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PROLOG

In längst vergangener Zeit, als der Mythos von gütigen Königen noch nicht geboren war.

 

In tiefster Stille, als das Abendrot endgültig seinen Schleier über den Tag warf, fand ein kleines Mädchen die ohnmächtige und verletzte junge Frau im Gebüsch. Das kleine Mädchen hatte sich bis jetzt hier versteckt und es kannte sehr wohl dieses Gesicht, das sich blass und blutig vor ihr offenbarte. Das musste Prinzessin Alesha sein! Nachdem es die Prinzessin gemustert hatte, wendete es sich abrupt um. Und so schnell ihre Beine sie trugen, rannte sie durch den Wald. Es tropfte von den Bäumen und der Wind heulte durch die Äste. Außerdem taten dem kleinen Mädchen mit den langen, braunen Haaren die Füße weh. Um in der Eile dem Gemetzel am Schloss zu entkommen, warf sie die störenden Holzschuhe von den Füßen. Die neun Jahre alte Fin rannte und rannte. Sie hatte Angst, aber fühlte sich auch ein bisschen wie ein Wolfskind, wenn es durch die Wälder streift.

Ihr Herz pochte gleichmäßig und doch erzitterte ihr kleiner Körper, als vor ihr ein unheilvoller, sich stetig wandelnder Schatten vorbeihuschte. Das dunkle Bündel Gefahr versuchte, sie von vorn, hinten, rechts und links zu erwischen. Eine wütende Düsternis folgte ihren Spuren in der Erde.

Sie litt unter fürchterlicher Angst, die sich immer tiefer in ihre Knochen fraß, und sie verlor jegliches Gefühl für die Zeit. Endlich sah sie die Feuer, die in dem kleinen Dorf leuchteten, aus der scheinbaren Undurchdringlichkeit des Waldes auftauchen und näher rücken. Ihre Mutter stand vor dem zwergenhaften Strohhäuschen und wartete besorgt, ob sie im Blut der Abenddämmerung ihre Tochter sehen würde. Und da, endlich, sah sie ihre kleine Fin, wie sie schnell wie der Wind, barfuß und nass, aus dem Wald gerannt kam.

 

 

1. Kapitel

Mutter und Tochter fielen sich in die Arme. Fin blickte ihrer Mutter ins Gesicht, wo sie Erleichterung in den funkelnden Augen bemerkte. Lilie war eine schöne Frau mit sehr weißer, sanfter Haut. Dünnes, braunes Haar umspielte ihr liebenswürdiges Antlitz und ihre Augen schimmerten grün, braun und blau zugleich. Der Rand um ihre Iris spiegelte sich braun, dann stahl sich der blaue Teil hervor und ein letzter dünner Rand funkelte in zartem Grün. Wenn Fin ihrer Mutter Lilie nur lang genug in die Augen schaute, fand sie sich im Ozean zwischen schwimmenden Delfinen wieder.

Lilie war um die 45 Jahre alt und trotzdem wirkte sie, als wäre sie erst 35, denn sie beeindruckte durch unvergleichlichen Lebenseifer, Selbstbewusstsein und Erfahrung. Sie trug ein einfaches, typisches Bauernkleid, wobei die Schürze ihren schlanken Körper schmeichelhaft umspielte, wie sie es bei kaum einer anderen Frau tat.

»Fin, ich habe mir solche Sorgen gemacht!«

Fest drückte sie ihre kleine Tochter an ihren Körper, während sich Besorgnis in ihren schillernden Augen widerspiegelte.

»Mami, meine Füße tun weh«, gab Fin zurück, als würde sie von jemandem anderes Füßen reden, so unwirklich waren ihr der Schmerz und das Blut an ihren Sohlen.

»Eine boshafte Kreatur treibt nicht weit von hier ihr Unwesen. Ich fühle es. Komm schnell ins Haus, bevor es dunkel wird!«, flüsterte Lilie hektisch und angstvoll.

Wild blickte sie um sich. Dann streckte Lilie den Arm schützend um ihre Tochter. Sie führte ihr kleines Mädchen wenige Meter auf dem erdigen Boden zum Haus. Ein kleiner Weg war durch die Pferde und Pflüge entstanden, die hier oft lang mussten. Mit einem Anschieben öffnete Lilie die alte Tür des kleinen Strohhäuschens, das ihr eigen war. Sie öffnete sich zwar, aber nur unter Schwierigkeiten und mit einem leisen Ächzen. Erleichtert atmete Fin aus, als sie die Wände und den Boden aus hellem Eichenholz sah. Sie liebte ihr reizendes Zuhause. Entgegen der geregelten Ordnung, die hier herrschte, standen rechts zwei Holzbetten. Auf ihnen glänzten die himmlisch zusammengelegten weißen Federdecken. Am liebsten hätte Fin sich in eines gekuschelt. Aber links flackerte ein Feuer im rot gekachelten Kamin, der eine wohlige Wärme durch die Wohnung trug und Fin davon abhielt. Inmitten des Zimmers standen ein Tisch und drei dazu passende Stühle.

Fin zog genüsslich den heimischen Duft in ihre Nase ein, denn sie roch Pfefferminze in der Luft. Erleichtert setzte sie sich auf einen Stuhl und Lilie schob ihr hastig einen weiteren heran, auf dem Fin die Füße hochlegte. Lilie verschwand kurz in dem einzig anderen Raum, der ihnen als Küche diente. Dort hingen Kräuter von der Decke und jegliches Besteck bestand aus Holz. Wie in dem anderen Raum stand auch hier ein Bett.

Lilie hatte heute frischen Spitzwegerich gesammelt. Diese Pflanze fand sie dank ihres seltenen Gespürs überall: an Weiden und Äckern, auf trockenen Wiesen und sogar an Wegrändern. Diese hier hatte Lilie zufällig neben dem Haus entdeckt und mit dem unbestimmten Gefühl, dass diese Pflanze heute gebraucht werden würde, gepflückt. Als eiförmige, längliche und dichte Ähren erscheinen in dem kleinen Dorf zwischen Mai bis September die kleinen Blüten. Die bräunlich-weiße Blütenkrone ist unauffällig, aus ihr ragen vier Staubblätter mit gelblichen Staubbeuteln. Eine wahre Wunderpflanze! Lilie wusch die frischen Blätter in dem klaren Wasser vom Brunnen und zerquetschte sie mit einem Nudelholz auf einem eckigen Kirschholzbrett. Den so gewonnenen Blätterbrei trug sie anschließend mit äußerster Behutsamkeit auf die verletzten Füße von Fin auf.

