Cover

Leseprobe

PAPIERSCHIFFE AUF RAUER SEE

FINN BECK

Für Judith und Leon

PLAYLIST

  • Lost in You – Three Days Grace
  • Back to the Start – Michael Schulte
  • Zuhause – Max Giesinger
  • Blinding Lights – The Weeknd
  • Bad Habits – Ed Sheeran
  • Stereo – The Watchmen
  • Keeping Your Head Up – Birdy
  • Shiny Happy People – R.E.M
  • Easy – Kyd The Band, Elley Duhé
  • Lights and Sounds – Yellowcard
  • Over and Over – Three Days Grace
  • Power Over Me – Dermot Kennedy
  • Somewhere Only We Know – Keane
  • Die Welt steht still – Revolverheld
  • Someone You Loved – Lewis Capaldi
  • Loving You Is A Losing Game – Duncan Laurence, Fletcher
  • The Loneliest – Måneskin
  • Always – Gavin James
  • I Don’t Dance – Sunrise Avenue
  • Der letzte Tag – Max Giesinger
  • Here Goes Nothing – Michael Schulte
  • Turn Off the Lights – Panic! at the Disco

PROLOG

Somehow I found a way to get lost in you. Let me inside. Let me get close to you. Change your mind. I’ll get lost if you want me to. Somehow I found a way to get lost in you.

Lost in You – Three Days Grace

Juni

Der alte Bus fährt langsam durch die Straßen, während die Sonne immer mehr dem Horizont entgegensinkt. Toni wirft einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr, bevor er leise seufzt und sich wieder dem Fenster zuwendet, um die vorbeirauschende Landschaft zu beobachten. Es wird noch mindestens zehn Minuten dauern, bis der Bus an der richtigen Haltestelle ist, und ungefähr weitere zwanzig, ehe er dann zu Fuß am Hohendeicher See ankommt.

Toni legt den Kopf gegen die leicht vibrierende Fensterscheibe und konzentriert sich auf die Musik, die leise durch seine Kopfhörer dröhnt. Das Schaukeln des Busses und die lange, eintönige Fahrt lassen ihn müde werden.

Als der Bus dann endlich vor dem alten, verwitterten Haltestellenschild stoppt, schultert Toni schwungvoll seinen Rucksack und schnappt sich die Gitarre, welche bis dahin im Fußraum neben ihm gestanden hat, bevor er hinaus in die milde Sommerluft tritt. Abseits der Stadt ist es angenehm ruhig und friedlich. Die untergehende Sonne taucht die gesamte Umgebung in ein warmes Licht, die Luft ist erfüllt vom hektischen Summen der Insekten.

Toni macht sich eilig auf den Weg, entlang der Wiesen und Felder, bis er vor sich das Ufer des Badesees sieht. Am Rand des künstlich angelegten Strandes, wo das hohe Gras dem groben Sand weicht, hält er kurz inne, zieht die abgewetzten Turnschuhe aus und setzt dann leise summend seinen Weg fort.

Wenn das Wetter so gut wie an diesem Frühsommertag ist, trifft sich beinahe seine gesamte Schulklasse dort. Direkt rechts am Zugang zum Badesee, unter dem knorrigen Baum. Auch an diesem Abend sind schon jede Menge Decken dort ausgebreitet.

»Hey, Toni! Du bist ja wirklich noch gekommen!« Bevor er ihren Treffpunkt überhaupt erreicht, wird Toni von einer vertrauten Stimme abgelenkt. Er stoppt ruckartig, nur um sich dann dem See zuzuwenden, in dem einige seiner Klassenkameraden schwimmen und miteinander herumalbern. Gerufen wurde Toni von seinem besten Freund Jack, der inzwischen langsam auf ihn zukommt.

Toni schlendert ans Ufer, wartet dort, wo ihm das angenehm kalte Wasser immer wieder über die Füße schwappt. Ein verschmitztes Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht, kaum dass Jack vor ihm zum Stehen kommt und sich die nassen, blonden Haare aus dem Gesicht streicht. »Ich freue mich, dass du hier bist.«

Mit diesen Worten legt Jack einen Arm um Tonis Schultern und geht gemeinsam mit ihm über den Strand.

»Sonst wäre ich die ganze Woche kein einziges Mal hier gewesen. Außerdem fällt es sicher nicht auf, dass ich heute ausnahmsweise etwas früher aus der Musikschule abgehauen bin.« Toni zuckt hastig mit den Schultern. Er hat großes musikalisches Talent, welches sein Vater übergenau ehrgeizig fördert. Aber der fast tägliche Musikunterricht wird Toni immer lästiger. Mittlerweile schwänzt er die Extrastunden nach der Schule häufig.

Kurz bevor die beiden das kleine Lager aus Decken, Körben und Rucksäcken erreicht haben, klopft Jack seinem besten Freund sanft auf die Schulter, ehe er einige Schritte vorauseilt. Toni trottet hinterher.

»Du bist spät dran. Jetzt haben wir schon alles aufgebaut.« Toni wirft Lou einen unbeeindruckten Seitenblick zu, aber der junge Mann mit den mausbraunen, schulterlangen Haaren hat diese flapsige Bemerkung sowieso nicht böse gemeint. Er lächelt trotzdem beschwichtigend und weist auf die freie Decke neben sich.

»Noch früher konnte ich nicht herkommen.« Toni nimmt liebend gerne Platz. Er streckt sich auf der groben Decke aus, lehnt sich weit zurück und stützt sich dabei auf seinen Unterarmen ab. Er blinzelt, weil er in die untergehende Sonne schaut, doch blickt sich trotzdem neugierig um. Die anderen tummeln sich größtenteils noch im See oder spazieren über den langen, schmalen Strand. Auch Jack ist bereits wieder auf dem Weg zum Wasser. Neben ihrem Lager steht ein schlichter Grill, der gerade erst angeheizt wurde.

»Gestern warst du auch nicht hier.« Lous Aussage klingt beinahe anklagend. »War wohl eine anstrengende Woche?«

Toni lässt sich Zeit mit seiner Antwort. Die Augen hat er mittlerweile geschlossen, er genießt die warme Sonne auf der Haut. »Ich wäre auch lieber hier gewesen.«

Damit ist ihr Gespräch vorerst beendet, zumindest bis die anderen zu ihnen stoßen und sich ebenfalls auf den unterschiedlichen Picknickdecken ausbreiten. Bald kommt auch Jack wieder zu ihnen geschlendert und setzt sich, zugegeben absichtslos, ziemlich dicht neben Toni. Er reicht ihm ein kaltes Bier aus einer der Kühltaschen und wendet sich dann sofort, in ein angeregtes Gespräch vertieft, wieder ab. Toni hingegen schaut weiterhin verstohlen zu seinem besten Freund. Jack sitzt weit nach vorne gebeugt da, die Unterarme auf den überkreuzten Beinen abgestützt. Sein Körper ist mit unzähligen kleinen Wassertropfen benetzt, die langsam durch die letzten warmen Sonnenstrahlen trocknen.

Auch Stunden später sind sie noch zusammen am Strand des Badesees. Ein selbstgemachtes Lagerfeuer erhellt die Umgebung und lässt lange, zitternde Schatten über den Sand tanzen. Mittlerweile ist ein kalter Wind aufgekommen.

Es ist Freitagabend, also sitzen sie noch in großer Runde zusammen. Die meisten bleiben, besonders am Wochenende, bis zum Morgengrauen am Hohendeicher See und gehen erst, wenn die Sonne schon wieder am Horizont hinter dem ruhigen Wasser emporsteigt. Allerdings ist die Stimmung mittlerweile ruhiger, es wird nur noch leise geredet. Die wenigen Pärchen unter ihnen haben sich dicht beieinander auf den Decken ausgebreitet und genießen stillschweigend die Nähe des anderen in dieser idyllischen Nacht.

Toni hat sich nach dem Essen etwas vom Lagerfeuer entfernt und abseits der Decken auf dem langsam kühler werdenden Sand einen gemütlichen Platz zum Sitzen gefunden. Seine Akustikgitarre balanciert er bereits auf den Beinen. Er fährt ein paarmal prüfend über die Saiten des Instruments, bevor er zufrieden nickt und die ersten, leisen Akkorde spielt.

