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Schreiblust Teil 2


Seit einiger Zeit beteilige ich mich in einem Internetforum des Schreiblust-Verlags an einem Mitmach-Projekt, das aus monatlichen Schreibaufgaben besteht.

Jeden Monat ist ein Thema vorgegeben, zu dem die Teilnehmer eine Kurzgeschichte von max. 10000 Zeichen verfassen und den anderen Forumsmitgliedern zur Kenntnis bringen sollen. Anschließend werden die hochgeladenen Geschichten diskutiert und können unter Beachtung der Kritiken auch noch verändert werden. Am Monatsende können alle Beteiligten Wertungspunkte für die Geschichten vergeben. Die besten werden vom Verlag in einem Jahrbuch veröffentlicht.

Auch wenn man sich aus verschiedenen Gründen nicht in jedem Monat beteiligt, kommt auf diese Weise eine erkleckliche Anzahl von Geschichten zusammen, so dass man auch als Autor schnell die Übersicht verlieren kann.
Deshalb habe ich mich entschlossen, meine Geschichten dieses Mitmach-Projekts in einem Sammelband zusammenzustellen.

So entsteht hier gewissermaßen ein Archiv, sodass sie einerseits für mich selbst nicht verlorengehen, zum anderen kann ich damit vielleicht auch diesen oder jenen interessierten BookRix-Freund noch unterhalten.

Diese Sammlung ist inzwischen so sehr angewachsen, dass ich sie in zwei Bände teilen musste. Der vorliegende Sammelband ist die Fortsetzung des Teil 1. Dieser Band wird also regelmäßig erweitert werden.

Ich wünsche euch beim Blättern und Lesen viel Spaß.

Franck Sezelli

 

 

Inhaltsübersicht

Inhaltsübersicht Teil 2

 Gestellte Schreibaufgabe – Titel der Geschichte

 

  • HitzeflimmernHeißer Sommer
  • Mit der flachen HandDie Höhle
  • Das unerwartete Blatt im AktenordnerDer Hinweis
  • Ich war neunzehnOhne meine Stimme
  • Flaschenpost300 Jahre alt und so aktuell?
  • Zur Sache, SchätzchenIm Hotel
  • Außer KontrolleKriminalrätin Barbara
  • Alternative FaktenAntigravitation
  • Besuch aus dem Jenseits – Mädchen mit Schmetterlingen
  • Unrat, Jägermeister, RegenbogenMan muss ja nicht ...
  • Wie Charly zu Tode kamStreiflichter aus dem Leben Charlys
  • Sturm im Wasserglas – Welch Aufwand!
  • Tapetenwechsel – Wind pf Change
  • Verlaufen – Selbst dran schuld
  • Unvernunft C’est la vie !
  • Unerwartete Antwort – Krass
  • Ein Song – Nathalies Tochter
  • Ungewöhnliches Hobby – Le couple diabolique
  • Geschichte zu einem Bild – Plauderei zwischen Seerosen
  • Hallo sagende Schildkröte – Momo
  • Ein Bösewicht – Juwelen und Schmetterlinge
  • Ein Mensch schlägt zurück – Ist dir nicht gut?
  • Dumm gelaufen – Ehrliche Arbeit
  • Ungewöhnliches auf einer PartyUnerwartet
  • Ende einer großen LiebeUngeahnt
  • Ungewöhnlicher Nebenverdienst – Adam putzt
  • Wie ist die Hexe aus Hänsel und Gretel zu dem geworden, was sie ist? – DIE BÖSE HEXE
  • Glück – In eurem Alter?
  • Du erwachst, aber nicht in deinem eigenen Körper – Eternity

 

 

 

 

 

 

 

Heißer Sommer

Thema: Hitzeflimmern

 

 

Heute hatten sich Lukas und Maximilian den Monte Sant’Angelu als Ziel einer Wanderung gewählt. Leider standen sie etwas spät auf, was sich im Gebirge rächte. Der Weg war für die wanderfreudigen Burschen zwar überhaupt nicht weiter beschwerlich, aber die flirrende Mittagshitze machte ihnen auf einigen Streckenabschnitten doch zu schaffen. Auf dem über 1200 m hohen Gipfel entschädigte sie für die Mühen die herrliche Aussicht auf die umliegenden kleinen Dörfer und sogar auf Bastia und die Nordspitze der wunderschönen Insel, auf das Cap Corse. Danach beeilten sich die beiden, schnell wieder in ihr Camp zurückzukehren. Das hatte einen, besser gesagt, zwei Gründe. Die hießen Manon und Julie.

Es war das erste Mal, dass Lukas und Max FKK-Urlaub machten. Die Freunde waren schon des Öfteren gemeinsam in den Urlaub gefahren, meistens zu Klettertouren ins Gebirge. Dieses Mal sollten Meer und Gebirge verbunden werden, so kamen sie auf Korsika. Bei den Recherchen nach einem geeigneten Quartier sind sie auf »Riva Bella« gestoßen und fanden das Abenteuer FKK anziehend. Wobei Vanessa, die Freundin von Lukas, sich die witzige Bemerkung nicht verkneifen konnte: »Wenn ihr die Freikörperkultur anziehend findet, habt ihr deren Hauptmerkmal wohl nicht verstanden.« Dummerweise waren die beiden Freundinnen in der ersten der drei Urlaubswochen verhindert, sodass die jungen Männer allein vorausfuhren.

Nach der Bergwanderung in Riva Bella zurückgekommen, war alles eins: aus der verschwitzten Kleidung heraus und ohne weiteren Halt an den Strand und ins Meer. Dabei stellten sie erfreut fest, dass die Französinnen, die sie in den letzten Tagen beim fröhlichen Spiel im Meer kennengelernt hatten, am Strand lagen.

Nach der Erfrischung im Wasser begrüßten sie ihre Bekannten und erzählten ihnen von der Wanderung. In Pantomine, versteht sich. Denn die Französinnen sprachen kaum Englisch, Deutsch sowieso nicht, und die Burschen beherrschten außer bonjour und merci kaum Französisch, aber mit Händen und gutem Willen und Zeichnungen im Sand gelang die Verständigung erstaunlich gut. Lukas brachte es sogar fertig, den aufmerksamen Zuschauerinnen zu demonstrieren, dass sie während der Gipfelbesteigung auch Ziegen beim Klettern beobachten konnten. Manon schüttete sich bei der Darbietung fast aus vor Lachen.

In den folgenden Tagen wurden die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Strandnachbarn immer enger. Sie verbrachten sehr viel Zeit miteinander, spielten Ball, Strand-Tennis, ja, sie bauten sogar gemeinsam kleine Burgen im Sand. Im Wasser tollten sie ausgelassen herum, machten Wettschwimmen, spritzten sich voll und versuchten, sich gegenseitig unterzutauchen. Bewusst suchten sie die körperliche Nähe, ohne die Berührungen allzu intim werden zu lassen. Die Strandliegen und Sonnenschirme stellten sie zusammen und lagen nun nahe beieinander. Lukas konnte sich an Manons schönem Körper nicht satt sehen. Er erfreute sich an ihren Formen, der glatten bronzenen Haut und ihren vollkommenen Brüsten. Manchmal musste er sich wegdrehen und andere Gedanken zulassen, weil seine Bewunderung zu offensichtlich und peinlich zu werden drohte. Über Manons Gesicht huschte dann ein Lächeln.

Ganz besonders anziehend fand der junge Mann den schmalen dunklen Streifen auf dem Venushügel, den bei der Rasur übrig gelassenen Teil der Schambehaarung. Ob ich Vanessa mal bitte, sich auch so einen Landing-Strip stehen zu lassen? Sie sieht ja jetzt blank aus wie Julie. Was Männern eben so durch den Kopf geht!

»Sag mal! Sehe ich das richtig so, Lukas«, fragte Max am Abend, »Manon gefällt dir von den beiden am besten?«

»Nun, wenn ich die Wahl hätte, auf jeden Fall!« Und Lukas ergänzte: »Das passt doch, wie ich gemerkt habe. Du hast doch auf die Blonde mehr als nur ein Auge geworfen.«

»Nicht, dass du deine Vanessa vergisst!«, drohte Max scherzhaft.

»Und du nicht deine Laura!«

»Aber gucken wird man doch wohl dürfen«, schloss der Angesprochene das Männergespräch ab.

 

Nach einem gemeinsamen Abendessen, zu dem die Französinnen ihre deutschen Bewunderer eingeladen hatten, verabredete man sich zu einer gemeinsamen Inselrundfahrt. Die Besucher wurden von den Gastgeberinnen herzlich mit Umarmungen und Wangenküsschen verabschiedet, die – vielleicht absichtlich – nicht ohne die Berührung der männlichen Brüste durch die spitzen Brustnippel der jungen Frauen abgingen. Es ist wohl verständlich, dass die beiden nur mit Mühe einschlafen konnten und von einladenden weiblichen Verheißungen träumten.

Auf der Autotour hielten die vier nach einer knappen Stunde am Hafen von Solenzara. Sie schlenderte an den Kais der Marina entlang und bewunderten die dort vertäuten Segelyachten und Motorboote. Das Eiscafé Glacier du Port verführte sie zum Platznehmen. Sie bestellten je nach Geschmack verschiedene Eisbecher. Manon bot Lukas an, von ihrem Fruchteis zu kosten und hielt ihm einen vollen Löffel hin. Obwohl er Schokolade und Nüsse bevorzugte, schlug er dieses Angebot nicht aus und schleckte von Manons Löffel. Er revanchierte sich mit Schoko-Vanille-Nuss, welches die Französin sich gern von ihm in den Mund schieben ließ. Bald ging der Löffel bei beiden hin und her. Die Blicke, die sie dabei tauschten, hätten das Eis auch ohne die sommerliche Hitze zum Schmelzen gebracht. Auch die beiden anderen taten es Manon und Lukas gleich und fütterte sich gegenseitig mit Eis und Sahne. Maximilian wurde ganz anders, als er immer wieder die Zungenspitze Julies über die süßen eisverschmierten Lippen huschen sah. Wie gern hätte er selbst das Eis von diesen Lippen geschleckt!

Es blieb den ganzen Tag bei dieser pärchenweise Zuordnung. Julie blieb bei Max, und Manon war immer neben Lukas zu finden. So spazierten sie auch zwei und zwei nebeneinander durch die mittelalterliche Altstadt in Bonifacio an der Südspitze der Insel. Sehr viel bekamen die vier von diesem beeindruckenden Touristenziel gar nicht mit, denn sie hatten nur Augen füreinander.

Bei dem Bootsausflug zu den Grotten von Bonifacio saß Manon ganz dicht neben Lukas, der den Arm um ihre Taille legte. Gegenseitig zeigten sie sich diese und jene merkwürdigen Gebilde an der Kalksteinküste und erfreuten sich daran, in die Eingänge der berühmten Höhlen von Bonifacio zu schauen.

Max gefiel ganz besonders der schöne Blick auf die Treppe Escalier du Roi d’Aragon, konnte allerdings mangels Französischkenntnissen den begeisterten Ausführungen seiner Sitznachbarin Julie über die Geschichte der oft belagerten Stadt und dieser Treppe nicht folgen.

Trotz der Sprachbarrieren ließen sich die zwei Paare die Freude an diesem schönen Ausflug nicht nehmen.

Bei der Verabschiedung am Abend vor den Bungalows versuchte Lukas, Manon auf den Mund zu küssen. Sie jedoch drehte den Kopf zur Seite und machte mit dem Zeigefinger verneinende Bewegungen: »Non, non! It’s not the time for that …« Max war bei Julie auch nicht erfolgreicher.

 

Am vorletzten Abend gingen Manon und Lukas auf dem Weg zwischen dem Campingplatz des Ferienresorts und dem dahinter gelegenen Salzsee spazieren, brav immer einen halben Meter Abstand haltend. Auf einem Baumstamm ließen sie sich nieder und genossen den Blick über den Étang auf die Berge. Sie machten sich flüsternd auf die vielen Vogelstimmen aus dem umliegenden Gebüsch aufmerksam und erfreuten sich ihrer schon vertraut wirkenden Nähe. Die untergehende Sonne färbte die Umgebung in ein warmes Licht und den Himmel rötlich. Als die Sonnenscheibe den Bergkamm berührte, fasste Lukas um die nackte Taille seiner Angebeteten und streichelte die weiche Haut ihrer Hüfte. Manon lehnte ihren Oberkörper zurück gegen seinen. So verharrte das Paar, bis die Sonne hinter den Bergen verschwunden war.

 

Auch der nächste Abend wurde wunderschön, wenn auch die Tatsache, dass für Manon und Julie der Urlaub zu Ende ging, die Stimmung ein wenig trübte. Die vier trafen sich zum Tanzabend bei Fanny und Benoît, dem Restaurant des Camps. Die Musik entsprach ihrem Geschmack, die warme Abendluft vermittelte ein sommerliches Gefühl der Unbeschwertheit.

Es war Manon, die das Zeichen zum Aufbruch gab. Die Paare liefen am Strand in Richtung ihrer Bungalows zurück, blieben immer mal wieder stehen und schauten sich im Mondschein tief in die Augen. An dem Bungalow der Französinnen angekommen, liefen Julie und Max einfach weiter.

Schweren Herzens wollte sich Lukas von seiner Angebeteten verabschieden, als sie seinen Kopf zu sich herunterzog und ihn leidenschaftlich auf den Mund küsste. Ihre Zunge forderte Einlass zwischen seine Lippen, den er ihr gern gewährte. Im Atemholen hauchte Manon: »Je pense, c’est la nuit pour nous.« Sie zog den Verblüfften in ihre Unterkunft. Sehr schnell rissen sich die aufeinander Begierigen die wenige Kleidung vom Leib und fanden sich auf dem breiten Bett wieder. Endlich durften die Hände, Lippen und Zunge das erkunden, was bisher nur den Augen vorbehalten war. Gegenseitig trieb das Paar das Verlangen und die Lust aufeinander immer höher. In dieser Nacht taten sie endlich das, was sie sich schon lange gewünscht, aber bewusst nicht gegönnt hatten. Bis beide in inniger Umarmung befriedigt ihren Schlaf fanden.

 

Als die Freunde am Morgen erwachten, waren die Frauen weg. In der Frühe hatte Julie Lukas leise geweckt und aus Manons Bett in seins geschickt. Erschrocken brachen die Männer auf und fuhren so schnell es ging zum Hafen. Aber die Fähre war bereits am Auslaufen. Sie konnten ihren nächtlichen Geliebten, die an der Reling standen, nur noch traurig nachwinken.

»Das war wirklich sehr geschickt von den Mädchen«, äußerte sich auf einmal Maximilian, »uns erst lange hinhalten und dann schnell verschwinden, wo die Beziehung von Anfang an keine echte Perspektive hatte.«

»Da hast du recht! Frauen sind wirklich intelligenter in solchen Dingen.«

 

In der Ferne war inzwischen ein herannahendes Schiff zu erkennen. Das musste die Fähre aus Nizza sein, mit der Vanessa und Laura kommen wollten. Alles hat seine Zeit!

 

 

 Juli 2021

 

 

Diese Geschichte ist eine sehr stark gekürzte Fassung des seit August 2018 im Verkauf befindlichen E-Books Nackte Verführung auf der Insel der Schönheit, das zuvor schon einige Zeit für alle BX-Nutzer unter dem Titel "Riva Bella" zu lesen war.

Eine andere Variante dieser Geschichte entstand ebenfalls durch starkes Kürzen als mein Beitrag beim 22. Kurzgeschichten-Wettbewerb der BX-Gruppe Gemeinsam zum Thema "Der Ausflug" im Februar 2020 unter dem Titel Sommerflirt.

Schließlich beteiligte ich mich mit einer weiteren, aber erotischeren Kürzung des obigen Buches am Erotik-Schreibwettbewerb Juni/Juli 2021 zum Thema: Und es war Sommer ... Die Sommerliche Verführung ist ebenso wie viele andere meiner erotischen BX-Bücher nur noch für meine BX-Freunde zu lesen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Höhle

Thema: Mit der flachen Hand

„Mit der flachen Hand mächtig prächtig ausholen und mit so viel Wumms gegen die Wange kacheln, dass das Gegenüber sich dreht wie ein Brummkreisel“ (aus einem Bud-Spencer-Film)

 

 

Wie ich mir’s gedacht habe: Da kommt Sébastien aus dem Haus, ein fieses Grinsen im Gesicht. Am liebsten würde ich ihm entgegengehen, mit der flachen Hand ausholen und ihm eine solche Ohrfeige verpassen, dass er sich wie ein Brummkreisel dreht. Woher habe ich nur solche Gedanken? Zuviel Bud Spencer gesehen? Für Gewalt habe ich doch eigentlich gar nichts übrig.

Es war aber nicht das erste Mal, dass Julia meinen Vorschlag ablehnte, einen kleinen gemütlichen Spaziergang am Rande des Waldes zu machen, der das Dörfchen umgibt. »Ach, warum gehst du nicht allein, wenn du soviel Lust zum Laufen hast? Wir waren doch erst gestern im Wald. Ich lese lieber noch ein bisschen.«

Von wegen Lesen! Nachdem ich das letzte Mal allein unterwegs war, weil sie keine Lust hatte, kam Sébastien auch aus dem Haus, als ich zurückkam. Er grüßte zwar höflich, aber diese Augen … Wenn sein Blick mich hätte töten können, ich glaube, er hätte es getan.

Sébastien ist Schäfer, abwechselnd mit seinem Vater ist er draußen bei der Herde. Angeblich war er nur da, um meiner Frau ein paar Käse zu bringen. Julia hatte stark gerötete Wangen, als sie mir die brebis, die Schafskäse, zum Kosten gab. Die beiden kennen sich schon lange. Früher war sie mit ihren Eltern hier, seit unserer Heirat sind auch wir jedes Jahr ein paar Wochen im kleinen Pyrenäendorf Bonac. Wenn ich allerdings viel zu arbeiten habe, fährt sie auch schon mal allein hierher.

In mir kocht es vor Wut. Ich muss mich beruhigen, sonst passiert noch etwas. Also drehe ich mich um und laufe los – rein in den dunklen Tannenwald. Überall Steine und Wurzeln, ich muss höllisch aufpassen, nicht zu stürzen. Missmutig stapfe ich immer weiter, es geht steil bergan, meine Lunge keucht.

Ich halte an, beuge mich nach unten, stütze meine Hände auf die Oberschenkel, atme heftig aus und spüre meine Schläfen pochen. Dann schaue ich mich um. Hier war ich, glaube ich, noch nie. Der steinige Weg, der sich durch die Tannenschlucht windet, kommt mir völlig unbekannt vor. Selbst die Felsspitzen, die ich oberhalb der Bäume erkennen kann, habe ich noch nie gesehen. Neben meinem Weg plätschert ein Gebirgsbach. Mein Handy zeigt mir, dass ich schon zwei Stunden gelaufen bin, einfach so – ohne Orientierung.

Da knackt es hinter mir im Unterholz. Ich fahre herum: Nichts. Oder doch, dieser Schatten, der hinter dem dicken Stamm trotz des schwachen Lichts auf dem Waldboden zu erkennen ist? Ist das ein Mann, der ein Gewehr geschultert hat? Sébastien, der mich verfolgt? Mich beschleicht ein mulmiges Gefühl. Weiter …

Der Weg führt mich stetig bergan, immer neben dem Bach. Vielleicht kommt weiter oben eine Abzweigung, die mich wieder nach unten ins Tal führt, da muss ich nicht denselben Weg zurück nehmen. Ich schaue mich noch einmal um, aber meinen Verfolger von vorhin kann ich nicht entdecken. Vielleicht war es nur meine Einbildung. Trotzdem bin ich irgendwie unruhig. Wie der Kerl mich immer anglotzt. Julia schwärmt von seinen grauen Augen. Ich erkenne da nur Falschheit, mag ihn gar nicht. Ob Julia und er wirklich …? Rasende Eifersucht überkommt mich und drückt meinen Magen zusammen.

 

Was ist das? Eine große einladende Grotte, ich laufe die Felswände ab. Ein Gang führt ins Innere, breit genug für mich. Neugierig folge ich ihm, beleuchte mit dem Handy die Strecke vor mir. Es wird enger, der Höhlentunnel macht einen Knick, aber bleibt breit genug. Meine Schritte hallen ein wenig. Ich drehe mich herum, der Ausgang ist noch durch ein schwaches Licht zu erahnen. Als ich weitergehe, knallt mir etwas auf den Schädel. Mir wird schwarz vor Augen und ich gehe in die Knie. Ich fasse in meine Haare: zum Glück kein Blut. Aber eine dicke Beule wird das werden. Mist! Ich darf nicht nur vor meine Füßen leuchten, sondern muss auch darauf achten, dass mein Kopf die steinerne Decke nicht unsanft berührt. Vorsichtig taste ich mich weiter, die Felswände sind auf einmal nass. Ich bleibe stehen und lausche. Zuerst höre ich nur meinen Herzschlag, dann auf einmal etwas wie ein leises Pfeifen. Oder atmet da jemand? »Hallo, ist da jemand?« Ich wiederhole die Frage auf Französisch. Schließlich sind wir in Frankreich. Nur den Widerhall der eigenen Stimme höre ich. Dann aber ein Platschen, leise, aber deutlich. Das ist vor mir. Ich taste mich weiter. Auf einmal weiten sich die Wände und ich stehe am Rand einer tiefen Felsgrube in einer Höhlenkammer. Ich schaue nach oben. Von dort kommt etwas Licht. Es ist ein Spalt in der Decke dieser Felsenkammer. Ich bewege mich langsam ein Stück vorwärts, um näher heran zu kommen. Durch die schmale Öffnung kann man bis in den Himmel sehen. Ab und zu tanzen Tannenzweige vor dem Himmelsblau.

Am Rand des Lochs, an dem ich stehe, könnte man entlanglaufen, es sind breite Steine mit kleinen und größeren Lücken ringsum. Mir ist klar, dass ich aufpassen muss, die Steine sind glitschig. Aber auf der gegenüberliegenden Seite geht der Gang offenbar weiter.

Gerade als ich ein paar vorsichtige Schritte auf dem nassen Felsrand gemacht habe, schallt es dumpf hinter mir: »Allô, allô! Y a-t-il quelqu‘un là-dedans?« Ich verstehe, da ruft jemand, ob hier einer drin ist. Wer ist da am Höhleneingang? Habe ich es doch richtig gesehen, dass mich ein Mann im Wald verfolgt hat? Mit einem Gewehr … Vielleicht aber hat derjenige beobachtet, wie ich in die Höhle gegangen bin und will nur sicher gehen, dass mir hier drin nichts passiert. Aber es könnte auch Sébastien sein, der mir an den Kragen will. Ich bin ihm bei Julia im Wege. Oder sollte gar Julia …? Sie hat beim Abschied so seltsam gelächelt. Hat sie mir Sébastien hinterhergeschickt?

Ich halte den Atem an und reagiere nicht. Noch zwei Mal ruft jemand dasselbe am Höhleneingang, dann ist es still. Ich beruhige mich und rappele mich leise auf und bewege mich auf den schwarzen Spalt zu, bei dem der Gang möglicherweise weitergeht. War ich zu schnell? Jedenfalls stoße ich mir heftig an den linken Fuß, dass das ganze Bein vom Schmerz durchzuckt wird, und kann mich nicht mehr halten. Beim Versuch, mich im Fallen an den Seitenwänden abzustützen, verliere ich das Mobiltelefon aus der Hand. Im Schwung meines zu Boden stürzenden Körpers fliegt es nach vorn, knallt auf einen hervorstehenden Stein, springt kurz hoch und verschwindet. Ich höre noch ein leises »Plumps«, dann ist Ruhe.

Im schwachen Licht von oben erkenne ich, dass die Felssenke, in die mein Handy gefallen ist, höchstens zwei Meter tief ist. Vorsichtig lasse ich mich herunter. Meine Füße spüren den felsigen Boden am Grund des Loches, finden aber keinen Halt, ich knalle auf meinen Steiß und rutsche, rutsche … immer tiefer … Unter der Grubenwand gegenüber geht es weiter hinab. Es wird enger, ich werde langsamer, bis mein Kopf an etwas Hartes anschlägt. Ein stechender Schmerz, ich sehe Sterne, dann fühle ich nichts mehr …

Wo bin ich? Mein Schädel brummt, als hätte er einen Schlag abbekommen. Auf einmal wird mir bewusst: Ich habe einen Schlag bekommen! Mich durchläuft ein kalter Schauer, mein Magen krampft sich zusammen. Wie ein Blitz erhellt sich mir meine schreckliche Lage: Ich liege tief unten allein in einer Höhle. Meine Hand fährt vorsichtig zu meiner schmerzenden Schädeldecke über der Stirn. Dort klebt Blut … Ich bin verletzt, aber ich lebe …

Von oben kommt kein Lichtschein. Offenbar ist es Nacht geworden, ich war wohl lange bewusstlos. Vielleicht habe ich eine Gehirnerschütterung? Ich schiebe mich irgendwie dorthin hoch, wo ich hinuntergerutscht bin. Aber ich kann nichts erkennen, nichts als Dunkelheit umgibt mich.

 

In mir steigt eine fürchterliche Wut auf diesen Sébastien hoch … rasende Eifersucht … auch tiefe Traurigkeit vermischt mit Zorn, wenn ich an Julia denke. Warum nur? Wir waren doch glücklich!

 

Auf einmal erhellt ein greller Lichtblitz die Höhlenkammer. Dann ist alles wieder schwarz und ein lauter Donnerhall folgt, der von den Wänden der Höhle zurückgeworfen wird. Während das Echo noch ausklingt, folgt ein zweiter Blitz.