Fin begann währenddessen ihrer Mutter von dem Blutbad am Schloss zu erzählen: »Anfangs war alles wie immer, Mutti. Der Koch hatte nur dieses Mal eine Magd zum Tor geschickt, die mir hastig die Äpfel abnahm. Ich war ganz schön verwundert, weil der Koch doch eigentlich immer so streng die Äpfel überprüft hat. Aber plötzlich begann ein lautes Geschrei. Ich weiß gar nicht, wo die Leute alle herkamen. Ich weiß es wirklich nicht!« Fin schluchzte, sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie fühlte sich so traurig. Warum konnte sie sich nur nicht erinnern? »Es war alles so schnell gegangen.«

Lilie drückte ihre liebe Tochter an sich. »Du musst dich nicht erinnern, Fin. Wirklich nicht?«, antwortete Lilie hilflos. Die Traurigkeit ihrer Tochter übermannte sie, also setzte sie sich seufzend hin und nahm Fin auf ihren Schoß. Als Fin die Wärme ihrer Mutter spürte, brach alles über sie herein. Aber es fühlte sich an, als wenn nicht sie, sondern ein anderes Mädchen das alles erlebt hätte. Als würde ihre Seele versuchen, sie zu schützen.

Sie holte tief Luft. »Sie haben geschrien, alle wild durcheinander. Dann bin ich losgelaufen, so schnell bin ich noch nie in meinem Leben gelaufen. Das hat sich angefühlt, als wenn meine Lunge platzen würde.«

Wieder wurde Fin von den Tränen überfallen, aber diesmal noch viel heftiger als vorher.

»Das hast du gut gemacht, Fin. Du bist ein tapferes Mädchen!«, tröstete Lilie ihre Tochter.

Fin nickte mit dem Kopf, ihr Gesicht war nass. Lilie wischte ihr die Tränen mit einem Tuch von den zarten Wangen und schaukelte sie in ihren Armen auf und ab.

»Ich wusste, dass ich es nicht bis in den Wald schaffen würde. Also habe ich mich im Gebüsch versteckt, und dann habe ich mir die Ohren ganz, ganz fest zugehalten und die Augen zugemacht«, meinte Fin, während sie sich die verweinten Augen rieb.

»Das war richtig, Fin. Genau richtig. Du bist wirklich schon ein großes Mädchen«, sagte Lilie so heiter, wie sie nur konnte.

Ein kleines Lächeln schlich um Fins Mundwinkel.

»Aber dann ...«, das Lächeln verschwand und sie schaute ihrer Mutter mit einem flehenden Blick in die schillernden Augen. »… hab ich die Prinzessin gefunden. Sie braucht unsere Hilfe.«

Lilie nickte und schaukelte ihre Tochter noch eine Weile auf und ab. Als sie sicher sein konnte, dass Fin sich beruhigt hatte, strich sie ihr sanft durch das lange, braune Haar.

»Allah sei Dank, dass ich dich, meine Tochter, hier jetzt in meinen Händen halte. Wenn dir etwas passiert wäre, ich ...«, murmelte sie gottergeben. Lilie rückte Fin auf den Stuhl, als sie aufstand. Fin schaute ihre Mutter gespannt an, während diese nachdenklich durch den Raum schritt.

»Irgendetwas stimmt nicht. Ein dunkler Fetzen Grauen schleicht durch die Gegend.«

Argwöhnisch trat Lilie ans Fenster und blickte durch die kleinen Vorhänge.

»Nicht einmal Allah verrät mir, welcher Schatten sich über uns setzt. In den Sternen lese ich ein gefährliches Unglück, das nicht abwendbar sein wird.«

Fin betrachtete ihre Mutter demütig.

»Wir müssen ihr helfen, Mutti! Sie tut mir so leid. Die Prinzessin war so normal. Hätte ich sie nicht als Hoheit erkannt, dann würde ich denken, sie ist wie wir.«

»Wieso bist du dir so sicher, dass dieses Mädchen wirklich die Tochter des Königs ist? Es könnte auch eine Magd gewesen sein«, hakte Lilie nach.

»Ich kenne ihr Gesicht von einem Gemälde. Immer wenn ich Gemüse und Obst in die Schlossküche brachte, kam ich an dem großen, verzierten Rahmen in dem langen Flur vorbei. Auf dem Bild war ein Mädchen mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen zu sehen. Du hast dich doch manchmal gefragt, warum ich so spät bin. Ich habe ganz die Zeit vergessen. Der Koch hat sich einmal zu mir gestellt. Wenn ich die Prinzessin mit dem weichen Gesichtsausdruck auf dem Boden neben dem Thron ihres Vaters sitzen sehe, dann vergesse ich die Zeit, hat er zu mir gesagt. Da habe ich nur genickt. Und dann habe ich überlegt, wie er das meint. Ich habe mir gewünscht, sie wirklich, in Fleisch und Blut zu sehen, aber nie hat sie das Schloss verlassen. Eines Tages zeigte der Koch in einen kleinen Garten. Da sah ich sie dann. Die Prinzessin und ihr Garten, keiner außer ihr darf ihn betreten. Ein Gefängnis aus Gold, nannte der Koch ihn. Ich wollte verstehen, was die Prinzessin uns mit diesen Augen sagen will.«

»Charakter in den Händen und Gesichtsformen eines Menschen lesen, das kann nur ein Weiser mit viel Erfahrung und Erleuchtung. Darum, Fin, irre dich nicht in ihrer Erscheinung. Sie würde nie sein wie wir, vielleicht ist sie bereits tot. Dennoch, was für ein Mensch sie auch sein mag, wir können sie da nicht liegen lassen«, billigte Lilie ihrer Tochter zu.

»Bitte Mutti! Sie hat niemanden, das weiß ich. Vor ein paar Tagen träumte ich von der Prinzessin. Alle haben sie angespuckt und sie weinte. Dabei hat sie niemandem etwas getan. Wenn überhaupt, ist ihr Vater an den Plagen in den Städten schuld. Sie kann doch nichts dafür. Wir müssen ihr helfen!«

»Ich bespreche das mit deinem Bruder«, schlug Lilie schließlich vor.