Sofort richten sich einige neugierige Augenpaare auf den jungen Mann mit den tiefbraunen, leicht gelockten Haaren. Toni merkt das natürlich und ja, er genießt die Aufmerksamkeit, doch gilt seine gesamte Konzentration in diesem Moment dem Song, den er spielt. Jede einzelne Note erfüllt ihn, er bewegt sich kaum merklich zur Melodie, stimmt bald ein und singt mit leicht rauer Gesangsstimme mit. Toni ist in einem Haushalt voller Musik aufgewachsen, und auch wenn ihn die akribische Musikausbildung manchmal nervt, so ist er doch ein begnadeter Sänger. Die Musik ist schlichtweg sein ständiger Begleiter. Erst wenn Toni an einem Instrument sitzt oder zur rauschenden Radiomusik lautstark mitsingt, fühlt er sich wirklich wohl und unbeschwert.

Während er singt, die Lieder spielerisch ausdehnt und fließend miteinander verbindet, lässt Toni auch immer wieder Melodien oder kurze Textpassagen einfließen, die er selbst geschrieben hat. Es drängt ihn einfach, sie auszutesten.

Jack beobachtet ihn dabei neugierig. Er ist dicht beim Lagerfeuer sitzen geblieben, neben Lou und dessen Freundin Emma. Nur gilt sein Interesse momentan ausschließlich Toni, der augenscheinlich alles um sich herum ausgeblendet hat. Scheinbar sogar die beiden Mädchen aus ihrer Parallelklasse, die ihn seit geraumer Zeit anhimmeln und leise miteinander tuscheln.

Toni musiziert noch eine ganze Weile weiter, bevor er sich dazu entschließt, zu den anderen ans Lagerfeuer zurückzukehren. Die Nacht ist kalt, und seine Jeansjacke, vollbestickt mit dutzenden Patches, schützt nur notdürftig vor dem kühlen Wind, der über das Wasser zu ihnen weht.

»Der nächste Bus fährt bald. Wollen wir uns gemeinsam auf den Nachhauseweg machen?« Jack legt den Kopf schief und schaut sanft lächelnd zu Toni. Seine Wangen sind vom Alkohol leicht gerötet, was im warmen Licht des Feuers wohl nur seinem besten Freund auffällt, der wieder dicht bei ihm sitzt.

»Gerne.«

Im Schein der alten Taschenlampe, die Jack extra mitgenommen hat, machen sich die beiden auf den Rückweg zur Bushaltestelle. Leise miteinander redend folgen sie dem Trampelpfad, vorbei an dunklen Bäumen und still daliegenden Wiesen. Toni geht stetig und mit festen Schritten voraus, während Jack ihm leicht schwankend folgt. Es fällt ihm schwer, einen Fuß sicher vor den anderen zu setzen, der Boden ist immerhin uneben und seine Sicht unangenehm verschwommen. Den Blick hält er konzentriert nach unten gerichtet, die Taschenlampe in seiner Hand schwingt immer wieder hektisch hin und her. Viel getrunken hat Jack nicht, nur ein paar Bier, doch die sind ihm direkt zu Kopf gestiegen.

Wann immer Toni stehen bleibt, sich umdreht und prüfend, aber amüsiert nach Jack schaut, wundert dieser sich, wie sein bester Freund, der viel mehr Alkohol wild durcheinandergetrunken hat, den gefühlt endlos langen Weg zur Bushaltestelle so leichtfüßig zurücklegen kann.

Sie erreichen ihr Ziel gerade, als der alte Bus um die Ecke gefahren kommt. Toni und Jack nehmen auf den hintersten Sitzen Platz, in ihre leisen Gespräche vertieft. Doch die Fahrt zurück in die Stadt dauert lange, weshalb Toni bald müde den Kopf auf die Schulter seines besten Freundes legt. Im Gegensatz zu ihm kann Jack sowieso nicht während der Busfahrt dösen. Er wird also aufpassen, damit sie später auch an der richtigen Haltestelle aussteigen.

Januar, zwei Jahre später

Durch das kleine Zimmer dröhnen laute, elektrische Klänge. Toni ist inzwischen schon seit Stunden darum bemüht, mit seiner eigentlich starken Stimme die donnernde Musik zu übertönen. Ohne nutzbares Mikrofon sind die Proben schlichtweg anstrengend.

Außerdem muss er nebenbei auf seine Hände achten, die schnell und gekonnt über die Saiten seiner glänzenden, schwarzen E-Gitarre huschen. Die Songs, welche sie an diesem verschneiten Wintertag üben, sind alle neu und selbst für Toni, der sie geschrieben hat, ungewohnt zu spielen. Er muss immer wieder prüfend auf sein Instrument hinabsehen, um keine Fehler zu machen. Das kommt auch nicht zuletzt davon, dass Toni momentan gerne komplizierte Griffkombinationen einbaut, um möglichst ausgefallene Melodien zu kreieren.

Tonis Gitarre verstummt als Letztes. Die drei anderen Instrumente sind kurz zuvor gleichzeitig und plötzlich verklungen. Die Luft im Raum scheint durch die abrupte Stille zu vibrieren. Nur ein paar letzte erstaunlich leise Töne der E-Gitarre echoen von den Wänden, bevor Toni behutsam eine Hand auf die noch schwingenden Saiten seines Instruments legt. Die ersten Wogen überschäumender Euphorie und allumfassender Zufriedenheit strömen durch seinen Körper, eine ihm bekannte Mischung aus Emotionen, die Toni oft nach dem Singen empfindet. Schwer atmend, aber überschwänglich lächelnd nimmt er eine entspannte Haltung ein und dreht sich glücklich zu den anderen um.

»Das war super!« Toni lacht begeistert auf, seine Augen glänzen vor aufrichtiger Freude. In einer schnellen Bewegung setzt er seine Gitarre ab und fährt sich anschließend durch die dunklen Haare. Zu seiner Begeisterung wirken seine Freunde ähnlich euphorisiert.

Die Band haben sie vor zwei Jahren gegründet. Er, Maik, Daniel und Kaddy. Toni war von Anfang an die treibende Kraft dahinter, ihr Komponist und sofortiger, unangefochtener Bandchef. Er schreibt die Songs, singt und spielt die Leadgitarre. Kathleen, bisweilen von allen Kaddy genannt, zumindest, solange ihre Eltern nicht in der Nähe sind, begleitet ihn mit ihrer weichen, aber kraftvollen Stimme bei vielen Songs und spielt nebenbei Keyboard.

Von ihr kam auch die ursprüngliche Idee, eine Band zu gründen. Allerdings war es zu Anfang nicht mehr als ein scherzhaft gemeinter Vorschlag, den sie das erste Mal laut ausgesprochen hat, als sie an einem verregneten Abend gemeinsam mit Toni durch die hell erleuchteten Straßen Hamburgs schlenderte. Der anhaltende Regen ließ die Wege vor Nässe glänzen, die Straßenlaternen und Reklametafeln tauchten ihre gesamte Umgebung in neongrelles Licht. Lachend und vom Alkohol leicht beschwipst liefen die beiden Teenager nach Hause. Kaddy hakte sich, in ihren Plateauschuhen leicht schwankend, bei Toni unter, während sie kichernd davon schwärmte, gemeinsam mit ihm eine Band zu gründen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Toni bereits allerlei eigene Songs geschrieben, allesamt mit lauter, energischer Melodie, die seine Gesangsstimme eindrucksvoll unterstreicht. Die schwungvolle Rockmusik liegt ihm, außerdem ist Toni sehr selbstbewusst und hat bei Weitem keine Scheu davor, seine selbstkomponierten Werke vorzuführen.

Die ersten kleinen Auftritte hatte er, gemeinsam mit Kaddy, in heruntergekommenen, stickigen Bars, wo ihnen allerdings kaum jemand der mürrischen Stammkunden wirklich zuhörte. Aber das war ihnen zu Anfang egal. Kathleen und Toni teilten die Leidenschaft zur Musik und nutzten diese Auftritte eher als amüsanten Zeitvertreib.

Der Vorschlag, eine eigene Band zu gründen, ging Toni jedoch nicht mehr aus dem Kopf, sodass er und Kaddy schon wenige Tage später ernsthaft darüber diskutierten. Aber natürlich brauchten sie dafür noch weitere Bandmitglieder. Also wartete Toni nach seiner nächsten Unterrichtsstunde in der Musikschule, in der er mehrmals die Woche Cello- und Klavierunterricht über sich ergehen lässt, auf Daniel.