Ein Gewitter … Plötzlich begleitet ein heftiges Rauschen das fast ununterbochene Donnergrollen. Die Blitze durchzucken immer wieder die sonstige Schwärze. Die Vorsprünge in den Felsen ringsum werfen dabei gespenstische Schatten. Das Rauschen wird heftiger, meine Füße werden nass. Das ist kein Blätterrauschen, das ist das Geräusch des Gewitterregens … Ein Wasserfall ergießt sich in die Höhle … Ich liege bis zur Taille im Wasser. Schnell versuche ich mich aufzurichten, dabei zuckt ein wahnsinniger Kopfschmerz durch meinen Schädel, mir wird schlecht und schwindlig. Ich kann mich nicht halten und falle in die steigende Flut und rutsche dabei wieder tiefer. Prustend komme ich wieder hoch, versuche, auf die Füße zu kommen, werde aber von einer Strömung gepackt und weggerissen. Mit Beinen und Armen im eiskalten Wasser strampelnd halte ich den Kopf oben. Der scheint mir bald zu platzen, so hämmert es unter der Schädeldecke. Beim nächsten Blitz sehe ich einen Felsvorsprung nur noch wenige Zentimeter über meinem Kopf. Offenbar steigt das eindringende Wasser rasend schnell. Ich stoße beim Strampeln an einen spitzen Stein an der Decke, ein furchtbarer Schmerz, dann fühle ich nichts mehr … Auf dem Rücken liegend spüre ich den Felsen an der Stirn, ich atme tief ein und schlucke dabei Wasser …

Ich sinke, sehe blauen Himmel über mir, Schafe grasen friedlich auf der Weide, mir ist so gut, warme Wohligkeit umfängt mich …

 

Ein finster blickender Kerl im Schäfergewand beugt sich über mich, ein großes Messer in der Hand. »Habe ich dich endlich?«, raunt er böse. Sébastien, denke ich, jetzt ist es aus mit mir … Ich reiße die Augen auf, da steht kein Schäfer, sondern ein Mann in weißem Kittel, der mich freundlich anspricht. Ich verstehe nur »Docteur Bernard« und begreife. Hinter dem Doktor sehe ich Julia, die sich mit Tränen in den Augen auf mich wirft. »Ich habe eine solche Angst um dich gehabt, Tobias. Zwei Tage warst du weg, bis Sébastien dich endlich gefunden hat, halbtot in einer Höhle in den Bergen. Jetzt habe ich dich endlich wieder!«

 

 

August 2021

 

 

Diese Geschichte habe ich auf Grund der Ausschreibung eines Verlages im Februar 2021 geschrieben. Für das Einreichen beim Verlag war die Erstfassung aber zu lang. Damit diese nicht nur in der Schublade bleibt, habe ich sie hier bei BX ohne Anlass unter dem Titel Besinnungslose Eifersucht veröffentlicht und danach für die Fassung zum Einreichen beim Verlag gekürzt.

Die Erstfassung konnte ich auch in einem anonymen Wettbewerb der Anthologiegruppe zum Thema "Gefühle" im Juli/August 2021 verwenden, nachdem ich die Veröffentlichung des nur von wenigen Nutzern zuvor gelesenen BX-Buchs rückgängig gemacht hatte. Dort errang diese Geschichte den 2. Platz im Wettbewerb.

Für die Schreibaufgabe August 2021 des Schreiblust-Verlages musste ich die Erstfassung in einigen Passagen abändern und vor allem wieder stark kürzen, noch stärker als für die ursprüngliche Ausschreibung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Hinweis

Thema: Das unerwartete Blatt im Aktenordner

 

 

Es sind bestimmt schon sechzig Kilometer, seit sie aus der Stadt heraus sind. Wo will er nur hin?, grübelt die Frau am Steuer. Wohnt die andere hier in der Gegend oder treffen sie sich in irgendeinem Hotel?

Nach einer langgezogenen Kurve sind die Rücklichter plötzlich verschwunden. Die Straße geht wieder schnurgerade weiter. Sie müsste das Auto vor sich sehen, selbst wenn es beschleunigt hätte. Es muss in den Wald abgebogen sein. Also bremst die Frau ab und fährt langsamer, dabei den Waldrand auf beiden Seiten nach einem Weg absuchend. Ein Schild weist auf einen Parkplatz für Wanderer und Pilzsucher hin. Sie fährt darauf, aber Gerhards Wagen ist nicht zu sehen. Die Frau steigt aus und lauscht in die Dunkelheit. Irgendwo meint sie, das leise Brummen eines Motors zu hören.

Vom Parkplatz führt links ein Wanderweg in den Wald, rechts geht ein schmaler Forstweg ab. »Betreten und Befahren verboten! Absturzgefahr!«, kann sie auf einem verwitterten Schild im Mondlicht gerade noch erkennen. Von dort hinten kam das Motorgeräusch, das jetzt verstummt ist. Die Frau folgt dem verbotenen Weg.

Es dauert nicht sehr lange, bis sie das Auto findet, geparkt zwischen zwei Bäumen am Wegrand. Was macht er denn hier? Er wird sich doch nicht hier im Wald mit einer anderen Frau treffen? Vor dem Auto befindet sich ein riesiges Gebüsch, sie umrundet es vorsichtig. Das silberne Licht der schmalen Mondsichel reicht gerade, um nicht über Wurzeln und Äste zu stolpern. Direkt hinter dem Gebüsch ragt ein etwa fünf Meter hoher Fels in den Nachthimmel. Es wirkt unheimlich, aber sie hat den Eindruck, als ob der Stein stöhnt, irgendwie heftig atmet und ächzt. Was sind das für Geräusche?

Da erkennt sie eine schwarze Öffnung im Gestein, quetscht sich zwischen Gebüsch und Fels bis dorthin, nimmt endlich ihre Stablampe und leuchtet hinein.

Darauf ist der Mann nicht gefasst. Zutiefst erschrocken lässt er los, was er da hinter sich her in die Höhle zerrt, und richtet sich auf, starrt in das grelle Licht der Taschenlampe.

Die Frau ist nicht minder erschrocken über das, was sie erblickt. Ihr Mann zerrt einen großen Gegenstand, der in eine schwarze Plastikfolie eingewickelt ist, rückwärts über den Boden. »Was, um Gottes Willen, Gerhard, machst du hier? Was ist da drin?« Sie schreit es mehr als dass sie ungläubig fragt. Sie traut ihren Augen nicht, während ein furchtbarer Verdacht in ihr hochsteigt. Sie macht zwei Schritte vorwärts, stößt mit aller Kraft ihren Mann vor die Brust, sodass er auf den Hintern fällt. Dann reißt sie die Folie auseinander und erstarrt.

Bilder wirbeln in ihrem Kopf herum, ihr ist kalt und heiß zugleich. Entsetzen und Wut, Abscheu und maßlose Enttäuschung wirbeln ihre Gefühlswelt durcheinander. Das kann doch nicht wahr sein! Wie in Trance, vom Instinkt geleitet, greift sie nach hinten …

»Du kannst doch nicht … lass dir erklären! Ich konnte nicht anders …«, stammelt Gerhard und rappelt sich wieder auf. Dabei kommt sein rechter Arm nach vorn …

Der fürchterliche Knall des Schusses wird durch die Höhlenwände um ein Vielfaches verstärkt.

 

***

 

Es nieselt ausdauernd. Die Nässe kriecht in die Kleidung und verstärkt das Unwohlsein von Herbert Feicht. Tief in Gedanken läuft der Kriminalhauptkommissar hinter dem Sarg her. Auf Beerdigungen regnet es wohl immer?, fragt er sich.

Mit ihm begleiten sehr viele Trauernde den letzten Weg der Leiterin der Mordkommission. Fast alle aus dem Präsidium sind gekommen, auch Beamte aus benachbarten Städten, sogar aus Berlin.

Warum nur? Herbert weiß darauf keine Antwort. Mehr als zehn Jahre waren er und Barbara Unmuth ein eingespieltes, aufeinander eingeschworenes Ermittlerteam gewesen. Der Dezernatsleiter hat in seiner Trauerrede die Erfolge dieser Kriminalistin besonders herausgestrichen, dabei auch ihn als ihren engsten Kollegen erwähnt. Nun, ihre gemeinsame Erfolgsquote lag weit über 90 %. Das war sicherlich ein Grund, dass Barbara vor einem halben Jahr zur Kriminalrätin und Leiterin des Kommissariats aufgestiegen ist.

Sein neuer Partner Kriminaloberkommissar Alexander Pfeiffer reißt ihn aus seinen Gedanken. »Ich kann es nicht verstehen. Aber gut finde ich, dass unser Chef in der Rede gar nichts dazu gesagt hat, nicht einmal in Andeutungen.«

Herbert schaut seinen Kollegen an und nickt traurig. »Sicher besser so …«

»Dumm nur, dass ich mit dir bestimmt nicht weitermachen kann. Du wirst doch sicher Barbaras Posten übernehmen.«

»Abwarten! Im Moment bin ich bloß kommissarisch im Amt, vielleicht bekommen wir von außerhalb jemanden.«

»Wieso denn das? Du bist doch genauso wie Barbara geeignet.«

»Einen Unterschied gibt es schon. Der unaufgeklärte Serienmörderfall „Abendzug“ hat sie selbst schon sehr belastet. Du kennst ihn doch, warst doch selbst in der SoKo. Die Opfer Carmen Preiwutt, Kerstin Rohrbach und Martina Drobner sind alle nach dem Abendzug auf dem Weg vom Bahnhof Kunzdorf in den Ort überfallen worden, vor fünf Jahren, vor zwei Jahren und vor einem halben Jahr. Dass Martina Drobner nicht einmal gefunden worden ist, belastet meine Ermittlungsbilanz stark, während die Ermittlungen bei der Berufung von Barbara ja noch voll im Gange waren. Das sage ich ohne jeden Neid, ist halt so.«

»Und jetzt stehen wir hier – und verstehen die Welt nicht mehr. Eine solche selbstbewusste Frau … Ihr Mann ist seit einigen Tagen verschwunden. Ob er sie verlassen hat?«

»Schon möglich. Aber das ist sicherlich nicht der Grund.«

 

 

***

 

»Was wollen wir in Walderloh?« Alexander will es endlich wissen, Herbert hatte ihm zum Einsatz nichts Genaues gesagt.

»Greif mal hinter dich in die Mappe auf dem Rücksitz. Dort findest du eine Skizze.«

Alexander sieht sich die Skizze genau an. »Was ist das?«

Der Hauptkommissar holt tief Atem und beginnt zu erklären. »Mir fiel der Vermisstenfall Julia Engeler auf. Die blonde Fünfundzwanzigjährige wurde zuletzt gesehen auf der Straße, die vom Bahnhof nach Kunzdorf führt. Sie kam mit dem Abendzug aus der Stadt, wie Zeugen berichten. Die Parallelen zu den drei anderen Opfern, die wir dem Fall „Abendzug“ zugeordnet haben, sind nicht zu übersehen. Alle drei waren blond, Mitte Zwanzig und arbeiteten in der Stadt. Die ersten beiden Opfer hatten wir schnell gefunden, im nahen Wald an dieser Straße, im Gebüsch versteckt. Nur Martina Drobner suchen wir noch. Jedenfalls nahm ich mir daraufhin die Akten noch einmal vor und fand dieses Blatt. Ich bin mir sicher, dass das vorher nicht drin war. Es sieht wie ein skizzierter Kartenausschnitt aus. Das Kreuz dort muss ein Hinweis sein.«

»Und wo ist das?«

»Da habe ich lange gerätselt. Und schließlich Paul von der Sitte gefragt, ob er etwas damit anfangen kann. Er ist ein alter Wanderer, der sich bestimmt im Umkreis von zweihundert Kilometern überall in den Wäldern und Bergen auskennt.«

»Und?«

»Nach einigem Hin und Her tippte er auf einen verwilderten Forst bei Walderloh, ein Vergleich mit einer Wanderkarte schien ihm Recht zu geben.«

 

Vom Parkplatz aus ist es für die Ermittler nicht schwer, die in der Skizze bezeichnete Stelle zu finden. Bingo! Im Eingang einer versteckt gelegenen Höhle entdecken sie einen toten Mann, der auf einer in Folie eingewickelten Frauenleiche liegt. Ihr Gesicht ist seltsamerweise nicht bedeckt. Weiter hinten liegt ein weiterer in Folie eingepackter Gegenstand, der sich später als stark verwester menschlicher Körper herausstellt.

Herbert erkennt in dem aufgedeckten Gesicht die Vermisste Julia Engeler. Alexander dreht den Mann herum, nachdem er von der Auffindesituation Fotos gemacht hatte. Der Hauptkommissar fährt erschrocken zurück.

»Kennst du den?«, fragt verwundert der Oberkommissar.

»Aber ja! Das ist Gerhard! Meine Frau und ich haben manchen Abend mit Barbara und ihm zusammengesessen. Aber das kann doch nicht sein!«

Herbert grübelt. »Das sieht doch so aus, als wäre Gerhard Unmuth, der Mann unserer Kollegin, der lange gesuchte Mörder. Seine letzten beiden Opfer hat er weiter weg vom Tatort geschafft. Und irgendwie muss Barbara dahinter gekommen sein.«

»Und hat ihn hier erschossen! Und dann den Hinweis in die Akten geschmuggelt.« Alexander spricht aus, was Herbert nicht zu denken wagte.

Herbert nickt. »Das lässt ihren Suizid natürlich in einem anderen Licht erscheinen …«

 

 

 September 2021

 

 
Diese Geschichte ist original für diese Schreibaufgabe entstanden und wurde zur Siegergeschichte September 2021 im monatlich stattfindenden Wettbewerb des Schreiblust-Verlages gekürt.

Ich hatte sie vorab Mitte August in Bookrix veröffentlicht: Der Hinweis.

 

 

 

 

 

 

Ohne meine Stimme

Thema: Ich war neunzehn  Ein Alter voller Überraschungen, oder?

 

 

Klaus und Herbert sitzen in der Strandbar bei einem Glas Wein und schauen aufs Meer, das glatt und friedlich in der Sonne liegt. Die vorbeiziehenden weißen Segel verleiten zum Träumen. »Wir haben es doch wirklich gut«, spricht Klaus aus, was Herbert eben auch dachte. »Ich glaube, je älter man wird, desto besser kann man das Leben genießen.«

»Richtig, früher musste man sich immer irgendwie beweisen.« Herbert schwelgt in Erinnerungen. »Es gab immer wieder Neues, das begann ja schon mit dem Wechsel von der Schule an die Universität beispielsweise.«

»War das eine Herausforderung für dich?« Klaus kennt Herbert nun schon lange. Im Laufe der Zeit, in der sie beide jedes Jahr den Sommer hier am Mittelmeer verbringen, hat sich zwischen dem Göttinger und dem Leipziger eine freundschaftliche Beziehung entwickelt.

»Oh ja!«, antwortet Herbert. »Fachlich hatte ich im Studium nie größere Probleme, aber noch vor dem Vorlesungsbeginn ging es los. Plötzlich war ich Einsatzleiter, Chef von sechsundzwanzig Leuten – und das in der Landwirtschaft!«

»Ich verstehe nicht«, unterbricht Klaus seinen Freund. »Einsatzleiter? Landwirtschaft? Hattest du nicht Mathematik studiert?«

»Ja, ja. Es war im Vorbereitungslager für die Studienanfänger. Dort wurden wir in Seminargruppen eingeteilt, hörten Vorträge zu Philosophie, Lernmethoden, Gedächtnistraining, Empfängnisverhütung … Natürlich auch Politisches. Alle möglichen Professoren kamen dahin.«

»Und was hat das mit Landwirtschaft zu tun?«

»Entschuldige! Damals wurden Studenten im Herbst in der Ernte eingesetzt, meist in den Kartoffeln oder Zuckerrüben. Zu meiner Zeit waren es die ersten beiden Studienjahre, die auf die Dörfer geschickt wurden.«

»Du hattest vorhin etwas von Einsatzchef oder so gesagt. War das in diesem Lager?«

»Nicht direkt, der Ernteeinsatz fand nach dem Vorbereitungslager statt. Unsere künftigen Seminargruppenberater waren mit im Lager, leiteten die Kennenlernrunden, führten Einzelgespräche und prüften auch schon mal unsere mathematischen Vorkenntnisse.«

»Seminargruppenberater?«

»Wissenschaftliche Assistenten, die Übungen und Seminare leiteten. Unser Studienjahr bestand aus zwei Seminargruppen, jeder war ein solcher Assistent als Berater zugeordnet.«

»Ein bisschen wie ein Klassenlehrer?«

»Wirklich nur ein bisschen. Jedenfalls wurde ich von den beiden als Einsatzleiter für den Ernteeinsatz bestimmt. Ich weiß bis heute nicht, wieso sie gerade auf mich kamen. Schließlich war ich damals eigentlich recht schüchtern und fast der Jüngste der Gruppe mit meinen neunzehn Jahren.«

»Waren die anderen nicht gleich alt?«

»Die meisten schon, alle, die gleich nach dem Abitur mit dem Studium begonnen hatten. Aber es gab einige, die hatten sich erst später zum Studium entschlossen. Peter und Ulrich hatten Berufsausbildung mit Abitur gemacht, das dauerte länger, waren also auch älter. Lutz war auf den Tag genau sieben Jahre älter als ich und hatte schon ein Ingenieurstudium hinter sich.«

»Irgendwie musst du dich von den anderen herausgehoben haben in den Augen dieser Assistenten«, gab Klaus zu bedenken.

»Vielleicht hing es damit zusammen, dass ich schon an einem Schülerseminar am Institut teilgenommen hatte. Den Einsatzleiter der zweiten Gruppe kannte ich auch von dort. Wir waren beide bei den Mathematik-Olympiaden recht erfolgreich gewesen und hatten auch an der DDR-Olympiade teilgenommen.«

»Na, siehst du! Und was hattest du nun als Einsatzleiter zu tun?«

»Die Uni Leipzig war im Oderbruch eingesetzt, die verschiedenen Fakultäten in verschiedenen Kreisen. Ein Sonderzug fuhr uns Mitte September in den Bezirk Frankfurt. Unsere Gruppe von siebenundzwanzig Mann, d.h. vier Mädchen waren auch dabei, war in Neuküstrinchen, einem kleinen Ort direkt an der Oder, eingesetzt. Du kannst dir denken, dass ich in den Nächten vorher kaum geschlafen habe, wusste ich doch nicht, was auf mich zukam. Irgendwie verantwortlich für diese neu zusammengewürfelte Gruppe und von Tuten und Blasen keine Ahnung.«

»Und wie lief das dann?«

»Ich war der Verbindungsmann für den LPG¹-Vorsitzenden und den Feldbaubrigadier, teilte die Leute für die unterschiedlichen Aufgaben ein. Klar habe ich da die Wünsche meiner Mitstudenten berücksichtigt, das war also nicht so schwer. Meistens haben wir Kartoffeln gesammelt. Ich hatte die Übersicht zu halten, wer wieviele Kiepen pro Tag geerntet hatte. Danach wurden wir bezahlt. Wöchentlich empfing ich das Geld und zahlte es aus.«

»Das war doch zu schaffen«, meint Klaus und nimmt einen Schluck. Auch Herbert greift zum Glas, trinkt und stimmt ihm zu.

»Da hast du recht, aber für mich ziemlich unangenehm war, dass ich täglich die Ernteergebnisse an den Einsatzstab unserer Fakultät in die Kreisstadt Wriezen melden musste. So saß ich Abend für Abend im LPG-Büro und telefonierte, während meine Mitstudenten schon ihr Bierchen in der Kneipe tranken. Ich habe nie gern telefoniert, zu Hause hatten wir kein Telefon, das kam erst Jahrzehnte später.«

»Na ja, Herbert, so schlimm war das doch sicher trotzdem nicht!«

»Nein, es ging. Aber da war noch etwas. Und zwar fanden am 10. Oktober Kommunalwahlen statt. Zur Organisation und besonders natürlich zur politischen Bedeutung der sogenannten Volkswahlen wurden wir Einsatzleiter extra geschult. Dafür war ich ein paar Mal in Wriezen, habe an diesen Tagen also auch nichts verdient. Soviel zur Gerechtigkeit.«

»Wann war das eigentlich genau?«, erkundigte sich Klaus.

»1965. Kurz vorher war Bundestagswahl gewesen. Da hatten wir alle große Hoffnungen auf Brandt gesetzt, wurden aber enttäuscht. Die FDP hatte es vorgezogen, weiter Erhard zu unterstützen, sonst hätte Brandt damals schon Kanzler werden können.«

»Das hat euch interessiert?«

»Unbedingt! Wir haben immer politisch viel diskutiert, abends beim Bier, aber auch in den angesetzten Versammlungen, vor allem zur Wahlvorbeitung.«

»Wahlvorbereitung? Ihr Studenten?«

»Nun, die DDR legte bekanntlich viel Wert auf die Wahlbeteiligung, die als Zustimmung zu ihrer Politik galt. Das Problem war, dass die studentischen Erntehelfer in Sonderwahllokalen im Einsatzkreis wählen sollten – und zwar in unserem Fall die Kandidaten von Leipzig-Mitte, dem Sitz der Universität. Das führte zu erheblichen Diskussionen, weil fast alle aus anderen Orten kamen und die zu Wählenden natürlich nicht kannten. Außerdem gab es ein neues Wahlgesetz, dass erstmalig Streichungen auf den Stimmzetteln ermöglichte, was aber möglichst nicht gemacht werden sollte. Da hatte ich Überzeugungsarbeit zu leisten, obwohl ich selbst manches nicht recht eingesehen habe.«

»Du hast das trotzdem gemacht?«

»Ja, ich fühlte mich dem Staat verpflichtet. Ich komme aus ziemlich einfachen, sogar ärmlichen Verhältnissen, meine Mutter hat drei Kinder allein großgezogen. Ob ich unter anderen Verhältnissen hätte studieren können, bezweifle ich. Solche politischen Diskussionen habe ich durchgestanden, hatte dabei auch Unterstützer in der Gruppe. Aber gerade die Älteren waren dabei für mich harte Brocken.«

»Natürlich haben wir in meiner Jugend auch viel diskutiert, aber eben meist mehr auf akademisch-theoretischer Ebene.«

»Bei uns war das ganz konkret. Wir mussten auch sogenannte Wahlhelfer stellen, mit den Leuten im Dorf reden, ihnen das neue Wahlgesetz erklären, sogar mit dem Dorfpfarrer haben wir diskutiert. Das hatte mir aber Spaß gemacht, kannte ich noch von der Jungen Gemeinde vor der Konfirmation im 9. Schuljahr.«

»Konfirmation? Ich denke, du warst so ein ganz Staatstreuer?«

»Das Eine schließt doch das Andere nicht aus. Als junger Mensch ist man ja auch immer ein Suchender. – Aber ich habe ja noch nicht alles erzählt. Das dicke Ende kommt doch noch!«

»Wie? Was? Habt ihr den Pfarrer zum überzeugten Sozialisten gemacht?«

»Quatsch! Lass mich erzählen! Aber vorher könnten wir uns noch ein Glas bestellen … Das war vielleicht drei Monate nach dem Ernteeinsatz, ich hatte mich im Studium gut eingefuchst. Da wurde ich zum Dekan bestellt. Zuerst dachte ich, jetzt wird mir der große Dank ausgesprochen, ich kriege eine Prämie oder so. Das wäre aber bestimmt auf einer öffentlichen Veranstaltung gewesen, und ich war direkt in sein Büro bestellt. – Da fragt der mich doch, ein Physikprofessor war das, den Namen weiß ich nicht mehr, ich merkte auch, dass es ihm ein bisschen unangenehm war, aber er hatte wohl den Auftrag … Also, da fragt der mich doch, warum ich nicht gewählt habe. Ich fiel aus allen Wolken und dann erinnerte ich mich wieder an alles. Aber erst dachte ich, was geht ihn das an – und woher weiß der das? Wahlgeheimnis und so.

Ich hatte wirklich nicht gewählt. Von meiner alten Schule hatte ich eine Einladung zur Feier anlässlich des Tags der Republik bekommen. Und zwar, weil mir für mein Abitur „mit Auszeichnung bestanden“ die Lessing-Medaille verliehen worden war und die dort überreicht werden sollte. Das fand dummerweise einen Tag vor der Wahl statt. Selbstverständlich war alles langfristig mit dem Einsatzstab abgesprochen, ich hatte die Erlaubnis und bin nach Leipzig getrampt. Aber man hatte versäumt, meinen Wahlschein in Leipzig zu lassen, wo ich nun hätte wählen sollen. Ich wies den Dekan auf diese Schlamperei, den die Funktionäre des Einsatzstabes der Fakultät zu verantworten hatten, hin und war entlassen.«

»Und? Gab es da noch irgendwelche anderen Folgen?«, erkundigte sich Klaus neugierig.

»Nein! Aber das Gesicht des Dekans hättest du sehen sollen, als ich mich im Hinausgehen umdrehte und sagte: Zum Glück sind die Kandidaten der Nationalen Front gewählt worden. Auch ohne meine Stimme.«

Klaus lachte und hob das Glas. »Zum Glück haben sie sich nicht dauerhaft gehalten. Sonst könnten wir hier nicht so schön gemeinsam in Frankreich sitzen und den Rosé genießen.«

 

 

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¹ LPG = Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft

 

Oktober 2021



Diese Geschichte ist original für diese Schreibaufgabe entstanden.

 

 

 

 

Flaschenpost im Süden Frankreichs

Thema: Flaschenpost

Was wäre, wenn Ihr am Strand eine Flasche aus dem Jahr 1721 finden würdet, in der ein großes Geheimnis gelüftet wird – oder sich eine Karte zu einem gigantischen Seeräuber-Schatz befindet?

 

 

 

Der Sonnenaufgang über dem Meer war ein überwältigender Anblick. Als Langschläfer gönnen wir uns dieses Naturereignis viel zu selten, obwohl Elisabeth und ich direkt am Meer leben. Da wir nun schon mal draußen waren, hatten wir keine Lust, sofort wieder nach Hause zu gehen, sondern entschlossen uns zu einer Strandwanderung.

Schon bald erreichten wir eine der kleinen Buchten, die unter unserer Steilküste liegen. Um dahinzukommen, mussten wir auch über eine Reihe sonst meist vom Wasser überspülter Steine klettern. Nach dem mehrere Tage andauernden Sturm mit meterhohen Wellen lag das Meer aber heute morgen erstaunlich ruhig da, fast spiegelglatt, sodass uns die Kletterei am Ufer gut gelang.

»Was liegt denn dort vorn, ein toter Fisch – oder was ist das?« Meine Frau zeigte ans Ende der Bucht. Dort fanden wir einen dunkelgrünen Gegenstand, der an eine Flasche erinnerte. Nachdem wir uns davon überzeugt hatten, dass es sich wohl nicht um eine Mine aus dem Zweiten Weltkrieg handelte, weil das Ding offenbar aus Glas war, hob ich es auf. Die Vorsicht war sicher angebracht, weil sich über uns auf der Steilküste damals Stellungen der deutschen Wehrmacht befunden hatten.

 

Die bauchige Glasflasche wog schwer in der Hand. Ihre Form war nicht völlig gleichmäßig, wirkte handgemacht, das Glas war durchsetzt von vielen Blasen. Der Flaschenhals war ummantelt mit hartem schmutzig-rotem Siegellack.

»Das sieht aber sehr alt aus«, meinte Elisabeth. »Ein Wunder, dass die Flasche bei dem Wellengang in der Nacht hier an den Felsen nicht zerbrochen ist.«

»Sie muss erst spät aus der Tiefe hochgespült und dann auf den Sand geworfen worden sein. Schau mal, ob was drin ist!«

Durch das sehr dunkle Glas konnte man etwas Längliches erkennen. Es bewegte sich beim Schütteln der Flasche.

»Die nehmen wir mit nach Hause und untersuchen sie vorsichtig dort, ehe sie uns hier noch kaputt geht«, verkündete meine Liebste ihren vernünftigen Entschluss.