So hatte es Fin von ihrer Mutter erwartet, denn sie besprach mit Meik alles, jede Kleinigkeit. In der Familie Bauer galt es als oberstes Gebot, einander zu beraten und sich aufrichtig zu unterstützen.

Nervös suchte Lilie ihren Sohn Meik auf. Der 19 Jahre alte junge Mann mit den kinnlangen, blonden Haaren und dem starken Körper mistete gerade den Stall aus, als er seine Mutter eilig kommen sah.

Er wusste, dass etwas passiert sein musste, denn sie hatte diesen fürchterlich besorgten Blick in den Augen. Am liebsten hätte Lilie ihren Sohn jetzt umarmt, doch die dreckige Lederschürze und der große Pferdeapfel auf seiner Mistgabel hielten sie davon ab. Sie blieb im Rahmen des großen, offenen Stalltors stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Die auf den Fässern stehenden Öllampen ließen den Stall in ihrem weißen Licht erstrahlen.

»Meik, der Palast wurde eingenommen«, sagte Lilie mit angespannter und dennoch bemüht neutraler Stimme. Sie blickte sich um und sah Pfeil und Bogen auf einem Strohballen liegen. An der gegenüberliegenden Wand hing eine Zielscheibe aus Stroh.

Meik ließ erschüttert die Mistgabel fallen, die dumpf auf dem Erdboden aufkam.

»Was ist mit Fin? Wo ist sie? Geht es ihr gut?«, stieß Meik fassungslos hervor.

»Wir hatten Glück, unsere Kleine hat sich gut versteckt. Sie ist zuhause.«

Meik atmete erleichtert auf. »Fin ist klasse. Allah sei Dank!«

Er hob die Gabel am Holzgriff auf, lehnte sie an die Wand und zog die braune Schürze ab, die er dann am Stiel der Mistgabel wie an einem Haken aufhing.

Jemand stieß Lilie an. Sie drehte sich zur Seite und doch erkannte sie nur noch einen heulenden Windzug, in dessen Boshaftigkeit sich eine finstere Gestalt wog. Mit einem Augenschlag verschwand die Gestalt im Nichts. Verwirrt und besorgt gab Lilie vor, nichts sei geschehen.

»Sag mal, warum ist der Stall denn noch nicht ausgemistet? Sind die Tiere noch auf der Koppel? Hast du wieder trainiert?«, fragte Lilie plötzlich, bemüht, die ungute Ahnung und die bösen Geister mit dem Klang ihrer Stimme zu vertreiben.

»Wer rastet, der rostet. Schau, ich zeig`s dir«, sagte Meik grinsend, weil seine Mutter ihn ertappt hatte. Er nahm das Messer aus dem Stroh und zielte, dann schleuderte er den Dolch, zehn Meter von der Zielscheibe entfernt stehend, los. Lilie zuckte zusammen, als die scharfe Klinge zischend an ihr vorbeischnellte. Er traf beinahe die Mitte. Lilie stöhnte genervt. Sie gönnte ihrem Sohn sein Vergnügen, würde es sich doch nur nicht auf seine Aufgaben so negativ auswirken! Auch hatte sie den wahren Grund ihrer Anwesenheit bisher noch nicht angesprochen.

»Außerdem ist das leider nicht alles. Deine Schwester hat Prinzessin Alesha schwer verletzt im Gebüsch entdeckt«, fuhr Lilie trübsinnig fort.

Meik verzog die Brauen. »Unsere Leute wollten doch nur protestieren ... Warte, Mutti! Ich stelle dir gleich mal ein Fass zum Sitzen her.«

»Du hast doch hoffentlich nichts mit diesen Leuten zu tun, oder?! Das arme Mädchen liegt dort jetzt immer noch und verblutet vielleicht.«

»Natürlich nicht. Es ist auch nur eine Vermutung, aber ich denke, es hat mit der Gruppe von Valentin, einem Geschäftsmann aus der Stadt, zu tun. Er hat mir alles erzählt. Er hoffte, er könnte hier ein paar Männer rekrutieren. Alle jungen Männer wussten von den Protesten, aber dass es so bald passieren würde und so ausartet, damit habe ich nicht gerechnet. Sonst hätte ich nie zugelassen, dass Fin in diese Sauerei hinein gerät.«

Er hob nacheinander zwei umherstehende Fässer und stellte sie zusammen. Dann setzte er sich lässig auf eines.

»Mutti, du redest hier von der Prinzessin, einer Monarchin! Das Synonym für Unterdrückung, Feudalherrschaft und Hunger. Sie denkt, sie hätte das Recht, den Menschen alles zu nehmen. Auf unsere Kosten wird sie durchgefüttert und das Volk, ja, wir alle, müssen rackern. Sie hat sich seit Jahren nicht mehr dem Volk gezeigt, um seine Klagen zu hören. Sie hat nichts für die Kranken und Schwachen getan. Wenn sie glaubt, sie ist etwas Besseres, dann soll sie sich doch selbst helfen. Außerdem ziehe ich es vor, wenn sich ihre Feinde um sie kümmern, sonst durchsuchen sie noch das ganze Land. Jeder, der ihr Unterstützung gewährt, wird am Galgen baumeln. Sie geht uns einfach nichts an«, knurrte Meik ungehalten.

Mit der Hand wies er seiner Mutter, sich zu setzen. Doch sie blieb protestierend stehen. Meik ahnte, was dies zu bedeuten hatte. Lilie wollte eine deutliche Ansage von ihm. Doch Meik schwieg.

»Wir können die Prinzessin nicht einfach da liegen lassen. Sie ist ein Mensch wie wir. Wie stellst du dir das eigentlich vor? Ich glaube nicht, dass Fin die Prinzessin grundlos fand. Ich bin fest davon überzeugt, dass es unsere Bestimmung ist, der Prinzessin zu helfen«, unterbrach Lilie die kurze Stille.

»Du willst also, dass wir sie retten und dann hierher bringen? Ich hoffe, du bist dir bewusst, was das für uns bedeutet! Dort herrscht gerade Aufruhr und Gemetzel. Sollten sie uns entdecken, sind wir tot. Ich habe mich auf deinen Wunsch hin aus der Aktion rausgehalten. Valentin und seine Leute haben allen, die sich an den Protesten gegen den König beteiligen, viel Geld und hohe Positionen versprochen. Du wolltest uns vor einem Kampf schützen und jetzt schickst du mich, um einer Adligen zu helfen? Das kann ich nicht verstehen«, meinte Meik.

