?
Eve


Nachdem ich die Nachricht verschickt habe, gehe ich schlafen. Ich lege mich in mein großes weiches Bett mit dem Seidenbezug und schließe die Augen.


Ich erwache im Badezimmer, wo ich nach Stunden vor Erschöpfung zusammen gebrochen war. Die ganze Nacht über hatte ich mich übergeben müssen und am Ende sogar noch Nasenbluten bekommen. Als ich jetzt vor den Spiegel trete, erschrecke ich. Das Mädchen das mir entgegen blickt, ist schneeweiß und hat eingefallene Augen. Ich spritze mir Wasser ins Gesicht und putze mir gründlich die Zähne. Das Frühstück lasse ich ausfallen, da mein Magen immer noch sehr gereizt zu sein scheint. Ein weiterer Grund warum ich von zu Hause weggegangen bin. Niemand sollte mich so sehen. Schon gar nicht Vincent!
Der Schultag zieht mehr oder minder an mir vorbei, ohne, dass ich etwas mit bekomme. In der Mittagspause sitze ich wieder bei Alex und seinen Freunden. Dorien lacht mich kurz an, während er an mir vorbei schlendert um an den Tisch zu gehen, von dem aus sein Bruder mich böse ansieht.
Während des Unterrichts vertreibe ich mir die Zeit damit, mit meinem Bruder zu schreiben.
Mir wird immer wieder schwindlig aber ich ignoriere es einfach. Während meiner Freistunde gehe ich nach draußen, da frische Luft mir sicher gut tut. Hinter der Schule ist das große Sportgelände mit Basketballplätzen, Fußballfeldern und vielem mehr. Ich setze mich auf die große Wiese gegenüber von der Laufbahn und nehme ein Buch aus meiner Tasche. Eigentlich bin ich schrecklich müde, aber wenn ich jetzt einschlafe, wache ich vor heute Abend nicht mehr auf. Also versuche ich mich auf das Buch zu konzentrieren. In meinem Kopf dreht sich alles und die Sonne, die viel zu heiß auf mich nieder scheint, macht es nicht besser. Ich bin so durcheinander, dass ich manche Seiten zweimal lesen muss und nach ungefähr 10 min gebe ich es auf.
Ich schrecke auf, als jemand hinter mich tritt und mir ein viel zu großes Cap aufsetzt.
„Du bekommst noch einen Hitzschlag wenn du weiter so in der Sonne dahin schmorst“, sagt Tyler mit seiner stets gereizten Stimme und lässt sich neben mich fallen. Ich blicke zu seinem Gesicht hoch und sehe ihn mit großen Augen an. Es herrscht Stille zwischen uns.
„Hast du jetzt nicht eigentlich Sport?“, frage ich als Versuch ein Gespräch zu beginnen.
„Doch, aber es fällt immer mindestens einmal pro Woche aus. So als Verschnaufpause“. Er sieht mich nicht an sondern guckt stur gerade aus.
„Woher weißt du eigentlich, dass ich jetzt Sport hätte?“, fragt er mich nach einigen Sekunden.
Ich zucke nur mit den Schultern und deute auf das Fenster welches zum Musikzimmer gehört.
„Ich hab die letzten Tage dort drin geübt und konnte dich draußen sehen. Du fällst auf, schließlich bist du ganz schön groß....“.
„Und du dafür ganz schön klein“, sagt er mit einem grimmigen Lächeln, „wie groß bist du?
1, 50m?“.
Ich sehe ihn so würdevoll an wie möglich und antworte: „ 1, 55m“.
Wieder sitzen wir eine Zeit lang schweigend da, bis er mir einen Apfel reicht. Verwirrt blicke ich zu ihm hoch.
„Du bist nicht nur klein, sondern auch dünn! Du hast in der Pause nichts gegessen!“. Mein Blick wechselt von der vorherigen Verwirrung zu Überraschung.
„Wie hast du vorher so schön gesagt? Du fällst eben auf“, er zuckt mit den Schultern, legt mir den Apfel in die Hand, steht auf und geht.
Ich beobachte wie er davon schlendert und merke dass ich leicht lächle. Vorsichtig berühre ich die Kappe die ich immer noch auf dem Kopf trage und schüttele den Kopf.