 

Mit der Versiegelung am Flaschenhals hatten wir die größten Probleme, obwohl sie an einigen Stellen schon etwas porös aussah. Aber als ich sie mit einer Rohrzange vorsichtig drückte, splitterte sie und ließ sich ablösen.

»Halt!«, rief da Elisabeth, »vielleicht ist das ein wertvoller seltener Fund, wir sollten den Zustand erst fotografieren, ehe wir weitermachen.«

Das habe ich dann natürlich bei jedem der folgenden Schritte gemacht. Wenn es meine Frau sagt …

Im Flaschenhals steckte ein Korken, der sich mit unserem bewährten Korkenzieher gut entfernen ließ. Durch den Flaschenhals erkannten wir eine Papierrolle.

»Eine echte Flaschenpost!«, rief ich gespannt aus. »Das ist ja richtig aufregend!«

»Wer weiß?«, meinte Elisabeth skeptisch. »Vielleicht irgendein Kinderspiel …«

»Aber doch nicht mit einer solch altertümlichen Flasche!«, entgegnete ich. »Hol doch das Papier mal raus!«

Elisabeth drehte mit einer Pinzette und viel Geschick die Rolle enger, sodass sie dann ohne Schaden herausgezogen werden konnte.

Nun lag ein Blatt gelbliches, grobes Papier vor uns. Es war mit blauer Tinte beschrieben, aber an vielen Stellen waren Wasserflecken, wo die Buchstaben verlaufen waren und kaum oder gar nicht mehr zu erkennen waren.

»Mist, da ist Wasser eingedrungen. aber einen Teil kann man noch lesen.«

Meine Frau bestätigte: »Ja, hier, da steht ganz deutlich: Vive le roi, ›Es lebe der König‹, das ist also französisch wie nicht anders zu erwarten.«

 

Wir versuchten gemeinsam, die Schrift zu entziffern. Das kam dabei heraus:

»A baix la dictadura des consuls ! Pour un accès libre a la ciutat, pour liberté de treball! Vive le roi (verwischt)xx xxxx royal diví!

Aidez'ns! A Perpinyà, s’ha creat un "consell" per imposar mesures restrictive en dehors de l'ordre xxxxxx S'ha creat un "office de santé" per supervisar tots els ciutadans. Les portes de la ciutat sont fermées [unleserlich] entrer amb un bitllet sanitari.

Sóc enrajolador xx xxxx xxxxx xx (unleserlich) ciutat. Els soldats m’impedixen de faire mon travail a la ciutat, [unleserlich]. Per tant, ma femme et mes enfants meurent de faim. [Große Wasserflecke – unleserlich] els comerciants de la ciutat no tenen res més a vendre.

[Wasserflecke] Lx xxx sempre xx mort: - c'est la volonté de Dieu !

[vier bis fünf Zeilen total unleserlich] les gens no pot comprar, travailler et mourir de faim !

[großer Absatz unleserlich, endet mit:] A la forca amb l'assessorament il·legal i el office de santé ! Perpinya, el 20 d’octubre 1721 «

 

»Nein, das ist kein Französisch! Nur einzelne Worte oder Satzteile, gemischt mit einer anderen Sprache.« Elisabeth schaute mich ratlos an.

»Hier steht 1721. Wenn das stimmt, ist dieses Papier 300 Jahre alt! Da sah das Französisch sicher auch noch anders aus. Oder das ist Okzitanisch, das wurde doch hier gesprochen, ehe die Zentralmacht das Französische auch hier im Süden durchgesetzt hatte.«

»300 Jahre! Wahnsinn! Das können wir nicht einfach behalten. Übrigens steht dort Perpinya, der katalanische Name von Perpignan. Dann ist das in katalanisch geschrieben.« Elisabeth schien sich fast sicher.

»Wenn, dann mit Französisch gemischt. Wer weiß, wer das verfasst hat? Wir müssen das einem Fachmann zeigen!« Ich überlegte laut. »Für Historisches ist doch hier im Ort Jacques Hiron der Fachmann, als Autor einiger Bücher über die Geschichte des Ortes und der Gegend.«

»Du meinst, wir können den alten Mann damit belästigen?«

»Ich glaube, er würde sich darüber freuen. Wir haben ihn doch bei einem seiner Vorträge als netten Mann kennengelernt.«

 

Der grauhaarige Schriftsteller war tatsächlich sehr interessiert. Er bestätigte unsere Vermutung, dass die Wörter teils katalanisch, teils französisch waren, keinesfalls okzitanisch. In der Übersetzung kam er so weit, wie wir auch schon gekommen waren. In dem Schreiben, das offenbar einen Hilferuf darstellt, wird von einem Gesundheitsamt, von geschlossenen Stadttoren und Hunger gesprochen. Da könnte es um die Pest in Perpignan gehen, die ein Jahr nach der großen Pest in Marseille von 1720 ausgebrochen ist. Damals gab es sehr einschränkende Maßnahmen, Ausgangssperre und Reiseverbote in der ganzen Provence. Man spricht von 50000 Toten.

 Eine Erklärung für die seltsame Mischsprache, meinte Monsieur Hiron, könnte ein Edikt Ludwigs XIV. aus dem Jahr 1700 sein, das den Gebrauch der katalanischen Sprache als der ursprünglichen Sprache des Roussillons verbot. So schnell konnte sich natürlich nicht die französische Sprache im Alltag durchsetzen.

Jacques Hiron empfahl uns, mit dem Fund eine offizielle Stelle in Perpignan, der Hauptstadt des Roussillons, aufzusuchen.

Das Katalanische Museum der Volkskunst und des Brauchtums, das im Castillet von Perpignan, dem einstigen Stadttor und Festungsturm und heutigen Wahrzeichen der Stadt untergebracht ist, empfanden wir als die richtige Anlaufstelle. Als wir unser Anliegen vorbrachten, wurden wir sehr schnell vom Direktor empfangen, der einen Restaurator rufen ließ. Dieser war hochinteressiert und versprach, die Echtheit zu prüfen und uns über das Ergebnis zu informieren.

 

Nach einigen Wochen erhielten wir vom Direktor eine Einladung in sein Museum. Voller Freude teilte er uns mit, dass die Flasche und das Schreiben mit wissenschaftlichen Methoden überprüft wurde und ihr Alter von 300 Jahren bestätigt werden konnte. Es konnten auch die bei oberflächlicher Sichtweise unleserlichen Stellen alle restauriert und entziffert werden.

Wir freuten uns sehr darüber und fragten, ob wir unseren Fund zurückhaben konnten. Da musste der Direktor uns aber enttäuschen. Das sei wie bei archäologischen Funden. Sie gehören dem Staat. Dieser sei uns aber sehr dankbar. Als Ausdruck dessen bekamen wir eine Mappe mit dem Wortlaut des restaurierten Textes in der französisch-katalanischen Mischsprache des Originals und der entsprechenden vollständigen französischen Übersetzung. Zusätzlich erhielten wir das Recht auf lebenslangen freien Eintritt in alle staatlichen Museen des ganzen Départements.

Sehr neugierig übersetzten wir zu Hause den Text aus dem Französischen ins Deutsche:

»Nieder mit der Diktatur der Konsuln! Für freien Zugang zur Stadt, für Freiheit der Arbeit! Es lebe der König und die gottgewollte königliche Ordnung!

Helft uns! In Perpignan hat sich ein „Rat“ konstituiert, der abseits der königlichen Ordnung der Stadt einschränkende Maßnahmen aufzwingt. Ein „Gesundheitsamt“ ist gebildet worden, das alle Bürger kontrollieren will. Die Tore der Stadt sind geschlossen und man darf sie nur mit einem Gesundheitsticket betreten. Ich bin Fliesenleger und wohne außerhalb der Stadtmauern. Soldaten verhindern, dass ich meine Arbeit in der Stadt machen kann, wo viele Aufträge von Bürgern auf mich warten. Meine Frau und die Kinder müssen deshalb hungern. Händler aus dem Languedoc werden mit ihren Waren im Bauernhaus La Garrigue hinter dem Fluss Agly, auf halbem Weg zwischen Salses und Perpignan aufgehalten. Die Krämer in der Stadt haben deshalb nichts mehr zu verkaufen.
Und das alles nur, weil es im vorigen Jahr im fernen Marseille ein paar Ratten mehr gab und Leute Schwellungen und Ausschlag bekommen haben und manche auch gestorben sind. Menschen sterben schon immer – das ist Gottes Wille! Man will unter dem Vorwand einer angeblich schlimmen Krankheit die Leute schikanieren und eine Diktatur errichten. Die Einschränkungen sind schlimmer als die Krankheit, denn die Leute können nicht einkaufen, nicht arbeiten, sterben vor Hunger!

Ich werfe diesen Hilferuf in den Têt. Informiert die königlichen Behörden von dieser Willkür! Helft, dass die Maßnahmen aufgehoben werden und wir wieder frei arbeiten und leben können. An den Galgen mit dem illegalen Rat und dem Gesundheitsamt!

Perpignan, 20. Oktober 1721«

 

Elisabeth sprach dann das aus, was wir beide dachten: »Das soll 300 Jahre alt sein?«

 

 

 

November 2021

 

 

Die Geschichte ist original für diese Schreibaufgabe entstanden und trug im Schreiblust-Forum den Titel "300 Jahre alt?".
     Am 6. Oktober 2021 habe ich sie vorab in BookRix unter dem Titel Flaschenpost im Süden Frankreichs veröffentlicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Hotel

Thema: Zur Sache, Schätzchen!

Es muss nicht zwangsläufig das Eine bedeuten, was es aber selbstverständlich kann. Vielleicht wäre es sogar wünschenswert, wenn es das täte – zumindest für einige unter uns, womit ich nicht gesagt haben will, dass …

 

 

Fast verschwörerisch schauten sich Stefanie und Florian im Zimmer um, blickten aus dem Fenster auf die Donau, dann fielen sie sich um den Hals. Sie hatten das Hotel offenbar für ihren Zweck gut gewählt, es sollte heute auch etwas Besonderes sein. Durch die hellen Vorhänge fiel das Sonnenlicht auf das mit Satinwäsche bezogene King-Size-Bett. Lächelnd blickten sie sich an.

»Lässt du mich zuerst ins Bad gehen?« Stefanie schnappte sich ihre kleine Tasche, gab Florian ein Küsschen auf seine heute extra besonders glatt rasierte Wange und drehte sich um.

»Aber natürlich, meine Schöne! Ich warte hier auf dich.« Gut gelaunt setzte sich der Mann in einen der bequemen Sessel in der Ecke am Fenster. Er freute sich auf das, was ihn erwartete, und war glücklich. Als er die Dusche rauschen hörte, begann er sich langsam auszukleiden. Nur die Boxershorts ließ er an und setzte sich aufs Bett.

Die Badtür ging auf und heraus trat – eine nackte Unbekannte. »Gefalle ich dir?«, fragte diese.

Selbstverständlich erkannte Florian sie nach dem kurzen Überraschungsmoment, obwohl sie verändert aussah. Bis ihm klar wurde, dass sie eine Perücke trug. »Du hast mich wirklich verblüfft, Liebste! Aber natürlich gefällst du mir, auch mit den anderen Haaren.« Bewundernd schweifte sein Blick über die vollkommenen weiblichen Rundungen, die sich ihm darboten. »Komm zu mir!«, bat er mit heiserer Stimme.

Erwartungsvoll streckte sich Florian auf dem Bett aus, Stefanie legte sich, ihm zugewandt, neben ihn. Lächelnd registrierte sie die Beule in der Hose.

»Aber wozu hast du diese Perücke aufgesetzt?«

»Dazu kommen wir gleich!« Stefanie nahm die Perücke ab und legte sie auf das Nachtschränkchen. »Ich habe mit dir etwas ganz Besonderes vor. Aber zuvor ziehst du bitte deine Unterhose aus …«

»Möchtest nicht du das tun?« Auffordernd hob der erregte Mann sein Becken an, um es der Begehrten leichter zu machen.

Stefanie erfüllte ihm den Wunsch gern, ignorierte aber dabei bewusst den sich ihr entgegenreckenden Ausdruck männlichen Verlangens.

Nackt und frei, wie sich Florian nun fühlte, beugte er sich über die Liebste und küsste sacht ihre weichen Hügel. Er liebkoste mit den Lippen deren steife Spitzen, während er mit einer Hand über ihren Bauch streichelte.

»Du willst mich doch? Oder was hast du so Besonderes vor? Ich halte es kaum noch aus.«

»Du weißt doch, dass ich vor einiger Zeit in der Villa Firenze bei Wollweber in Blankenese tätig war?« Während die junge Frau sprach, umkreisten ihre Finger zärtlich die Brustwarzen des Mannes.

»Ja, ist dir dieses reiche, fette Schwein dumm gekommen? Oder warum erzählst du mir das jetzt?«

»Nein, nein, eigentlich war er recht angenehm. Wollweber ist ja auch ein ansehnlicher Mann und hat mir immer gefallen. Und er mochte mich auch sehr.«

»Hast du etwa mit ihm … ?« Florian war jetzt hellhörig geworden, seine Erregung flachte ab.

»Nein, nicht, was du denkst! Aber wenn er gewollt hätte …«

»Das begeistert mich nun gar nicht! Willst du mich ärgern oder warum erzählst du mir das?«

Stefanie bemerkte, dass das irgendwie in falsche Bahnen lief. Ihre Hand strich nun weiter von der Brust nach unten. Mit der anderen Hand griff sie den Nacken des Mannes und zog ihn näher heran, um ihm einen heißen Kuss zu geben. Nachdem sich ihre Lippen voneinander gelöst hatten, sagte sie: »Ich wollte doch etwas ganz anderes erzählen, du hast doch damit angefangen. Es geht mir darum, dass wir beide endlich …« Ihre Finger spielten nun sacht mit den männlichen Attributen.

»Ja, wir beide … Und was hat das mit dem Wollweber zu tun?«

»Ich will das jetzt mit dir richtig durchziehen, nicht nur so halbe Sachen. Nein, du und ich zusammen – das ist mein größter Wunsch seit langem. Ich bin dafür bereit. Und ich weiß doch, dass du gut bist. Das erzählen alle … Und ich brauche dich jetzt!«

In Florians Körpermitte war wieder Leben gekommen. Stefanies Finger taten ein Übriges.

»Ja, aber Thomas …?«

»Mit dem ist das nichts mehr. Der ist mir oft zu langsam, häufig wenig gefühlvoll, oft zu rabiat und laut.«

»So, so … Du hast doch aber manchmal auch mit Martin und Alex?«

»Ja, das ist doch alles nichts. Ich will das jetzt mit dir. Und dann bleiben wir für immer zusammen und machen es uns schön. Das ist mein Traum!«

»Wirklich? Du bist dir sicher, Stefanie? Bisher wolltest du nie mit mir …« Er küsste sie verlangend, umfasste ihre Brüste und fuhr mit der Handfläche über die aufgerichteten Nippel. Sie erwiderte den Kuss auf erregende Weise. Die beiden rückten enger zusammen und rieben sich Haut an Haut.

Stefanie löste sich von Florians Mund und erklärte fast atemlos: »Ich hatte Angst, dass wir erwischt werden – und dass es dann uns beiden dreckig geht. So habe ich dich immer rausgehalten – und du mich. Man hat uns zwar immer zusammen gesehen und deswegen auch als Paar im Verdacht gehabt. Aber man konnte uns nie etwas nachweisen. Weil wir’s eben nicht zusammen gemacht haben.«

»Okay, aber nun willst du es. Und was sagen deine anderen Partner dazu?«

»Die bekommen das gar nicht mit. Wir machen das – und ich weiß jetzt schon, das wird etwas ganz Großes. Und dann sind wir weg, tauchen ab, sind für niemanden mehr erreichbar.« Wieder reckte sie sich dem Liebsten entgegen, das Paar umarmte sich innig in einem erneuten Kuss.

»Du machst mich ganz verrückt, das merkst du doch. Du kannst mich doch nicht so lange hinhalten. Komm zur Sache, Schatz!« Florian brannte vor Ungeduld.

»Wie gesagt, bei Wollweber. Der hat in der Kassette im Schreibtisch den Schlüssel für das Schließfach bei der Westelbischen Bank Hamburg. Dort liegt auch ein Formular für die Vollmacht. «

»Und was soll ich tun?«

»Du musst in der Nacht einsteigen, geräuschlos. Du bist doch der Spezialist in der Branche. Mit dem Typ der Alarmanlage kennst du dich auch aus, das weiß ich. Im Schreibtisch die Kassette aufschließen und den Schließfachschlüssel rausnehmen! Eine Kopie des Schlüssels für die Kassette habe ich. Damals schon erledigt. Du schließt alles wieder ab. Und vergiss die Vollmacht nicht!«

»Und du?«

»Der Wollweber wird nichts merken. Er geht ja nicht jeden Tag an die Kassette. Ich räume am nächsten Vormittag das Schließfach aus. Mit der Perücke, falschem Ausweis und der Vollmacht. Wollwebers Unterschrift habe ich geübt.«

Nun war der Mann ganz Ohr. »Weißt du denn, was in dem Schließfach ist?«

»Ja, beim Putzen habe ich im Schreibtisch eine Aufstellung gesehen. Goldbarren, einige Diamanten, Bargeld: Dollar, Schweizer Franken und chinesische Yuan, Schmuck, noch von seiner geschiedenen Frau, und die Unterlagen für zwei Schweizer Nummernkonten. Man wird nicht auf uns kommen. Ich putze ja schon lange nicht mehr bei ihm.«

»Das ist ein guter Plan, Stefanie! Prima! Bisher haben wir immer Privates und Job getrennt. Nun aber machen wir den großen Coup! Gemeinsam! Das sollte dann für uns reichen, um uns in Rio ein schönes Leben zu machen. Das wollten wir ja schon immer.«

Freudestrahlend wandte er sich ihr zu. Sie öffnete die Arme für den Lebensgefährten und so feierte das Ganovenpärchen, sich leidenschaftlich liebend und den künftigen Luxus ein wenig schon im Voraus genießend, sein zehnjähriges Liebesjubiläum im King-Size-Bett des Hilton Wien. 

 

 

Dezember 2021

 

 

 

Die Geschichte ist original für diese Schreibaufgabe entstanden.
     Am 5. November 2021 habe ich sie vorab in BookRix unter dem Titel "Zur Sache, Schätzchen!" veröffentlicht.

 

 

 

ERGÄNZUNG 18 Monate später:
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Die Schreibaufgabe im Juni 2023 inspirierte mich dazu, die Geschichte dieses Pärchens und seines erfolgreichen Raubs fortzuschreiben. Seltsamerweise waren die Themen der beiden Folgemonate hervorragend dafür geeignet, weitere Fortsetzungen zu entwerfen.

 

 Die Themenstellungen waren
      im Dezember 2021:  Zur Sache, Schätzchen!
      im Juni 2023: Geschichte aus der Sicht eines Bösewichts
      im Juli 2023: Ein Mensch schlägt zurück
      im August 2023: Dumm gelaufen

 

Die auf diese Weise entstandenen vier Geschichten sind von mir in dem BX-Büchlein "Ein Ganovenpärchen" ab Ende Mai 2023 zusammengestellt worden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kriminalrätin Barbara

Thema: Außer Kontrolle

Wenn etwas aus dem Ruder läuft … 

 

 »Noch einen Kaffee?«, fragte Barbara die Gäste. Sie und Herbert waren schon lange Kollegen bei der Kriminalpolizei. Die beiden trafen sich gern einmal, zusammen mit ihren Ehepartnern, um bei einem guten Essen den Arbeitsstress zu vergessen. Diesmal hatten die Unmuths eingeladen. Barbara hatte wie immer hervorragend gekocht. Das Bœuf Bourguignon hatte allen prima gemundet. Gerhard hatte die Vorspeise und das Dessert zubereitet.

Bei einer Flasche Wein nach dem Kaffee unterhielten sich die vier Freunde angeregt miteinander. Gegen alle Gewohnheit kam dann doch das Gespräch auf die Arbeit.

»Sag mal, Barbara, kommt dir der Alte in letzter Zeit etwas distanzierter vor als sonst?«, fragte Herbert. Die beiden Kriminalbeamten nannten ihren Dezernatsleiter immer so, wenn sie unter sich waren.

»Wenn du meinst, früher schien er mir freundschaftlicher, jetzt mehr nur so kollegial-sachlich.«

»Ich glaube, es ist der unaufgeklärte Mordfall von vor zwei Jahren. Der passt so gar nicht in unsere Aufklärungsquote, unsere Oberen machen wohl ordentlich Druck.«

»Ach, hört doch auf mit euren Problemen auf Arbeit, wir sitzen hier so gemütlich beisammen«, meldete sich die sonst eher ruhige Annemarie, die Frau von Kriminalhauptkommissar Herbert Feicht.

Die Eheparner der Polizisten kannten den Fall natürlich, auch wenn sie nicht in die Details eingeweiht werden durften. Gerhard erinnerte sich gut an die blonde junge Frau. In seinen Gedanken erschien ihm ihr hübsches Gesicht mit den auffallend geschminkten Lippen und den großen blauen Augen. Das Bild von Carmen Preiwutt hing lange überall, auch im Finanzamt.

»Gibt es denn noch Hoffnung, den Fall nach so langer Zeit aufzuklären?«, fragte er.

»Mordfälle ruhen nie, man wird sehen.« Damit schloss Herbert den kurzen Disput ab, und die Runde wendete sich wieder erfreulicheren Themen zu.

 

»Was hast du?«, fragte Gerhard seine Frau, als sie wieder gestresst vom Dienst kam und auf seinen Bericht von der Tagesarbeit völlig unkonzentriert reagierte. Gerhard war Abteilungsleiter im Finanzamt, schon ihm selbst kam die Arbeit häufig langweilig vor. So war es kein Wunder, dass Barbara oft nur mit einem Ohr zuhörte, wenn er etwas erzählte. Diesmal hatte sie aber höchstens ein halbes Ohr für Gerhard übrig, der das natürlich merkte.

»Du erinnerst dich doch an den Fall Carmen Preiwutt vor drei Jahren?«

Gerhard horchte auf. »Ja, warum?«

»Vor ein paar Tagen wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden. Wieder eine blonde, 23 Jahre alt, Kerstin Rohrbach. Wir wissen, dass auch sie mit dem Abendzug aus der Stadt gekommen war. Zuletzt wurde sie auf der Straße, die vom Bahnhof nach Kunzdorf führt, gesehen. Im nahen Wald in einem Gebüsch ganz in der Nähe des damaligen Fundorts haben Spaziergänger die Tote entdeckt.«

»Und warum bedrückt dich das so besonders? Du bist doch in der Mordkommission, da ist doch ein Leichenfund nichts Ungewöhnliches.«

»Aber zwei solche ähnlichen Fälle innerhalb kurzer Zeit kommen in unserer Gegend nun nicht so oft vor. Jedenfalls hat der Alte eine SoKo „Abendzug“ gegründet und Herbert als Leiter eingesetzt.«

»Deswegen bist du sauer?«

»Nein, nein, ich arbeite sehr gern mit ihm zusammen. Es ist nur, wir haben keinerlei Anhaltspunkte, wo wir ansetzen können.«

»Das wird schon mit der Zeit.« Gerhard versuchte, seine Frau zu trösten. Bei sich dachte er, dass es nicht sonderlich klug war, ein Mordopfer an der gleichen Stelle wie das vorige zu verstecken. »Komm, wir machen eine Flasche von unserem geliebten Corbières aus dem Urlaub auf.«

 

Barbara kam fröhlich und ein bisschen beschwipst nach Hause. Sie hatte mit den Kollegen auf ihre Beförderung angestoßen. Gerhard kam ihr im Flur entgegen und nahm sie in den Arm. »Habt ihr die neue Kriminalrätin zünftig begossen?«

»Klar, die Kollegen haben mir gratuliert. Sogar Herbert meinte es wohl ehrlich, auch wenn er gern selbst aufgestiegen wäre. Jedenfalls habe ich ein paar Flaschen Rotkäppchen springen lassen. Der Alte hat mich trotz der ausgelassenen Stimmung ermahnt. Er erwarte nun, nachdem mir die Leitung der Mordkommission übertragen wurde, endlich Ergebnisse im Fall „Abendzug“.«

»Ich denke, Herbert leitet die SoKo.«

»Das ist richtig, aber nun als seine direkte Vorgesetzte trage ich die Verantwortung.«

»Ich gratuliere dir auch ganz herzlich! Wollen wir ins Bett gehen? Ich kann uns ja noch die Flasche Crémant d’Alsace holen, die ich extra in den Kühlschrank gestellt habe.«

Später lag er über Barbara, die Hände drückte er über ihrem Kopf ins Kissen und starrte in weit geöffnete Augen. Was ist nur mit mir?, schoss es ihm durch den Kopf. Manchmal habe ich das Gefühl, ich verliere die Kontrolle.

 

Barbara wirkte gereizt. In letzter Zeit konnte sie sich nicht mehr richtig entspannen. Gerhard war des Öfteren nicht zu Hause, wenn sie mal eher das Präsidium verlassen konnte. Auch dort herrschte Anspannung, lagen die Nerven blank. Vor einer reichlichen Woche war wieder eine blonde junge Frau verschwunden. Von Martina Drobner wusste man, dass sie mit dem Abendzug aus der Stadt kommen wollte, ihrem Freund hatte sie aus dem Zug noch eine SMS geschickt. Zeugen aus dem Zug hatten sie noch im Bahnhof Kunzdorf aussteigen sehen. Sie war ja auch eine auffallende Erscheinung in ihrem engen Minirock und den hohen Stiefeln. Im Dorf war sie nie angekommen. Eine Leiche hatte man aber auch nicht gefunden. Vor allem das Waldstück an der Straße vom Bahnhof zum Dorf hatten Suchtrupps gründlich duchkämmt. Barbara hatte dem Drängen Herberts nachgegeben und den Vermisstenfall der SoKo „Abendzug“ zugeordnet.

Gerhard spürte die schlechte Stimmung zu Hause und ging seiner Frau aus dem Weg, igelte sich ein und grübelte. Ich kann doch nichts dafür. Das ist doch wie höhere Gewalt. Ich muss sehen, dass es Barbara wieder besser geht, muss mich mehr um sie kümmern. Sonst geht sie mir noch vor die Hunde. Ich bin doch kein schlechter Mensch. In der Nacht kam er Barbara fast wie ein kleiner Junge vor, er klammerte sich förmlich an sie.

»Was hast du, Gerhard?«, fragte sie besorgt.