Lilie fühlte seine Bedenken. Sie teilte sie sogar mit ihrem Sohn.

»Allah hat uns gelehrt, dass, wenn man einen Menschen rettet, man die ganze Welt gerettet hat, und wenn man einen Menschen tötet, man die ganze Welt getötet hat«, sagte sie schließlich.

Meik schaute seiner Mutter einen stillen Moment lang in die Augen und nickte. Sie hatte ihm mit ihrer selbstbewussten Argumentation nicht all seine Sorgen nehmen können, doch er verstand nun, warum die Rettung der Prinzessin ihr so am Herzen lag.

»Deine Entscheidung. Ich bin dein Sohn und werde tun, was du von mir verlangst. Aber du trägst das Risiko! Doch jetzt muss schnell gehandelt werden, denn die Zeit läuft uns davon.«

Die Entscheidung war also getroffen, demnach sollte es Meiks Auftrag sein, die Prinzessin sicher zu seiner Mutter zu bringen. Meik zögerte nicht.

»Ich mach mich auf den Weg und hole Fritz. Schick uns bitte Fin hinterher, Mutti!«, sagte Meik obligatorisch, als wenn er ständig die eine oder andere Majestät retten würde. Er erhob sich schnell.

»Ich komme mit«, erklärte Lilie.

Meik lachte verdutzt. »Das würde nur auffallen, wir wären zu viele, um unbehelligt in dieser Situation umherstreifen zu können. Fritz und ich sind Männer. Es ist unsere Pflicht, die Frauen zu schützen. Und Fin nehme ich nur mit, weil sie uns den Weg zeigen muss. Ich bin schon eine Ewigkeit nicht mehr in der Stadt gewesen. Wenn was Schlimmes passiert, dann kann sie einfach flüchten, wegrennen. Sie als Kind wird keiner bemerken, aber dich, Mutti, wird man erkennen. Ich kann dich dort nicht auch noch schützen. Du musst hierbleiben, weil du die wichtigste Person von uns bist«, erklärte er mit ernster Miene, wobei er seiner Mutter tief in die Augen blickte.

»Aber ich kann euch doch nicht alleine gehen lassen«, protestierte sie besorgt.

»Du musst!«, bestimmte Meik. »Wir haben keine Wahl. Die Sache ist zu gefährlich.«

Lilie wusste nicht warum, aber Meik machte ihr weis, dass sie ihre Kinder nur an ihrem Ziel hindern würde.

»Na gut. Du kannst deine Schwester gleich bei mir abholen. Ich muss noch ihre verletzten Füße versorgen«, meinte sie bestimmt.

Meik nickte fügsam.

Er zog den Dolch aus der Zielscheibe und steckte ihn in den Gürtel. Schnellen Schrittes verließ er den Stall. Lilie verweilte einen Moment, dann lief sie wieder ins Haus zu ihrer Tochter Fin. Die kleinen Strohhäuser standen ruhig in der Abendstille da.

Meik erfreute sich seiner neunzehn Jahre, war groß gewachsen, hatte eine männliche, trainierte Figur und trug sein blondes, glattes, volumiges Haar etwas länger, millimeterkurz bis unter das Kinn. Drei leicht übers Haar geflochtene Strähnen schmückten die rechte Hälfte seiner Haarpracht. Sie waren sein ganzer Stolz, jeden Morgen flocht er sie von Neuem. Seine Augen funkelten braun, sein Gesicht war rein. Trotzdem hatte seine Ausstrahlung etwas von einem Jungen: mutig, frei, stark und voller Inspiration. Von der körperlich schweren Arbeit hatte er Muskeln bekommen, die sich deutlich unter seinem Hemd abzeichneten und sein Körper war wohl geformt.

Meik klopfte an die Tür des Strohhäuschens seines Freundes Fritz. Wutentbrannt öffnete Biene, die Mutter von Fritz, die Tür. Biene war eine taffe Frau, beinahe ein wenig mollig. Sie hatte ihr blondes, dickes Haar zu einem typischen Bauernzopf geflochten und dann fest am Kopf gekreiselt.

Als sie Meik erkannte, blickte sie genervt drein. Sie hatte sich ihren Sohn erhofft, nicht Meik. Wahrscheinlich hatten Fritz und sie sich wieder einmal gestritten. Meik war nicht einmal dazu gekommen, sein Anliegen vorzutragen, da nahm sie ihm die Worte auch schon vorweg.

»Er schläft im Stall«, meinte sie leise.

Eingeschnappt, weil Fritz sich mit Meik besser verstand als mit ihr, knallte sie die Tür zu.

Der Stall der Familie Löwenschmied befand sich wenige Meter neben dem Haus. Meik marschierte dort hin. Er fühlte einen Druck in seinem Nacken und wollte seinen Rettungsplan schnell hinter sich bringen. Außerdem war er müde.

Immerhin hatte er sich heute voll und ganz um die Tiere und den Stall gekümmert. In der Regel mistete er auch nicht so spätabends den Stall aus, doch an diesem Tag ging irgendwie alles schief. Seine Mutter hatte heute ein paar Verletzte von weit weg betreuen müssen und Leonidas der Hirte hatte sich verspätet, sodass Meik mit Fritz erst spät jagen gehen konnte. Dann war Fin auch nach Stunden nicht vom Palast zurückgekehrt und seine Mutter vor Sorge wild geworden.

Dennoch genoss er sein stets unbesorgtes, freies Leben.

Als Meik den Stall der Familie Löwenschmied öffnete, stieg ihm der durchdringende Geruch von Kuhmist in die Nase. Meik liebte den Geruch von Tieren, aber in Augenblicken wie diesem verstärkte der Mief nur seine Übelkeit. Doch wo Meiks Augen auch hinschielten, sie entdeckten Fritz nicht. Er kletterte hinter den Fässern umher und beugte sich über die Box der Ziegen. Ein Ziegenbock mit trügerischen Augen und kampflustigen Hörnern meckerte ihn wild an. Meik stöhnte verzweifelt.