Daniel ist, im Gegensatz zu Toni, nicht in der Musikschule, um selbst etwas zu lernen. Stattdessen bringt der junge Mann mit den kurzen, schwarzen Haaren zweimal in der Woche Kindern das Schlagzeugspielen bei. Er und Toni haben sich kennengelernt, da sie zufällig an den gleichen Tagen in der Musikschule sind. Dadurch haben sie nach ihrem jeweiligen Unterricht oft noch miteinander geredet, bis eine lose Freundschaft entstanden ist. Zu Tonis Überraschung war Daniel sofort begeistert von der Idee. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie noch am selben Tag damit begonnen, gemeinsam Musik zu machen. Wahrscheinlich wäre Toni am Ende mit jedem anderen Schlagzeuger furchtbar unzufrieden gewesen. Er braucht jemanden wie Daniel, der ähnlich wild und losgelöst spielt, berauscht von der lauten Musik. Am Schlagzeug ist Daniel wirklich ein begnadeter Musiker.

So leicht es war, Daniel in ihre kleine Band aufzunehmen, so schwer war es, Maik davon zu überzeugen. Es war Kathleens Vorschlag, und wahrscheinlich kam er auch nur ihr zuliebe einmal mit zu den Proben. Maik ist ein großer, muskulöser Mann mit sandfarbenen, zerzausten Haaren und tiefbraunen Augen. Er ist knapp vier Jahre älter als die anderen und hat eigentlich nicht viel mit Musik zu tun.

Er arbeitet als Mechaniker in einer kleinen Autowerkstatt und spielt nebenbei im selben Handballverein wie Kaddy. Allerdings trainieren sie in verschiedenen Altersgruppen und haben nie viel Kontakt miteinander gehabt. Gleichermaßen verwundert war Maik, als die junge Frau kurz vor seinem Trainingsbeginn lächelnd und selbstsicher auf ihn zukam.

Er fühlte sich durch ihren Vorschlag geschmeichelt, auch wenn es ihn überraschte, dass Kaddy überhaupt wusste, dass er ein Instrument spielen kann. Denn sowohl der Sport als auch die Musik sind für ihn lediglich ein Ausgleich zu seinem sonst langweiligen Alltag. Maiks erste Reaktion war jedoch, lachend zu verneinen, wobei er Kathleens Hartnäckigkeit stark unterschätzt hat. Sie hat mehrere Wochen lang beharrlich auf ihn eingeredet, bis Maik resigniert nachgegeben hat. Also stand er zur nächsten Probe der drei Teenager unschlüssig auf der Türschwelle, in seiner Hand einen mintgrünen Fender-Bass. Ihm entging Tonis skeptischer Blick bei Weitem nicht, ansonsten war es ein erstaunlich angenehmer Abend. Natürlich war deutlich zu erkennen, dass Maik keine richtige musikalische Ausbildung genossen hat. Im Gegensatz zu den anderen hat er sich das Spielen auf seinem Instrument selbst beigebracht. Es dauert ewig, bis er die ihm vorgelegte Note verinnerlicht hat.

Am Ende ist Maik bei ihnen geblieben, und zu viert haben sie die Band Milestone gegründet. Dass sie inzwischen schon zwei Jahre gemeinsam Musik machen und sogar einige größere Auftritte bestanden haben, hätte allerdings besonders Maik nicht erwartet. Er ist bei der Band geblieben, weil es ihm Spaß gemacht hat. Aber in Anbetracht dessen, dass seine Bandkollegen noch um einiges jünger und sprunghafter sind, hat er erwartet, die Band würde sich schnell wieder zerschlagen.

Allerdings ist genau das Gegenteil der Fall, mittlerweile arbeiten sie sogar immer ehrgeiziger und präziser an den neuen Songs, in der Hoffnung, von jemandem aus der Musikbranche entdeckt zu werden. Die Idee kam von Toni, der in dieser Hinsicht über die Jahre hinweg ein unendliches Selbstbewusstsein entwickelt hat.

»Na ja, jedenfalls besser als gestern.« Daniel lächelt schief und trommelt leise, aber unablässig gegen das Becken seines Schlagzeugs. Wirklich stillsitzen kann er nicht, Daniel braucht immer etwas zu tun. Da reicht es schon, wenn er etwas in den Händen halten und unablässig bewegen kann. Noch besser ist natürlich sein Schlagzeug. Es ist irritierend zu Anfang, aber inzwischen hat sich jeder in seinem Umfeld an diese Unruhe gewöhnt.

Toni schaut gespielt beleidigt zu ihm, bevor er ausgelassen lacht. Daniel hat recht, gestern haben die meisten Songs nicht gut geklungen, aber dafür waren sie an diesem Nachmittag umso besser. Sie reden eine Weile lang miteinander, dicht zusammengedrängt in Daniels kleinem Zimmer inmitten der Dreizimmerwohnung in Bahrenfeld.

Sie proben immer bei ihm, da seine Eltern selten vor dem späten Abend zuhause sind und er der Einzige von ihnen ist, der sein Instrument nicht einfach quer durch Hamburg transportieren kann.

»Wir können übrigens am Sonntag wieder in der Bar auf der Sternschanze auftreten.« Toni erwähnt diesen Vorschlag beiläufig, als wäre es nichts Interessantes. Sofort seufzt Maik unzufrieden. Er mag diese Auftritte in dunklen, schmutzigen Kneipen nicht und würde lieber darauf verzichten. Aber er ist der Einzige, der vehement dagegen ist, und kommt deshalb meist doch widerwillig mit. Außerdem kann er so ein wenig auf seine Bandkollegen aufpassen, denn schon vor zwei Jahren, als sie die Band gerade gegründet hatten, traten sie an solch düsteren Orten auf, wo Wirt und Gästen wohl egal war, wie alt die vier Musiker sind.

»Ach komm schon, Maik, so schlimm wird es nicht.« Kathleen zwinkert ihm zu, während sie ihre wilde, blonde Lockenpracht zu einem losen Zopf zusammenfasst.

Maik zuckt nur kurz mit den Schultern, bevor er warnend zu Daniel und Toni sieht. »Aber wir bleiben nicht wieder so lange wie beim letzten Mal. Ich muss am nächsten Tag arbeiten. Ach, und ihr beide macht keinen Blödsinn.«

Daniel lacht erheitert auf, als Maik sie streng ermahnt, sichert ihm aber schnell zu, dass er sich benehmen wird. Daniel und Toni sind beide sehr temperamentvoll, und es kommt nicht selten vor, dass sie deswegen in Schwierigkeiten geraten. Im Gegensatz zu Daniel sieht Toni nur skeptisch, fast unzufrieden zu Maik, während dieser in seinem Rucksack wühlt. Nach einigem Suchen zieht er zwei schlichte CD-Hüllen aus der Vorderseite der abgewetzten Tasche und hält sie Toni mit vielsagendem Blick entgegen. »Ich meine das ernst. Du kümmerst dich darum, dass die CDs verschickt werden?«

Toni nickt langsam und nimmt Maik die CD-Hüllen ab. Seit fast einem Jahr schicken sie nun schon Demo-CDs an verschiedene Musikverlage, bisher jedoch ohne Erfolg.

Allmählich packen sie ihre Sachen zusammen, bereit, langsam nach Hause zu gehen. Bei einem vorsichtigen Blick auf die leise tickende Wanduhr schüttelt Kaddy missmutig den Kopf. »Oh nein, ich komme sicher wieder zu spät.«

Ihre Eltern sind streng und erwarten, dass sie pünktlich zuhause ist. Ganz abgesehen davon, dass Kaddys Eltern von der Band sowieso nicht begeistert sind. Für sie ist es reine Zeitverschwendung und die Tatsache, dass ihre Tochter die Nachmittage mit drei jungen Männern verbringt, schlichtweg entsetzlich. Über diese Sorge kann Kathleen jedoch nur müde lachen. Sie hat ihre drei Bandkollegen unglaublich gern, aber lediglich als enge Freunde. Die konsequente Abneigung ihrer Eltern, besonders Toni gegenüber, frustriert sie und hat schon mehrmals zu Streit geführt.

»Soll ich dich fahren?« Maik sieht fragend zu Kathleen und zieht sich seinen schweren Winteranorak an.

