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Prolog

Elena zuckte zusammen, als es im Wohnzimmer den nächsten großen Knall gab. Es klang nach Glas, das zerbrach, kurz darauf hörte sie ihre Mutter schreien.

Schluchzend griff sie nach ihrem kleinen Teddy und zog ihn in ihre Arme, während sie sich noch weiter in die hinterste Ecke ihres Kleiderschrankes presste. Sie hatte Angst, wäre am liebsten weggelaufen.  Doch sie wusste, wenn sie jetzt aus dem Schrank hinausgekrochen wäre, hätte er ihr wieder wehgetan.

„Du kleine Schlampe hast mich doch bestimmt wieder betrogen!“, brüllte der neue Freund ihrer Mutter durch die Wohnung. Dann weinte sie wieder. „Muss ich dir denn jedes Mal einprügeln, dass ich der einzige Mann für dich bin? Wann kapierst du das endlich?“

„Aber ich habe doch gar nicht …“

Mehr hörte Elena ihre Mutter nicht mehr sagen. Sie weinte nur noch.

Elena verstand mit ihren fünf Jahren ganz und gar nicht, über was die Erwachsenen da sprachen. Aber sie wusste ganz genau, dass Kai – so hieß er – ihrer Mutter weh tat. Mama weint so oft, dachte sie im Stillen. Genauso viel, wie sie selber weinte. Wenn Papa doch nur hier wäre, ging es ihr durch den Kopf. Doch der schaute schon seit einer ganzen langen Zeit als Engel vom Himmel auf sie herunter. „Papa ist sehr krank und wird bald von da oben auf dich aufpassen“, hatte Mama ihr mal gesagt, aber sie hatte eher das Gefühl, dass sie sie angelogen hatte. Denn wenn er auf sie aufpassen würde, würde er dann zulassen, dass Kai Mama und sie regelmäßig schlug? Nein, wäre Papa da oben, würde er mich beschützen.

 

Plötzlich war alles still. Elena hörte nichts mehr.

Ob Kai vielleicht weggegangen war?

Manchmal ging er abends nämlich mit seinen Freunden weg. Das war schön, auch wenn es immer sehr viel Streit gab, wenn er ganz spät wieder nach Hause kam. Ihre Mutter sagte immer, Kai wäre betrunken, doch auch diesem Wort konnte sie keine Bedeutung zuordnen. Das Einzige, was sie wusste, war, dass er dann immer noch wütender war als sonst. An diesen Tagen schlug er noch schneller zu und das mochte sie gar nicht.

 

Langsam kroch sie aus ihrem Kleiderschrank heraus, zog ihren Teddy hinter sich her. Die Tür ließ sie offen stehen, damit Kai sie nicht hörte, falls er doch noch in der Wohnung war. „Psht, Teddy“, flüsterte sie ihm leise ins Ohr. „Wir müssen ganz still sein, sonst wird Kai wieder böse, und das wollen wir doch nicht, oder?“ Sie brachte den Teddy dazu, den Kopf zu schütteln und fasste ihn anschließend am Arm, als könne sie mit ihm Händchen halten.

Nun schlich sie sich aus dem Zimmer. Mit kleinen Tippelschritten liefen ihre nackten Füße über die kalten, weißen Fliesen. Direkt an der Tür zum Wohnzimmer blieb sie stehen und lauschte, ob sie nicht vielleicht doch etwas hörte. Zuerst war da nichts, doch dann ertönte ein komisches Geräusch. Sie wusste nicht, was das war. Es klang ein bisschen so, wenn sie auf dem Spielplatz zu schnell gerannt und sie aus der Puste war. Elena zuckte mit den Schultern und sagte leise zu Teddy: Los komm, wir gucken, was Mama da macht.“

Nun brachte sie den Teddy zum Nicken, kurz darauf stand sie bereits in der Tür und schaute ins Wohnzimmer. Da stand Kai direkt vor der Couch. Seine Hose lag auf dem Boden und Elena konnte seinen Hintern sehen. Warum tut er das?, fragte sie sich, während er sich immer wieder nach vor und zurück bewegte. Dann entdeckte sie ihre Mutter. Auch sie gab dieses Geräusch von sich, als wäre sie zu schnell gelaufen, doch Elena fand, sie sah ganz und gar nicht glücklich aus.

„Was machst du da mit meiner Mama?“, fragte sie voller Sorge und hielt sich sofort die Hand vor den Mund. Sie wollte doch gar nicht, dass Kai sie bemerkt, und jetzt hatte sie einfach so etwas gesagt.

„Elena, Schatz, geh in dein Zimmer, ja“, sagte ihre Mutter leise. Sie weinte immer noch.