Er lehnte sich von dem Vieh weg und drehte sich schon dem Ausgang zu, als ihm plötzlich Flocke einfiel. Flocke war eine große, ausgewachsene und gewaltige Kuh mit braunem Fell und weißen Flecken.

Sie musste in der Box im hinteren Eck liegen, deswegen hatte Meik sie nicht mit dem ersten Blick bemerkt. Er erinnerte sich an die Vorliebe seines Freundes für dieses Tier, also beugte er sich hoffnungsvoll zu der Kuh.

Meiks Mundwinkel formten sich zu einem Lächeln, da er Fritz endlich gefunden hatte. Er lehnte kuschelig an der Kuh Flocke und schlief genauso tief wie sie.

Meik mochte seinen Freund über alles. Fritz zierten braune Haare, männlich, schulterlang geschnitten. Er war ein anständiger Junge mit Stil, hatte eine trainierte Figur und stets ein seidenes Lächeln auf den schmalen Lippen. Seine braunen Augen leuchteten immer, wenn er von etwas überzeugt war oder sich freute. Fritz trug ein Leinenhemd und eine braune Hose. Dazu führte er wie viele braune Bundschuhe an den Füßen. Ein Lederband hatte er um seine Hose an den Waden gebunden.

Meik öffnete vorsichtig die Tür der Box. Unter seinen Füßen hörte er das Heu leise rascheln. Er bückte sich und rüttelte leicht an seinem Freund.

»Fritz, Fritz!«, flüsterte er.

Langsam öffnete Fritz die Augen. Da sah er seinen Freund Meik vor sich. Sanft hob er seinen Kopf von Flocke, um sie nicht zu wecken.

»Was ist?«, fragte er leise und drückte sich mit den Händen vom Boden ab.

»Es ist etwas Schreckliches geschehen«, antwortete Meik und zerrte an Fritz, der gerade erst auf den Beinen stand.

Fritz befreite sich schockiert aus Meiks hartem Griff, aber der Beunruhigung wegen geduldete er sich kaum, bis sie den Stall verließen. Dann griff Fritz seinen Freund Meik an den Oberarmen.

»Rück raus mit der Sprache!«, zischte er, als sie im Rahmen des Stalltores standen.

»Meine Mutter hat doch heute Fin zum Palast geschickt, wegen der Bestellung Äpfel für die Hofangestellten«, begann Meik zu erzählen.

»Ja und weiter. Ist Fin etwas passiert?«, fragte Fritz besorgt.

»Nein. Es gab ein großes Gemetzel am Schloss. Der geplante Protest muss wohl eskaliert sein. Die haben scheinbar alles getötet, was ihnen in den Weg kam. Sie nahmen wohl keine Gefangenen. Fin konnte sich verstecken und dabei entdeckte sie die verletzte Prinzessin im Gebüsch«, antwortete Meik. »Hätten die ihre Arbeit richtig gemacht, dann müsste ich dich jetzt nicht um einen Gefallen bitten«, knurrte er nach kurzem Zögern.

Fritz` Griff lockerte sich.

»Ich fasse es nicht. Wer hat den Palast überfallen?« Fritz war zutiefst geschockt.

»Hat Valentin nicht mit dir gesprochen? Seine Leute haben eine solche Aktion geplant«, wiederholte Meik.

Er blickte Fritz eindringlich an. »Du musst mir helfen, die Prinzessin zu retten. Wir können sie nicht im Wissen, dass sie sterben könnte, dort liegen lassen. Meine Mutter hat versucht, mir ein ziemlich schlechtes Gewissen einzureden. Sie ist vollkommen verrückt. Aber oft weiß sie einiges mehr als ich, deswegen wird sie ihre Gründe haben.«

»Meik! Du irrst dich. Mit den Protesten hat das nichts zu tun, das waren nicht Valentins Leute. Er hat mit mir geredet, aber die Aktion wurde abgeblasen, ihm haben sich nämlich nur wenige angeschlossen. Auch wenn es anfangs so aussah, als würden ihm viele Bauern helfen, du warst nicht der Einzige, der sich davon distanziert hat. Außerdem herrscht überall im ganzen Land Aufruhr. Überall haben sich politische Gruppen gebildet. Valentin war nur ein kleines Schaf, er wollte ein wenig protestieren, nichts Großes. Aber denk mal an die radikalen Untergrundbewegungen! Es gibt ein paar Gerüchte um einen gewissen Möreod. Ich weiß nicht viel über ihn, aber er soll eine riesige Anhängerschaft um sich gesammelt haben, besonders die Wohlhabenden unterstützen ihn. Und sie wollen ihn als den neuen König.«

»Möreod. Stimmt, von ihm habe ich auch gehört. Ich habe das aber für einen lächerlichen Scherz gehalten. Das ist doch nicht ihr Ernst, ich schaffe doch nicht den einen Monarchen ab, um einen anderen auf den Thron zu setzen. Wer unterstützt so etwas schon?! Das wird am Ende wieder auf dasselbe hinauslaufen.«

»Einige Leute sind nicht sehr zufrieden mit dem König. Es ist nicht nur wegen der Krise. Manche glauben, er wird Unheil über das Land bringen, noch größeres, wenn du verstehst, was ich meine!«

»Unheil?«

»Er soll verflucht sein.«

»Also ich weiß nicht.«

»Ich komme auf jeden Fall mit, die Sache machst du nicht allein. Wir haben ja nicht umsonst trainiert.«

Während Meik und Fritz auf Fin warteten, vergingen stille Momente, in denen Fritz bewusst wurde, in was ihn Meik da hineinziehen wollte. Er wusste nicht, auf was sie noch warteten, doch nachdem sein Übermut verschwunden war, zappelte er unsicher von einem auf das andere Bein.

»Wir finden bestimmt niemals den Weg im Dunklen. Wenn ich mehr darüber nachdenke, dann glaube ich, die Sache ist zu groß für uns«, meinte Fritz.

»Hör zu! Ich habe meine Mutter gebeten, uns Fin mit auf den Weg zu geben. Sie ist gleich da«, beruhigte ihn Meik, der seinen Freund nur zu gut kannte.

Natürlich hatte Fritz seine Bedenken, aber, da war sich Meik sicher, er würde ihn nie im Stich lassen.