»Gerne.« Kaddy lächelt zufrieden und schultert ihre Tasche, ehe sie ihr inzwischen sicher eingepacktes Keyboard ebenfalls anhebt. Immerhin muss sie so nicht durch den kalten Winterwind laufen.

»Willst du auch mitkommen, Toni? Den kurzen Umweg kann ich noch fahren.« Maik klimpert mit seinem Autoschlüssel und sieht augenzwinkernd zu Toni.

Der schüttelt jedoch schnell den Kopf, während er seine Gitarre schultert. »Alles gut. Ich treffe mich gleich noch mit Jack und den anderen.«

Dann verabschieden sie sich auch schon von Daniel und gehen die vier Stockwerke hinunter, bis sie draußen auf der frostbedeckten Straße stehen. Auf dem Weg nach unten hat Toni sich eine grobe, dicke Mütze aufgesetzt und einen langen Schal mehrmals um seinen Hals gewickelt. Zu Beginn ihrer Bandprobe hat es noch geschneit, inzwischen fegt lediglich ein eisiger Wind durch die Straßen. Der Himmel ist weiterhin von grauen, dicken Wolken verhangen. Kaddy sieht prüfend nach oben, während Toni mit festen, schnellen Schritten das alte Gebäude umrundet, um sein Fahrrad zu holen.

Er hat zwar seit Kurzem einen Führerschein, nur überlassen ihm seine Eltern ziemlich ungern eines ihrer Autos. Von daher fährt Toni auch im Winter viel mit dem Fahrrad. Er schiebt sein Rad zur Straße, wo Maik seinen alten, schwarzen Golf aufschließt und für Kaddy schwungvoll die Tür öffnet. Bevor sie einsteigt, verabschiedet sich Kathleen mit einer festen Umarmung von Toni.

»Wir sehen uns dann Samstag zur nächsten Probe. Bis dahin habe ich auch die beiden neuen Demos zur Post gebracht.« Toni beobachtet, wie Maik den Wagen startet und ihn dann langsam auf die Straße lenkt. Erst als das Auto hinter der nächsten Straßenecke verschwunden ist, steigt er auf sein Rad und fährt los.

Der Weg bis zum Jugendzentrum, wo er sich an diesem Nachmittag mit seinen Schulfreunden treffen will, ist weit, aber Toni stört sich nicht daran. Das einzig Lästige sind der schneidende Wind und die Kälte, die allmählich durch seine dicke Winterkleidung dringen. Toni fährt langsamer als sonst, die Straßen glänzen durch den Frost, der gefährlich über den gesamten Weg kriecht und ihn rutschig werden lässt. Mit leicht quietschenden Bremsen und schlingernden Rädern stoppt Toni letztendlich vor dem kleinen, von außen schon etwas heruntergekommenen Gebäude. Er lässt sein Fahrrad an den dafür vorgesehenen Fahrradständern stehen und betritt mit schnellen Schritten das Jugendzentrum.

Normalerweise treffen sie sich nicht unbedingt dort, aber besonders im Winter ist es eine angenehme Alternative zu ihren Wohnungen oder überfüllten Cafés.

An diesem Tag ist es Martins Idee gewesen, sich dort zu treffen. Er hält sich wahrscheinlich als Einziger von ihnen ganz gerne dort auf.

Das Jugendzentrum ist eine umgebaute, helle Wohnung im ersten Stock eines Wohnblocks in Altona. Etwas abseits der Hauptstraßen ist es zwar ein wenig unscheinbar, wird aber trotzdem von den Jugendlichen der Umgebung viel besucht und gerne als Treffpunkt genutzt.

Die Räume im Inneren sind hell gestrichen, außerdem wurden einige Wände mit bunten, schwungvollen Graffitis dekoriert, die ambitionierte junge Künstler dort gestalten durften. Es gibt einen großen Gemeinschaftsraum, in dem mehrere unterschiedlich gemusterte Sofas aufgestellt sind und wacklige Holzregale den Fundus an verschiedenen Brettspielen lagern. Ein kleiner Nebenraum, ausgestattet mit einigen Sitzsäcken, einem abgewetzten Billardtisch und einer Stereoanlage, bietet eine weitere Rückzugsmöglichkeit für die Besucher des Jugendzentrums.

An diesem wolkenverhangenen Tag ist der Jugendtreff gut besucht. Kaum dass Toni die knarrende Eingangstür aufgedrückt hat, hört er das aufgeweckte Stimmengewirr und die Musik, die aus den Lautsprechern dröhnt. Außerdem ist es in den Räumlichkeiten herrlich warm. Er sieht sich kurz um, setzt die Wollmütze ab und fährt sich gedankenverloren mit einer Hand durch die Haare. Er braucht einen Moment, dann kann er Jack, Martin und Felix im Gemeinschaftsraum entdecken. Sie haben sich auf zwei einander gegenüberstehenden Sofas ausgebreitet.

Toni geht selbstsicher durch den Raum, verfolgt von missbilligenden Blicken. Er hat die kleine Clique schon bemerkt, die am Tisch nahe der Tür zusammenhockt. Die gleichen Leute, die ihn auch in der Schule nur zu gerne provozieren. Er geht mit fest zusammengebissenen Zähnen an ihnen vorbei, versucht sie, trotz der in ihm aufbrodelnden Wut, zu ignorieren. Bei Martin, Jack und Felix angekommen, lässt er sich sogleich schwerfällig neben seinem besten Freund auf das dunkelblaue Sofa fallen.

»Wie war die Bandprobe?« Jack sieht fragend zu Toni, während dieser seine warme Winterjacke auszieht und achtlos neben sich legt.

»Ganz gut. Wir üben momentan die neuen Songs.« Toni zuckt fast gleichgültig mit den Schultern. Er wartet noch einen kurzen Moment, dann sieht er vorsichtig zu seinem besten Freund hinüber.

Jack trägt einen groben, grauen Rollkragenpullover und schwarze Jeans. Seine blonden Haare sind wild zerzaust und fallen ihm leicht vor die graublauen Augen. Ein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen.

Toni merkt deutlich, dass seine Wangen heiß werden und er immer mehr errötet. Er schüttelt möglichst unauffällig den Kopf und reibt seine noch kalten Hände aneinander. Sollte wirklich auffallen, dass seine Wangen glühen, kann er es immerhin auf den Temperaturunterschied zwischen der kalten Luft auf Hamburgs Straßen und der Heizungswärme des Raumes schieben.

»Ich weiß ja nicht, wie du für etwas derart Banales wie deine Bandproben kurz vor den Prüfungen noch Zeit findest.« Felix lacht und behält Toni dabei fest im Blick.

Dieser scheint jedoch unbeeindruckt und gibt seine Antwort nur trocken, desinteressiert zurück. »Ich glaube, ich muss einfach weniger lernen als du.«

Zuerst wirkt Felix noch etwas perplex, auch wenn solch bissige Antworten von Toni nichts Ungewöhnliches sind, doch dann lacht er herzlich und klatscht dabei amüsiert in die Hände. Als er sich wieder beruhigt hat, lehnt sich Felix weit auf dem Sofa zurück und nickt bedächtig. »Wahrscheinlich hast du recht.«

Während die beiden einander necken, zückt Martin vorsichtig ein kleines Silberetui, in dem er ein paar selbstgedrehte Zigaretten aufbewahrt. Nachdem er sich vergewissert hat, dass auch wirklich kein Betreuer des Jugendzentrums in der Nähe ist, reicht er schnell einen der Glimmstängel an Toni weiter. Sie zünden sich beide verbotenerweise eine Zigarette an, wobei Toni immerhin daran denkt, das Fenster in ihrer Nähe zu öffnen, damit der träge Rauch sich nicht im sowieso stickigen Gemeinschaftsraum sammelt. Anschließend lehnt er sich entspannt auf dem Sofa zurück, den Kopf auf der Rückenlehne ruhend und die Beine ausgestreckt. Jacks tadelnden Blick ignoriert Toni geflissentlich. Er raucht seelenruhig weiter, genauso wie Martin ihm gegenüber. Die Asche entsorgen sie in einer leeren Cola-Dose, die vorerst als behelfsmäßiger Aschenbecher dient.

Tatsächlich ist Jack in ihrer kleinen Gruppe der einzige Nichtraucher, auch wenn er es zumindest schon ausprobiert hat. Da Toni sich auch von ihm nicht belehren lässt, winkt er schnell ab und startet ein gänzlich anderes Gesprächsthema.