„Nein! Aha...... Okay und wann sagen sie hätten sie einen Termin frei? Diesen Freitag“.
Ich stehe vor dem Kalender und kreise den besagten Tag rot ein.
„Okay, dann am Mittwoch um halb 6. Ja. Ja, die Akte werde ich auch mitnehmen. Nein, ich komme alleine, meine Eltern sind nicht hier“. Ich beende das Gespräch und lasse mich seufzend auf einen der Stühle am Küchentisch fallen. So schnell geht das also..... Ohne irgendeinen erkennbaren Grund breche ich in Tränen aus. O Gott! Wieso? Was bitte habe ich Gott getan? Habe ich kleine Kinder geschlagen? Hundewelpen getreten? Eine Bank ausgeraubt? NEIN!
Meine Trauer schlägt in Wut um. Ich springe auf und werfe die schöne Kristallvase die auf dem Tisch steht an die Wand. Die Splitter glitzern als sie zu Boden rieseln. Immer noch wütend sehe ich mich nach dem nächsten Opfer meiner Gewalt um. Das Geschirr in der Spüle! Ich schmettere jedes Teil nacheinander auf den Boden und die Zerstörung facht das Feuer in mir nur umso mehr an. Nun weine ich nicht mehr weil ich traurig bin, sondern aus Wut. Ich trample mit den Beinen auf dem Boden und schnaufe empört auf. Jetzt wo es kein Geschirr mehr gibt, welches ich kaputt machen könnte, renne ich hinaus, den Weg zum Strand hinunter und schreie. Ich schreie so laut wie ich nur kann. Meine Beine können mich kaum noch tragen und ich lasse mich einfach fallen. Auf meinen Knien schreie ich immer noch, doch dieses mal klingt es verzweifelt. Langsam werden meine wütenden Atemzüge zu leisen Schluchzern. Ich greife mit meinen Händen tief in den Sand hinein, um mich irgendwo festzuhalten. Es ist alles so unfair! Meine Tränen laufen mir heiß die Wange hinunter und tropfen mir von Nase und Kinn. Auf einmal schlägt mein Weinen in Lachen um. Es klingt selbst in meinen Ohren falsch. So hysterisch! Und da sitze ich nun im Dreck, die Beine angezogen und lache mich kaputt. Was tue ich hier eigentlich, frage ich mich. Wenn jemand in der Nähe gewesen wäre, hätte er mich sicher für verrückt gehalten. Und er hätte wahrscheinlich recht! Ich versuche mein Lachen zu unterdrücken, dies führt jedoch dazu, dass mir wieder Tränen über die Wangen laufen.
Aus den Augenwinkeln sehe ich eine dunkle Gestalt auf mich zukommen.
„Hallo“, sagt eine bekannte Stimme freundlich und kniet sich neben mich, „o mein Gott, du weinst ja! Ist etwas passiert?“.
Als ich mit nassen Wangen in Dorians erschrecktes Gesicht sehe, kann ich mich nicht mehr halten und breche wieder in hysterisches Lachen aus. Sein Gesichtsausdruck wechselt von entsetzt in überrascht und verwirrt. Ich lache so lange bis ich keine Luft mehr bekomme und meinen Kopf auf seine Schulter legen muss weil mir schon schwindlig wird.
„Willst du mich an deinem Witz teilhaben lassen?“, fragt er mich als ich wieder still bin.
„Was war denn so lustig?“.
„Ich!“, ist meine Antwort und wieder muss ich kichern.
„Du? Also du bist zwar nett aber als Komikerin würde ich dich nicht bezeichnen“, sagt er spaßeshalber.