»Nichts! Ich fühlte mich plötzlich nur irgendwie einsam. Aber ich habe ja dich …«

»Ja, du hast mich – und ich habe dich. Lass uns schlafen.«

 

In den letzten Wochen kam Gerhard seiner Frau immer mehr verändert vor. Er wirkte abwesend, als ob ihn etwas bedrückt oder stark beschäftigt. Probleme bei seiner Arbeit im Finanzamt gäbe es keine, beteuerte er. Nach dem Dienst kam er oft nicht gleich nach Hause. Manchmal verließ er das Haus auch noch einmal, nachdem er seine Tasche abgestellt hatte.

»Ich muss nochmal raus, frische Luft schnappen. Ich halte es hier nicht länger aus.«

»Aber warum denn, ist es wegen mir?«, fragte Barbara einmal, aber das verneinte er strikt.

»Mit dir hat das nichts zu tun. Es kommt von innen her, so eine Unruhe …«

 

Von einem Tag auf den anderen wurde die Aufmerksamkeit von Barbara als Leiterin der Mordkommission wieder einmal voll in Anspruch genommen, denn ein erneuter Vermisstenfall beschäftigte das ganze Dezernat. Die fünfundzwanzigjährige Julia Engeler ordnete sich in allen relevanten Merkmalen in die „Abendzug“-Serie ein. Sie war zuletzt auf der Straße vom Bahnhof Kunzdorf in den Ort gesehen worden, wie sie bei Regen in ein Auto stieg. Für die Zeugin war die Entfernung zu groß, um Genaueres zu erkennen. Nicht einmal zur Farbe des Autos konnte sie etwas sagen.

Allerdings konnte sich Barbara gar nicht richtig auf die Ermittlungen konzentrieren, weil sie sich ernsthaft Sorgen um ihre Ehe machte. Ihr war aufgefallen, dass Gerhard immer öfter allein unterwegs war, spät nach Hause kam.

So kam es, dass sie sich entschloss, ihm hinterherzufahren, als er nach dem gemeinsamen Abendessen ohne plausible Begründung das Haus verließ. Sie wollte endlich wissen, mit welcher Frau er sich wo trifft …

 

Eine Woche nach diesem verhängnisvollen Abend saß sie an ihrem Schreibtisch und grübelte. Warum genau hat sie geschossen? War sie eine Mörderin? Aus Wut über dieses Unfassbare? Jahrelang hat sie gar nichts bemerkt, hätte es für unmöglich gehalten. Und dann dieser Schock! Als sie ihren Mann entdeckte, wie er eine in Folie gewickelte Frauenleiche in diese Höhle hineinzog. Ja, er hatte die Hand ruckartig nach vorn gebracht … Sie hatte reflexartig als Polizistin gehandelt. Dachte sie wirklich, er wäre bewaffnet und wollte auf sie schießen? Eher nicht, er hatte ja schon angefangen, Erklärungen zu stammeln. Sie hatte also nicht professionell reagiert, hätte ihn festnehmen müssen. Aber war sie dazu in der Lage? Bei solch plötzlichen schrecklichen Erkenntnissen über ihren Ehemann! Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie hat sich wohl bewusst dafür entschieden, ihn dafür einfach abzuknallen. Verdient hat es das Schwein!

Das geplante Treffen mit Herbert und Annemarie hatte sie abgesagt, weil Gerhard verschwunden sei. Im Dezernat munkelte man schon, sie sei verlassen worden. Wenn es das wäre! Es wird herauskommen ... Der Mann der Leiterin der Mordkommission ein Serienmörder! Sie selbst muss sich verantworten und wird vielleicht auch wegen Mord verurteilt. Und auch, wenn nur Totschlag oder sogar Notwehr herauskommt, was soll‘s?

Sie hatte in der Höhle auch noch Martina Drobner, eingepackt und halb verwest, gefunden. Später erinnerte sie sich, dass Gerhard manchmal von einer Höhle im verwilderten Forst bei Walderloh erzählt hat, in der er sich mit anderen Jungen in der Kindheit oft versteckt hatte. Schließlich ist er im Nachbarort von Walderloh aufgewachsen. Im Karton mit seinen persönlichen Erinnerungen fand Barbara eine alte Kartenskizze, in der er die Höhle markiert hatte.

Jetzt nahm Barbara dieses Blatt, ging in Herberts Büro und legte es in den Aktenordner „Abendzug“. Sie war Polizistin! Es musste alles aufgeklärt werden ...

An ihren Schreibtisch zurückgekehrt, lehnte sie sich in ihren Sessel, entsicherte ihre Waffe und atmete noch einmal tief durch. Den Schuss hörte sie schon nicht mehr.

 

 

März 2022

 

 

Die Geschichte ist original für diese Schreibaufgabe entstanden.
Sie bedient sich derselben Hintergrundidee wie die Geschichte "Der Hinweis", wird nur in völlig anderer Sichtweise erzählt.
     Am 3. Februar 2022 habe ich sie vorab in BookRix unter dem gieichen Titel "Kriminalrätin Barbara" veröffentlicht.

 

 

 

 

 

Antigravitation

Thema: Alternative Fakten

Na logo, die Erde ist eine Scheibe, was sonst!? (nur als Beispiel)

 

 

»Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich freue mich, Sie hier im schönen Lindau am Bodensee so zahlreich begrüßen zu dürfen. Ohne Übertreibung sage ich, dass wir heute gemeinsam eine Zeitenwende einläuten werden.«

Der gutaussehende Mann am Rednerpult schaute in den vollbesetzten Konferenzraum und ließ seinen Blick schweifen. Hunderte Augenpaare hingen an dem vertrauenswürdig wirkenden etwa Vierzigjährigen.

»Bevor ich zu unserem Hauptanliegen komme, möchte ich mich vorstellen. Ich bin Klaus Gerber, Ökonom, arbeite als Unternehmensberater und werde, wenn es bei den Absprachen der großen Mäzene unseres Vorhabens bleibt, den Vorsitz des Stiftungsbeirats übernehmen. Neben mir auf der Bühne haben Platz genommen Herr Dr. Helmut Würzinger, Physiker, Dozent am Institut für Theoretische Physik der Technischen Universität Graz, der Ihnen im Anschluss noch einmal einen fachlichen Überblick geben wird, und Herr Dr. Maximilian Wipfli, wissenschftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Physik und Astronomie der Universität Bern, den die meisten von Ihnen bereits von den detaillierten Vorträgen in Ihren Einrichtungen kennen.

Wir sind hier zusammengekommen, um die Stiftung Marcel Pagès zu gründen, deren Ziel die Erforschung der Antigravitation und deren Nutzbarmachung zum Wohle der Menschheit ist. Der brillante Physiker Dr. Marcel Pagès aus Perpignan hat der Welt bereits am 16. Mai 1957 seine Arbeit über die Prinzipien der Schwerelosigkeit vorgestellt. Seine Forschung war seinerzeit schon weit fortgeschritten und hatte ein lebhaftes Echo in der Öffentlichkeit gefunden. Mit 10 Millionen Dollar hätte Dr. Pagès schon im Jahr 1958 seinem Heimatland Frankreich dank der Beherrschung der Antigravitation ein Flugobjekt geschenkt, das einen Menschen zum Mond und wieder zurück gebracht hätte.

Schon als 16-jähriger Schüler befasste er sich mit Studien zu Scheibensystemen, elektrischen und Zentrifugalkräften, musste diese Studien aber wegen des Krieges unterbrechen. Hauptmann Pagès wurde 1940 gefangengenommen und kam durch Zufall dazu, in einem psychiatrischen Krankenhaus die Wimshurt-Maschine kennenzulernen, die zur Behandlung von psychisch Kranken eingesetzt wurde und statische Elektrizität erzeugt. Hier konnte er seine Studien fortsetzen, für deren Ergebnisse sich bald auch das alliierte Militär interessierte.

›Liefern Sie uns Ihre Formel, sie interessiert die ganze Menschheit‹, rieten ihm die Sowjets. ›Sie bekommen alle Labors, die Sie wollen, und keine Geldsorgen, wenn Sie zu uns kommen‹, wurde ihm von der amerikanischen Botschaft zugesichert. Aber Marcel Pagès verließ sein geliebtes Perpignan nicht und blieb seinem Heimatland treu, das ihm allerdings die nötige finanzielle Unterstützung nicht gab.

Innerhalb von zehn Jahren meldete Marcel Pagès mehr als hundert Patente an, von denen ein Großteil die Raumfahrt betraf. Im Jahr 1946 verbreitete ein amerikanisches Wissenschaftsmagazin die Pläne eines flügellosen Flugzeugs, das auf den Erfindungen dieses Genies basierte.

Wir wissen heute, dass mächtige Geheimdienste in Ost und West die erfolgreiche Weiterarbeit an diesen Ideen und Projekten verhinderten. Denn trotz des kalten Krieges waren sich die Mächtigen immer einig. Ihre Interessen lagen in der Entwicklung von Raketentreibstoffen und dem Bau von Atomwaffen. So konnten die fulminanten Ideen des Marcel Pagès nicht zur Reife kommen und blieben unter anderem bei einem kosmischen linsenförmigen Fluggerät stehen, für das er das französische Patent Nr. 1253 902 erhalten hat. Auf die Grundlagen der Theorie von Dr. Pagès wird im Anschluss Herr Dr. Würzinger in seinem Vortrag noch eingehen.

Für sehr bemerkenswert gerade hier in diesem Kreis vorurteilsfreier Forscher und Förderer der Wissenschaft halte ich den Umstand, dass ein anderes großes Genie dieser Zeit den Physiker Pagès hoch verehrt hat. Es handelt sich dabei um keinen Geringeren als Salvador Dalì. Nun werden Sie vielleicht sagen, dass dieser spanische Künstler doch kein Wissenschaftler war. Das stimmt zwar im engeren Sinne, spielt aber insoweit keine Rolle, dass Dalì neben Maler auch Grafiker, Schriftsteller, Bildhauer und Bühnenbildner und darüberhinaus an der modernen Wissenschaft stark interessiert war und sich intensiv mit ihr beschäftigte. Ich halte die Verehrung durch dieses Universalgenie für ein weiteres gutes Argument, unserer Stiftung den Namen Marcel Pagès zu geben.

Wie wird es weitergehen? Ein großer Schweizer Förderer der Wissenschaft, der nicht genannt werden möchte, hat als Grundstock unserer Stiftung eine hohe Summe gespendet, über die ich zum Schweigen verpflichtet bin. Darüberhinaus hat er uns in einem abgelegenen Tal im Tessin unweit von Bellinzona ein hervorragend geeignetes Gebäude geschenkt, in dem wir unser Forschungsinstitut einrichten werden.«

Auf Knopfdruck des Redners hin erschien an der Wand hinter ihm das Bild eines großen modernen Bauwerks umgeben von grünen Bergen. Durch das Publikum ging ein staunendes Raunen.

»Das wird in Kürze das Marcel-Pagès-Institut sein, in dem unter Leitung von Herrn Dr. Helmut Würzinger unser Forschungsprojekt zum Erfolg geführt werden wird. Sie werden verstehen, dass ich den genauen Standort nicht publik machen kann. Die hier versammelten Vertreter verschiedener universitärer und nicht-universitärer Forschungseinrichtungen, Verbände und Organisationen wissen, welche Hindernisse von gewissen Kräften aufgebaut werden, wenn man sich der Antigravitation oder auch nur den Gravitonen widmet. Dass es diese nicht gibt und die Einrichtungen und Wissenschaftler nicht seriös seien, sind nur die harmlosesten der Vorwürfe. Wir wissen inzwischen, welche Rolle dabei solche Leute wie Elon Musk, Bill Gates, Jeff Bezos, Mark Zuckerberg und Warren Buffett spielen, ohne die zu nennen, die im Hintergrund und Geheimen wirken.

Spätestens in einem Jahr werden wir den von der GÖDE-Stiftung in Waldaschaff ausgelobten Preis von einer Million Euro kassieren. Denn die dafür zu erfüllende Aufgabe, ein Objekt mit einem Gewicht von mindestens 20 g für die Dauer von 1 Minute etwa 10 cm über einer Auflage schweben zu lassen, der war ja schon Marcel Pagès recht nahe gekommen.

Mit den der Stiftung zufließenden Geldern werden wir eines der letzten Geheimnisse der Natur aufdecken, die Schwerkraft mittels der Antigravitation beherrschen und damit der Menschheit ungeahnte Transportmöglichkeiten auf der Erde und im Kosmos eröffnen. Das Energieproblem wird es nicht mehr geben!

Mit dem Zitat von B. Fuller ›Es gibt keine Energiekrise, sondern nur eine Krise der Ignoranz‹ möchte ich schließen.«

Die Zuhörer klopften Beifall auf ihre Tische, während sich der Redner höflich verbeugte, um dann auf der Bühne Platz zu nehmen. An seiner Stelle trat wie angekündigt Dr. Würzinger ans Pult. Der Physiker hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf, sondern stieg sogleich ins Thema ein.

»Meine Damen und Herren, eines der größten Rätsel der Natur ist die Gravitation. Das hängt damit zusammen, dass sämtliche Naturkräfte – starke, schwache und elektromagnetische Wechselwirkung – durch Teilchen bestimmt werden, allein für die Schwerkraft fehlt ein Äquivalent. Sie wird nur durch eine Feldtheorie beschrieben. Die Grundlage unserer Theorie, die die Ansätze von Marcel Pagès weiterdenkt, ist die Existenz von Schwerkraftteilchen, den Gravitonen. Ähnlich wie Photonen zur elektromagnetischen Wechelwirkung gehören, sind die Gravitonen die Bosonen des Gravitationsfeldes. Marcel Pagès ging von der Existenz eines Gravitongases aus, das den gesamten Raum durchdringt. In dieser Theorie entsteht das Elektron durch eine Expansion des Raums und das Proton durch eine Kontraktion dieses Raums. 1972 erklärt dieser geniale Physiker: ›Da das Elektron letztlich ein Loch im Raum ist und das Proton ein Kondensat, das tausendmal schwerer ist als das Elektron und von der Gravitation angezogen wird, ist es möglich, Fluggeräte zu entwickeln, die das Elektron als Mittel zur Entfesselung nutzen, wobei diese Fluggeräte schwindelerregende Geschwindigkeiten erreichen können‹, und weiter: ›Durch den Einsatz von Degravitation kann die Geschwindigkeit eines Raumfahrzeugs im Vakuum gegen unendlich gehen und auf jeden Fall viel größer sein als die Lichtgeschwindigkeit.‹ Dies widerspricht der Allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein. Das ist auch der Hauptvorwurf, der den Anhängern unserer Theorie von den Vertretern der Mainstream-Physik gemacht wird. Wir aber sagen, dass man bei Einstein, dessen Theorien bereits ein Jahrhundert alt sind, nicht stehenbleiben kann. Seine Theorien müssen neu durchdacht und mindestens zum Teil verworfen werden. Das Standardmodell der Kosmologie behilft sich heute mit der Existenz von Dunkler Materie und Dunkler Energie. Hier sehen wir, dass die Allgemeine Relativitätstheorie an ihre Grenzen gestoßen ist. Die mysteriösen dunklen Komponenten des Universums sind doch wohl ein Hinweis darauf, dass die Schulphysik im Verständnis der Welt irgendwo falsch abgebogen ist.

Wir sind uns sicher, dass wir mit den Gravitonen die Antigravitation in der Hand haben und der Menschheit die unbeschränkte Nutzung von Energie ermöglichen können, ohne die Umwelt zu zerstören.«

 

Im Anschluss der Vorträge kam es zur feierlichen Unterzeichnung des Statuts der Stiftung Marcel Pagès. Auf der Gründungsurkunde der Stiftung finden wir die Unterschriften von 14 Organisationen und Institutionen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

 

Zwei Jahre später am Playa Manzanillo in Costa Rica.

»Ich muss dir immer wieder danken für deine clevere Idee mit der Stiftung und dem damit verbundenen Fundraising, lieber Klaus. Ohne dich würde ich immer noch in Graz versauern.«

»Den Dank kann ich nur zurückgeben, lieber Helmut. Du hast doch diesen Besessenen aus Perpignan ausgegraben und sein Potential entdeckt. Ebenso wie du Wipfli aus Bern überzeugen konntest, ohne dessen unermüdliches Herumreisen mit seinen Vorträgen wir wohl niemanden hätten für unseren Zweck gewinnen können.«

»Lass uns darauf und unsere unbeschwerte Zukunft in Reichtum anstoßen!«

 

 

 April 2022

 

 

Die Schreibaufgabe für April 2022 inspirierte mich zu der Geschichte "Unbeschwerte Zukunft durch Antigravitation", die bei BookRix am 28. März 2022 veröffentlicht wurde.
Für die Schreibaufgabe selbst musste sie wegen der dortigen Beschränkung auf 10000 Zeichen um ein Fünftel gekürzt werden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mädchen mit Schmetterlingen

Thema: Besuch aus dem Jenseits
Wie ist es, wenn Tante Clärchen, die 1982 gestorben ist, zum Kaffee vorbeischaut? (nur als Beispiel)
(Andererseits: Bei Harry Potter gibt es einen Lehrer, der sich auch durch den eigenen Tod nicht vom Unterrichten abhalten lässt ;-))

 

 

 

Versonnen blickte ich auf den Hintern der jungen Frau, die aus dem Fenster aufs Meer schaut. Er zeichnet sich unter dem Stoff ihres einfachen blaugrauen Kleides deutlich ab und erinnert mich immer wieder auch an die kraftvollen weiblichen Figuren, die Aristide Maillol gestaltet hat.

Ich dachte daran, wie Elisabeth und ich ganz bewusst dieses Bild gewählt hatten, um die weißen Wände unseres neuen Domizils zu schmücken. Die gerahmten Poster sollten typisch für unsere neue Heimat am Mittelmeer sein. So kamen wir auf Salvador Dalí, der schließlich nicht sehr weit entfernt von hier gelebt und gearbeitet hat. Während eines früheren Urlaubs beeindruckte uns besonders der Besuch in seinem Theatermuseum in Figueres. Also suchten wir nach geeigneten Bildern des großen Künstlers.

Immer noch auf das Bild an der Wand schauend, freute ich mich über diese Wahl, die wir damals unabhängig voneinander getroffen hatten. Wir hatten das Gemälde nie zuvor gesehen. Es schien wie für unsere Situation und unseren Geschmack gemalt worden zu sein. Wie gesagt, ein Mädchen, das auch Aristide Maillol, ein anderer bedeutender Künstler der Region, gemalt haben könnte, schaut aus dem Fenster auf das Meer. Sofort war uns klar, wo das Bild hingehört: an die Wand direkt neben unserem Fenster auf der Meerseite. Denn obwohl unser Häuschen nur etwas über hundert Meter vom Strand entfernt steht, sehen wir durch Oleanderbüsche und an Palmen und Platanen vorbei auf eine sonnengelbe Hauswand, die uns den Blick aufs Meer versperrt. Mit diesem Gemälde würden wir uns den Meerblick nach Hause holen, so empfanden wir das beide. Und darüber freuen wir uns noch heute, so sinnierte ich bei dem verträumten Blick auf den Rücken des Mädchens, an dem vorbei ich durch das Fenster das Meer sah.

Als ich meinen Blick von dem Gemälde löste, wäre ich vor Schreck beinahe vom Stuhl gefallen. Mir gegenüber saß auf einmal ein Mann. Er musterte mich mit stechenden Augen. Auffallend war sein gezwirbelter schwarzer Schnurrbart. Ich wollte auffahren und ihn zur Rede stellen, was er hier bei uns mache. Da fiel mir auf, dass er wie Salvador Dalí aussah. Wie man ihn von Bildern aus den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts kennt.

Aber das konnte nicht sein! Er war doch schon lange tot ...

»Du wirkst etwas verstört, Franck«, meldete sich der unheimliche Fremde. »Das geht mir immer so, wenn ich unangekündigt auf Besuch komme. Ich bin es wirklich, Marqués de Dalí de Púbol. Wahrscheinlich kennst du mich besser als Salvador Dalí. Zum Marquis hat mich der König ja erst gemacht, als meine geliebte Frau Gala nicht mehr war und ich sehr krank geworden bin.«

Wie sollte ich reagieren? Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und tat, als sei es ganz normal, einen solch großen Künstler in meinem Haus zu empfangen, noch dazu einen aus dem Jenseits. »Ja, Sie und Gala, das war ein unzertrennliches Paar, Ihre große Muse. Ich habe darüber gelesen.«

»Sie war meine Muse, ich habe sie unsterblich geliebt. Und wir gehörten immer zusammen, sogar in der Zeit, in der wir nicht mehr so eng verbunden waren wie damals, als Amanda Lear in mein Leben getreten war.«

»Und vor Gala? Hatten Sie da auch eine Muse?«

»Das weißt du nicht? Muse ist vielleicht nicht ganz die richtige Bezeichnung. In meiner Jugend war meine Schwester Ana Maria mein einziges Modell. Damals habe ich mich mit ihr noch sehr gut verstanden. Bis ... aber darüber will ich nicht reden. Dort auf dem Bild, das ist sie mit siebzehn Jahren. Es war vor fast hundert Jahren, 1925, in unserem Elternhaus. Es ist der Blick auf die Bucht von Cadaqués, wo wir damals gewohnt haben.«

»Das wusste ich gar nicht! Aber Cadaqués kennen wir, ein wunderschöner Ort. Meine Frau und ich waren schon mehrmals dort, leider ist er oft von Touristen überlaufen. An diesem Gemälde Mädchen am Fenster bewundere ich die meisterhafte, realistische Maltechnik.«

»Danke sehr! In dieser Zeit habe ich vieles ausprobiert, das ist das Recht der Jugend. Erst später habe ich zum Surrealismus gefunden, wobei ich mich keinesfalls auf die Malerei beschränkt habe.«

»Das ist mir bekannt und ich bewundere Ihre Vielseitigkeit. Im Teatre-Museu in Figueres bekommt man davon einen Eindruck. Neben Gemälden, Zeichnungen und Grafiken habe ich dort über Skulpturen und Plastiken, Schmuck und andere Objekte gestaunt. Ich weiß auch, dass der Entwurf des Neuaufbaus dieses Hauses im Ganzen und vielen Details von Ihnen stammt. Bis zu den Eiern auf dem Dach, die in der ganzen Welt mit dem Namen der Stadt Figueres verbunden werden.«

Dalí sagte dazu nichts, sonnte sich wohl eher in dem Lob, welches er wohl auch zu Lebzeiten schon im Überfluss bekam. Ich versuchte, zu meiner Frau Blickkontakt aufzunehmen, aber Elisabeth schien den Besuch und das Gespräch gar nicht wahrgenommen zu haben und war mit ihrem Computer beschäftigt. Ich nahm allen meinen Mut zusammen und fragte: »Wie kommen wir eigentlich zu der Ehre Eures Besuchs, Marquis? Und wie ist das überhaupt möglich, wenn ich fragen darf?«

»Das lass nur meine Sorge sein. Es ist, wie es ist! Aber nenne mich nicht Marqués, einfach Dalí oder Salvador genügt, mein lieber Franck.«

Was sollte ich dazu sagen? Er kannte meinen Namen, sprach wie vertraut mit mir. Es berührte mich zutiefst auf eine eigenartige Weise. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Also tat ich, als sei alles ganz normal. »Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Meine Frau macht Ihnen gern einen Espresso. Nicht wahr, Elisabeth?« Sie reagierte nicht. »Oder ein Glas Wein?«, wandte ich mich wieder an den doch etwas unheimlichen Besucher.

»Moltes gràcies«, antwortete der Gast auf Katalanisch und bemerkte dazu: »In meinem Zustand benötigt man dergleichen nicht mehr.«

Erst jetzt fiel mir auf, dass wir uns offenbar gegenseitig gut verstanden, obwohl Dalí meines Wissens Deutsch nicht beherrschte. Spanisch, Katalanisch sicher, wahrscheinlich auch Französisch, er war lange in Paris. Und Englisch natürlich, er lebte eine Weile auch in den USA. Aber ich habe es mit ihm weder auf Französisch noch Englisch versucht, sondern einfach auf Deutsch gesprochen. Wahrscheinlich hat man sowieso übersinnliche Kräfte, wenn man aus dem Totenreich zurückkommen kann ...

»Ich muss jetzt aber auch mal etwas fragen, Franck«. Dalí zeigte auf den zweiten Bilderrahmen, der seitlich von ihm mit der Reproduktion seiner Paysage aux papillons hing. »Warum habt ihr dieses Bild für eure Wohnung ausgesucht? Es ist doch ein völlig anderer Stil als das Gemälde mit Ana Maria. Dazwischen liegen über dreißig Jahre!«

Ich überlegte kurz und entschloss mich dann, ehrlich zu antworten. »Das Mädchen am Fenster gefiel uns deshalb besonders, weil es eben aus Ihren jungen Jahren stammt, so im Stil der alten Meister, sagen wir der flämischen Künstler, gehalten ist. Um aber wenigstens ein bisschen Ihre ganze Bandbreite anzudeuten, haben wir nach einem völlig anders wirkenden Werk von Ihnen gesucht. Auch farblich sollte es einen Kontrast zum anderen Gemälde bilden. Bei dem Mädchen überwiegt das Blau in verschiedenen Variationen, das hier ist farbenfroh. Allerdings haben wir bei der Sichtung der Poster, die in Frage kamen, ich will ehrlich sein, bewusst die ganz bekannten Dalí-Figuren ausgeblendet. Wir wollten uns keine fließenden Uhren, keine Frauen mit Schubladen im Körper, keine brennenden Giraffen oder Elefanten mit dürren Spinnenbeinen ins Wohnzimmer hängen. Dieses Bild aber ist einfach schön! Das machen die klaren Farben, der blaue Himmel mit den weißen Wolken, die angedeutete Landschaft und natürlich die bunten Schmetterlinge. Weil das Gemälde irgendwie zweigeteilt ist, kann man auch hier lange darüber nachdenken, welche Symbolik dahintersteckt. Es gefiel uns damals einfach, da sind wir sicher in Ihren Augen echt spießbürgerlich.«

»Dazu sage ich mal nichts. Es freut mich, dass ihr dieses Bild nicht einfach als belanglos anseht. Gerade zu diesem Gemälde gab es viele Interpretationen, über die ich mich seinerzeit köstlich amüsiert habe. Man schrieb beispielsweise von einer Trennmauer zwischen zwei Welten, vom Wunder der Verwandlung oder einer Fata Morgana in der Hitze. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich, dass ich einmal gesagt habe, dass die Tatsache, dass ich selbst im Augenblick, wo ich male, die Bedeutung meiner Bilder nicht erkenne nicht heißt, dass sie keine Bedeutung hätten. Übrigens habe ich dem Bild gar keinen Titel gegeben, erst als es 1959 ausgestellt wurde, nannte man es Landschaft mit Schmetterlingen, allerdings auf Französisch.«

»Darf ich Ihnen noch sagen, dass ich von Ihren typischen Symbolen vor allem die Uhren liebe, die uns im Zerfließen die Vergänglichkeit zeigen. Als ich vor einigen Jahren bei einem Besuch in Andorra la Vella Ihre Skulptur La noblesse du temps, den Adel der Zeit entdeckte, war ich begeistert.«

»Da habe ich lange dran gearbeitet.« Dalí nickte versonnen, um dann enthusiastisch zu fragen: »Ihr seid doch öfter in Perpignan? Weißt du, was diese Stadt auszeichnet?«

»Ja, das habe ich in einem Reiseführer gelesen. Sie sehen sie als Mittelpunkt der Erde.«

»Nicht die Stadt, den Bahnhof! Und nicht der Erde, sondern des ganzen Universums!«

»Wie kommen Sie denn darauf? Klar, dass der Bahnhof von Perpignan bei Ihren vielen Reisen eine besondere Rolle in Ihrem Leben spielte, aber doch nicht für die ganze Welt!«

»Oh doch! Im September 1963 habe ich es erkannt. Ich begriff die Riemannsche Geometrie des gekrümmten Raums. Alles, was aus dem Unendlichen kommt, macht eine Schleife und endet im Bahnhof von Perpignan. Das ist das Zentrum der Welt!«

Ich verstand nur Bahnhof und wollte ihm etwas erwidern – aber da war er nicht mehr da.