»Ich habe tolle Neuigkeiten.« Jacks Stimme überschlägt sich fast vor Aufregung, seine hellen Augen leuchten sogleich. Er schaut erwartungsvoll zu seinen Freunden, auch wenn Martin und Felix wenig interessiert scheinen.

»Mhm.« Ihre Gleichgültigkeit stört Jack nicht. Er hat nicht erwartet, dass Martin und Felix seine plötzliche Euphorie teilen. Im Gegensatz dazu hat sich Toni sofort aufgesetzt und sieht nun neugierig und aufmerksam zu Jack.

»Was gibt es denn Neues zu berichten, das noch nicht einmal ich weiß?« Toni scherzt und zwinkert seinem besten Freund amüsiert zu. Die beiden verbindet seit ihrer frühesten Kindheit eine enge Freundschaft. Sie treffen sich jeden Tag und erzählen einander ausnahmslos alles. Mittlerweile wissen sie voneinander mehr als sonst jemand, einige Dinge vertrauen sie wohlweislich im Stillen nur dem jeweils anderen an.

Jack wartet noch einen Moment, lässt die Spannung ein klein wenig länger im Raum hängen als notwendig, bevor er mit einer Antwort herausrückt. »Ich kann gleich nach unserem Abschluss zwei Semester lang im Ausland studieren.«

Jack lächelt selbstzufrieden. Er sitzt zwar Toni zugewandt auf dem Sofa, schaut allerdings fast auffällig konsequent nicht zu seinem besten Freund, sondern zu Martin und Felix. So bemerkt er auch nicht, dass Toni ungewollt zusammenzuckt und sichtbar angestrengt versucht, eine passende Antwort zu formulieren. Felix kommt ihm jedoch zuvor.

»Das ist ja supercool!« Er scheint nun doch von Jacks Begeisterung mitgerissen und beugt sich auf seinem Platz weit nach vorne. »Wo studierst du dann?«

»An einer kleinen Universität am Rand von Manchester. Ich kann wirklich von Glück reden, zumindest für die kurze Zeit dort studieren zu dürfen.«

Immerhin Felix hört ihm nun interessiert zu, darüber freut sich Jack. Denn Toni hat sich fast sofort mit hängenden Schultern von ihm abgewandt, während Martin nur theatralisch schnaubend den Kopf geschüttelt hat. Beinahe bockig lässt er sich gegen die Sofalehne fallen, die Arme vor der Brust verschränkt. Doch statt weiter auf Jack zu achten, der sowieso ins Gespräch mit Felix vertieft ist, fixiert Martin seinen durchdringenden Blick nun auf Toni.

»Aber es ist doch sicher nicht leicht, einen Platz für ein Auslandssemester zu bekommen. Steht das alles schon komplett fest?«

Vielleicht löst sich Toni gerade deshalb aus seiner Starre. Jack wendet sich ihm augenblicklich zu.

»Ja, ich habe alles bis ins letzte Detail geplant. Nur wollte ich nichts davon erzählen, bis ich die Zusage bekommen habe.« Jack schmunzelt und überlegt kurz, ehe er fortfährt. »Nach den beiden Semestern werden meine Ersparnisse aber komplett aufgebraucht sein. Die Studiengebühren und das Studentenwohnheim sind um einiges kostspieliger als erwartet.«

Er denkt an die ganzen Monate, in denen er akribisch alles durchgerechnet und geplant hat. Das dafür beiseitegelegte Geld hat Jack durch viele kleine Wochenendjobs verdient, denn seine Mutter kümmert sich schon seit Jahren alleine um ihn und seine jüngere Schwester. Auch wenn sie versucht, ihren beiden Kindern alles zu ermöglichen, könnte sie für Jacks Auslandsstudium nicht aufkommen.

»Das ist wirklich toll.« Toni freut sich ehrlich für seinen besten Freund, auch wenn die ganze Situation für ihn einen schalen Beigeschmack hat.

»Du könntest auch einfach hier studieren.« Jetzt meldet sich Martin zu Wort. Er klingt genervt und behält seine abwehrende Körperhaltung beharrlich bei. Toni knurrt leise, aufgebracht wegen Martins negativer Reaktion. Aber Jack kommt ihm mit seiner Antwort glücklicherweise zuvor.

»Ich bin aber froh, dass ich diese Möglichkeit habe.« Er zuckt beschwichtigend mit den Schultern und signalisiert sowohl Toni als auch Martin deutlich, dass dieses Thema damit beendet ist.

Martin hat nicht vor, nach ihren Abiturprüfungen zu studieren, er ist froh, wenn er seine Schulzeit endlich hinter sich hat. Die ambitionierten Pläne von Toni und Jack kann er nicht ansatzweise nachvollziehen.

Aber erstaunlicherweise gibt Martin in diesem Moment nach und verbietet sich jeden weiteren abschätzigen Kommentar. Stattdessen sieht er mit vielsagendem Grinsen zu Toni und zündet sich noch eine Zigarette an.

Die vier jungen Männer wechseln allmählich das Thema und reden gelassen weiter miteinander, bis ein blechernes, durchdringendes Klingeln sie aufschrecken lässt. Es ist das sonst völlig ungenutzte Klapphandy in Tonis Rucksack. Er sucht hastig danach und starrt anschließend wie gebannt auf die unbekannte Nummer, die auf dem Display aufleuchtet.

»Ich bin kurz draußen.« Es ist eine knappe Aussage, die keiner Antwort bedarf. Toni steht eilig auf, nimmt seine Jacke und durchquert mit schnellen Schritten den Raum, das Handy bereits am Ohr.

Zwischen den anderen herrscht abruptes Schweigen, zumindest bis sich Martin sicher ist, dass Toni sie nicht mehr hören kann. »Ihr beide studiert also nicht an der gleichen Uni? Ihr hängt doch sonst immer zusammen rum.«

Er zuckt mit den Schultern und wechselt aus seiner defensiven Stellung zu einer selbstsicheren, lockeren Körperhaltung.

»Ach, wahrscheinlich geht Toni sowieso auf eine sündhaft teure Eliteuniversität, die wir uns überhaupt nicht leisten können.« Während Felix spricht, zieht er eine einzelne leicht verformte Zigarette aus der Tasche seiner Kapuzenjacke. Er sieht nicht zu seinen beiden Gesprächspartnern, sondern hält den Blick gesenkt und dreht die Zigarette geistesabwesend in den Händen, bevor er sie anzündet.

»Toni soll an einer speziellen Musikhochschule studieren, ja.« Jack antwortet, trotz des bissigen Kommentars, ruhig und entspannt. Dabei lehnt er sich schmunzelnd zurück. »Da wäre ich doch sehr fehl am Platz.«

Einen Moment lang lässt sich Jack von dem gleichmäßig schwerfälligen Rauch der Zigarette ablenken, folgt ihm mit seinem Blick. Für ihn ist das ganze Thema damit beendet, doch Martin und Felix sind da ganz anderer Meinung.

Sie sehen verschwörerisch zueinander, bevor Martin sich mit herausforderndem Blick nach vorne beugt. »Läuft es nicht mehr so gut zwischen euch?«

Er kann sein höhnisches Lächeln nicht verbergen, als Jack ungewollt, aber sofort reagiert. Er verspannt sich etwas und sieht zweifelnd zu Martin.

»Hör auf damit.« Jack spricht mit ruhiger, aber ernster Stimme.

Doch bevor er das verfluchte Thema wechseln kann, hakt Felix mit einer weiteren ironischen Frage nach. »Warum würdest du denn sonst deinen Liebsten hier alleine lassen?«

Seine tiefbraunen Augen sind fest auf Jack gerichtet, während er entspannt die Arme über den Kopf hebt und sich ausgiebig streckt.

»Gut, ihr habt euch amüsiert. Aber jetzt lasst den Blödsinn.« Jack schüttelt den Kopf, bleibt aber noch sehr geduldig mit seinen beiden Gesprächspartnern. Zu seinem Erstaunen reißen sich Martin und Felix wirklich zusammen, zumindest für kurze Zeit. Jack hat sich gerade wieder etwas entspannt, als Martin sich erneut weit nach vorne lehnt, um mit gesenkter Stimme weiterzusprechen.