Fritz fühlte sich benommen, müde und ängstlich. Er ahnte nur, was ihn dort erwarten könnte. Oft hatte seine Mutter ihn aus dem Haus geschmissen und manchmal beherrschte ihn das Gefühl, er erlebe die schlimmste Nacht seines Lebens. Doch dieses Unterfangen, nun, es könnte ihn nicht nur sein warmes Bett kosten. Auf dem Spiel stand sein Leben, eine erbärmliche, vielleicht unwichtige Biografie, doch seine Mutter würde seinen Verlust nicht überwinden können.

Meik schlug vor, nach Fin zu schauen und ging kurz ins Haus zurück.

Während Fritz vor der Strohhütte von Meiks Familie wartete, beschloss er, sich von seiner Mutter zu verabschieden. Fritz nutzte die Minuten, nahm seinen Mut zusammen und klopfte an ihrer Tür.

Der Eingang gehörte auch nur einer Hütte, der es dennoch nicht an Wärme und Gemütlichkeit fehlte. Die Holztür knarrte und seine Mutter stand vor ihm.

»Es könnte sein, dass ich heute ... sterbe, deswegen verabschiede ich mich. Ich habe dich immer geliebt«, gab Fritz zu verstehen.

Er steuerte schnurstracks an seiner Mutter, die ihn im Rahmen ungeduldig betrachtete, vorbei und zog ein langes, edles Schwert unter dem Bett hervor, dann raste er wieder nach draußen. Fritz betrachtete seine Mutter einen Moment voller Demut. Seine Worte von eben hingen noch immer bedeutungsschwer in der Luft.

»Ich liebe dich auch«, antwortete Biene schwach und endgültig.

Ohne eine Umarmung, ohne eine Antwort schloss sie die Tür. Fritz fühlte Leere in sich aufsteigen.

Er hatte diese Situation kaum verarbeitet, da standen Meik und Fin schon hinter ihm.

»Fritz, ist alles in Ordnung?«, fragte Meik verwundert.

»Abgesehen davon, dass ich freiwillig in die Höhle des Löwen gehe, zum Palast, an den Ort, von dem ich mich immer fernhielt, ist eigentlich alles in Ordnung. Danke der Nachfrage«, knurrte Fritz. Erst neulich hatte ihm Fadola – ein eher unsympathisches Mädchen mit künstlich aussehender, hellbrauner Haut und einer spitzen Nase – von dem Fluch erzählt. Vielleicht war nichts an der Geschichte dran. Außerdem konnte Fritz Fadola sowieso nicht leiden, weil sie ihm ständig unter die Nase rieb, dass sie zwei Tage älter war als er. Aber wieso das Risiko eingehen?

Fin lachte über seine Antwort. Meik lächelte nur ein wenig. Er ahnte, dass zwischen Fritz und seiner Mutter wieder etwas vorgefallen war.

»Na, dir scheint es, inschallah, wieder gut zu gehen«, wandte sich Fritz an Fin.

Inschallah bedeutet „wenn Allah will“. Die drei wussten nur zu gut, bis in die tiefste Seele, was damit gemeint war.

»Ja, Mutti hat meine Füße auch noch verbunden. Sie weiß so viel über Kräuter. Irgendwann will ich so sein wie sie«, sagte Fin stolz. »Wie geht es eigentlich Flocke?«, fragte sie mit einem gewitzten Grinsen.

Sie neckte Fritz gerne. Sie meinte es nicht böse, bloß Fritz hatte so seine Eigenarten.

»Sehr gut. Ich bringe sie jetzt immer auf die Wiese hinter dem Bach. Ich glaube, die findet Flocke am schmackhaftesten«, entgegnete Fritz.

»Ich will euch nicht unterbrechen, aber wir haben keine Zeit mehr«, störte Meik.

Fin, Meik und Fritz liefen geradewegs in den dunklen Wald hinein. Ihr Ziel sollte kein anderes sein als die sagenhaften Majestäten im Inneren der Stadt an der Stelle, wo der Forst endete. Sie konnten die Hand vor den Augen nicht erkennen. Doch Fin kannte den Weg.

Immer mehr Bäume erstreckten sich über ihnen. Fin zuckte zusammen, als sie die Wölfe heulen hörte. Der kalte Wind zog durch die Äste. Fin drückte sich an Meik, der seinen Arm schützend um sie legte.

Fin liebte den Wald. Er war ihr zweites Zuhause, aber nun kam es ihr hier unheimlich vor. Die Bäume bedrohten jeden, der sich ihnen nährte, in ihren Augen schien die Tollwut zu sein. Alt und kahl, schaurige Gesichter. War die Finsternis doch schon seit alters her ein Ort des Bösen und Heimlichen.

»Uhu, Uhu!«, schallte es durch die Gegend.

Je tiefer sie in den Wald kamen, umso finsterer wurde es. Das Jaulen und Heulen der wilden Hunde fraß sich tief in ihrer aller Knochen. Zwischen all dem Kummer über seine Mutter, den Fritz in sich trug, fegte der kalte, böige Wind nichts als die reine Bangigkeit heran. Der Schmerz wollte nicht schwinden, auch das Krächzen der Raben warnte sie nicht genug, um heimzukehren. Etliche Schritte in der Dunkelheit. Keine Spur Erfüllung.

Fin verlor die Orientierung.

»Ich weiß nicht mehr genau«, flüsterte Fin, mit einem Klingen von Besorgnis und Unsicherheit in der Stimme.

Fritz drehte sich in alle Richtungen. Erschöpft und mitgenommen fühlte der neunzehnjährige Fritz das einsame Gefühl der Angst in seinem Herzen.

»Was haben wir uns nur vorgenommen? Total verrückt! Wer weiß, was uns hier noch auflauert. Sicher haben die Wölfe schon unsere Fährte aufgenommen«, meinte Fritz.

Meik versuchte, die Gegend auszumachen. Sie standen mitten im Wald an einer kahlen Stelle in Form eines Kreises. Der Boden war erdig, die Bäume, die den Kreis ausmachten, bildeten böswillige Mienen. Nur ein paar wenige abgeholzte Überreste von Baumstämmen wilderten im großen Kreis.

Zwischen Kälte und Dunkelheit versuchte Meik trotz der Panik, die Fritz erfasst hatte, ruhig zu bleiben. Aber auch ihm machte dieser Ort Angst.