Plötzlich drehte Kai sich wütend um. „Sieh zu, dass du dich verpisst, du kleines Biest!“, brüllte er sie an. Seine Augen blitzen auf vor lauter Zorn. „Oder willst du, dass ich mit dir dasselbe mache und dir wehtue?!“ Elena schüttelte schnell den Kopf und zog den Teddy fester in ihre Arme. „Gut, dann RAUS!“

Voller Angst und Panik wandte Elena sich von den beiden ab und rannte zur Wohnungstür. Sie riss sie auf und eilte die vielen Stufen nach unten und raus aus dem Haus. Raus aus dieser Hölle und hinein in die weiße Winterlandschaft.

Mit nackten Füßchen.

Einer blauen Jeans.

Und einem kurzärmligen Tshirt.

Während die Kleine weiter ohne Ziel durch den Schnee lief, saß, gar nicht so weit von ihr weg, ein siebenjähriger Junge namens Ben an seinem Kinderzimmerfenster und starrte nach draußen.  Ungeduldig betrachtete er nun schon seit einiger Zeit die weißen Flocken, die sich auf dem Rasen vor dem Haus niederlegten und dafür sorgten, dass der kleine Schneemann mit der roten Nase immer mehr verschwand. Ben war neugierig darauf, was das Christkind ihm wohl in diesem Jahr bringen würde. Gewünscht hatte er sich eine Menge und seinen Wunschzettel an diesem Weihnachtsfest zum ersten Mal selbst geschrieben. Stolz hatte er ihn zusammen mit seiner Mutter in einen Umschlag gepackt und diesen auf das Fensterbrett gelegt. Am nächsten Morgen war er verschwunden und stattdessen lag ein großer, roter Apfel neben seinem Lieblingsdinosaurier. Pah!, dachte Ben sich. Die Kinder in der Schule konnten ihm so oft sie wollten erzählen, dass es das Christkind gar nicht gab. Seine Eltern  hatten ihm immer etwas anderes gelehrt und er erlebte jedes Jahr aufs Neue, das sie Recht behielten. Zum Beispiel an Nikolaus, wenn er diesem selbstgebackene Kekse und Milch zur Verfügung stellte, die am nächsten Morgen ratzekahl aufgegessen waren. Na gut, einmal, da hatte er seinen Kater, Felix, dabei beobachtet, wie er die Tasse Milch leergetrunken hatte. Aber die Kekse, die hatte der Nikolaus gegessen! Da war er sich absolut sicher.

Fasziniert starrte er weiterhin nach draußen. Es war bereits dunkel geworden und die Nachbarn in der Siedlung hatten, genau wie seine Eltern, die Lichter an ihren Häusern eingeschalten. Ben gefiel dieser Anblick. Jeden Abend, bevor er ins Bett ging, sah er sie sich an. Jedes einzelne Licht. Jede einzelne Farbe. Er konnte nicht verstehen, dass es Menschen wie seine Oma gab, die so etwas Schönes nicht leiden konnten. Die Lichter gehörten zu Weihnachten genauso wie der bunt geschmückte Tannenbaum. Darunter musste das Christkind die Geschenke legen, während im Hintergrund die tolle Musik lief, die seine Mutter immer anstellte.

Ja, das war Weihnachten.

So war es wunderschön.

***

So wie er da saß und immer wieder seinen Schneemann begutachtete, tauchte plötzlich rechts von diesem ein kleines Mädchen auf. Ben' Neugier war geweckt. Sie war noch so klein und viel jünger als er, trug weder Schuhe, noch eine Jacke oder Mütze. Ob sie denn gar nicht friert?, fragte er sich.  Wenn er so nach draußen gehen würde, würde seine Mutter ihn anschließend gehörig ausschimpfen. Er wusste genau, dass er krank werden würde, sollte er sich nicht warm genug anziehen. Aber warum lief dann dieses Mädchen da draußen herum, als wäre Sommer? Ob sie keine Mama hat, die sich um sie kümmert?, schoss es ihm durch den Kopf. Seine Mutter hatte ihm mal erzählt, dass es viele Kinder gibt, die ihre Eltern verloren haben.

Doch daran mochte er jetzt gar nicht denken.  Viel mehr überlegte er, ob und wie er dem Mädchen helfen konnte.  Sollte er vielleicht rausgehen und ihr ein paar Sachen von sich borgen? Seiner Mutter wollte er unter keinen Umständen Bescheid sagen. Sie hätte das Mädchen bestimmt zurück nach Hause gebracht und er wollte nicht, dass sie deswegen ausgeschimpft werden könnte.