»Was erwartest du denn, Jack? Ihr verbringt doch jede freie Minute zusammen. Du solltest eher aufpassen, dass Toni da nichts falsch versteht.« Sollte Martin bemerken, wie verärgert Jack in diesem Moment ist, dann lässt er sich das nicht anmerken. Stattdessen lächelt er nachsichtig und scheint sich diebisch darüber zu freuen, dass Felix ebenfalls etwas erwidert.

»Dafür ist es doch schon zu spät.« Felix behält Jack ganz genau im Blick. »Die kleine Schwuchtel steht auf dich.«

Sein gehässiges Lächeln verschwindet jedoch augenblicklich, als Jack sich verärgert aufrichtet. Seine Augen funkeln wütend, die Hände hat er angespannt zu Fäusten geballt. Es ist deutlich zu erkennen, dass ihm die Sticheleien seiner Freunde jetzt reichen.

Felix hat sich schnell aufrecht hingesetzt und abwehrend die Hände gehoben, aber seine Befürchtungen sind unbegründet.

»Ihr beide seid wirklich unausstehlich. Ich gehe.« Jacks Stimme ist wutverzerrt. Aber er beherrscht sich, wendet sich schlichtweg mit vor Zorn zusammengebissenen Zähnen von Martin und Felix ab. Er würdigt die beiden keines Blickes mehr, sondern packt seine Sachen zusammen und eilt dann mit festen Schritten zum Ausgang. Er kocht vor Wut und will bloß nicht noch länger in Gesellschaft der beiden bleiben.

Er hat den Gemeinschaftsraum gerade durchquert, als ihm Toni in die Arme läuft.

»Was ist denn los?« Toni blinzelt ein paarmal und legt fragend den Kopf schief. Er ist vollkommen in seine eigenen Gedanken versunken gewesen, zumindest bis er den ernsten Gesichtsausdruck seines besten Freundes bemerkt hat.

»Das hier muss ich mir nicht antun. Ich gehe nach Hause.« Jack wirkt immer noch aufgebracht. Er schiebt den sichtbar verdutzten Toni sanft beiseite und geht dann weiter zum Ausgang. »Kommst du mit?«

Die Frage stellt Jack beim Fortgehen und lässt Toni dadurch kaum Zeit zum Nachdenken. Unschlüssig bleibt er also mitten im Hausflur stehen. Er kann sich allerdings schon denken, wer Schuld an Jacks überstürztem Aufbruch hat. Leise schimpfend eilt er zu Martin und Felix zurück, allerdings nur, um seine Sachen zu holen. Dann folgt er seinem besten Freund nach draußen.

Schon als Toni telefoniert hat, sind draußen die ersten kleinen Schneeflocken zu Boden gefallen. Mittlerweile werden diese jedoch immer größer. Der Wind ist noch kälter geworden als zuvor. Toni muss vor der Tür kurz stoppen und sich mit leicht gesenktem Kopf umschauen. Er hat gehofft, dass Jack draußen auf ihn wartet, aber das scheint sein alleiniger Gedanke gewesen zu sein. Vor dem niedrigen Gebäude ist niemand mehr zu sehen. Also holt Toni eilig sein Fahrrad und läuft in die Richtung, in die Jack gegangen sein muss.

Es dauert nicht lange, bis Toni seine Silhouette durch die dicken Schneeflocken hindurch erkennen kann. Das Wetter hindert ihn mittlerweile daran, mit dem Fahrrad zu fahren, also schiebt er es neben sich her, während er frustriert die letzten paar Meter sprintet, um Jack einzuholen.

»Warte, Jack!« Toni muss seine Stimme erheben, um den rauschenden Wind und die über die Hauptstraße fahrenden Autos zu übertönen. Neben Jack angekommen drosselt er sein Tempo wieder und spürt plötzlich das Brennen in seiner Lunge, verursacht durch die beißende Winterluft und die Kälte, die sich allmählich in seinen Händen ausbreitet, während er den Fahrradgriff fest umklammert. Die dünnen Wollhandschuhe nützen ihm dabei gar nichts. »Was sollte das denn? Du hättest wenigstens auf mich warten können!«

Jack dreht langsam den Kopf zur Seite und sieht entschuldigend zu Toni. »Sorry. Die beiden sind mir zu anstrengend geworden.«

Er deutet vage hinter sich, in die Richtung des Jugendzentrums. Dank dieser halbherzigen Begründung lacht Toni schallend auf. Gegen den stetigen Wind wirkt sein Gelächter klangvoll und so amüsiert, dass Jack ebenfalls zu lächeln beginnt. Dabei blitzen seine blauen Augen freudestrahlend, eine Auffälligkeit in seiner Mimik, die Toni sehr gut gefällt. Er behält Jack zufrieden im Blick, bevor er leicht den Kopf schüttelt.

»Das denke ich auch oft genug. Trotzdem laufe ich nicht einfach weg.« Die beiden jungen Männer bleiben an einer roten Ampel stehen und verfallen fast gleichzeitig in Schweigen. Sollte Toni Jacks forschenden Blick bemerken, dann reagiert er nicht darauf. Er beobachtet stattdessen gebannt die Ampel auf der anderen Straßenseite, als wollte er sie durch Hypnose dazu bringen, auf Grün umzuschalten.

Jack hingegen achtet weiterhin nachdenklich auf seinen besten Freund. Die Worte von Martin und Felix wollen ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Toni wurde unfreiwillig vor ungefähr einem Jahr geoutet, wodurch mittlerweile jeder an ihrer Schule weiß, dass er schwul ist. Dadurch gerät er oft in Auseinandersetzungen, die, da sich Toni schnell provozieren lässt, oftmals in ernsthafte Schlägereien ausarten. Momentan hält sich Toni missmutig zurück, er ist in den vergangenen Monaten zu oft durch solche Streitereien aufgefallen. Seine Eltern wissen nämlich von alledem noch nichts, und Toni ist eifrig darum bemüht, das auch genauso beizubehalten.

Jack hingegen steht ihm fest zur Seite und verteidigt Toni, sobald er merkt, dass es notwendig ist. Wobei er, im Gegensatz zu seinem besten Freund, nicht handgreiflich wird. Jack hat sich noch nie geprügelt, ihm würde auch überhaupt kein Grund einfallen, das jemals zu tun. Aus solch unangenehmen, lästigen Situationen wie der im Jugendzentrum entzieht er sich lieber, als an die Vernunft seiner Gesprächspartner zu appellieren. Außerdem hat Toni auf diese Weise nicht mitbekommen, worüber sie geredet haben.

Die spöttischen, zu ihrem eigenen Spaß willkürlich aufgestellten Behauptungen von Martin und Felix sind allerdings gar nicht so abwegig. Wobei Jack auch das ganz genau weiß. Ihm ist durchaus bewusst, dass Toni Gefühle für ihn hat. Er hat es Jack selbst gesagt, kurz bevor seine sexuelle Orientierung zum ungewollten Hauptgesprächsthema ihrer Schule wurde.

In dem kleinen Holzschuppen im Schrebergarten von Jacks Familie stand Toni mit angezogenen Schultern und beichtete mit für ihn untypisch leiser, zaghafter Stimme seinem besten Freund, dass er in ihn verliebt sei. Dabei vermied Toni jeglichen Blickkontakt und hob erst, als von Jack nicht sofort eine Antwort kam, vorsichtig den Kopf. In seinen blauen Augen lag Angst, aber auch ein verzweifelter Hoffnungsschimmer. Jack war viel zu perplex und sprachlos, um schnell oder gar angemessen zu reagieren. Aber sein tiefes, niedergeschlagenes Seufzen, nach einigen Sekunden mühevoll hervorgebracht, reichte Toni schon als Antwort. Im Grunde war ihm von vornherein klar, dass sein bester Freund diese Gefühle nicht erwidern würde.

Während sie den Rest des Nachmittags auf dem staubbedeckten Boden des Schuppens verbrachten und leise miteinander redeten, wurde immerhin Tonis furchtbar schneller Herzschlag allmählich ruhiger, auch das flaue Gefühl in seinem Magen ließ nach. Als sich bei Einbruch der Dunkelheit die Wege der beiden jungen Männer trennten, wich sogar die zu erwartende Enttäuschung einer merkwürdigen Ruhe. Für die behutsame Umarmung, in die Jack seinen besten Freund dann zog, war Toni trotzdem mehr als dankbar. Eine erstaunlich lange Zeit verbrachten sie so, bevor sie sich unbeholfen voneinander lösten. Dort auf der kaum befahrenen Straße, welche die beiden Häuserblocks voneinander trennt, in denen sich die jeweiligen Wohnungen ihrer Familien befinden.