„Was machst du hier?“, frage ich ihn um vom Thema abzulenken.
„Unser Hund Noodelz ist abgehauen und streunt hier sicher irgendwo herum“. Bei seinen Worten dreht er den Kopf und blickt den ganzen Strand ab.
„Hast du einen großen wuscheligen Neufundländer gesehen?“.
„Nein. Aber wenn du willst helfe ich dir beim Suchen“, biete ich an, da ich Dorian mag und eine Ablenkung gebrauchen könnte.
„Ja!“, antwortet er freudestrahlend, springt auf und zieht auch mich auf auf die Füße.
Gemeinsam gehen wir den ganzen Strand ab, finden jedoch nichts.
Plötzlich hören wir hinter uns ein lautes Bellen. Ich drehe mich um und erblicke oben bei meinem Haus ein großes schwarzes Etwas.
„Noodelz komm sofort hier runter!“, ruft Dorian dem Hund zu, doch dieser wedelt einfach nur mit seinem Schwanz und fängt an interessiert in meinem Garten auf und ab zu laufen.
„O Gott, Eve, das tut mir leid!“, sagt Dorian zu mir, als sein Hund beherzt das Bein hebt und einen meiner Büsche markiert.
Schnell laufen wir den steilen Weg zu meinem Haus hoch. Oben angekommen hebt Noodelz interessiert den Kopf, sieht mich und rennt freudig auf mich zu. Bevor ich mich auch nur bewegen kann liege ich auch schon auf dem Boden. Begraben unter einem Berg von Haaren.
„O Gott! Runter! Eve es tut mir soooo Leid!“.
Der Hund fängt an mein Gesicht ab zu lecken.
Bevor ich wieder zu Atem kommen kann wird er bereits von mir runter gezerrt.
„Noodelz! Na warte! Du kannst was erleben“, fängt Dorian an den Hund mit erhobenem Finger zu schimpfen. Ich liege immer noch auf dem Boden und versuche mich von dem Schock zu erholen, gleichzeitig aber erheitert mich diese Situation ungemein. Ich fange wieder zu lachen an, aber dieses mal ist es richtig. Nicht hysterisch oder verrückt. Es ist frei und voller Freude.
Dorian versucht den Hund böse anzusehen, muss aber ebenfalls schmunzeln. Der Hund bellt zu meinem Lachen.
„Das ist nicht lustig, Noodelz“, wieder ein unterdrücktes Lachen seinerseits, „Nein! Das ist eine sehr ernste.....ach was soll's?“.
Lachend lässt Dorian sich zu mir auf den Boden fallen. Der Hund gesellt sich zu uns und schleckt mir freudig übers Gesicht. Ich hebe meine Hand und streichle ihn vorsichtig am Kopf.
„Wow! Das Fell ist ja so weich!“, sage ich mehr zu mir als zu Dorian.
„Ja und mehr als pflegebedürftig!“.
Meine Hand habe ich weiter im Fell des großen Hundes begraben, der nun brav vor mir sitzt und meine Aufmerksamkeit genießt.
„Was bist du nicht für ein kleiner Schleimer?“, sagt Dorian lachend, als Noodelz mir die Pfote reicht.
„Hör nicht auf ihn! Du bist total süß!“, flüstere ich in sein Fell und drücke mein Gesicht ganz fest hinein.
„Du scheinst Tiere zu mögen“, meint Dorian nach einiger Zeit der Stille.
„Ich weiß nicht. Ich hatte nie all zu viel Kontakt zu Tieren.....“.
„Auf jeden Fall hast du ein Händchen dafür!“.
Wir verbringen noch einige Zeit damit hier im Gras zu sitzen, bevor Dorian aufsteht und sich gemeinsam mit dem Hund von mir verabschiedet.
In dieser Nacht schlafe ich ruhig und traumlos.