»Ich will hier weg, Meik! Irgendetwas stimmt hier nicht. Schau dir das doch mal an. Wo sind die ganzen Bäume? Wo sind wir?«, japste Fritz, während er sich um sich selbst drehte und die Gestalt der Bedrängnis zu finden suchte.

»Ich habe es im Gefühl; hier stimmt was nicht, Meik«, jammerte Fritz beklommen.

Seine Knie zitterten wie Pudding.

»Was ist das für ein schöner Geruch!«, log Meik. »Konzentrier dich auf diesen guten Geruch, Fritz! Dann kriegst du deine dumme Angst in Griff.«

Fritz gefiel nicht, dass ihn Meik nicht ernst nahm. Gerade wollte er ihn anbellen, da kroch eine leichte Süße in seine Nase.

»Ja, hier riecht es nach süßen, blauen Heidelbeeren«, gab Fritz verwundert zurück.

»Hier gibt es nichts zu riechen, außer Tannen«, antwortete die neunjährige Fin bestimmt.

Sie nahm nichts wahr, auch Meik nicht. Die drei blieben stehen. Es wurde so still, dass sie nur noch das laute Atmen von Fritz vernahmen. Fin blinzelte, denn zwischen den Ästen sahen sie den Vollmond hindurchflimmern.

Meiks Augen loderten plötzlich grün auf, als würden Flammen über seine Iris fegen. Fin beobachtete das Brennen seiner Augen intensiv.

»Mir ist nie aufgefallen ...«, da wurde ihr Satz unterbrochen.

Vor ihnen tauchte ein Licht auf. Es rückte immer näher und wurde immer greller. Aus dem einen großen Licht teilten sich mehrere warme, kleine Lichtlein in verschiedenen Farben.

»Nebelschwaden!«, rief Fin.

»Oh je, wir müssen weg hier!«, gemahnte Meik laut.

Fritz nahm die Worte seiner Freunde nur noch teilnahmslos wahr. Schon fiel er in eine leichte Trance. Seine Augen begehrten nur noch die Lichter zu sehen und seiner Nase verlangte es nur noch nach dieser herrlichen Süße. Um ihn herum breitete sich ein wohliges Gefühl aus. Irgendwo fühlte er noch Angst und tief in seinem Herzen nahm er Heuchelei wahr, doch nur zu schwach, um sich gegen den Einfluss der Nebelschwaden zu wehren.

»Aber es riecht so schön und da, diese Lichter«, widersprach der bereits von den Nebelschwaden verführte Fritz.

Um so näher die Nebelschwaden kamen, desto besser erkannten sie ihre Gestalten. Sie zeigten sich als handgroße Frauen mit langen, Hals - und armbedeckenen Kleidern.

Eine Nebelschwade zierte rotes Haar, das ihr bis zu den Knien reichte; sie trug ein gelbes, funkelndes Kleid.

Sechs Nebelschwaden schwebten zu den Baumstümpfen. Es waren tatsächlich genau sechs Baumstümpfe, die in feiner Zickzackform standen! Fin erkannte, dass sie alle ihre Haare mindestens knielang in den Farben der Sonne trugen und sich korrekt platzierten.

Eine zarte, blonde Nebelschwade in einem türkisfarbenen Indianerkleid schwebte auf Meik zu.

»Wohin willst du, hübscher Menschenjunge?«, fragte sie lieblich.

Meik war wie gelähmt und gab keine Antwort.

Dies übernahm Fritz für ihn. »Na, wir wollen die Prinzessin retten«, platze es aus ihm heraus.

»Bist du verrückt, Fritz? Du kannst doch den Nebelschwaden nicht verraten, was wir vorhaben«, schimpfte Fin halb flüsternd.

Sie, die Einzige, die sah, was sich tatsächlich ereignete, versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Anscheinend nahmen die Nebelschwaden keinen direkten Einfluss auf Fin.

Meik, der immer mehr in der Lügenwelt der Nebelschwaden versank, behielt nur noch wenig Beherrschung.

»Lasst uns vorbei!«, befahl er.

Nun segelte eine Blauhaarige herbei. »Versucht nicht, die Prinzessin zu retten, es sei denn, ihr sucht den Tod!«, rief sie schrill und ihre Stimme bebte.

Meik und Fin hielten sich vor Schmerzen die Ohren zu. Fin nahm die Hände von den Ohren, es war wieder beängstigend still.

Eine schwarzhaarige Nebelschwade im schwarzen Lumpenkleid schwang ihre Hände und schwebte zischend durch die Lüfte. In ihrer Gestalt ähnelte diese Nebelschwade einer Hexe nach Klischee mit ihren Lumpen und den schwärzlichen Fingern, bloß ihr Gesicht verführte mit der Schönheit einer unberührten, reinen Jungfrau.

Ihre Mähne färbte sich plötzlich wie das letzte Abendrot und küsste den düsteren, rußfarbenen Lumpenhut auf ihrem Scheitel, aus dem eine Rabenfeder ragte. Mit leichten Bewegungen strich sie ein Feld aus Nebel in den Himmel. Aus ihrer Kehle wichen zarte Töne.

So erschien in der Luft, in dem Feld aus Nebel, die von den Nebelschwaden gesehene Zukunft. Allein Meik zeigten sie die Zukunft. Als würde Meik das Geschehen durch ein Fenster beobachten, erkannte er im Nebel der Nebelschwadenfrauen etwas, was sie vorhergesehen hatten. Für Fin und Fritz blieb dies verborgen.

Nebelschwaden waren dunkle Kreaturen und so zeigten sie ihm den Beweis für ihr Vermächtnis, sie zeigten Meik die kommende Zeit.

Meik sah Folgendes: Ein wunderschönes Mädchen lief mit ihm über eine saftige, grüne Wiese. Das Bild schwebte vorbei, ein neues tauchte auf. Meik sah sich selbst auf einem Baum, er fühlte einen unbeschreiblichen Schmerz in der Brust, als er sich selbst weinen sah. Es war, als könnte er nachempfinden, was Meik vor ihm im Nebel fühlte. Er erkannte das Mädchen nicht, sondern nur die Umrisse einer jungen Frau, doch ein starkes Empfinden machte ihm klar, dass sie die Prinzessin sein musste. Er griff sich an sein Herz, der Schmerz wollte nicht nachlassen. Er hörte die Stimme der Nebelschwade in seinem Kopf: »Rettet nicht die Prinzessin, es sei denn, ihr sucht den Tod.«

Plötzlich erschien eine andere Frau im Nebel , eine weiß gekleidete Schönheit. Sie war eine liebliche Frau mit weinroten Lippen und feurig blauen Augen. Ihr rotes Haar wiegte sich im Wind. Doch sie war böse! Meik fühlte es, er vermisste plötzlich seine Schwester, seine Mutter, Fritz und die Prinzessin! Meik im Nebel wollte immer wieder zu der Prinzessin auf die Wiese, seine Gefährtin aber ließ ihn nicht.