Nach scheinbar endlos langer Zeit wechselt die Ampel für die Fußgänger auf Grün, wobei Toni ihr Schweigen erst bricht, als sie die nächste Straßenecke umrundet haben. »Sonst ist alles okay bei dir?«

Er dreht den Kopf in Jacks Richtung, nicht nur, um seinem besten Freund in die Augen sehen zu können, sondern auch, um sich von dem stetigen Wind abzuwenden.

»Ja, keine Sorge.« Jack zuckt abwehrend mit den Schultern. Er hat den Kragen seines Wintermantels hochgestellt und die Hände tief in den Taschen vergraben. Obwohl seine Sicht vom umherwirbelnden Schnee verschleiert wird, kann er allmählich das große Schild erkennen, welches auf den Eingang zur U-Bahn-Station hinweist.

»Möchtest du mit zu mir kommen? Ich denke, sonst ist noch niemand zuhause.« Jack sieht fragend zu Toni, der sofort zufrieden lächelt und zustimmend nickt.

»Du hast heute so viel von deinen Plänen für das Studium erzählt, da ist es wohl besser, wenn ich dich begleite, damit wir noch ein wenig für die Prüfungen lernen.« Toni lacht amüsiert, als Jack ihm gespielt verärgert gegen die Schulter boxt. Er lächelt dabei, wohl wissend, dass Tonis Vorschlag gar nicht so übel ist. Gemeinsam gehen sie weiter, bis zur laut über die Gleise ratternden U-Bahn und von dort aus zu dem abgelegenen Wohngebiet in Stellingen.

Juni

Toni hält sich abseits der anderen in einer Ecke des großen, geräumigen Wohnzimmers auf.

Die Musik aus der Stereoanlage ist so laut, dass sie ihm, dicht bei den Boxen stehend, unangenehm in den Ohren dröhnt. Die Luft scheint zu vibrieren, wodurch Toni halbherzig darüber nachgrübelt, ob sich die Nachbarn direkt gegenüber nicht doch noch beschweren werden. Mit einem leichten Seufzen lässt er seinen Blick abermals durch den Raum schweifen, um die ausgelassenen Partygäste zu beobachten. Normalerweise feiert Toni sehr gerne, aber an diesem Abend wird seine Stimmung durch die alles überschattende Tatsache getrübt, dass er sich auf Jacks Abschiedsfeier befindet und sein bester Freund schon am kommenden Tag nach England aufbrechen wird.

Die Musik verstummt für wenige Sekunden, ehe das nächste Lied auf der zerkratzten CD abgespielt wird. Gleichzeitig stößt sich Toni von der Wand ab, gegen die er sich lässig gelehnt hat, und bahnt sich, mit dem halbherzigen Vorhaben, sich doch noch zu amüsieren, einen Weg durch den Raum. Immerhin sollte ihm gerade nach den bestandenen Prüfungen und ihrem erfolgreichen Schulabschluss nach Feiern zumute sein.

Zunächst schleicht Toni in die kleine Küche der Wohnung, wo sich außer ihm niemand aufhält. Beinahe hätte er deswegen erleichtert aufgeatmet, stattdessen wendet er sich dem Esstisch zu, auf dem allerlei Snacks und verschiedenste Getränke stehen. Toni überlegt kurz, dann nimmt er sich einen der Plastikbecher und füllt ihn bis zur Hälfte mit der viel zu süßen Fruchtbowle. Dazu gießt er den Rest Wodka, der sich noch in einer danebenstehenden Flasche befunden hat, und verrührt das Gemisch kurz. Während Toni vorsichtig prüfend einen Schluck trinkt, schlendert er durch die schmale Küche, bis er im Türrahmen stehen bleibt und sich von dort aus erneut umsieht.

Dafür, dass so viele Gäste gekommen sind und die Stimmung sehr ausgelassen ist, sieht die Wohnung noch erstaunlich ordentlich aus. Allerdings achtet Jack sicherlich penibel darauf, dass nicht zu viel Chaos entsteht. Toni schmunzelt bei dem Gedanken und wechselt in eine etwas bequemere, gelöstere Körperhaltung. Er nippt erneut an seinem Getränk und lächelt ein paar vorbeigehenden Partygästen zu. Nach diesem Abend werden sie alle mehr oder minder getrennte Wege gehen. Das ist der eine Gedanke, den Toni schon seit Wochen nicht mehr loswird, und an diesem Tag wirkt er nur noch surrealer, wenn auch gleichzeitig beständiger, fester als je zuvor.

Wenn Toni ehrlich mit sich ist, versucht er genau deshalb, Jack aus dem Weg zu gehen, und das nicht nur an diesem Abend, sondern auch schon an den Tagen zuvor.

Mehr als ein paar kurze, einsilbige Gespräche sind zwischen den beiden jungen Männern nicht zustande gekommen. Toni konnte sich schlichtweg nicht dazu bringen, mehr mit Jack zu unternehmen, nicht in dem Wissen, dass er seinen besten Freund bald für lange Zeit nicht mehr sehen wird. Er ist sich noch nicht sicher, wie er damit umgehen soll, immerhin haben die beiden seit ihrer Kindheit fast jeden Tag miteinander verbracht. Außerdem sind da auch noch Tonis unerwiderte Gefühle, die diesen Abschied für ihn noch schwerer machen. Er spricht nicht mehr darüber, aber natürlich sind sie da, egal wie sehr Toni sich einredet, dass es keinen Sinn hat. Er hält seine Gefühle zurück, aber kann einfach nicht vermeiden, dass er manchmal sehnsüchtig zu Jack schaut und sich mehr wünscht.

Vorerst hebt sich Tonis Stimmung jedoch, er wird entspannter und genießt allmählich die unbefangene Atmosphäre der Feier, auch wenn er sich nach wie vor wünscht, dass Kaddy noch bei ihm wäre. Zusammen mit der aufgeweckten, quirligen Kathleen war Toni zwangloser, und während sie sich wie immer angeregt mit Jack unterhalten hat, konnte er selbst sich problemlos zurückhalten. Allerdings hat sie sich schon vor einer Stunde verabschiedet und ist nach Hause gefahren.

Mit vorsorglich neu gefülltem Plastikbecher geht Toni zurück ins Wohnzimmer und schaut sich neugierig um. Der große Raum ist nur schwach beleuchtet, da die Deckenlampe ausgeschaltet ist und lediglich die beiden Stehlampen als Lichtquelle dienen. Die linke Seite des Zimmers wurde zur provisorischen Tanzfläche umgeräumt, auch wenn der Platz dafür durchaus begrenzt ist und die Partygäste aufpassen müssen, dass sie beim Tanzen nicht versehentlich gegen die alte, massive Holzkommode stoßen.

Auf dem Ecksofa an der gegenüberliegenden Wand haben es sich einige Partygäste bequem gemacht. Auch Lou hat sich dort ausgebreitet und sitzt völlig entspannt mit überschlagenen Beinen auf seinem Platz. In der rechten Hand hält er eine fast leere Bierflasche, die er beim Reden gedankenverloren hin und her schwenkt. Lou ist vergnügt und komplett auf die Unterhaltung mit den anderen fixiert. Er lacht immer wieder herzlich auf und wirft dabei den Kopf in den Nacken, sodass seine langen Haare wild um sein Gesicht fallen. Lou ist derart in seine Gespräche vertieft, dass er Toni erst bemerkt, als dieser sich schwerfällig neben ihm auf das Sofa fallen lässt.

»Keine Lust zu feiern?« Lou legt den Kopf etwas schief und lächelt sanft, beinahe verständnisvoll.

Toni schüttelt kaum merklich den Kopf und beobachtet die tanzenden Partygäste, die sich zur lauten Musik bewegen. Er trinkt ruhig sein selbst zusammengemischtes Getränk und reagiert auch nicht, als Lou einen leisen, nachdenklichen Laut von sich gibt.

»Willst du tanzen?« Diese Frage kommt für Toni sichtbar unvermittelt. Er stutzt kurz und sieht blinzelnd, fragend zu Lou, der augenblicklich auflacht.