Die nächsten zwei Schultage vergehen wie im Flug und ehe ich mich versehe ist bereits Freitagnachmittag. Anders als die vorherigen Tage fahre ich nicht nach Hause, sondern mache mich auf den Weg in die Stadt.......
Ich habe vor meinem Termin noch genügend Zeit um mir bei Starbucks einen Kaffee zu kaufen. Mit dem Becher in der Hand wandere ich die Straßen entlang zu meinem eigentlichen Ziel.


Jetzt sitze ich in einem Café und schaue gedankenverloren aus dem Fenster. In meiner Hand halte ich eine Tasse mit Kaffee und durch meine Kopfhörer höre ich Musik. Für die Fußgänger draußen muss ich aussehen wie ein ganz normales Mädchen......... aber das bin ich nicht. Nicht mehr nach heute. Heute sind die Befunde aus dem Labor gekommen. Ich habe die Bilder gesehen. Derek meinte ich solle nach Hause gehen und mir darüber im klaren werden, welche Schritte für mich die besten wären. O Gott! Wie soll ich das bloß Vince sagen?
Die Tür geht auf und ich hebe den Kopf, mehr aus Reflex als dass es mich wirklich interessiert hätte. Überrascht blicke ich Tyler an der mich soeben erkannt hat und auf mich zu kommt. Brummig und gereizt sagt er „Hi“, bevor er sich mir gegenüber hinsetzt. Innerlich nachsichtig lächelnd nehme ich meine Ohrstöpsel heraus. Eine Ablenkung wird mir sicher gut tun.
„Hätte nicht erwartet dich hier zu treffen“, murmelt er in die Speisekarte.
„Du scheinst mir auch nicht gerade der Shoppingtyp zu sein“, sage ich mit einem Blick auf die Taschen neben ihm.
Tyler legt die Karte auf den Tisch und verzieht grimmig den Mund.
„Geburtstagseinkäufe“, brummt er schlicht und gibt bei der Bedienung die gerade an unseren Tisch tritt seine Bestellung auf. Ich bitte sie ebenfalls nochmal um einen Kaffee und dazu einen Schokomuffin. In der Zeit während wir auf unsere Getränke warten herrscht Schweigen. Tyler starrt mich über den Tisch hinweg an und ich hoffe man kann mir meine Betroffenheit wegen dem was heute geschehen ist nicht ansehen.
„Und wieso bist du um diese Uhrzeit noch in der Stadt?“, fragt Tyler, nachdem man ihm sein Wasser und das Sandwich hingestellt hat.
„Ich wollte mich einfach mal etwas genauer in der Stadt umsehen, schließlich kenne ich mich hier noch nicht so gut aus“, lüge ich einfach drauf los. Schweigen tritt wieder ein.
„Ich habe vor ein paar Tagen deinen Hund kennen gelernt“.
Tyler Mundwinkel heben sich ein wenig.
„Ja Dorien hat bereits davon erzählt, dass Noodelz sich in dich verliebt hat“.
Ich lache beim Gedanken an seine stürmische Begrüßung und lege den Kopf in die Hände.
„Erzählst du mir etwas über deine Familie?“, frage ich vorsichtig und hoffe dass er mich damit von meinen traurigen Gedanken ablenken kann.
Er sieht mich skeptisch an und fragt: „Was willst du denn wissen?“.
„Keine Ahnung, hast du noch mehr Geschwister oder Haustiere, wie bist du aufgewachsen? So etwas halt...“.
Wieder schweigen, dann ein genervtes Seufzen.
„Hm, also ich habe zwei Brüder. Dorien kennst du ja bereits und der älteste von uns ist Cal. Und nein, Noodelz ist unser einziges Haustier. Ab und zu verirrt sich zwar die ein oder andere streunende Katze zu uns, das wars aber auch schon. Mein Vater ist Anwalt und meine Mutter Hausfrau. Sie hat die Hosen in der Familie an. Cal studiert Jura und Dorien wird wahrscheinlich nach der Schule Kunst studieren. Jetzt du!“.
„Naja ich habe einen Zwillingsbruder. Vincent“. Tyler blickt mich abwartend an, doch ich sehe nur zurück.
„War's das? Was ist mit deinen Eltern?“.
Ich zucke nur mit den Schultern und blicke stirnrunzelnd auf meinen Muffin. Na? Was ist wohl mit meinen Eltern, außer dass es sie nicht einmal kümmern würde, wenn ich vom nächsten Bus überfahren werden würde?