»Weißt du was, Elisabeth, was du verpasst hast? Du wirst es mir nicht glauben! Salvador Dalí war hier und hat mit mir gesprochen.«

»Ja, ja, hast du was getrunken? Oder fängst du in deinem Alter an, Gespenster zu sehen?«

Auf diese Diskussion wollte ich mich nicht einlassen, aber ich nahm mir vor, zu recherchieren und zum Mittelpunkt der Welt mal eine Geschichte zu schreiben.

 

Mai 2022

 

 

Die Schreibaufgabe für Mai 2022 inspirierte mich zu der Geschichte "Mädchen mit Schmetterlingen. Besuch aus dem Jenseits", die bei BookRix am 15. April 2022 veröffentlicht wurde.

Man muss ja nicht ...

Thema: Schreibe eine Geschichte in der Folgendes eine Rolle spielt: Unrat, Jägermeister, Regenbogen

 

Ich sitze hier zwar in dem ganzen Unrat der letzten Jahre, aber je mehr Jägermeister ich trinke, desto mehr Regenbögen sehe ich seltsamerweise. (nur als Beispiel)

 

Lukas musste sich auf die Straße konzentrieren, sie war recht eng und kurvenreich. Zu beiden Seiten stand dichter Wald.

»Wirklich eine schöne Gegend!« Maximilian konnte sich nicht sattsehen. Er war es, der den Vorschlag gemacht hatte, das Kartäuserkloster zu besuchen, nachdem sie im Fremdenverkehrsbüro in Grenoble ein Faltblatt dazu gesehen hatten.

Zum Glück hatten die Freunde ähnliche Interessen. So war Lukas sofort dabei, als er las, dass sich hier im Chartreuse-Gebirge das Mutterkloster des fast tausend Jahre alten Kartäuserordens befindet. Nun standen sie vor den Klostermauern und bestaunten den großen Komplex. »Das wussten wir ja, dass wir das Kloster selbst nicht besichtigen können«, meinte Lukas, »das stand auf dem Werbezettel, den du in Grenoble mitgenommen hast.«

»Ja, im Kloster leben auch heute Mönche des Kartäuser-Ordens und die sind zu Einsamkeit und Stille verpflichtet. Deswegen hat die Öffentlichkeit keinen Zutritt. Aber hier weiter unten im ehemaligen Wohnhaus der Mönche ist das zugehörige Museum, wo man etwas über den Orden und das Klosterleben erfahren kann.« Max hatte das Faltblatt zu Rate gezogen.

Ein paar Schritte weiter wurden die beiden Freunde enttäuscht. Das Museum hatte bereits geschlossen. Sie einigten sich darauf, die Nacht in der Gegend zu verbringen und morgen wiederzukommen. Es wurde sowieso empfohlen, den Museumsbesuch mit einer Visite der historischen Destillerie und des längsten Likörkellers der Welt in Voiron zu verbinden. Dort würde es auch eine Kostprobe des berühmten Kräuterlikörs geben.

Im Campingführer fand Lukas den nur fünfzehn Minuten entfernten Campingplatz Les Berges du Guiers, der wie der Name sagt, am Ufer des hier entspringenden Flüsschens Guier liegt. Nachdem die beiden ihr kleines Zelt aufgebaut und Baguette mit einer köstlichen Hartwurst mit Walnüssen gegessen hatten, entdeckten sie am Rande des Platzes eine kleine Runde junger Leute, die um eine Feuerstelle saßen.

Sie wurden freundlich in die Runde eingeladen. Wie es sich herausstellte, waren es fünf deutsche Urlauber und ein tschechisches Ehepaar. Barne, Heiko und ein großer Blonder, dessen Namen sie sich nicht gemerkt hatten, kamen aus der Gegend von Oldenburg und erzählten, dass sie auf der Heimreise waren, nachdem sie eine Woche in Saint-Raphaël an der Côte d’Azur verbracht hatten. Niklas und Tim, denen man anmerkte, dass sie ein Paar waren, kamen aus Bad Kreuznach und hatten tagsüber das Klostermuseum besucht und anschließend eine Waldwanderung unternommen. Sie kamen alle schnell ins Gespräch, denn die beiden, die sich mit »wir sind verheiratet couple aus Česko« vorgestellt hatten, verstanden auch genug Deutsch, um mitzuhalten. Maximilian fragte das tschechische Paar später: »Wo kommt ihr genau her? Aus Prag, Pilsen oder …?«

»Wir kommen von Mariánské Lázně, Marienbad. Ich heiße Ondrej und das ist meine Frau Adela.«

»Oh, Marienbad! Sehr schön! Da bin ich oft, das letzte Mal vor wenigen Wochen.« Lukas begann zu schwärmen, bis ihn Max bremste. »Die anderen kommen gar nicht mehr zu Wort.«

»Wisst ihr was, Leute?«, rief Niklas in die Runde, die Gesprächspause ausnutzend, »ich hole uns eine Flasche Chartreuse, damit wir hier nicht so trocken herumsitzen.« Er lief zu ihrem nahegelegenen Wohnwagen und kam mit einer grünen Flasche zurück. »Wir haben die heute in der Boutique des Likörkellers in Voiron gekauft, die spendiere ich.« Mit diesen Worten öffnete er sie und reichte sie an Barne, der neben ihm saß. »Nimm einen Schluck und gib sie weiter! Gläser haben wir hier nicht, aber der Alkohol tötet sowieso alles ab.«

Und so machte die Flasche die Runde und danach noch eine Runde und noch eine.

Seid nicht entsetzt, liebe Leute, diese Geschichte trug sich lange vor der Pandemie zu.

Während die Flasche herumging, erzählte Tim: »Das ist ein Chartreuse Verte, der grüne und beliebteste, aber es gibt auch einen gelben, den Chartreuse Jaune, der weicher ist mit weniger Prozenten. Beide werden übrigens aus denselben 130 Kräutern, Rinden, Wurzeln und Gewürzen destilliert, nur in unterschiedlichen Proportionen. Der gelbe Likör ist etwa ein Jahrhundert jünger. Es gibt auch noch andere Sorten. Der grüne wird seit 1764 hergestellt. Generell wird der Kräuterlikör Chartreuse, genauer die Kräutermischung, auch heute noch im hiesigen Kloster von nur zwei Mönchen produziert. Das geheime Rezept kennen seit Jahrhunderten immer nur drei Kartäusermönche. Verrückt!«

»Mir fällt zu Kartäuser gerade der ›Kartäuser-Knickebein-Shake‹ ein, von Lutz Jahoda. Kennst du den auch noch, Max?«

Max nickte: »Ja, der hat wohl auch lange bei uns in Leipzig gelebt. War in Brünn geboren, hatte auch solch einen Akzent, der muss inzwischen uralt sein. Mein Vater hatte eine Schallplatte von ihm, da war auch der Knickebein-Shake drauf.«

»Wir haben die Platte heute noch. Sie muss in den Sechziger-Jahren herausgekommen sein, da war der Chartreuse eine beliebte Zutat in Cocktails.«

Inzwischen war die Flasche mit dem Kräuterlikör leer. Da erhob sich Heiko und sagte: »Jetzt können wir doch nicht so auseinandergehen. Ich sehe mal, was wir noch haben.«

Nach einer Weile kam er wieder und wandte sich zunächst an Barne: »Ich habe nichts Geeignetes mehr gefunden, nur deine Medizin«, und lachte. »Aber da wir sowieso bei Kräuterschnaps sind, können wir mit dem ja weitermachen.« Er hob eine Flasche Jägermeister hoch.

Barne meinte: »Ist okay! Ich habe nach dem Essen oft Magendrücken, da nehme ich gern einen Schluck davon.«

Woraufhin Heiko erwiderte: »Aber du weißt schon, dass das nicht wirklich gegen Magenbeschwerden hilft. Das wurde früher oft geglaubt und deswegen gibt es wohl auch so viele Magenbitter und Kräuterliköre auf der Welt.«

»Mir fällt da sofort Boonekamp ein, den hat der Vater einer früheren Freundin immer als Kommodenlack bezeichnet«, gab Max zum Besten.

»Es gibt international aber wirklich viele, auch bei uns bekannte und gute Kräuterschnäpse. Zum Beispiel Fernet Branca, Kümmerling, Underberg, Bénédictine aus Frankreich oder italienischer Amaro von Ramazzotti.«

»Dies hier ist jedenfalls ein echter deutscher Jägermeister aus Wolfenbüttel. Er besteht immerhin aus 56 Kräutern. Das Rezept, das es seit 1934 gibt, ist natürlich ebenfalls geheim. Lasst ihn euch schmecken. Der hat eine viel geringere Drehzahl als der Chartreuse, nur 35%.«

Die Flasche ging rum und man hörte zufriedenes Grunzen. »Nicht schlecht!«, »Wirklich milder«, »Schmeckt«, konnte man vernehmen.

»Aber warum heißt der Jägermeister?«, fragte dann Tim.

»Ich weiß nur soviel, dass Jägermeister früher eine Berufsbezeichnung war und der Erfinder dieses Kräuterlikörs, ein gewisser Curt Mast, ein leidenschaftlicher Jäger war«, erklärte Barne. »Während der Nazizeit war Göring Reichsjägermeister, weshalb die Leute den Likör gern Göring-Schnaps nannten. Aber das wird uns heute nicht vom Genuss abhalten.«

Tatsächlich ließen sich die jungen Leute den Likör schmecken, wurden immer aufgekratzter und lustiger. Bald war der gute Jägermeister auch ausgetrunken.

Mit der Begründung, dass sie morgen zeitig losfahren wollten, verabschiedeten sich die drei Norddeutschen.

»Bevor ihr geht, will ich noch einen Tipp loswerden, weil wir gerade bei Kräuterschnäpsen sind. Ich war vor vielen Jahren mal in Riga und habe dort den Rigaer Balsam, heute auch als Riga Black Balsam bei uns zu kaufen, kennengelernt. Wenn ihr mal dazukommt, den kann ich euch allen nur wärmstens empfehlen. Er ist eine köstliche lettische Spezialität. Einfach mal merken!« Lukas war wieder kaum zu bremsen.

Nun saßen sie nur noch zu sechst um das Feuer.

»Da ich will auch etwas geben«, meldete sich Ondrej und flüsterte Adela etwas ins Ohr. Sie kam mit einer flachen grünen Flasche zurück, gab sie ihrem Mann und wandte sich an alle mit den Worten: »Ich bin müde, Zeit für Bett. Gute Nacht und na zdraví!«

Ihr Weggehen nutzte Lukas, um sich ebenfalls zu verabschieden. »Nicht böse sein, ich ziehe mich auch zurück. Deinen Becherovka kenne ich natürlich, Ondrej, er schmeckt mir auch, aber jetzt wird mir das zu viel.«

»Schade, aber da ist mehr für uns!«, meinte Ondrej. »Richtig, das ist böhmischer Becherovka. Früher auf deutsch Karlsbader Becher-Bitter. Gibt es schon 1807, Becher ist Name von Erfinder. Rezept top secret. Ist Export… wie sagt man? Exportschlager von Tschechien.«

Die verbleibenden vier Männer ließen sich den süffigen Becherovka schmecken, wobei sich Ondrej als Spender des Likörs stark zurückhielt. Erst als auch diese Flasche nichts mehr hergab, verabschiedete man sich voneinander.

Auf dem Weg zu seinem Zelt, von dem Max in der Dunkelheit der Nacht gar nicht mehr wusste, in welcher Richtung es lag, machten sich die 38% der letzten Flasche doch recht bemerkbar. Er taumelte und fiel auf etwas Weiches. Der Einfachheit halber blieb er liegen und schlief sofort ein.

 

Der Morgen kam mit grollendem Donner und grellen Blitzen. Das Wasser, das sich wie aus Eimern aus dem Himmel ergoss, weckte Maximilian endlich auf. Mit schwerem Kopf schaute er sich um. Er fand sich hinter dem Wirtschaftsgebäude des Campingplatzes und war in einen Haufen voller Küchenabfälle gefallen. Angeekelt streifte er den Unrat von seiner Kleidung, was dank des Starkregens zum Glück leicht ging. Im Zelt empfing ihn sein Freund mit dem Ausruf: »Wo warst du denn? Und wie siehst du denn aus!«

»Red nicht so laut! Mein Kopf …« Max verzog schmerzhaft sein Gesicht.

»Ja, ich verstehe. Leg dich hin und schlaf deinen Rausch erst einmal aus. So ist mit dir eh nichts anzufangen.«

Gegen Mittag hörte der Regen auf und Lukas öffnete das Zelt. Dann stupste er Max an, der im Aufwachen begriffen war: »Da, schau mal raus! Welch herrlicher Regenbogen da über den Baumwipfeln! Lass uns zusammenpacken und dann das Klostermuseum und die Chartreuse-Destillerie besuchen!«

»Meinetwegen«, murmelte Maximilian, »man muss in der Boutique ja nicht unbedingt einen Kräuterlikör kaufen …«

 

Juni 2022

 

Diese Geschichte ist original für die Schreibaufgabe Juni 2022 entstanden. Unter dem Titel "Kräuterliköre" habe ich sie vorab am 6. Mai 2022 in BookRix eingestellt.

 

Streiflichter aus dem Leben Charlys

Thema: Wie Charly zu Tode kam

Nur als Beispiel: Er fuhr Cabrio und sein Angeberschal verfing sich in der sich drehenden Achse des Wagens.

 

                

 

 

 

10. Mai 2003

»Es ist so ein schönes Gefühl, sein Baby an der Brust zu haben!« Birgit seufzt glücklich und schaut zu ihrer Bettnachbarin Sabine hinüber. »Da sind die Strapazen der Geburt wie weggeblasen.«

»Du hast vollkomen recht, auch für mich ist es wieder so ein Glücksgefühl, obwohl ich das ja schon mit meiner Lisa erlebt habe.« Sabine wiegt ihren nach der Anstrengung des Trinkens satt eingeschlafenen kleinen Karl in ihren Armen und drückt sein Köpfchen an die Brust.

»Sag mal, wann hast du deine Lisa gekriegt?«

»Vor reichlich zwei Jahren, im Februar 2001. Wir sind froh, dass es jetzt ein Junge geworden ist. Wobei … wie mein Mann immer sagt, Hauptsache gesund.«

»Darf ich fragen, wie ihr auf den Namen Karl gekommen seid? Der ist doch ziemlich altmodisch.«

»Täusch dich da mal nicht, Birgit! Die alten Namen sind wieder in. Der Großvater meines Mannes hieß Karl. Ihm zu Ehren haben wir den Namen gewählt. Wir waren uns auch einig, dass es ein seltenerer Name sein soll. Nicht dass später gleich drei weitere Jungs in seiner Schulklasse den gleichen Namen haben. Du hast mit Lukas aber auch einen schönen Namen für euer Kind gewählt, finde ich. Habt ihr euch eigentlich einen Jungen gewünscht?«

Birgit überlegt, ehe sie antwortet: »Mein Mann wollte eigentlich ein Mädchen, aber auf Lukas ist er auch ganz stolz.«

 

25. Dezember 2009

Karlchen kniet vor der Couch und wickelt geduldig die Babypuppe, die Lisa gestern geschenkt bekommen hatte.

Aus Karl war ganz schnell Karlchen geworden, sowohl die Eltern und die große Schwester nennen ihn nur so und auch im Kindergarten rufen ihn alle mit dem Kosenamen.

Sabine stößt ihren Mann in die Seite, zeigt auf das in sein Spiel vertiefte Karlchen und meint leise: »Vielleicht hätten wir zwei Babypuppen schenken sollen, eine für Lisa und eine für Karlchen.«

 

15. Mai 2013

»Zehn Jahre ist das nun schon wieder her, dass wir uns in der Klinik kennengelernt haben.« Birgit stellt ihre Kaffeetasse ab und fragt: »Wie macht sich dein Karl in der Schule? Ist er auch so fußballbegeistert wie Lukas?«

»Unseren Karl rufen inzwischen alle Charly. Seine Mitschüler haben damit angefangen, wir machen nun auch mit, da es ihm besser gefällt. Nein, für Fußball interessiert er sich nicht sonderlich. Er macht nun schon das dritte Jahr in der Tanz-AG der Schule mit. Die Musiklehrerin ist ganz glücklich, weil es immer schwer ist, Jungen für die Arbeitsgemeinschaft ›Tanzen‹ zu begeistern. Und jetzt hat Charly gehört, dass man im Stadttheater Kinder für eine Ballettgruppe sucht. Da will er unbedingt hin. Ich habe bloß Angst, dass es zuviel für ihn wird.«

»Das muss nicht sein, wenn er sonst in der Schule mitkommt. Lukas hat neben seinem Fußballtraining mehrmals die Woche auch noch Klavierunterricht und schafft das auch spielend.«

 

28. September 2014

»Lisa! Lisa, wo bist du?« Sabine steckt ihren Kopf durch die Tür ins Zimmer von Lisa. »Ach du bist’s, Charly! Was machst du denn da?«

Charly dreht sich in Lisas buntem Sommerkleid vor dem großen Spiegel, um sich von allen Seiten zu beschauen. Als er die Mutter bemerkt, läuft er rot an und stottert: »Ähh …, ähh, Lisa ist zu ihrer Freundin. Sie ist zum Abendbrot zurück.«

Sabine nickt und fragt: »Willst du zum Fasching als Mädchen gehen? Aber das ist doch erst im Februar. Oder brauchst du für die Ballettgruppe im Theater ein Kleid? Da musst du aber Lisa fragen!«

Charly murmelt etwas Unverständliches vor sich hin und zieht das Kleid wieder aus, während Sabine schon wieder das Zimmer verlassen hat.

 

16. April 2018

Charly steht mit seiner Freundin Laura vor dem Kino. Sie sehen sich die Filmplakate an und können sich nicht entscheiden, in welchen Film sie gehen. Also geben sie ihre Absicht auf und bummeln Hand in Hand in den Park. Dort lassen sie sich in der hintersten Ecke auf ihrer Bank nieder.

Bald darauf sieht ein alter Mann, der sich bei seinem Spaziergang in diese Ecke verirrt hat, mit Schmunzeln das sich heftig küssende Pärchen und beeilt sich, leise vorbei zu laufen, um die Glücklichen nicht zu stören.

»Weißt du was, mein Liebster?«, flüstert Laura und streicht Charly über seine Wange. »Neuerdings kratzt du …«

Charly zuckt vor der Hand seiner Freundin zurück. »Mm … ich hasse das.« Der Junge schaut Laura wie entrückt an und seufzt. »Wäre es dir lieber, wenn ich keinen Bart bekommen würde?«

»Ach, das ist mir egal. Ich liebe dich doch nicht wegen deinem Bart oder was du sonst noch so anderes hast. Ich mag dich, weil du klug bist und sensibel, weil du immer freundlich zu mir und anderen bist, weil du lieb und rücksichtsvoll bist. Eben weil du DU bist.«

 

15. Juli 2018

»Du wirkst so traurig, Laura.«

»Ja, ich muss dir auch etwas Trauriges sagen. Wir können uns in Zukunft vielleicht gar nicht mehr sehen. Wir ziehen nach Hamburg, mein Vater wurde dorthin versetzt. Ich muss dort zur Schule und dort das Abi machen.«

»Und was wird dann aus uns?«. fragt Charly richtiggehend entsetzt. Eine Träne kullert über seine Wange.

Laura streicht sie ihm zärtlich weg. »Sag mal, dein Bart ist ja ganz weich, eigentlich gar nicht mehr da.«

»Gefällt dir das besser? Würdest du mich denn noch mögen, wenn ich … ? Ach, ist ja nun völlig egal, wo du weggehst!«

»Sprich nicht so, Charly! Ich vergesse dich doch nicht und wir bleiben in Verbindung. Selbst Hamburg ist nicht aus der Welt, wir können uns besuchen. Und bald werden wir irgendwo studieren, da ändert sich sowieso alles. Aber wenn wir zusammen gehören, wird sich das in Zukunft auch so ergeben. Sei nicht traurig, bleib optimistisch!«

 

12. Mai 2021

E-Mail an laura2003@free-mail.de:

Liebe Laura, herzlichen Dank für deine Glückwünsche zu meinem Geburtstag. Ich habe mich sehr darüber gefreut, auch weil es schon lange her ist, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.

Ja, jetzt bin ich auch rechtlich erwachsen und voll für mich selbst verantwortlich. Und es wird sich einiges verändern in meinem Leben. Zunächst werde ich im Herbst zu studieren beginnen. Dass ich das Abi gut genug schaffe, davon gehe ich aus. Wahrscheinlich werde ich zum Studium nach Hamburg kommen, da können wir uns endlich auch wieder öfter sehen. Lisa ist ja schon seit 2 Jahren dort, macht Zahnmedizin. Ihr gefällt es sehr gut. Deswegen denke ich, dass es für mich auch das richtige ist.
Mit meiner Behandlung, von der ich dir das letzte Mal erzählt habe, mache ich auch weiter. Sie schlägt gut an und ich fühle mich sehr wohl. Bin gespannt, was du sagst, wenn wir uns endlich mal wieder sehen.

Lass dich fest umarmen und lieb küssen, ich bleibe dein, liebste Grüße von Charly

 

22. September 2021

»Es ist schön, wieder beisammen sein zu können.« Charly strahlt Laura an und ergreift ihre Hand. Sie hatten sich in dem Café verabredet, nachdem beide die ersten Tage und Wochen des für sie neuen Studienalltags hinter sich gebracht hatten.

»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen. Du hast dich wirklich verändert! Aber keineswegs zu deinem Nachteil. Du siehst einfach toll aus!«

Charly sieht man an, dass er sich über dieses Kompliment freut. Er fragt aber trotzdem mit zweifelndem Unterton: »Magst du mich denn so noch?«

»Aber das habe ich doch schon vor ein paar Jahren gesagt. Ich liebe dich doch nicht wegen deiner körperlichen Eigenheiten, sondern weil du klug und einfühlsam bist, weil du ein freundlicher und achtsamer Mensch bist. Eben weil du DU bist.«

»Danke, das bedeutet mir sehr viel. Du sollst wissen, dass ich hier inzwischen auch schon bei einer Psychologin war. Meine vorherige von Zuhause hat sie mir vermittelt. Ich glaube, ich werde gut mir ihr zurechtkommen, sie ist sehr nett. Generell fühle ich mich schon viel besser als früher und noch vor einigen Jahren. Es wird alles gut werden, davon bin ich fest überzeugt.«

»Ich halte zu dir!« Laura drückt seine Hand.

 

19. Juni 2022

Sabine aufgeregt am Telefon: »Hallo Charly, wie geht es dir? Lisa hat mir gesagt, dass du im Krankenhaus bist, mehr hat sie aber nicht gesagt. Was ist denn passiert? Bist du krank? Oder hattest du einen Unfall?«

»Bitte Mama, keine Aufregung, lass mich doch mal zu Wort kommen … Nichts Schlimmes, im Gegenteil!«

»Sag schon, Charly! Ist es denn schon passiert? So schnell! Ich dachte, das dauert noch … Geht’s dir denn gut, Charly?«

»Liebe Mama, mir ging es nie besser. Charly-Karl ist endgültig gestorben! Du hast jetzt eine Tochter, Charlotte ist deine neue Charly.«

 

 Juli 2022

 

Diese Geschichte ist original für die Schreibaufgabe Juli 2022 entstanden. Vorab habe ich sie für Freunde zum Lesen am 20.06.2022 unter dem gleichen Titel bei BookRix eingestellt.

 

Welch Aufwand!

Thema: Sturm im Wasserglas

Wenn etwas nicht ganz so dramatisch ist, wie es zunächst scheint

 

Glücklich traten Marion und Rolf Beier auf die Straße. Gerade waren sie gegen Covid‑19 geimpft worden. Am ersten Tag, der für ihre Altersgruppe in Frankreich möglich war. Rolf hatte sehr schnell reagiert und im Internet den Termin 27. März reserviert, nachdem die Freigabe ihres Jahrgangs mitgeteilt worden war.

Ganz problemlos war der Besuch im Impfzentrum für das deutsche in Frankreich lebende Ehepaar zwar nicht abgelaufen, aber nun hatten sie die Zettel mit den Impfdaten in der Hand. Bei Marion war alles einfach, denn sie besitzt eine Carte vitale von der französischen Krankenversicherung, weil sie in Deutschland gesetzlich versichert ist.

»Und Sie haben keine Carte vitale, keine Krankenversicherungsnummer?«, fragten Schwester und Arzt fast gleichzeitig, als die Reihe an Rolf war. Dass er für die ganze Welt privat krankenversichert ist, nahmen sie zur Kenntnis, half ihnen aber nicht. Der Arzt brauchte eine Nummer für die erste Zeile des Formulars, das für jeden Impfling auszufüllen war. »Eine französische Steuernummer habe ich«, scherzte Rolf und sah sich schon ohne Spritze nach Hause fahren. Wegschicken kam für den Arzt aber nicht in Frage, also trug er in die Zeile eben nichts ein – und es funktionierte. Die Schwester gab dem impfwilligen Sonderling seine Spritze und zählte routinemäßig die Nebenwirkungen auf, die ihn in den nächsten Stunden und Tagen ereilen könnten. Zwischendurch fragte der Arzt noch, auf die Kopie von Rolfs Personalausweis zeigend: »Das ist ein L, kein M?« Er meinte den dritten Buchstaben im Vornamen. Dann ging er zu seinem Schreibtisch zurück und änderte mit Kugelschreiber den Ausdruck und überreichte ihm sein Datenblatt.