Hmm… Ben fuhr sich durch sein schwarzes, lockiges Haar und beobachtete das Mädchen weiter. Sie hatte die Arme um ihren Körper geschlungen und soweit Ben das beurteilen konnte, zitterte sie sogar ein wenig. Ja, ich muss ihr helfen!, dachte er sofort und sprang von der Fensterbank hinunter. Er rannte hinüber zu seinem Kleiderschrank, nahm einen dicken Pullover, Socken und eine Wollmütze heraus, die er anschließend in seinen grünen Dinorucksack steckte. Jetzt musste er seine Mutter nur noch davon überzeugen, dass er mal kurz vor die Tür durfte.

„Mama? Darf ich noch einmal nach meinem Schneemann sehen? Wenn es so weiter schneit kann ich ihn morgen gar nicht mehr sehen.“ Er stand mittlerweile in der Küche, wo seine Mutter bereits das Abendessen vorbereitete.

„Jetzt noch?“ Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Du weißt aber schon, dass es gleich Bescherung gibt?“  Lächelnd trocknete sie sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und legte dieses zur Seite. „Du könntest doch auch morgen mit Papa einen neuen bauen.“

Ben schüttelte den Kopf, während seine Mutter auf ihn zu kam und sich vor ihn hockte. „Bitte, Mama, ich bin auch ganz schnell. Versprochen.“

„Also schön.“ Sie nahm seine kleinen Hände in die ihren und lächelte ihn herzlich an.  „Aber wirklich nur kurz, ja? Wir wollen doch nicht, dass das Christkind deine Geschenke wieder mit nach Hause nimmt, oder?“

Mit schief gelegtem Kopf nahm sie anschließend die Umarmung und den Kuss ihres einzigen Sohnes entgegen.  Sie umarmten sich und Ben hauchte ihr ein begeistertes Danke entgegen, welches sie beantwortete, in dem sie ihm kurz über den Kopf streichelte.

Isabelle war stolz auf den kleinen Mann, der sich sogar um einen einfachen Schneemann sorgen machte und diesen vor dem Schnee schützen wollte.

Natürlich ahnte sie nicht, dass Ben in Wirklichkeit eine ganze andere Sache nach draußen trieb. Denn in Wahrheit war er schon längst in der Nähe des kleinen blonden Mädchens, das noch immer an ein und derselben Stelle mit den Füßchen durch den Schnee stapfte. Ben hatte sich hinter einer Hecke versteckt und sorgte somit dafür, dass Elena ihn nicht entdecken konnte. Er beobachtete sie eine ganze Weile und er fragte sich, warum sie wohl nicht nach Hause ging. Ob sie vielleicht gar kein Zuhause hatte?

„Hallo, du“, gab er sich schließlich zu erkennen und trat hinter der Hecke hervor. „Wie heißt du denn?“ Das kleine Mädchen schaute auf und sah Ben mit ihren großen blauen Augen an. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen, denn Kai hatte ihr immer verboten, mit anderen Leuten zu reden. Dabei sah dieser Junge mit den Teddyaugen doch so nett aus. „Hast du denn keinen Namen?“, fragte er noch einmal vorsichtig nach.

Die Kleine zog ihren Teddy fester in ihre Arme. „Ich … ich heiße Elena. Und … und du?“

Ben lächelte. Der Name gefiel ihm. „Ich heiße Ben und ich wohne in dem Haus da drüben. Siehst du?“ Er zeigte mit dem Finger auf das Haus mit den meisten Lichtern in der Siedlung.

Elena nickte. „Ihr habt aber viele Lämpchen“, stellte sie mit großen Augen fest.

Ben schmunzelte. „Ja, die hat mein Papa alle da dran gemacht. Habt ihr auch welche an eurem Haus?“

Sie schüttelte ihr blondes Haar hin und her, während sie sich fest an Teddy kuschelte. „Nein, Kai mag keine Lämpchen und Papa ist tot.“

Der kleine Junge würde traurig. Ihr Papa ist tot?, fragte er sich traurig. Das ist ja schrecklich.

„Und warum hast du keine Schuhe und keine Jacke an? Ist dir denn nicht kalt?“

Elena schaute Ben unsicher an. Sie wusste nicht, was sie dem Jungen sagen sollte. Niemand durfte wissen, dass Kai sie und ihre Mutter schlug. Aber vielleicht konnte Ben ja ein Geheimnis für sich behalten?