Dann erschien am Himmel noch mehr. Alles um Meik herum blieb ihm unbeachtet. Er sah sich mit Fin im Wald. Dort hielt er seine Schwester fest in den Armen, während Skelette auf dem Waldboden um sie herumlagen. Fritz war in Eisenketten gelegt und wurde einen dunklen Kerkerturm hinaufgeführt.

Gleich darauf blickte Meik verängstigt um sich: Fritz stand da, schaute beschäftigt und die Nebelschwaden schwirrten um ihn herum.

Meik schrie schließlich, als er im Nebel erkannte, wie jemand seiner Mutter den Dolch in die Rippen stieß. Er schrie so laut auf, dass seine Augen auf einmal rot wurden.

Fin war geschockt. Was war mit ihrem Bruder? Warum hatte er geschrien? Was hatte er gesehen? Fin hatte schon oft gehört, dass Nebelschwaden Künstler der Magie waren. Man erzählte sich, dass schon so manche Voraussagen die Menschen vor Angst in den Wahn getrieben hatten. Meist erfüllten sich die Voraussagungen und der gefürchtete Albtraum realisierte sich, wurde zur blanken Wahrheit. Vielleicht war es manchmal gut, die Zukunft nicht zu kennen, da man vor ihr nicht flüchten kann und sie nicht immer Gutes bereithält.

Doch Fin war sich sicher, dass man die Zukunft immer ändern kann. Jedes Wort, jeder Blick, jede Entscheidung, vor allem die Entscheidung zwischen Gut und Böse würde das Schicksal ändern. Fin wollte ihrem Bruder helfen, aber dennoch stand sie handlungsunfähig da - wie gefangen.

In ihr stieg die Ahnung auf, dass die Nebelschwaden ihre Sicht täuschen könnten. Wieso sonst hätte sie sehen können, wie die Augen von Meik ihre Farbe änderten? Fin fühlte, dass Meik und Fritz nun völlig im Banne der Nebelschwaden standen. Sie überlegte scharf, wie sie die Nebelschwaden vertreiben könnte. Es war das erste Mal, dass sie diesen gefürchteten Wesen abseits von Schauermärchen und geflüsterten Halbwahrheiten begegnete. Normalerweise trieb sie sich um diese Uhrzeit auch nicht mehr im Wald herum.

Da fiel Fin ein, was ihre Mutter ihr einmal gesagt hatte. Es war schon lange her, da war Fin noch fünf Jahre alt und sie fürchtete sich vor Monstern. Ihre Mutter Lilie hatte ihr damals gesagt, dass ein Schutzgebet helfen würde, damit Allah ihr so zu Hilfe käme. Fin trug das erste vor, das ihr in den Sinn kam, um die Nebelschwaden zu vertreiben.

Fin sprach verzweifelt: »Estafrullah«, was so viel bedeutet wie »Verzeih mir, Allah«. Ganze dreimal rief sie es. Sie fühlte sich auf einmal unendlich stark.

»Lieber kämpfend sterben als ein Leben in Elend zu führen«, fügte sie deutlich hinzu.

Für einen Moment geschah nichts. Aber Allah hatte Fins Gebet gehört. Er hörte alle Gebete, die aus Ehrlichkeit gesprochen waren.

So bestärkte Allah Meik mit unsichtbarer Macht; eine leuchtende, reichende Hand erschien in Meiks Traumwelt, um ihn von dort hinauszuziehen. Meik nahm die Hand. Sie zerrte ihn durch den Nebel und auf einmal stand er wieder in der Dunkelheit, wo Fin und Fritz ihn begleiteten. Der allmächtige Herr hauchte Meik das richtige Wort ein.

»Allah uekbar – Allah ist groß!«, sagte Meik.

Die Nebelschwaden fingen an zu schreien.

»Diese grausamen Worte. Ich kann sie nicht ertragen. Allah wird uns bestrafen«, kreischten die Nebelschwaden und versammelten sich. Die Nebelschwaden wussten, dass Allah sie bestrafen würde, wenn der Jüngste Tag anbräche, an dem auch die schlechten Menschen ihre Strafe bekämen.

Plötzlich fielen einzelne Körperteile vom Himmel; Arme, Beine, Finger, ein Kopf usw. und setzten sich zu einer Person zusammen. Die Person bestand nur aus Skelett und Fleisch. Die Nebelschwaden reihten sich um sie.

Fin rannte zu ihrem Bruder. Sie weinte vor Angst. Plötzlich verschwanden die Nebelschwaden und die grässliche Person im Nichts.

»Wo sind sie hin? ... Und ich meine ...« Langsam kam Fritz zur Besinnung.

Das Gebet und die Bitte an Allah vertrieben die Nebelschwaden, denn sie verabscheuten das Rechtschaffene. Eintönige Stille. Meik kam sich vor, als hätte er sich gerade einen Schwertkampf geliefert. Sein Rücken schmerzte gemein. Meik fühlte ein allgemeines Unwohlsein.

»Diese Kreaturen haben sicher nichts Gutes vorgehabt. Sie kommen nicht aus unserer Welt«, meinte Fin.

Trotzdem konnten Meik, seine Schwester und sein Freund Fritz nicht verharren. Die kleine Fin war müde und strich sich ihr mitteldickes Haar, das ihr bis unter das Gesäß reichte, hinter ihr Ohr.

Fritz hingegen war verwirrt, als wäre er aus einem vernebelten und unklaren Traum aufgewacht. Deshalb nannte man die verführerischen Kreaturen auch bei ihrem Namen: Nebelschwaden.

Verdutzt sammelten sich die drei.

 Die Leseprobe endet hier. Bald in allen Online-Shops erhältlich.

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Renate Alesha

The curse in the war

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.12.2013

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