Beim nächsten Impftermin vier Wochen später ging alles noch viel schneller als beim ersten Mal. Der Arzt war derselbe, er impfte selbst, die Daten waren alle schon erfasst und mussten nur noch mit dem aktuellen Datum ausgedruckt werden.

Probleme nach der Impfung hatten sie auch diesmal keine, aber Kopfschmerzen machte ihnen angesichts eines näher rückenden Reisetermins nach Deutschland das Gefühl, das die beiden Datenblätter wohl dort nicht recht als Impfzertifikat durchgehen würden. Es waren alle Daten, die digital an die französische Krankenversicherung gemeldet worden waren.

»Wir können das doch nicht einem Grenzbeamten, einem Hotelier oder in einem Geschäft vorweisen, um zu beweisen, dass wir vollständig geimpft sind«, monierte Rolf.

Marion war da sorgloser: »Wahrscheinlich wird uns niemand kontollieren. Außerdem steht dort 2/2 und terminé

»Ja, aber die Leute können doch kein Französisch. Alles andere sieht für sie doch wirr aus. Nicht einmal eine Stadt erkennt man, und irgendeine offizielle Adresse gibt es auch nicht.« Rolf blieb skeptisch.

Auf sein Drängen machte sich das Paar am 3. Mai erneut nach Perpignan auf, um das Impfzentrum zu besuchen. Zum Glück war die 10‑Kilometer‑Grenze der Bewegungseinschränkung aufgehoben worden und einer nächtlichen Ausgangssperre gewichen. Die Damen in der Anmeldung konnten mit dem Anliegen der Deutschen nichts anfangen. Rolf versuchte zu erklären: »Uns fehlt ein Dokument, das man an der Grenze oder bei einer Kontrolle im Ausland zeigen kann. Hier auf diesen Zetteln steht nicht die Stadt Perpignan, die Unterschrift ist nur ein Strich, es gibt nicht einmal einen Stempel des Impfzentrums …«

»Ach … Sie wollen einen Stempel?«, wurde Rolf unterbrochen.

Verblüfft antwortete der: »Na ja, das wäre ja schon etwas …«

Schon hatte eine der jungen Frauen einen Stempel in der Hand und versah alle vier Blätter mit dem Stempel »CENTRE DE VACCINATION FOCH PERPIGNAN«. Nun sahen die Datenmeldeblätter schon amtlicher aus, für den Grenzübertritt müsste das reichen, wenn sie denn kontrolliert würden. Da sie sowieso mit einem Auto mit französischem Kennzeichen fahren, würde man damit sicher auch deutsche Polizisten, etwa auf der grenznahen Autobahn, überzeugen können. Damit beruhigten sich die beiden, auch wenn es immer noch nicht das Wahre war.

Das war nämlich gerade im Begriff zu entstehen. Erstaunt konnte Rolf bei den Mitteilungen des Gesundheitsministeriums nachlesen, dass ab 3. Mai alle Leute direkt nach der Impfung ihr Zertifikat ausgehändigt bekommen. Ab Ende Mai könnten alle, die vorher geimpft wurden, ihr Zertifikat direkt beim Internetportal der Krankenversicherung www.ameli.fr herunterladen. Als Zugang zu ameli.fr dient einfach die KV‑Nummer.

»Damit bin ich raus, ich bin ein nicht bedachter Sonderfall«, erklärte Rolf seiner Frau.

Er loggte sich mit der Versicherungsnummer seiner Frau bei Ameli ein und fragte die Krankenversicherung als Marion Beier, wie denn ihr Mann rechtzeitig vor der Reise ins Ausland zu seiner Impfbescheinigung kommt, da er doch keine KV‑Nummer hat. Alle persönlichen Daten waren angefügt, sodass jeder Angestellte dort die Bescheinigung herunterladen und Marion hätte schicken können. Pustekuchen! Wie in Behörden wohl weltweit üblich, bekam sie eine höfliche, aber nichtssagende Antwort mit der Empfehlung, sich an einen Arzt oder Apotheker zu wenden.

Zwei Tage vor der Abfahrt nach Deutschland fuhr das Paar dann doch noch beim nächsten Arzt vorbei, obwohl es natürlich keine Lust hatte, sich angesichts der Pandemie in ein Wartezimmer zu setzen. Zu ihrer Überraschung wartete beim Docteur aber niemand sonst. Der hilfsbereite Arzt konnte sich dem Anliegen der beiden sofort widmen. Bei Marion mit ihrer Carte vitale war alles klar, nur als er hörte, dass Rolf keine KV‑Nummer besaß, machte er ein bedenkliches Gesicht. Aber er war pfiffig und gelangte zu dessen Datensatz mit der Impfnummer, die er, wie jeder andere auch, bei der ersten Impfung zugeordnet bekommen hatte. Mit den Ausdrucken der Attestation de vaccination COVID‑19 in der Hand verließen die Eheleute Beier dankbar und glücklich die Arztpraxis.

Zu Hause war es ein Leichtes, die enthaltenen QR-Codes in die Mobiltelefone einzulesen. Allerdings fiel nun ein Manko auf dem Display des Handys sehr viel deutlicher auf als zuvor auf den papiernen Ausdrucken. Unter dem QR‑Code von Rolf prangte fett der Name ROMF BEIER. Ja, Romf, nicht Rolf. So hatte es der Impfarzt eingegeben und nur auf dem Papier überschrieben, nicht in der Datenbank. Die Beiers hatten es zwar längst bemerkt und bei der zweiten Impfung den Arzt und die Damen in der Anmeldung darauf angesprochen, aber der eine war nicht willens, die anderen nicht in der Lage, dies zu ändern.

Während des Deutschlandaufenthaltes fragte allerdings niemand nach dem Impfstatus. Immer dort, wo es vorgesehen war, in manchen Geschäften in Sachsen, in den Hotels in Bayern und Baden-Würtemberg, waren die Bestimmungen kurz vor Eintreffen des Paares gerade wieder aufgehoben worden.

Im Oktober war für die Auffrischungsimpfungen eine Möglichkeit direkt in ihrem Wohnort geschaffen worden. Zuversichtlich ging Rolf davon aus, dass der Impfarzt diesmal den Namen korrigieren würde. Leider war er damit überfordert.

»Das ist doch nicht schlimm«, versuchte Marion ihren Mann zu beschwichtigen. »Bei den Kontrollen im Restaurant oder Museum spielte es doch keine Rolle, ob du Romf oder Rolf heißt. Die sehen doch nur auf die Gültigkeit des QR‑Codes.«

»Wenn aber mal jemand auch die Identität überprüft, wie es eigentlich sein sollte, um betrügerische Täuschungen zu unterbinden, kann es auffallen.«

»Das können wir doch erklären, alles andere stimmt doch: Familienname, Geburtstag. Nur ein Buchstabe ist anders.« Marion störte sich nicht daran.

Rolf meinte: »Wenn wir aus irgendeinem Grund ein Flugzeug nehmen müssten, es kann ja immer mal etwas passieren, dann würde ein Grenzschutzbeamter wahrscheinlich die faktische Ungültigkeit des Impfzertifikats bemerken.« Er wollte weiter nach Möglichkeiten suchen, diesen Fehler endlich zu beheben und entschloss sich, die große moderne Apotheke im Ort aufzusuchen, weil alle Heilberufler Zugang zur Anti-Covid-Software haben, wie er bei Ameli gelesen hatte.

Er erläuterte der freundlichen Apothekerin in stockendem Französisch sein Problem und zeigte ihr alle Unterlagen. Als sie die Carte d’identité, das heißt den Personalausweis, verlangte, war klar, dass sie das Anliegen verstanden hatte.

Allerdings wurde die naive Hoffnung, dass sie nun nach hinten an den Computer gehen und den Vornamen ändern würde, enttäuscht.

Sie versprach, eine Lösung zu finden. Es waren die Tage nach Weihnachten, Anfang Januar sollte es wieder nach Deutschland gehen. Mehrmals fuhren die Beiers in die Apotheke, aber es ging nicht vorwärts. Die Apothekerin telefonierte vergeblich mit Gesundheitsbehörden, bat das Paar einige Male, ein andermal wiederzukommen, weil sie inzwischen keine Zeit gefunden hätte, sich der Sache anzunehmen. Das Ansinnen, den längst pensionierten Impfarzt, der den Lapsus begangen hatte, privat zu behelligen, gab sie schnell wieder auf.

Irgendwann verließ Rolf die Geduld. »Wahrscheinlich ist es einfacher, wenn ich meinen Namen ändern lasse. Oder soll ich Präsident Monsieur Macron um Hilfe bitten?« Er hob resignierend die Arme und meinte: »Ich weiß jetzt nicht mehr weiter. Wenn Sie eine Lösung gefunden haben, dann rufen Sie mich bitte an! Merci pour votre engagement! Au revoir!«

Man glaubt es nicht, aber am selben Nachmittag rief die Apothekerin an. »Wir haben eine Lösung. Sie können die korrekten Papiere abholen.«

Sie übergab ihm tatsächlich neue Bescheinigungen der drei Impfungen und das EU-Zertifikat mit dem QR-Code. Er bedankte sich überschwänglich und konnte mit der ebenfalls glücklichen Marion die Apotheke verlassen. Zu Hause stellten die Beiers fest, dass es völlig neu ausgestellte Datensätze waren, mit dem korrekten Namen, den korrekten Impfdaten und -stoffen, aber mit einer neuen Impfnummer für Rolf.

Den ominösen Romf Beier gibt es bei Ameli also immer noch.

 

Ein Riesenaufwand – und wofür? In Deutschland wurde das Impfzertifikat nie kontrolliert. In Frankreich hat der ungewöhnliche Vorname Romf beim Vorzeigen des Zertifikats sowieso keinen gestört.

 

 

                                                                     Juli 2022

 

 

Diese Geschichte ist für die Schreibaufgabe August 2022 entstanden. Sie beschreibt stark gekürzt und zusammenfassend einen Teil der Geschichte "Eine französische Odyssee rund ums Impfen", die ich am 21. Januar 2022 bei BookRix veröffentlicht habe und die nun im Verkauf ist.

 

 

Wind of Change

 Thema: Tapetenwechsel

 

Manchmal kann es ganz hilfreich sein, sich zu verändern.

 

 »Zentrale Leitung des Volksbuchhandels, Telefonzentrale, mit wem darf ich Sie verbinden?«

Franck atmete tief durch. Es war die vertraute Stimme der Mutter. Elisabeth hatte sie in der Telefonzentrale unterbringen können, als ihr aus gesundheitlichen Gründen die Arbeit in der Schule nicht mehr möglich war. Sie arbeitete schon lange in diesem Verwaltungsbetrieb. Beide hatten, auch nachdem Franck und Elisabeth sich getrennt hatten, nie den Kontakt zueinander abreißen lassen. Gerda fühlte sich immer noch wie eine Schwiegermutter für die langjährige Jugendliebe ihres Sohnes. Für deren Töchter war sie sogar zu einer Ersatzoma geworden, denn Elisabeth hatte ihre Eltern zeitig verloren.

»Hallo, sind Sie noch dran? Wen wollen Sie sprechen?«

»Ich bin’s, Mutti. Hast du am Wochenende Zeit für mich? Ich muss mich mit dir unterhalten …«

»Ist was passiert, Franck? Du klingst so aufgeregt …«

»Monika will sich scheiden lassen.«

»Was? – Natürlich kannst du am Wochenende kommen. Am Sonnabend! Für den Sonntag habe ich Elisabeth versprochen, zu ihr zu kommen. Sie steht hier neben mir und hat mir gerade erzählt, dass Helmut sich von ihr scheiden lassen will.«

»Nein …! Das gibt’s doch nicht!« Franck war völlig verwirrt. Tausend verschiedene Gedanken wirbelten in seinem Kopf herum. Aus dem Bauch heraus – er wusste später nicht, wieso es dazu gekommen war – sprach er ins Telefon: »Da komme ich am besten am Sonntag mit dir zu Elisabeth.«

Franck hörte Gemurmel. Wahrscheinlich hatte seine Mutter den Hörer zugehalten und erzählte Elisabeth die Neuigkeit.

»Hallo Franck! Elisabeth ist einverstanden. Am Sonntag fünfzehn Uhr bei ihr! Dann reden wir über alles. Mach’s gut, mein Junge!«

Das gibt es doch nicht, denkt Franck. In dem Moment, in dem ich meiner Mutti von der beabsichtigten Scheidung berichte, steht Elisabeth daneben mit genau demselben Problem. Ihr Mann will die Scheidung. Was für ein Zufall!

 

Sie hat sich kaum verändert. Das war Francks Eindruck, als Elisabeth ihn an der Tür empfing und die Blumen entgegennahm. In den vergangenen über zwanzig Jahren hatten sie sich vielleicht vier, fünf Mal – und das nur per Zufall – gesehen.

»Komm rein, deine Mutter ist schon da.«

Beim Kaffeetrinken verflogen die ersten etwas peinlichen Momente schnell. Elisabeth und dann Franck erzählten kurz, wie es ihnen in den letzten Wochen und Monaten ergangen war. Wie sich die Bilder glichen! Ihre beiden Partner waren fremdgegangen, die Ehen waren am Ende. Niemand am Tisch wollte dieses Thema jetzt vertiefen.

So kamen die drei fast zwangsläufig auf die Ereignisse zu sprechen, die sie alle seit Monaten beschäftigten.

»Seit dem 9. Oktober, als Zehntausende über den Ring liefen, hat sich alles verändert«, meinte Gerda.

»Ja, vor allem, weil eben nicht passiert ist, was alle vorher befürchtet hatten. Als ich an jenem Montag von der Uni zum Bahnhof gelaufen bin, um nach Hause zu fahren, musste ich in der Goethestraße an ihnen vorbei: gepanzerte Fahrzeuge eins hinter dem anderen am Straßenrand und Polizisten mit einer nie zuvor gesehenen Ausrüstung, Helme und riesengroße Schilde. Das hätte ganz schlimm ausgehen können.« Nach einer kleinen Pause, in der er dies alles noch einmal vor sich sah, sagte Franck aufatmend: »Aber dann blieb alles friedlich …«

Elisabeth meinte: »Es war ein bisschen wie ein Wunder. Der Aufruf der Sechs mit Kurt Masur und Bernd-Lutz Lange hat sicherlich viel dazu beigetragen.«

»Die drei Sekretäre der Bezirksleitung, die den Aufruf mit verfasst hatten, waren meiner Meinung nach besonders mutig. Andererseits zeigt es auch, dass sie deutlich gesehen haben, dass es so nicht mehr weiterging.« Franck schaute Bestätigung suchend zu Elisabeth.

»Keine zehn Tage später haben sie Erich dann auch abgesägt«, erinnerte sich Elisabeth. »Gorbatschow hatte es zum 40. Jahrestag deutlich gesagt: ‚Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.‘«

Franck nickte. »Den lieben Genossen waren Perestroika und Glasnost suspekt, sie hatten mit Reformen nichts am Hut«, meinte er in ironischem Tonfall. »1987 hatte Hager auf eine entsprechende Frage in einem Interview davon gesprochen, dass man sich nicht verpflichtet fühlen muss, seine Wohnung neu zu tapezieren, nur weil der Nachbar seine Wohnung neu tapeziert.«

Er kramte weiter in den nicht lange zurückliegenden Erinnerungen. »Als Erich zurücktreten musste, war ich gerade mit Monika im Erzgebirge im Urlaub. Während einer Wanderung fiel uns vor einer Gaststätte eine aufgeregte Menschenmenge auf. Dort haben wir dann im Fernsehen die Antrittsrede von Egon gesehen. Alles wird anders, die Partei wird eine Wende vollziehen in der Politik, im Dialog mit dem Volk. Und was ist daraus geworden? Der ehemalige Kronprinz von Erich musste im Dezember auch gehen. Seit über zwei Monaten kräht kein Hahn mehr nach ihm.«

Gerda warf ein: »Aber es hat sich doch viel gewendet, wenn auch anders, als er das gemeint hatte. Und wohin das alles noch führt, weiß ich auch nicht.«

»Jedenfalls war ich inzwischen mal in Westberlin und auch mal in Hof. Wir könnten sogar nach Paris fahren.«

Elisabeth entgegnete: »Paris wäre ja nicht schlecht, aber mit den hundert D-Mark Begrüßungsgeld kämst du da nicht weit.«

»Das ist eh schon alle. Ein Kofferradio mit Kassettenteil und ein paar andere Kleinigkeiten …«

So verging der Nachmittag im angeregten Gespräch. Nach einem kleinen Abendessen saßen die drei gemütlich um den Couchtisch zusammen, Gerda im Sessel, Elisabeth und Franck nebeneinander auf dem Sofa. Das Radio dudelte leise vor sich hin. Plötzlich stand Elisabeth auf und schaltete es aus. Eben sang David Hasselhoff noch »Looking for Freedom«. »Ich kann das nicht mehr hören. Der bildet sich doch glatt ein, die Mauer persönlich zum Einsturz gebracht zu haben.«

Später verließ Gerda wegen anderer Bedürfnisse kurz das Wohnzimmer. Da sagte Franck zu Elisabeth: »Möchtest du deine Mutti nicht mal nach Hause schicken?« Er sagte wirklich deine Mutti und es kam ihm wohl auch in der Verwirrung durch die Umstände kurzzeitig richtig vor. Das Verhältnis der beiden Frauen war wirklich enger als das seine zur Mutter. Er hatte ja auch lange nicht mehr in Leipzig gewohnt.

Jedenfalls verabschiedete sich Gerda bald darauf von Elisabeth und ihrem Sohn und ließ die beiden allein.

 

Es war zweifellos ein seltsames Gefühl für die zwei, obwohl schon zuvor im Gespräch, aber mehr noch über Blicke die alte Vertrautheit wieder hochgekommen war. Sie wussten es voneinander, jeder hatte sein eigenes Leben gelebt mit allen Höhen und Tiefen, mit anderen Partnern, mit ihren Kindern. Aber nun war es auf einmal, als ob die lange zurückliegende gemeinsame Vergangenheit alles überlagerte. Ganz eng saßen sie beieinander, Franck blickte auf das so sehr vertraute Muttermal auf Elisabeths Wange und ihm wurde warm ums Herz. Elisabeth erkannte in Francks Gesicht die lieben Augen ihres Jugendfreundes. Ihre Lippen fanden sich in einem erst zögerlichen, dann aber heftigen glückselig machenden Kuss.

 

Am darauffolgenden Wochenende machte Franck mit Elisabeth und ihren Töchtern, die vorige Woche bei einer Tante waren, einen gemeinsamen Ausflug zum traditionellen sonntäglichen Vor-Rosenmontags-Umzug in Pegau, der vor allem die Kinder begeisterte.

Als Elisabeth ein paar Tage später Franck erstmals besuchte, und zwar in seiner Wohnung in Leipzig, in die seine Frau Monika – obwohl ursprünglich so geplant – nicht mitgezogen war und die er deshalb seit Dezember allein nutzte, fragte sie ihn, ob er diesen Zettel in ihren Briefkasten geworfen hatte. Der Verdacht war richig, Franck hatte dies ein paar Tage vorher auf dem Weg zur Arbeit gemacht. Der Werbezettel versprach eine Tour nach Paris für unter einhundert Mark. Nun, das wirkte verlockend, war eigentlich für junge Leute gedacht: zwei Übernachtungen im Bus, der Tag dazwischen Bummel durch die Stadt der Liebe. Mit dem Werbeblättchen wollte er an die Interessen anknüpfen, die in ihrer gemeinsamen Schulzeit entstanden waren und ganz besonders durch Begegnungen mit französischen Schülern während mehrerer Sommerferien geprägt worden waren.

 

Zu einer Fahrt nach Paris kam es damals noch nicht. Aber den Sommerurlaub verbrachten Elisabeth und Franck – beide glücklich geschieden – an der Costa Brava. Auf der Busfahrt dahin fuhren sie erstmals nach Frankreich und dabei nicht sehr weit an ihrem heutigen Wohnort im Languedoc vorbei.

Ein reichliches Jahr später holten sie die Sehnsuchtsfahrt nach Paris nach – auf ihrer Hochzeitsreise!

Heute sind Elisabeth und Franck mehr als dreißig Jahre verheiratet und leben seit zehn Jahren glücklich in Frankreich.

 

 

August 2022

 

 

 

Diese Geschichte ist autobiografisch, nichts davon ist erfunden. Nur die Namen der Personen im familiären Umfeld sind geändert. Auch die historischen Ereignisse sind wahrheitsgemäß angeführt.
Selbstverständlich haben wir, das heißt, meine Frau und ich, diese schicksalhfte Fügung der Ereignisse, die zu unserer Wiederbegegnung und zum glücklichen Wiederfinden geführt hat, im Kreis von Freunden und Bekannten schon oft erzählt. Ich wurde – speziell bei einem Autoreninterview – auch schon des Öfteren aufgefordert, diese Geschichte aufzuschreiben, hatte mich aber aus persönlichen Gründen bisher davor gescheut.
Nun war die Themenstellung "Tapetenwechsel" des Schreiblust-Forums für den September 2022 der Anlass, dieses lebensverändernde Ereignis nach nunmehr zweiunddreißigeinhalb Jahren schriftlich festzuhalten.

Vorab habe ich es gegen Ende August in BookRix für einen eingeschränkten Leserkreis unter dem gleichen Titel veröffentlicht-

 

 

 

Selbst dran schuld

Thema: Verlaufen

 

Wo kommt man dann hin?

 

 

 »Lukas, komm mal bitte!«, ruft Mama aus der Küche. Und gleich danach noch einmal, schon ungeduldiger: »Lukas, komm mal! Hilf mal der Mama!«

Was ist denn nun schon wieder? Nie kann ich in Ruhe spielen. Die Autos stehen doch fast alle noch so rum, ich muss sie noch ordentlich in die Schlange einreihen. Ich kann doch nicht alles so stehen und liegen lassen, bloß weil Mama das so plötzlich einfällt.

»Lukas, Lukas! Hörst du denn nicht? Du sollst zu mir kommen, wenn ich rufe!« Mamas Stimme klingt ein bisschen wütend. Da gehe ich mal lieber.

»Was ist?« Ich sehe Mama am Herd stehen und in einem Topf rühren.

»Du kannst mal anfangen, den Tisch zu decken. Das Essen ist bald fertig und du bist doch schon ein großer Junge, der seiner Mama helfen kann. Papa wird auch gleich kommen. Dort auf dem Schrank habe ich schon das Geschirr herausgestellt.«

Na gut, da schaffe ich halt die Teller ins Wohnzimmer. Da fliegt vor der offenen Terrassentür ein großer Schatten vorbei. Ob das der schöne bunte Vogel ist, den wir hier schon oft beobachtet haben? Eichelhäher heißt der, glaube ich. Ich schaue nach links.

Mist, da stolpere ich und falle hin. Die Teller fliegen mir aus der Hand und krachen auf den Boden. Es klirrt schrecklich, ein Haufen Scherben liegt da und dazwischen ein Teller, der heil geblieben ist.

»Was ist da los?«, ruft es aus der Küche. »Was hast du da angestellt?«

Die Mutter kommt zur Stube herein und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. »Oh je! Was bist du nur für ein Trampel. Kannst du nicht einmal ein paar Teller tragen?«

Ich merke, wie mir die Tränen kommen. Ich habe das doch nicht mit Absicht gemacht. Hätte sie mich fertig spielen lassen, wären die Autos aus dem Weg geräumt gewesen. So musste ich ja drüber fallen.

»Das gute Geschirr! Wie soll ich das Madame Duval erklären? Geh mir aus den Augen! Du bist ja zu nichts zu gebrauchen!«

Das ist so etwas von ungerecht! Madame Duval hat mich ja gern, sie wird da nicht schimpfen. Wir sind im Urlaub ja immer hier in diesem französischen Dorf im Gebirge und Madame Duval ist immer lieb zu mir gewesen.

»Das sage ich Papa, wie böse du zu mir bist«, rufe ich meiner Mutter zu und stürme aus dem Haus.

Ich glaube, Papa wollte zu unserem Freund, zu Onkel Sébastien, zu den Schafen gehen. Auch Onkel Sébastien ist immer lieb zu mir, wie auch die Bäckersfrau und die Verkäuferin im Lebensmittelladen. Eigentlich alle im Dorf. Auch wenn ich nur wenig verstehe, was sie sagen, weil sie hier in Bonac natürlich alle französisch sprechen. Aber einkaufen kann ich. Von wegen, ich bin zu nichts nütze. Das sage ich dem Papa. Ich will zu ihm …

Hier diesen Waldweg muss es hineingehen. Ich war mit Papa ja schon mehrmals bei den Schafen. Einmal hat mich Onkel Sébastien allein mitgenommen und ich durfte seine Schafe hüten. Mit seinen Hunden natürlich. Aber ich glaube, da war er mit seinen Schafen an einer anderen Stelle.

Jetzt geht es erst einmal hier entlang. Der Weg steigt etwas an und wird schmaler. Es ist, als wenn die Tannen rechts und links immer näher rücken. Ich muss mich beeilen, um Papa noch bei den Schafen zu erreichen. Nicht, dass er einen anderen Weg nach Hause, ich meine in unsere Urlaubswohnung, zurückgeht. Ich weiß gar nicht, ob es einen anderen Weg gibt. Schneller, schneller. Mist, so eine blöde Wurzel, habe ich gar nicht gesehen und mir nun das Knie aufgeschlagen. Es blutet, aber tut nicht sehr weh. Papa wird sich freuen, wenn ich ihn extra abhole. Der Weg macht so einen seltsamen Knick, links eine Felswand, rechts dichter Tannenwald. War ich schon einmal hier? Ist das nicht der richtige Weg? Nein, das muss er sein! Im Dorf bin ich doch richtig abgebogen und auf dem Waldweg habe ich keine Abzweigung gesehen.