„Ich bin von zu Hause weggelaufen. Weißt du?“, erklärte sie ein wenig kleinlaut, fügte aber noch schnell hinzu: „Das darfst du aber niemandem sagen!“

„Ich verspreche hoch und heilig, alles für mich zu behalten!“, sagte er schnell und hob die Hand zum Indianerehrenwort. „Aber sag, warum bist du denn weggelaufen?“ Elena wollte ihm antworten, dich die Kälte kroch immer weiter in ihr hoch. Ihre Lippen waren schon ganz blau. Die Füße rot und taten ihr bereits weh. „Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht. Möchtest du die anziehen?“

Elena machte große Augen. „Was denn für Sachen?“ Ben nahm den Rucksack von seinem Rücken und stellte diesen auf dem Boden ab, bevor er ihn öffnete. Er stellte die Winterstiefel, die er ebenfalls noch schnell eingepackt hatte, in den Schnee und reichte ihr anschließend Pullover, Socken und Mütze.

„Die habe ich aus meinem Schrank geholt, damit du nicht mehr frieren musst“, erklärte er ihr lächelnd. „Kannst du das alleine, oder soll ich dir helfen?“

„Du musst mir helfen“, sagte sie ein wenig unsicher, doch Ben zögerte nicht lange. Er legte die Sachen auf den Boden, dachte natürlich nicht daran, dass er sie so eventuell auch nass machen könnte. Elenas Teddy nahm er ebenfalls und legte ihn daneben.

„Komm her“, sagte er sanft und faltete den Pullover auseinander, den er Elena schließlich über den Kopf zog. Es kostete das kleine Mädchen alle Mühe, ihre Ärmchen durch die Ärmel zu schlängeln, doch irgendwann hatte sie es geschafft. Ben betrachtete sie skeptisch. „Der ist ja viel zu groß“, sagte er lachend und nahm sich die Socken. „Aber egal. Mama sagt immer, Hauptsache warm.“ Er hielt ihr einen Sock hin. „Los, steck den Fuß rein. Aber nicht abstellen, sonst wird er wieder nass. Elena nickte und ließ sich erst den Sock, und kurz darauf den Stiefel anziehen.  Dies tat er auch mit dem anderen. Dann fing er plötzlich an zu kichern. „Die sind ja auch viel zu groß!“

„Ja, du bist ja auch größer als ich!“

Ben nickte. „Das stimmt. Aber so frierst du wenigstens nicht.“ Dann hob er die graue Mütze mit den dunklen Sternen vom Boden auf und zog sie ihr über das blonde Haar. „Die Mütze darfst du behalten, aber den Rest musst du mir wiedergeben, ja? Sonst wird Mama böse.“

Elena hielt sich die Hand vor den Mund. „Tut deine Mama dir dann weh?“, wollte sie voller Furcht wissen.

Ben schüttelte geschockt den Kopf. „Oh, Nein!“, antwortete er schnell. „Meine Mama haut mich nie! Mein Papa auch nicht!“

„Okay …“ Seufzend hob sie ihren Teddy vom Boden auf und drückte ihn. Sie wünschte sich ebenfalls so eine tolle Familie.

„Haut deine Mama dich denn?“, fragte er neugierig. Das wäre schlimm gewesen.

„Nein, Mama haut mich nicht. Aber Kai.“

Ben konnte es nicht glauben. Er wurde schon oft ausgeschimpft, wenn er böse war, aber gehauen wurde er nie. Kinder schlug man nicht. Das war verboten!

„Das darf er aber nicht!“ Elena zuckte mit den Schultern. „Wir können es meiner Mama sagen und dann!“

„Nein!“, schrie sie laut. Ben zuckte zusammen. „Du hast versprochen nichts zu sagen. Und versprochen ist versprochen!“

„Aber …“

Elena schüttelte heftig den Kopf. „Wenn wir was sagen, tut er Mama noch mehr weh und das will ich nicht!“

Das verstand er sofort. Er dürfte nicht petzen.  Das hatte er versprochen.  „Okay, aber du musst mir auch was versprechen!“

Sie legte ihr blondes Köpfchen zur Seite. „Was denn?“

„Wir müssen jetzt für immer befreundet sein, damit ich dir helfen und auf dich aufpassen kann. Okay?“

Elena lächelte. „Ja, okay!“, sang sie schon fast und umarmte anschließend ihren neu gewonnenen Freund. „Das ist ein schönes Versprechen.“

Ben legte die Arme um das kleine Mädchen.

Endlich hatte sie jemanden gefunden, mit dem sie spielen konnte, wenn Kai mal wieder böse war.

Doch leider war den Kindern nicht bewusst, dass Ewigkeit nur ein Wort, und das Schicksal ein mieser Verräter war.

Impressum

Texte: Simon Nomis
Bildmaterialien: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2018

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