„War's das? Was ist mit deinen Eltern?“, frage ich sie zweifelnd, doch sie scheint leicht zusammen zu zucken und wendet den Blick ab. Meine Gefühle auf diese Reaktion sind gespalten. Auf der einen Seite macht mich ein solches Verhalten immer wütend. Schließlich war es ja ihre Idee über dieses Thema zu sprechen, oder? Aber dann gibt es noch die andere Seite in mir die bei dem traurigen Blick dieses Mädchens am liebsten den Ritter auf dem weißen Ross ausgepackt hätte um ihr alle weiteren Probleme zu ersparen. Na toll!, denke ich genervt, jetzt bin ich auch noch schizophren!
„Können wir nicht weiter über dich sprechen?“, höre ich sie leise fragen. Ich bin überrascht, dass sie mir doch noch geantwortet hat und gebe nach kurzen Überlegen nach.
„Sie mal, was hälst von dem Geschenk für meine Mutter?“, frage ich sie und lege eine große Tüte auf den Tisch zwischen uns. Sie lächelt mich kurz dankend an und schaut dann hinein. Langsam zieht sie den großen silbernen Bilderrahmen heraus, welcher am Rand mit kleinen und großen Lilien verziert ist.
„Da kommt noch ein Bild von ihr hinein, welches Dorian gerade malt“, erkläre ich ihr und fahre mit dem Finger kurz über den Rand.
Sie lächelt wieder, aber dieses mal ist es ein großes Lächeln, bei dem ihre Augen erstrahlen.
„Sie muss eine wirklich tollte Frau sein, wenn ihr euch so viel Mühe gebt“.
Während sie dies sagt, wechselt ihre Stimme von freundlich zu sehnsüchtig.
„Ja das ist sie! Sie ist sogar großartig“, sage ich und meine Mundwinkel wandern nach oben,
„und dazu ist sie sogar noch die beste Köchin die ich kenne“.
„Ich wollte auch immer Kochen lernen“, sagt sie mit einem lächeln auf den Lippen.
„Und wieso hast du das nie?“.
Ihre Blick verdunkelt sich wieder.
„Wir haben einen Koch, da bestand nie die Notwendigkeit......“.
„Und jetzt? Ich meine du wohnst doch allein. Wer kocht jetzt für dich?“.
„Naja, während ich in der Schule bin, kommt immer eine Aushilfe, welche einkauft, das Mittag- und Abendessen kocht und überall aufräumt“. Eve zuckt mit den Schultern und legt den Rahmen wieder ganz sachte zurück in die Tüte.
„Das ist doch die Chance. Du könntest sie bitten dir etwas beizubringen!“.
Langsam schüttelt Eve den Kopf und antwortet: „Nein, meine Mutter würde den Schock ihres Lebens bekommen, wenn sie erfahren müsste, dass ihre Tochter bei einer Angestellten lernt....“.
Was hatte sie bloß für Eltern, dass sie nicht einmal über sie sprechen wollte und die so etwas banales Verboten, wie Kochen?
„Kannst du kochen?“, fragt sie und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
„Nicht besonders gut, auch wenn meine Mutter Wert darauf gelegt hat, dass jeder ihrer Söhne wenigstens die Grundlagen beherrscht“.
Wieder lächelt sie und fast gleichzeitig heben wir unsere Getränke um zu trinken.
Überraschenderweise finde ich die Zeit mit ihr nicht mal halb so unangenehm wie vermutet.


Endlich wieder zuhause
, denke ich seufzend und lasse meine Tasche auf den Stuhl in der Eingangshalle fallen. In meinem Zimmer höre ich erst mal den AB ab und merke entsetzt, dass Vince bereits 4 mal angerufen hat. Mist! Ich hab ihm doch versprochen, dass wir heute Telefonieren. Entsetzt sehe ich auf meinen Wecker. Schon 19 Uhr! Verdammt! Bei ihm ist es jetzt schon nach 9! was mach ich jetzt nur?
So schnell wie möglich ziehe ich mir meinen weichen Flanellschlafanzug an und lege mich mit meinem Handy aufs Bett.

Noch wach?
Eve


Während ich auf eine Antwort warte, schnappe ich mir ein Buch und nach knapp 2 Minuten vibriert mein BlackBerry auch schon.

Ja...


Oh Mist! Er ist sauer! Mit fliegenden Fingern tippe ich:

Es tut mir so leid, dass ich nicht daheim war, Vince!
Ehrlich! Ich habs ganz vergessen? Verzeihst du mir?


Wieder dauert das Warten eine Ewigkeiten, bevor er endlich antwortet:

Hm....