War es keine gute Idee, alleine loszurennen? Aber Mama war doch so ungerecht zu mir. Ich möchte zu Papa …

 

***

 

»Hallo, Liebes, ich bin zurück. Oh, das riecht ja gut. Was gibt es zum Abendessen?«

»Tobias, schön, dass du da bist, das Essen ist gleich fertig. Hast du Lukas mitgebracht?«

»Wieso Lukas mitgebracht? Der Junge war doch hier, ist nicht mit mir gegangen.«

»Lukas wollte zu dir. Ich war wohl etwas ungehalten zu ihm, habe ihn ausgeschimpft. Da ist er weggerannt und wollte zu dir, sich über mich beschweren.«

»Bei mir war er nicht. Ich war bei Sébastien, bei den Schafen. Was hat Lukas denn angestellt?«

»Zwei dieser schönen Teller sind ihm runtergefallen und zu Bruch gegangen.«

»Da hast du geschimpft? So etwas passiert halt. Da kaufen wir halt neue für Madame Duval. Wenn man vermietet, muss man mit solchen kleinen Schäden rechnen.«

»Ja, ich weiß, ich habe vor Schreck zu heftig reagiert, war ungerecht zu unserem Kleinen. Aber wo ist er bloß?«

»Er wird wohl bald zurückkommen, wenn er mich nicht antrifft. Schließlich kennt er sich doch schon hier aus. Außerdem wird es bald dunkel.«

»Das ist es ja, es wird bald dunkel. Nicht, dass er sich verlaufen hat …«

»Weißt du was? Ich gehe nochmal los, zu Sébastien. Unterwegs finde ich ihn bestimmt oder bei Sébastien. Er ist ja wie ein guter Freund für ihn.«

 

***

 

Ich müsste schon lange bei den Schafen sein und bei Papa. Aber der Weg sieht so unheimlich aus und ist so lang, wie er nie war. Dummerweise sehe ich fast gar nichts mehr, es ist schon dunkel geworden. Ist es denn schon Nacht? Oder ist es der Wald, der alles so dunkel macht? Ich setze mich dort mal auf den Baumstamm und ruhe mich aus. Meine Füße tun mir schon ein bisschen weh. Bin ich schon so lange gelaufen?

Da, es knackt ganz unheimlich. Dort in der anderen Richtung noch einmal. Eine schwarze Gestalt schleicht sich von links an. Sie will mich packen. Ich springe auf und renne davon. Aua, mein Fuß! Es ist gegen einen Stein gestoßen, beinahe wäre ich gestürzt. Da hätte mich der schwarze Mann gekriegt.

Dort – eine Lücke zwischen den dicht stehenden Bäumen, da verstecke ich mich.

Was soll ich machen? Mama hat mal erzählt, wie sich Papa hier verlaufen hatte. Er ist dann in einer Höhle in ein Wasserloch gefallen und beinahe ertrunken. Nach zwei Tagen hat ihn Onkel Sébastien gefunden. Seitdem sind sie befreundet. Am besten, ich bleibe einfach hier, nicht dass ich auch in einer Höhle lande. Vielleicht sucht mich Onkel Sébastien auch und findet mich.

Was ist das für ein Geräusch? Vielleicht ein Käuzchen? Oma hat immer erzählt, die kommen, wenn jemand stirbt. Muss ich hier im Dunkeln sterben? Ob Mama und Papa da traurig sind? Mama wäre dann selbst dran schuld! Warum ist sie nur so ungerecht gewesen? Das stimmt doch nicht, dass ich ein unnützer Trampel bin!

Da hinter den Bäumen schnieft etwas. Was mag das sein? Hoffentlich kein Bär. Ich rühre mich nicht. Vielleicht bemerkt er mich nicht. Papa hat erzählt, dass es hier in den Pyrenäen Bären gibt. Und auch Wölfe! – War das nicht Wolfsgeheul? Zum Glück ganz weit weg.

Ich bin so müde, muss mich hinlegen. Hier ist es weich.

 

***

 

»Habt ihr ihn gefunden?« Mit tränenverschmierten Augen stürzt Julia auf ihren Mann zu. Hinter ihm steht Sébastien und sieht traurig aus.

»Leider nein! Es ist zu dunkel geworden. Sébastien hat viele Männer im Dorf alarmiert. Gleich morgen bei Sonnenaufgang setzen wir die Suche fort. Wir finden ihn schon.«

 

***

 

Was ist das für ein Lärm? Wo bin ich? Ach so, ich habe mich im dunklen Wald verlaufen. Aber da kommen Leute. Ob die mich gesucht haben? Ich stehe auf und sehe, dass ich in einer kleinen weichen Kuhle gelegen habe. Dann rufe ich: »Hallo, hallo, hier bin ich!«

Eine Frau kommt angerannt, ich erkenne meine Mama. »Oh, mein Kleiner, mein Schatz, haben wir dich endlich gefunden. Was hast du nur gemacht? Jetzt haben wir dich endlich wieder.« Sie schließt mich mit Tränen in den Augen in die Arme und drückt mich so, dass mir die Luft wegbleibt.

Papa steht dahinter. Er freut sich auch, das sehe ich, und drückt mich an seine Brust. Viele Leute aus dem Dorf umringen mich und lachen glücklich. Nur Sébastien sehe ich nicht.

»Wo ist Onkel Sébastien? Hat er mich nicht mitgesucht?«

»Aber natürlich hat er dich mitgesucht. Gestern Abend bis in die Nacht. Dann mussten wir umkehren. Heute Morgen konnte er nicht mitkommen. Ein Wolf hat seine Schafherde angefallen. Da musste er hin.«

 

***

 

»Lukas! Lukas! Wo willst du hin?« Julia rief aufgeregt ihrem Jungen hinterher, der sich plötzlich umgedreht hatte und wie der Blitz den Weg entlangrannte.

»... zu den Schafen ... Onkel Sébastien ... wieder da bin ...« Man konnte ihn kaum verstehen, wie er das so im Laufen seinen Eltern zurückrief. Da war er schon um die nächste Biegung verschwunden.

Julia schaute Tobias erschrocken an. »Ist das nicht die falsche Richtung?«

 

 

 September 2022

 

Diese Geschichte ist original für die Schreibaufgabe Oktober 2022 entstanden. Vorab habe ich sie für Freunde zum Lesen am 25.09.2022 unter dem gleichen Titel bei BookRix eingestellt.

 

C’est la vie !

Thema: Unvernunft

 

Was war das Unvernünftigste, das du jemals gemacht hast?

 

Dieter erinnert sich noch sehr genau. Es war im Herbst 2018, als er seine alte Heimatstadt Leipzig besuchte, um zu sehen, wie sie sich entwickelt hat. Er hoffte, beim Bummel durch die Stadt, die er vor über 30 Jahren verlassen hatte, den Arbeitsstress der letzten Wochen abbauen zu können.

In Gedanken versunken, lief er die – wie aus der Vergangenheit gewohnt von vielen Fußgängern bevölkerte – Hainstraße entlang, als er heftig mit einem Mann zusammenstieß. Er schaute auf und murmelte: »Verzeihung!«, um gleich danach ein zweifelndes »Herbert …?« auszurufen.

Der Angerempelte sah den Fragenden mit Erstaunen an. »Bist du es wirklich, … Dieter? Wo kommst du denn her?«

»Na, ich wollte mich mal wieder in der alten Heimat umsehen.«

»Das ist aber wirklich eine Überraschung. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Das ist doch eine Ewigkeit her!«

»Ja, bestimmt über 30 Jahre … Lass mich rechnen, es sind schon 33 Jahre … Sag mal, hast du ein bisschen Zeit? Können wir uns hier irgendwo reinsetzen, einen Kaffee oder ein Bier trinken und ausführlicher miteinander schwatzen? Ich lade dich ein …«

»Mmhh … Warum nicht? Zeit habe ich eigentlich, habe heute gerade nichts weiter vor. Lass uns doch in ›Auerbachs Keller‹ gehen.«

 

»Und? Wie ist’s dir ergangen? Wie geht es dir und deiner Marlies?«

»Marlies ist nicht mehr meine Frau, wir sind geschieden.«

»Oh! Das wusste ich nicht. Ihr wart doch immer so ein gutes Paar …«

»Ja, von außen sieht manches anders aus. Aber irgendwie ging es nicht mehr weiter. Ich fühlte mich nicht glücklich, wurde immer unzufriedener. In unseren Ansichten und Vorhaben stimmten wir weitgehend überein, auch in der Kindererziehung gab es höchstens kleine Differenzen. Aber insgesamt fehlte mir etwas. Vor allem wohl etwas mehr Zuwendung und Zärtlichkeit. Besonders deutlich ist mir das geworden, als ich mich ziemlich verführerischen Aufmerksamkeiten einer jungen Frau gegenüber sah.«

»Nun aber mal der Reihe nach. Ihr wart doch immer wie ein Herz und eine Seele, habt sogar bei manchen Projekten im Betrieb auch eng zusammengearbeitet. Ich habe mich mit Marlies auch immer gut verstanden, sie ist doch eine prima Frau und Kollegin gewesen.«

»Das ist sie immer noch! Inzwischen verstehe ich mich mit ihr auch wieder sehr gut. Wir haben auch guten Kontakt. Aber zu einer Ehe gehört doch noch mehr.«

»Du meinst Sex? War es das?«

»Wenn man alles stark vereinfacht, kommt man wohl auf ein solches Ergebnis. Ja! Dabei habe ich die Treue immer für sehr wesentlich gehalten, hätte nie gedacht, dass ich mal fremdgehe. Dann ist es dann aber doch passiert.«

»Wenn du mir das erzählen willst, gern. Aber vorher möchte ich doch noch von dir wissen, wo du heute arbeitest. Was haben die Wendewirren mit dir gemacht?«

Herbert prostete seinem alten Kollegen Dieter freundlich zu, nippte an seinem Pils, holte tief Luft und begann zu erzählen. »Du wirst es nicht glauben, aber ich bin die ganze Zeit bei Kirow geblieben, in der Entwicklung und Konstruktion wie du damals auch. Auch Marlies blieb da, selbst nach der Scheidung. Trotz aller Umgestaltungen, Fusionen, Besitzer- und Namenswechsel, sind wir beim Krananlagenbau geblieben, jetzt speziell bei Eisenbahnkranen. Heute bin ich Abteilungsleiter. Und du, was machst du?«

»Als ich ’85 nach Eberswalde ging, du erinnerst dich sicherlich, bin ich ja unserem Kombinat TAKRAF auch treu geblieben.«

»Wir gehörten ja damals auch zu TAKRAF, klar. Aber was machst du heute?«

»Ich bin ’89 in den Westen, nach ein paar abenteuerlichen Irrläufern und Versuchen bin ich schließlich wieder bei Kirow gelandet, man glaubt es kaum, und zwar bei der Zweigniederlassung in Ulm. Ich bin auch wieder ein stolzer Kirower. Wir sind also wieder Kollegen! Darauf bestelle ich uns noch ein Bier und du erzählst mir weiter von deinem Fremdgehen.«

»Wie das klingt … Aber es stimmt ja. Kurz nach deinem Weggang aus Leipzig kam eine Praktikantin in unsere Abteilung. Bettina hatte einen Fachschulabschluss und arbeitete in einem Ingenieurbüro in Altenburg. In einem Fernstudium wollte sie noch den Diplom-Ingenieur machen. In unserer Abteilung sollte sie vor allem ihr Diplomthema bearbeiten. Und ich bin ihr als Betreuer zugeordnet worden, schließlich war ich damals schon Dr.-Ing.«

»Und die Betreuungsaufgabe hast du wohl zu eng aufgefasst?«, konnte sich Dieter die Bemerkung nicht verkneifen.

Herbert ging darauf nicht direkt ein, sondern setzte seine Geschichte fort. »Die Zusammenarbeit brachte es mit sich, dass ich mit Bettina öfter allein in einem Büro war, häufig bis in die Abendstunden. Sie war ja nur stundenweise bei uns, vor allem, um den Fortgang ihrer Diplomarbeit zu besprechen. Schließlich arbeitete sie noch, machte das Fernstudium nebenbei.«

»Ich ahne, worauf das hinausläuft«, warf Dieter ein.

»Jedenfalls machte mir Bettina nicht nur schöne Augen, sondern echte Avancen. Sie sparte nicht mit Komplimenten und versteckten Anspielungen. Auch recht naher Körperkontakt brachte mich immer öfter in Verlegenheit – und schließlich in Versuchung. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann mir zuletzt eine Frau so offen gezeigt hat, dass sie mich will. Dabei ist sie acht Jahre jünger als ich und recht attraktiv.«

»Hübscher als Marlies?« Diese typisch männliche Frage rutschte Dieter einfach heraus.

»Das würde ich gar nicht sagen«, antwortete Herbert, »aber darauf kommt es gar nicht an, sie ist ein gänzlich anderer Typ.« Er schaute in der Erinnerung versunken in den belebten Gastraum, ohne von der Umgebung etwas mitzubekommen. »Sie machte mich eben einfach an. So blieb der erste Kuss nicht lange aus. Und dann ergab sich auch eine Gelegenheit, die Beziehung weiter zu vertiefen. Marlies war eine Woche lang auf einer Tagung.«

»Da bist du mit Bettina … Nomen est Omen?«

»Ach, Dieter, du bist so albern wie ich dich von früher kenne. Aber mir und uns war es ernst. Danach war nichts mehr wie vorher. Ich habe mir furchtbare Vorwürfe gemacht wegen meiner Untreue, habe es aber nicht fertiggebracht, mit Bettina aufzuhören. Dabei hat mir der Altersunterschied sehr große Kopfzerbrechen bereitet. Obwohl acht Jahre nicht viel klingen, merkte ich doch damals schon, dass dies in manchen Meinungen, Gewohnheiten und Erfahrungen einiges an Differenzen bedeuten kann.«

»Marlies ist dahintergekommen und so kam es zur Scheidung?«, fragte Dieter.

»Ganz so nicht, ich habe Marlies reinen Wein eingeschenkt. Und obwohl sie unsere Ehe retten wollte, habe ich mich dann für Bettina entschieden, so unvernünftig das für Außenstehende aussah und selbst mir manchmal so erschien. Aber so bin ich halt, blieb konsequent. Ich sagte mir, wenn alles in Ordnung gewesen wäre, so wäre es nie zu diesem ›Ehebruch‹ gekommen. Denn ich war nie so ein leichtsinniger Hallodri. Also habe ich Nägel mit Köpfen gemacht, im Frühjahr war ich geschieden und im Sommer war Bettina meine Frau. In der DDR ging das damals so schnell.«

Dieter staunte. »Da bist du jetzt also ein gutsituierter Mann mit einer jungen attraktiven Frau und einem relativ sicheren Arbeitsplatz.«

»So jung ist auch Bettina nicht geblieben. Sie ist jetzt auch schon Mitte Fünfzig. Und außerdem hat unsere Ehe nur fünf Jahre gedauert.«

»Waaaas? Da war deine Entscheidung für Bettina, gegen Marlies, also doch recht unvernünftig …«

»Was heißt unvernünftig? Seit wann spielt im Zustand des Verliebtseins die Vernunft eine große Rolle? Vernunftehen gab es früher, und für mich hört sich dieser Begriff auch nicht gut an.«

»Da bist du nun ein einsamer, verbitterter, von den Frauen enttäuschter Mann? Aber so wirkst du gar nicht auf mich.«

»Bin ich auch nicht! Ich bin glücklich, habe endlich die Liebe meines Lebens gefunden und mit ihr schon Silberhochzeit gefeiert.«

»Na, das ist ja ein unerwarteter Wendepunkt. Da ist mein Leben gegen deines echt langweilig.«

»Nicht doch! Lass uns auf die Liebe und die Frauen anstoßen!«

Die beiden Männer prosteten sich zu, tranken aus und bestellten noch ein Bier.

»Die ersten drei Jahre waren wir ein glückliches Paar, haben viel gemeinsam unternommen, auch tolle Reisen gemacht. Nach dem Sommerurlaub in Ungarn war Bettina schwanger. Wir beide haben das Leben mit unserer kleinen Tochter genossen. Bettina entpuppte sich als eine gute Mutter. Sie wünschte sich schnell ein zweites Kind, das auch ein reichliches Jahr nach der Geburt des ersten Babys die Welt erblickte.«

»Und dann kam der komplizierte Alltag in der größer gewordenen Familie und mit ihm das Liebes-Aus?« Dieter schien sich da auch auszukennen.

»Nein, nicht ganz so. Wir waren glücklich und stolz auf unsere kleinen Mädchen. Die Alltagsaufgaben teilten wir uns, so gut es ging. Wir waren ja beide berufstätig und die Gleichberechtigung haben wir gelebt – wie früher auch mit Marlies. Aber so nach und nach kamen die Unterschiede zur Geltung, denen wir anfangs nicht so große Bedeutung beigemessen hatten. Bettina war eifersüchtig auf meine Vergangenheit, auf von mir gemachte Erfahrungen. Es gab Meinungsverschiedenheiten in weltanschaulichen Fragen und zum Beispiel im Umgang mit Geld. Sie war in vielen Dingen lockerer als ich, empfand mich da oft als zu …, wie soll ich es sagen, zu spießig. Jedenfalls fing sie eine Affäre mit ihrem Abteilungsleiter an, sie hatte inzwischen mit der Qualifikation als Diplomingenieur die Arbeitsstelle gewechselt. Da war zu allem Unglück auch noch die angespannte Situation im Land in der Umbruchszeit. Unsere Ehe war am Ende.«

»Hast du deine unvernünftige Entscheidung bereut?« Dieter schien die Antwort klar.

»Zunächst war ich natürlich am Boden zerstört nach zwei gescheiterten Ehen in so kurzer Zeit. Aber heute denke ich anders über mein Leben. Was wäre denn, wenn ich nicht so ›unvernünftig‹ gewesen wäre? Meine beiden Töchter haben sich prächtig entwickelt, haben beide einen soliden Beruf und haben mir inzwischen liebe Enkel beschert. Niemand möchte sie missen, am allerwenigsten ihre Mutter und ich. Es hat alles seinen Sinn.«

 

Seit diesem Gespräch sieht Dieter vieles im Leben nicht nur von einer Seite. »C’est la vie !«, sagt er, wenn etwas widersprüchlich erscheint.

 

 

 

Dezember 2022

 

Diese Geschichte ist original für die Schreibaufgabe Dezember 2022 entstanden. Vorab habe ich sie für Freunde zum Lesen am 22.11.2022 unter dem gleichen Titel bei BookRix eingestellt.

Krass

 Thema: Unerwartete Antwort
Geschichte zu dieser Presseüberschrift: „Postbote fragt Kinder, wo Mama ist: Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet“

 

 

Katrin starrte aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen. Sie musste die Nachricht erst verarbeiten, die sie am Morgen erfahren hatte. Markus wollte seinen Aufenthalt verlängern. Angeblich musste er, hatte er ihr bei ihrem Videotelefonat fast entschuldigend erklärt. Gerade jetzt, wo sie sich so auf seine Rückkehr gefreut hatte. Es war aber wirklich nicht leicht, mit den beiden Jungen allein zu sein. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihren Vater vermissten und auch deshalb in letzter Zeit zu ihr immer frecher wurden. Gar nicht mehr die lieben Kleinen, die so gern mit ihr schmusten.

Sie riss sich aus ihren düsteren Gedanken und widmete sich wieder ihrem Teller. Ihr fiel auf, dass Florian nur noch in seinem Essen herumstocherte. »Was ist mit dir, Flori? Schmeckt es dir nicht?«

Florian war nun schon die zweite Woche zu Hause. Er hatte vorige Woche plötzlich hohes Fieber bekommen, sodass die Ärztin ihn für vierzehn Tage krankgeschrieben hatte. Jetzt fühlte er sich aber schon lange wieder gesund, musste aber noch zu Hause bleiben. Zum Glück war schon Freitag, nach dem Wochenende konnte er wieder in seine geliebte Kita gehen.

Während er weiter mit seiner Gabel auf dem Teller hin- und herfuhr, antwortete er missgelaunt seiner Mutter: »Nee, das schmeckt überhaupt nicht! Das ist voll eklig!«

Erstaunt und ärgerlich fragte sie: »Was? Du hast das doch immer gern gegessen. Erst letzte Woche hast du extra noch mehr verlangt.«

»Du lügst ... ich esse gar kein Brokkoli! Immer dieses eklige Zeug!«

»Aber Florian! Ich habe das heute mit besonders viel Liebe für dich gekocht, weil du das sonst immer so gern gegessen hast. Außerdem ist es sehr gesund, voller Vitamine!«

»Bäääh! Das schmeckt aber überhaupt nicht, du kannst gar nicht richtig kochen!« Wütend schaute er seine Mutter an.

Da war es dann passiert.

*

Nachdem Simon am späten Nachmittag aus der Schule gekommen war, er besuchte eine Ganztagsschule, schlich sich Florian in das Zimmer seines großen Bruders. Der schloss ihn in seine Arme und fragte: »Du siehst so traurig aus, was ist denn?«

Da brach es aus dem Sechsjährigen heraus. Schluchzend stammelte er: »Mama hat mich gehauen ...«

»Was? Warum denn? Das macht sie doch nie. Wie hat sie dich gehauen?«

»Hier auf den Kopf, mit den Fingern.«

»Zeig mal, tut es weh?«

»Nein. Es hat auch nicht richtig weh getan, aber ich musste ganz sehr weinen.«

»Und warum hat sie das getan? Was hattest du gemacht?«

»Gar nichts! Mir hat bloß das Essen nicht geschmeckt.«

Der zehnjährige Simon zog die Stirn kraus und überlegte. Dann beriet er sich flüsternd mit seinem kleinen Bruder, den er so sehr liebte.

*

Der Postbote las das Schild an der Gartenpforte: »M. u. K. Krass«. Das war es. Er war noch neu hier, war erst kürzlich hergezogen und hatte zum ersten Mal die Samstagsroute übernommen. Als er keine Klingel an der Pforte fand, öffnete er sie und ging zur Haustür, an der er klingelte.

Ein kleiner Junge öffnete ihm und schaute ihn neugierig an.

»Ich habe hier Post für deine Mutter, kannst du sie mal holen?«

Florian rief in den Korridor hinter sich: »Simon! Komm mal!«

Der Postbote stand nun zwei Jungen gegenüber und fragte: »Könnt ihr eure Mutter rufen?«

»Nein!«, antwortete der große Junge.

»Ist dann vielleicht euer Vater da?«

»Nein, der ist in Burundi.«

»In Burundi, das ist doch in Afrika. Aber so seht ihr gar nicht aus, als ob euer Vater aus Afrika kommt.«

Da lachten die beiden und konnten sich gar nicht richtig beruhigen.

Der Kleine fing sich zuerst und sagte: »Quatsch, der arbeitet bloß dort. Er hilft der Welt hungern ...«

Simon unterbrach seinen Bruder: »Du erzählst einen Unsinn! Papa arbeitet bei der Welthungerhilfe und kümmert sich um die Schulspeisung in Vumbi. Das ist im Norden von Burundi. Wenn es in der Schule Essen gibt, schicken die armen Leute ihre Kinder dorthin. Und dann können sie lernen wie wir.«

»Manchmal ist er aber auch in Gitega«, ergänzt der Kleine naseweis, »das ist die Hauptstadt.«

»Das ist ja interessant!«, meinte der Postbote. Er schaut auf den großen Umschlag, den er in der Hand hält. »Deswegen kommt dieser Brief für eure Mutter aus Burundi. Da ist eine sehr schöne Briefmarke drauf.« Er fragt nun noch einmal: »Wo ist denn eure Mutter?«

»Die ist im Keller«, antwortet der Kleinere der beiden Jungen, worauf ihn der Große mit dem Ellenbogen anstieß.

»Na, da könnt ihr sie doch rufen«, sagt der Postmann.

»Nein!« Es klang trotzig, wie Simon das Wort ausstieß.

»Warum nicht?«, wunderte sich der Briefträger.

»Sie muss drinbleiben, wir haben sie eingesperrt«, erklärte der Große und der Kleine nickte heftig dazu.

»Ihr habt eure Mutter eingesperrt? Aber wie kommt ihr denn dazu?« Der Mann war entsetzt und wirkte empört.

»Zur Strafe!«, sagte Simon, schon etwas unsicher. »Sie hat Flori geschlagen.«

»Wie geschlagen?« Der Postbote fühlte sich unwohl angesichts einer zu erahnenden Gewaltorgie.

»Na ja, so mit den Fingern auf den Kopf«, antwortete Simon und zeigte es an seinem Bruder.

»Aua! Bist du blöd! Doch nicht so derb!«

»Du hast von deiner Mutter eine Kopfnuss bekommen und dafür habt ihr sie eingesperrt?«

»Ja«, entrüstete sich der große Junge, »man darf Kinder nicht schlagen.«

Der Postangestellte verstand langsam, was hier vorgefallen war. »Aber deswegen könnt ihr doch eure Mutter nicht einsperren! Was wäre denn, wenn etwas passiert, ein Feuer ausbricht zum Beispiel? Wie lange ist denn eure Mutter schon eingesperrt?«

»Seit nach dem Frühstück, da wollte sie Kartoffeln holen und da haben wir zugeschlossen.«

»Für eine Kopfnuss ist das lange genug, denke ich. Zeigt mir mal euren Keller.«

*

 Die Kellertür wurde aufgeschlossen, die Mutter stürmte wütend heraus. »Was fällt euch denn ein! Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?«

Simon schaute zu Boden und druckste etwas herum. »Na, das war, weil du Flori gehauen hast.«

Die Mutter schaute verblüfft aus. »Ach, meinst du den Klaps, den ich ihm gestern gegeben habe, weil er beim Essen so frech zu mir war?«

»Ja, Flori war ganz traurig und hat es mir erzählt. Man darf Kinder nicht schlagen.«

»Das war ja kein Schlagen! Gut, ich hätte das vielleicht nicht machen sollen.« Sie wandte sich ihrem kleinen Sohn zu: »Du warst aber wirklich ziemlich unverschämt zu mir, das hat mich wütend gemacht. Bist du mir noch böse?«

Florian schüttelte den Kopf.

»Na, dann ist ja alles wieder gut«, war Katrin erleichtert. Jetzt erst bemerkte sie den Postboten, der sich im Hintergrund gehalten hatte. »Oh, entschuldigen Sie bitte! Vielen Dank, dass Sie mich gerettet haben. So etwas haben meine Kinder noch nie gemacht. Ich weiß gar nicht, was gewesen wäre, wenn Sie heute nicht gekommen wären.«

»Wie seid ihr denn überhaupt auf diese schlimme Idee gekommen, Simon und Florian?«, fragte sie streng ihre Söhne.

»Onkel Tim hat das gesagt auf der letzten Geburtstagsfeier, als ihr euch über Kinder unterhalten habt: Eltern können sogar eingesperrt werden, wenn sie Kinder schlagen.«

Da blieb Katrin erst einmal die Sprache weg, ehe sie verstand. Dann erklärte sie den Kindern, wie das gemeint war.

Sie empfand Stolz auf ihren großen Sohn wegen seines Gerechtigkeitsempfindens und seiner Beschützerrolle gegenüber dem kleinen Bruder. Die Jungen hatten ein Einsehen und versprachen, so etwas nie wieder zu machen.

Der Postbote schaute glücklich zu, wie sich die Familie wieder versöhnte und konnte nun endlich den großen Brief aus Burundi übergeben.

*

Zurück in der Postfiliale gab er die Geschichte allen zum Besten. Und so konnte man am Montag im Ortsblatt die Schlagzeile lesen: »Krass: Postbote fragt Kinder, wo Mama ist. Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet«.

 

 

Januar 2023

 

Diese Geschichte ist original für die Schreibaufgabe Januar 2023 entstanden. Vorab habe ich sie für Freunde zum Lesen am 1.1.2023 unter dem gleichen Titel bei BookRix eingestellt.