»Vielleicht später.« Toni zuckt mit den Schultern und lacht leise, seine hellen Augen funkeln amüsiert. Mit einer knappen Handbewegung weist er zur Tanzfläche und sieht auffordernd zu Lou. »Was ist mit dir?«

Lou schüttelt allerdings eilig den Kopf und leert sein Bier mit einem letzten Schluck. Seine Wangen sind mittlerweile gerötet, wahrscheinlich hat er an diesem Abend schon um einiges mehr getrunken.

»Nein, ich tanze ganz sicher nicht! Aber hier herumzusitzen ist auch blöd.« Mit diesen Worten erhebt sich Lou schwungvoll von seinem Platz. Er lacht zufrieden und versucht, das leichte Schwanken seines alkoholisierten Körpers zu überspielen. »Kommst du mit?«

Er sieht erwartungsvoll zu Toni, der diese Aufforderung scheinbar erst abwägen muss, ehe er nickt und sich ebenfalls erhebt.

Keine halbe Stunde später stehen sie mit drei weiteren Partygästen zusammen in der kleinen Küche, wo es ruhig ist und sie angeregt miteinander reden können. Als sich dann plötzlich eine Hand sanft auf Tonis Schulter legt, zuckt dieser unwillkürlich zusammen und wirbelt verwundert herum.

»Da bist du ja!« Toni verspannt sich sofort merklich, als er in Jacks blaue Augen sieht. Er hat es den ganzen Abend lang wunderbar geschafft, ihm aus dem Weg zu gehen, und ist jeglichen Gesprächen beharrlich ausgewichen, doch war Toni von Anfang an klar, dass er seinem besten Freund nicht ewig fernbleiben kann. Besonders nicht am Tag seiner Abschiedsfeier und in seiner Wohnung. Trotzdem überfordert es Toni schrecklich, Jack so nah vor sich stehen zu sehen und seine einnehmende Stimme zu hören. Er schafft es auch nicht zu antworten, sondern nickt nur knapp und trinkt ein wenig Punsch, um sich Zeit zu verschaffen. Seinen Blick kann er dabei trotzdem nicht mehr von Jack abwenden. Toni mustert seinen besten Freund verstohlen, aber gleichzeitig auch sehr neugierig, unsicher, ob die anderen etwas von seinen Blicken oder der Anspannung mitbekommen.

»Kommt mir fast vor, als würdest du mir aus dem Weg gehen.« Jack lacht sanft und zwinkert seinem besten Freund zu, als er von ihm weiterhin keine Reaktion erhält. Toni hingegen merkt, dass er nur noch mehr errötet. Er ringt unbeholfen um Fassung und schüttelt eilig den Kopf.

»Das ist Blödsinn, Jack. Wir haben uns doch ganz normal unterhalten. Außerdem geht es heute Abend um dich, und du bist bis jetzt doch gut beschäftigt gewesen.« Allmählich entspannt sich Toni wieder.

Jack hingegen zuckt abwehrend mit den Schultern. »Eigentlich schon, aber du weißt, dass ich nicht gerne den Gastgeber spiele. Ich bin froh, dass es langsam ruhiger wird.« Als würde er seine Aussage unterstreichen wollen, lässt Jack den Blick, im Türrahmen der Küche stehend, einmal durch die Wohnung schweifen. Toni tut es ihm gleich und wendet sich seinem Gesprächspartner erst wieder zu, als dieser erneut das Wort ergreift. »Ich wollte schon den ganzen Abend in Ruhe mit dir sprechen. Kommst du kurz mit?«

Mit einer flüchtigen Handbewegung weist Jack hinaus aus der Küche und in den schmalen Flur. Sogleich überlegt Toni angestrengt, ob ihm eine passende Ausrede einfällt, um nicht mitkommen zu müssen. Als ihm das nicht gelingt, seufzt er tief und resigniert. Jack scheint das jedoch nicht zu bemerken, er lächelt zufrieden, als Toni zaghaft nickt und ihm widerwillig folgt. Während sie durch die Wohnung bis hin zu Jacks Zimmer am anderen Ende des Flurs gehen, drückt Toni seinen Becher nervös zusammen, bis das leise Knacken des berstenden Plastiks ihn innehalten lässt.

Jacks Zimmer wirkt ungewohnt leer und kahl. Er hat schon vor Tagen seine Sachen gepackt, und wo sonst wildes, kreatives Chaos herrscht, ist nun alles sorgsam in den Schränken oder in dem an der Tür stehenden Koffer verstaut worden. Außer den Möbeln befindet sich nichts mehr in dem für die Wohnverhältnisse großen Raum. Jack schaltet wortlos das Licht ein und wartet geduldig, bis Toni eingetreten ist.

»Hier drinnen ist es ruhig, dann können wir ungestört reden.« Mit diesen Worten lehnt Jack die weiße Holztür an und geht langsam zu Toni in die Mitte des Raumes.

Toni ringt sich ein leichtes Lächeln ab, während sein bester Freund auf ihn zukommt. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals, er scheut sich aus ganz unterschiedlichen Gründen vor dieser Situation. Der Anblick des inzwischen unpersönlichen, kahlen Raumes hat Toni wieder schmerzlich daran erinnert, dass sich ihr gesamtes Leben im Wandel befindet. Denn auch wenn Jack es noch nicht weiß, in wenigen Tagen wird Toni ebenfalls sein ruhiges, behagliches Zuhause verlassen. Wobei es deswegen immer wieder zu ernsthaften, lauten Diskussionen in seiner Familie gekommen ist, sodass Toni es gar nicht mehr allzu schlimm findet, Hamburg den Rücken zu kehren. Ohne Jack an seiner Seite gibt es sowieso nicht viel, was ihn noch in ihrer Heimatstadt hält.

Dann sind da natürlich auch noch Tonis Gefühle, für die es nicht hilfreich ist, dass Jack in einem geschlossenen Raum derart knapp vor ihm steht. Die Menge an Alkohol, die Toni bis zu diesem Zeitpunkt getrunken hat, tut ihr Übriges.

Er überlegt gerade, wann die früher selbstverständliche, alltägliche Nähe zueinander für ihn so irritierend und beklemmend geworden ist, dass er am liebsten auf der Stelle die Flucht ergreifen würde, als Jack seine Behauptung von zuvor erneut ausspricht.

»Du bist dir wirklich sicher, dass du mir nicht aus dem Weg gehst?« Jacks Augen funkeln aufmerksam, er lacht leise und legt den Kopf fragend schief.

Toni hat deutlich weniger Spaß an ihrer Unterhaltung. Er seufzt tief und tritt dann einen Schritt zurück. »Natürlich nicht. Ich hatte einfach viel zu tun.«

Er sieht entschuldigend zu Jack, hofft aber gleichzeitig, dass dieses Thema damit beendet ist.

»Na gut. Wann geht eigentlich dein Studium los?« Kaum dass Jack seine Frage ausgesprochen hat, sind aus dem Flur laute Geräusche zu hören, sodass er sich kurz prüfend umdreht und in die darauffolgende Stille lauscht. Jack weiß ganz genau, dass Toni ihn angelogen hat und ihm mit voller Absicht aus dem Weg gegangen ist, also will er diese Chance für ein ruhiges Gespräch nicht wegen solcher Störungen abbrechen. Da nichts passiert zu sein scheint, wendet er sich schnell wieder mit einem entschuldigenden Lächeln an Toni. Jack hat dadurch jedoch den missmutigen Blick seines besten Freundes nicht mitbekommen, und auch die Tatsache, dass Toni angestrengt nach einer passenden Antwort auf seine Frage gesucht hat, ist ihm entgangen. Nun sieht Toni fast schuldbewusst zu seinem Freund und schüttelt sanft den Kopf.

»Ich werde nicht studieren.« Jack schaut ihn so verdutzt an, dass Toni sich sofort sicher ist, seinen besten Freund mit dieser Nachricht überrascht zu haben. Verwunderlich, denn normalerweise kursieren Neuigkeiten in ihren Familien erschreckend schnell.

Ihre Eltern erzählen einander ausnahmslos alles. Genau wie Toni und Jack sind ihre Mütter seit frühester Kindheit eng miteinander befreundet, sodass die beiden recht unterschiedlichen

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Finn Beck
Cover: Zeilenfluss
Korrektorat: TE Language Services – Tanja Eggerth, Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 05.04.2023
ISBN: 978-3-96714-309-6

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