Fast entsetzt schaue ich auf das Display, als auf einmal mein Haustelefon klingelt. Erschrocken springe ich auf und haste an den Schreibtisch.
„Ja“, sage ich atemlos und bin entsetzlich erleichtert, als Vince Stimme mir am anderen Ende antwortet.
„Was war denn los? Ich hab mir Sorgen gemacht! Sonst verpasst du unsere Termine doch auch nie!“, wettert er sofort los und ich muss automatisch grinsen. Er war schon immer der hitzigere von uns beiden gewesen und hat sich immer sofort in alles hinein gesteigert.
„Keine Angst! Ich war nur in der Stadt und hab etwas die Zeit vergessen“, versuche ich ihn zu beschwichtigen.
„Das machst du doch normal auch nicht“, sagt er daraufhin misstrauisch und innerlich verdrehe ich bei seinen Worten die Augen. Er sucht Anzeichen. Anzeichen, dafür, dass mit mir etwas nicht stimmt. Aber ich möchte heute Abend nicht darüber reden. Nicht heute. Also versuche ich einfach vom Thema abzulenken.
„Vince, wieso haben wir eigentlich nie kochen gelernt?“.
„Was? Wovon redest du?“.
Reingefallen! Milde lächelnd lasse ich mich wieder auf mein Bett fallen und rolle mich auf der Seite ein.
„Wieso wir nicht kochen können habe ich gefragt“.
„Wie kommst du denn jetzt darauf“, fragt er erstaunt und ich muss bei dem Stirnrunzeln, das er wahrscheinlich gerade hat, schmunzeln.
„Naja, sollten wir das nicht eigentlich können?“
„Ja...ähm nein! Gott, Evie, du verwirrst mich“, sagt er dann lachend und ich stimme fröhlich mit ein.
„Du fehlst mir“, kommt es seufzend von ihm.
Ich lächle traurig.
„Du mir auch!“.
„Es fehlt mir etwas mit dir zu unternehmen, mit dir zu lachen....Gott, ich wusste gar nicht, dass ich so abhängig von dir bin“, lacht er dann.
„Tja, ich glaube, das ist normal bei Zwillingen“.
„Wie wäre es wenn ich dich in den Herbstferien besuchen würde?“.
Ich weiß, am liebsten hätte er es, wenn ich zu ihm käme, aber....das geht nicht....noch nicht.
„Ja. Das wäre schön“.
Wir plaudern noch etwa eine Stunde, dann gehe ich ins angrenzende Badezimmer und lasse Wasser in die Wanne. Das wird mir sicher gut tun!

Morgens aufstehen. Das fällt mir immer am schwersten. Ganz besonders nach einer Nacht wie dieser. Mein Kopf war so voller Gedanken, dass ich einfach nicht einschlafen konnte und als mein Wecker klingelt, habe ich das Gefühl gerade mal 5 min geschlafen zu haben.
Nach den wenigen Tagen die ich jetzt hier bin, hat sich bereits eine Routine entwickelt. Nach dem Duschen, Zähneputzen und Anziehen gehe ich nach unten, hole mir einen Apfel und den Kaffee, welchen die Kaffeemaschine mit eingestelltem Timer gemacht hat und setze mich damit hinaus auf die Hollywoodschaukel. Ich stehe meist so zeitig auf, dass ich noch genug Zeit zum entspannen habe. Das Meer sieht am Morgen einfach wunderschön aus. So ruhig. Man kann noch kaum Wellen erkennen und nur ein paar Fischerboote schippern am Horizont entlang. Ich wäre jetzt auch gern da draußen auf dem Meer. Würde mich sanft hin und her schaukeln lassen und die noch langsam aufsteigende Sonne würde sowohl meine Haut als auch mein Herz wärmen.
Mit Bedauern stehe ich auf und drehe der perfekten Szene hinter mir den Rücken zu.
Drinnen wasche ich kurz die Tasse aus und mache mich dann auf den Weg zu meinem Auto.

Die Schule ist für mich schon zur Routine geworden. Ich setzte mich in meinen jeweiligen Kurs, arbeite gut mit, unterhalte mich hier und da mit Alex oder seinen Freunden. Die Pause verbringe ich entweder im Musikzimmer, der Cafeteria oder draußen auf dem Sportplatz. Ich habe es mir angewöhnt auch die Freistunde draußen zu verbringen und den anderen beim Sport zuzusehen.
Wieder verschwimmen die Tage geradezu in einander und ehe ich es überhaupt merke, ist bereits Freitag und das Wochenende beginnt. Ich habe nicht wirklich viel vor. Vielleicht werde ich endlich mal meine Sachen auspacken und dann den Rest der Zeit am Strand verbringen.

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Tag der Veröffentlichung: 07.01.2011

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