 

 

 

 

Nathalies Tochter

 Thema: Ein Song
Lasse Dich von einem Song zu einer Geschichte inspirieren

 

 

  •  Nowgorod im Oktober 1983

 

Nach der Vorlesung über den Code civil Napoléons als Gundlage des bürgerlichen Rechts im europäischen Westen schlenderten Pjotr und Tatjana in der noch erstaunlich warmen Herbstsonne die Leningradskaja Ulitza entlang. Pjotr schaute seine Kommilitonin verliebt von der Seite an. Ihm gefielen besonders die leuchtenden blauen Augen und das blonde lange Haar von Tatjana. »Kommst du noch auf einen Kaffee mit in die Stolowaja ›Dva Perza‹? Die haben übrigens auch leckeres Gebäck, ich bin da schon manchmal nach der Uni dort gewesen.«

»Einverstanden! Ich kenne sie zwar noch nicht, aber wenn du das sagst. Mir ist aber ein Tee lieber.«

Keine fünf Minuten später saßen sie sich in dem ungewöhnlich sauberen Selbstbedienungs-Imbiss gegenüber.

Tatjana entgingen die bewundernden Blicke ihres Mitstudenten natürlich nicht. »Was schaust du mich so an? Willst du mit mir anbandeln?«

»Sehr gern! Ich mag dich und bin gern mit dir zusammen.« Pjotr zwinkerte ihr zu und sagte: »Ich könnte dich stundenlang anschauen, du bist wunderschön.«

Tatjana errötete leicht. »Was würdest du sagen, wenn du erfährst, dass ich vielleicht gar keine echte Russin bin?«

»Das würde nichts ändern. Aber wie kommst du denn darauf?«

»Es könnte sein, dass ich eine Halbfranzösin bin ...«

»Wie meinst du das: Es könnte sein?«

»Pjotr, kennst du vielleicht das französische Chanson ›Nathalie‹ von Gilbert Bécaud?«

»Ja, meine Eltern hatten eine Schallplatte mit diesem Lied. Ich habe in der Schule ja auch Französisch gelernt und habe das Lied besonders gemocht. Aber was hat das mit dir zu tun?«

»Meine Mutter heißt Natalja. Sie hat Romanistik studiert und während des Studiums als Fremdenführerin gearbeitet. Immer wenn sie das Chanson hört – und sie hört es oft – nehmen ihre Augen einen feuchten Glanz an. Manchmal wird sie auch schwermütig, ein andermal aber lebt sie besonders auf.«

»Ja, und? Ihr lebt doch in Leningrad, dachte ich. In dem Chanson geht es doch um Moskau.«

»Ja, meine Mutter hat in Moskau studiert und dort auch als Touristenführerin gearbeitet. Kurz, nachdem ich geboren wurde, ist sie mit mir nach Leningrad gezogen und ist dort Französischlehrerin. Sie bezieht das Lied offensichtlich auf sich, auch wenn sie nie deutlicher wurde. Ein Franzose, den sie im Januar 1964 begleitet hat, nannte sie Nathalie.«

»Du meinst, nach dem Besuch des Roten Platzes und des Lenin-Mausoleums war sie mit ihm auch im Café ›Puschkin‹ und dann im Studentenheim, wie Bécaud das singt?«

»Davon hat sie oft erzählt. Sie haben mit den anderen Studenten viel diskutiert und Schampanskoje getrunken, über Gott und die Welt gesprochen, das heißt über die Oktoberrevolution und unser Land, über Frankreich und Paris.«

Pjotr bekam große Augen. »Da wäre ich gern dabei gewesen. Im Lied geht es dann doch aber weiter mit Et quand la chambre fut vide ... je suis resté seul avec mon guide Nathalie: ›Und als das Zimmer leer war‹, die anderen waren gegangen, ›ich blieb allein mit meinem Guide Nathalie‹. Meinst du, deswegen? Wann bist du geboren?«

»Ich bin im Oktober 1964 geboren, meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Aber ob sie, wie Nathalie im Lied, mit dem Franzosen allein im Zimmer war, hat sie auch nie erzählt. Mütter erzählen nicht alles ihren Kindern.«

»Weißt du denn, wie der Franzose hieß, den sie da als Führerin betreut hat und von dem sie so schwärmt?«

»Gilbert.«

Pjotr blieb der Mund offen stehen. Er sagte nichts.

»Weißt du, Pjotr, wenn ich mit meinen Freunden an der Newa spazieren ging, hatte ich oft das Gefühl, das könnte auch die Seine sein. Und wenn wir den Newski-Prospekt entlang schlenderten und uns die Auslagen in den Geschäften ansahen, meinte ich manchmal, auf den Champs Élysées zu sein. Es war so ein seltsames Gefühl, wie von einer äußeren Kraft in mich hineinprojiziert. Ich konnte nichts dagegen tun.«

»Aber Tatjana, du studierst mit Jura doch etwas Handfestes. Da weißt du doch, dass es solche übernatürlichen Kräfte gar nicht gibt.«

»Weiß man’s? Vielleicht bin ich doch Halbfranzösin! Das erklärt es dann irgendwie ...«

»So ein Quatsch! Für mich bist du das schönste Mädchen der Welt, egal ob Russin oder Französin oder Was-weiß-ich oder alles nur halb!«

»Das freut mich, lieber Pjotr. Ich habe das so noch niemandem erzählt. Zu dir habe ich Vertrauen. Ich frage mich, ob ich Monsieur Bécaud nicht einmal einen Brief schreiben sollte.«

Pjotr fasste sich überlegend ans Kinn. »Was willst du ihm denn schreiben?«

»Ein bisschen Französisch kann ich auch noch von der Schule her. Mama würde ich da nicht einbeziehen wollen. Ich könnte ihm schreiben, dass ich aus dem kalten Leningrad komme und mich nach Frankreich sehne. Dass ich jetzt 19 Jahre alt bin und in Nowgorod Jura studiere.

Erinnern Sie sich, vor zwanzig Jahren waren Sie in Moskau, la place Rouge était vide, der Rote Platz war leer, vor Ihnen lief Ihre Führerin Nathalie. Später waren Sie mit ihr im Café ›Puschkin‹. Pouchkine elle en parle tout le temps. C'était son bon temps. Meine Mutter redet immerzu von ›Puschkin‹. Das war ihre schöne Zeit.«

»Hmm, das willst du Monsieur ›100000 Volt‹ schreiben? Du weißt doch gar nicht, ob er dein Vater ist.«

»Aber ich bin Nathalies Tochter! Ich könnte ihm ein Foto von mir schicken und ihn fragen, ob ich Mama ähnlich sehe. Und ich könnte ihm schreiben, dass ich gern Paris besuchen würde, voir les magasins et les rues la nuit, die Geschäfte und die Straßen bei Nacht sehen, aber dass es kompliziert ist, einen Reisepass zu bekommen. Meine Freunde und ich würden uns auch freuen, wenn er nach Leningrad kommt, am besten während der Weißen Nächte. Alle lieben ihn und seine Erfolge und vor allem ›Nathalie‹. Ich könnte ihn bitten, uns Ansichtskarten zu schicken, vom Eiffelturm, vom Schloss Versailles.«

Pjotr langte über den Tisch und streichelte zärtlich den Arm Tatjanas.

 

***

 

Ich weiß nicht, ob Tatjana jemals diesen Brief geschrieben hat. Aber 1983 hat Gilbert Bécaud von Nathalies Tochter gesungen. Der Text dieses Chansons handelt von einem solchen Brief.

Vielleicht ist Tatjana in den Neunzigern nach Paris gereist, da war es dann leichter und für die studierte Juristin auch finanziell kein Problem mehr. Möglich, dass Gilbert und Nathalies Tochter sich dann kennengelernt haben.

 

 

Fußnoten:

Nowgorod, von dem Gilbert Bécaud (1927 - 2001) in ›La fille de Nathalie‹ singt als dem Ort, an dem das Mädchen studiert, heißt heute Weliki Nowgorod.

Die Stadt Nishnij Nowgorod, an die mancher bei der Nennung des Stadtnamens denken mag, hieß seinerzeit Gorki.

 

Das Chanson ›Nathalie‹ von Gilbert Bécaud mit dem Text von Pierre Delanoë kam 1964 heraus und wurde international einer seiner größten Erfolge. Das kennen vielleicht auch noch Jüngere.
https://www.youtube.com/watch?v=TilQ8BIHisw
1983, also 19 Jahre später, brachten Gilbert Bécaud und Pierre Delanoë mit ›La fille de Nathalie‹ eine Art musikalischer Fortsetzung heraus.

https://www.youtube.com/watch?v=GVPDy8yt-qI

 

In meinem Text kursiv gesetzt sind wörtliche Passagen aus den Chansons ›Nathalie‹ und ›La fille de Nathalie‹.

 

Die Originaltexte mit brauchbaren deutschen Übersetzungen findet man hier:
https://lyricstranslate.com/de/nathalie-nathalie.html-16

https://lyricstranslate.com/de/la-fille-de-nathalie-nathalies-tochter.html


Februar 2023

 

 

 Diese Geschichte ist original für die Schreibaufgabe Februar 2023 entstanden. Vorab habe ich sie für Freunde zum Lesen schon am 4.1.2023 unter dem gleichen Titel bei BookRix eingestellt.

 

 

Le couple diabolique

Thema: Schreibe eine Geschichte über ein ungewöhnliches Hobby 

 

 

Da lagen nun Elisabeths und meine Kugel zwischen den vielleicht dreißig anderen. Walter hatte uns einen Tag zuvor diesen Tipp gegeben. »Kommt einfach 15 Uhr auf den Platz und werft eure Kugeln zu den anderen. Dann seid ihr dabei.«

Die Franzosen ringsum nickten uns freundlich zu. Walter hatte uns schon angekündigt. Wir hatten den Belgier kürzlich kennengelernt, als er vor seinem Wohnwagen saß. Auf eine sympathische Art hatte er uns ausgefragt und so waren wir ins Gespräch gekommen. Mit ihm war das einfach, denn neben Flämisch sprach er auch Deutsch und Französisch.

Einer der Männer griff sich nun völlig zufällig Kugeln aus der Ansammlung am Boden und legte sie drei und drei oder am Ende zwei und zwei zur Seite. So standen die Spielpaarungen fest.

Am Ende des Nachmittags stand fest, dass wir uns nicht blamiert hatten, im Gegenteil. Sowohl Elisabeth als auch ich hatten unseren Spielpartnern und -gegnern bewiesen, dass wir mithalten konnten.

Das war nicht weiter verwunderlich, hatten wir doch schon ein Jahr Übung hinter uns. Angefangen hatte es mit einer Ankündigung in der Leipziger Volkszeitung. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in Leipzig lud Interessierte zu ihrem Sommerfest ein. Es gab Musik, ein Buffet, Wein und interessante Informationsrunden. Etwas abseits spielten ein paar Leute Boule. Das hatten wir im Frankreichurlaub schon des Öfteren beobachtet. Wir kamen mit Mireille, der Präsidentin der DFGL, ins Gespräch, einer Französin, die schon lange in Leipzig lebte und an der Universität unterrichtete. Sie überredete uns, mit ihr und ein paar anderen Mitgliedern Boule zu spielen, Kugeln waren vorhanden.

Die Grundregeln waren schnell erklärt und erste Spieltechniken gezeigt und eingeübt. Wir fanden Gefallen daran und erfuhren, dass sich ein paar Spielbegeisterte jeden Samstagnachmittag auf dem Platz trafen. So kamen wir zum Pétanque, wie dieses Spiel als Sportart korrekt heißt und oft als französischer Nationalsport bezeichnet wird.

Es wird im Allgemeinen zwei gegen zwei, als Doubletten, oder drei gegen drei, als sogenannte Tripletten, gespielt. Jede Partei hat sechs Kugeln, bei Doubletten jeder Spieler also drei, bei Tripletten jeder nur zwei Kugeln. Die beginnende Partei wird ausgelost und wirft eine kleine Holzkugel, das Cochonet oder Schweinchen, vom Abwurfkreis aus in sechs bis zehn Meter Entfernung. Dann versucht der erste Spieler eine seiner Kugeln so nahe wie möglich ans Schweinchen zu bringen. Die Gegenpartei wirft danach solange ihre Kugeln bis eine näher als der Gegner ist. Dann ist wieder die andere Partei dran, solange, bis alle Kugeln geworfen sind. Dabei dürfen die gegnerischen oder eigenen Kugeln auch angestoßen und wegbewegt werden, ebenso das Cochonet. Zum Schluss der sogenannten Aufnahme wird gezählt. Die Mannschaft, deren Kugel am nächsten zum Schweinchen platziert ist, bekommt so viele Punkte, wie sie Kugeln näher zum Ziel als die beste des Gegners hat. Es gibt also einen bis maximal sechs Punkte bei einer Aufnahme. Dann beginnt der Gewinner der Aufnahme und es geht von vorn los. Eine Spielpartie ist beendet, wenn eine Partei 13 Punkte erreicht hat.

Fast jeden Samstag und manchmal auch sonntags waren wir nun auf dem Platz und erfreuten uns an diesem Spiel, das eine eigenartige Faszination auszuüben vermag, wenn man sich intensiver damit beschäftigt. Wir wurden mit der Zeit auch immer besser, schließlich macht auch hier Übung den Meister. Vor allem im Legen vervollkommneten Elisabeth und ich unsere Fähigkeiten stetig, während andere sich als Schießer hervortaten. Generell gibt es im Pétanque nämlich zwei grundverschiedene Techniken. Der Leger versucht, die Kugel durch Rollen, auch nach einem halbhohen oder höheren Abwurf, nah an die gewünschte Position zu bringen. Das muss nicht immer direkt am Schweinchen sein. Eine gut davor gelegte Kugel macht es dem Gegner schwer, selbst wenn sie noch weit vom Cochonet entfernt liegt. Ein Schießer nun knallt mit seiner Kugel eine oder mehrere des Gegners durch einen kraftvollen Wurf weg. Große Kunst ist es, und das beherrschen die Spitzensportler, die es wie in jedem Sport auch hier gibt, wenn die eigene Kugel von oben auf die gegnerische trifft, diese weghaut und die eigene deren Stelle einnimmt.

Auf jeden Fall gab es für uns viel zu üben und manches intensiv genutzte Wochenende brachte auch einen ordentlichen Muskelkater. Entweder in den Armen vom Schießen, die Wettkampfkugeln sind immerhin zwischen 650 und 800 Gramm schwer, oder auch in den Oberschenkeln. Denn vor dem Abwurf ist es zweckmäßig, sich den Boden sehr genau anzusehen, größere und kleinere Steinchen, Grasbüschel, weiche Stellen, Vertiefungen und Erhöhungen zu registrieren, um alles beim Legen berücksichtigen zu können. So macht man an einem Übungsnachmittag schon einige Dutzende Kniebeuge. Und das, obwohl Pétanque in der Provence 1910 eigentlich als Behindertensport erfunden wurde. Ein guter Spieler des damals sehr beliebten Kugelspiels Jeu Provençal konnte die dabei geforderten Anlaufschritte auf Grund von Rheuma nicht mehr machen. Also beschlossen seine Freunde, dass alle darauf verzichten und aus einem Kreis heraus mit geschlossenen Füßen, provenzalisch ped tanco, spielen.

An den Boulenachmittagen spielte die Geselligkeit natürlich auch eine Rolle. Ab und zu wurde gegrillt, gern trank man auch mal ein Glas Rotwein oder gönnte sich einen Pastis, den französischen Anisschnaps, der mit Wasser verdünnt wird. Schließlich beschloss man, aus der lockeren Freizeitgruppe einen von der DFGL unabhängigen Sportverein zu machen, der dann auch Unterstützung vom Rat der Stadt bekam. So wurden Elisabeth und ich Mitglieder des Leipziger Pétanque-Club „Pastis 1996“ e.V. Bald traf man sich auch mit anderen Pétanque-Gruppen der Region zu freundschaftlichem Wettstreit, bei dem wir weitere sportliche Erfahrungen sammelten.

 

So waren wir in diesem ersten Jahr und auch den folgenden immer gern gesehene Mitspieler auf dem Boulodrome im französischen Feriendorf. Wir konnten dabei sowohl unsere Sprachkenntnisse als auch die spielerischen Fähigkeiten verbessern. Zweimal in der Woche wurden Turniere veranstaltet. In jeder von drei Runden wurden die Mannschaften frisch ausgelost und die gewonnenen Punkte für jeden Spieler einzeln festgehalten. Bei der anschließenden Siegerehrung gab es allerhand zu gewinnen. Die Organisatoren Claude und Bob kauften von den 1 € Spieleinsatz einiges ein, Whisky und Pastis billig im benachbarten Spanien. Wein, Gebäck, Gutscheine zum Essen u.ä. wurden von den Händlern des Feriendorfes gespendet. Dazu kamen Spenden von den anderen Urlaubern, oft Werbegeschenke der Firmen, bei denen sie arbeiteten. Der Sieger durfte sich von den Preisen zuerst etwas aussuchen, dann der zweite usw. Elisabeth und ich haben viele der Weinflaschen, die wir im Urlaub abends getrunken haben, bei diesen Turnieren gewonnen. Nach dem Turnier gab es immer eine gesellige Runde, in der man Sangria und Pastis trank, Nüsse knabberte und sich unterhielt.

Wir gehörten schnell zu der eingeschworenen Gemeinschaft von französischen Urlaubern und Ferienhauseigentümern, die sich jedes Jahr wieder hier trafen. Wenn wir an den Strand kamen, wurden wir von vielen Franzosen dort kameradschaftlich begrüßt. Man warf sich ein paar freundliche Worte zu oder schwatzte auch mal länger miteinander. Die deutschen Urlauber hielten uns immer für Franzosen, was wir nicht ungern gesehen und manch einen auch in dem Glauben gelassen haben.

Hier im Urlaub war das Boulespiel für uns für den Zusammenhalt mit den Franzosen wichtig. Sportlich konnten wir nur von einigen wenigen etwas lernen, da die meisten nur Urlaubsspieler waren. Wir merkten aber schon, dass sich manch guter Schießer wie zum Beispiel Gérard und Phillippe im Turnier freute, wenn Elisabeth oder ich in seine Mannschaft kam. Er konnte sich auf uns verlassen wie wir auf ihn. »Keine Sorge, leg einfach deine Kugel. Ich schieße den Gegner weg.« Da ist Siegen dann einfach.

 

In Deutschland gab es dann immer mehr Meisterschaften und Wettkampfturniere. So reisten wir an manchen Wochenenden in verschiedene Städte Thüringens, Sachsen-Anhalts und Sachsens, manchmal mit Übernachtungen, manchmal nur tagsüber. Wir wurden Vizestadtmeister in Gotha bei offenen Stadtmeisterschaften, Zweite und Dritte auch bei anderen Turnieren. Später erhielten wir auch Einladungen nach Berlin, Hannover, Göttingen, Bielefeld und Bremen, lernten nette Leute kennen und sammelten Pokale. In dieser Zeit betrieb ich auch eine gut besuchte Webseite zum Thema Pétanque, auf der ich den Sport vielen bekannt machen konnte. Sogar aus Kanada bekam ich daraufhin E-Mails mit Fotos von Spielern, die sich auch von tiefem Frost und Schnee nicht abhalten ließen.

Auf den großen Turnieren lernten wir auch die psychologische Seite des Sports kennen, den Gegner und dessen Taktik einzuschätzen und ihn zu verunsichern. Obwohl ich sonst nie eine Mütze trage, lernte ich, meine Basecup tief in die Stirn zu ziehen und mit langsamen und bedeutend wirkenden Schritten die Bahn abzuschreiten, im Wurfkreis tief in die Hocke zu gehen und dann doch von oben zu spielen.

Elisabeth und ich eigneten uns die Kunst an, genau den Boden zu lesen und Unebenheiten und Bodenkrümmungen auszunutzen. Von derartigen Techniken profitierten wir natürlich auch im Urlaub. Gern stellte ich mich hinter Fabienne, eine ausgezeichnete Legerin, und beobachtete sie beim Wurf. So gelingt es oft, denselben Aufschlagpunkt zu treffen, sodass die eigene Kugel dieselbe oder fast gleiche Bahn nimmt wie die beobachtete. Diese wird dann weggeschubst, und die eigene mogelt sich vorbei direkt ans Schweinchen.

 

An eine Begebenheit bei einem Turnier im Urlaub erinnern sich Elisabeth und ich auch heute noch sehr gern. Als Gilbert, einer der ältesten und geachtetsten der Pétanquer-Gemeinschaft und sehr guter Schießer, erkannte, dass wir beide zufällig gemeinsam zu seiner Gegenpartei gehörten, sagte er: »Oh, le couple diabolique ...« Das war für uns ein echter Ritterschlag.

 

 

 

 

März 2023

 

 

 Diese Geschichte ist original für die Schreibaufgabe März 2023 entstanden. Vorab habe ich sie für Freunde zum Lesen schon am 23.Februar.2023 unter dem gleichen Titel bei BookRix eingestellt.

 

 

 

Plauderei zwischen Seerosen

 Thema:

Schreibe eine Geschichte zu diesem Bild:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Plauderei zwischen Seerosen

 

Monika schaut versonnen auf die unter ihr liegende Wasserfläche und das gegenüberliegende Ufer. Sie hat eine mehr als zweistündige Wanderung über die Halbinsel hinter sich und streckt sich in der schon warmen Frühjahrssonne. Gerade legt eine Fähre aus Szántód an und sie beobachtet, wie einige wenige Autos und fast noch weniger Fußgänger das Schiff verlassen. Um diese Jahreszeit gibt es offenbar noch nicht so viele Touristen, denkt sie sich. Wir waren damals ja im Hochsommer da.

Gern erinnert sich die Leipzigerin an diesen Sommer. Sie waren jung und alles lag noch vor ihnen. Jetzt ist sie allein. Auch damals hatten sie eine kleine Wanderung auf Tihany unternommen. Zwischen einsamen Feldern und Wiesen sind sie unter der heißen ungarischen Sonne als jung verheiratetes Pärchen entlangspaziert, immer wieder von Küssen unterbrochen. Bis zum Kratersee Belső-tó, den sie heute vom Städtchen Tihany aus halb umrundet hatte, sind sie damals nicht gekommen. Mit Wehmut, aber auch Schmunzeln denkt Monika daran, wie sie ihren Mann auf einer Wiese nackt fotografiert hatte. Natürlich hatte er auch sie als Eva abgelichtet, aber daran erinnert sie sich gar nicht mehr. Was hatten sie für eine Angst, von Wanderern erwischt zu werden. Aber solche Verrücktheiten gehörten einfach zu ihnen, zu ihrer Jugend. Was mag wohl aus den Fotos geworden sein?

Monikas Blick schweift wieder zum gegenüberliegenden Ufer. Ob das da drüben Balatonföldvár ist? Dort hatten sie während ihres Urlaubs ein Zimmer bei einer ungarischen Familie. Ein Klappfahrrad hatten die Leute dafür gewollt, normal bezahlen hätten sie den Aufenthalt nicht können. Soviel Geld konnte man nicht umtauschen. Später gab es dann Ärger beim Zoll, weil der bemerkt hatte, dass das Fahrrad bei der Rückfahrt nicht mehr dabei war.

Ein schöner Urlaub war es trotzdem. Gern hatte ihr Mann seine frisch angetraute junge Frau auf einer Luftmatratze vor sich her über den See geschoben. Monika wird es auch jetzt noch nach so vielen Jahren ganz anders, wenn sie daran denkt, wie er sich einmal auf ihren Rücken geschoben hatte und sie beide weit draußen auf dem See vereint auf den Wellen geschaukelt sind. Es waren schließlich ihre Flitterwochen …

Ob es den Pullovermarkt in Siófok noch gibt? Der war bei den Touristen aus der DDR besonders beliebt und für Monika einer der Gründe gewesen, an den Balaton zu fahren. Für ihren Mann war das eher nichts, aber der musste auch mit auf den Markt. Pullover gab es da nicht so viel, aber manche modische Klamotten, die man zu Hause nicht im Laden bekam. Auch sie hatte sich einiges Schöne gekauft, was besonders ihren Kolleginnen damals gefallen hatte. Ich muss mich mal erkundigen, was aus dem Pullovermarkt geworden ist, denkt Monika.

 

Auch wenn sie nun allein hier am Balaton ist, langweilig wird es ihr nicht werden. Wie damals ist sie wenige Tage nach ihrer Ankunft nach Héviz gefahren. Es war eine gute Idee. Der Plattensee lädt um diese Jahreszeit noch nicht so sehr zum Bade ein, da bieten sich Ausflüge in die schöne Gegend an. Und der Thermalsee in Héviz ist schon eine sehenswerte Besonderheit. Mit seiner Wassertemperatur zwischen 24 und 38 Grad je nach Jahreszeit kann man dort sogar im Winter baden. Die etwa 33 Grad waren schon sehr angenehm, denkt Monika an den Aufenthalt vor fünf Tagen zurück: Vielleicht sollte ich übermorgen wieder hinfahren. Versprochen habe ich es Anna ja.

Im Bad hatte Monika eine nette Grazerin kennengelernt, mit der sie sich lange unterhalten und prima verstanden hatte. Mit ihren 69 Jahren war die Frau aus der Steiermark auch nur drei Jahre älter als sie. Anna erzählte, dass sie oft nach Héviz kommt. Jetzt im Frühjahr sogar einmal in der Woche. Dafür nimmt sie die zweieinhalb Stunden Autofahrt gern in Kauf. Manchmal übernachtet sie auch in Héviz oder Keszthely, bevor sie am nächsten Tag zurückfährt. Am Donnerstag wollten Anna und Monika sich wiedertreffen.

 

Als die Leipzigerin von den Umkleideräumen kommend aus dem Gebäude trat und über den See schaute, erfreut sie sich an den überall in vielen Farben blühenden Seerosen, weiß, rosa und lila. Gleichzeitig amüsierte sie sich innerlich wieder über den seltsamen Anblick der Badenden mit den bunten Schwimmnudeln. Als sie seinerzeit mit ihrem Mann hier war, hatten sie wie alle die schwarzen Schwimmreifen benutzt, die an Autoreifen erinnerten.

Da sah sie eine Frau winken und erkannte ihre nette Bekannte aus Graz. Monika stieg die Treppe hinunter ins Wasser, das sie sehr warm umfing. Sie machte ein paar Schwimmzüge und merkte wieder sehr schnell, wie anstrengend das ist, sich in diesem badewannenwarmen Wasser zu bewegen. In nostalgischer Erinnerung hatte sie sich bei der Ausleihe für einen Schwimmreifen entschieden. Sie fand das bequemer als diese Schaumstoffnudeln. Da war sie sich mit Anna einig, die sie freundlich begrüßte: »Griaß’di, schen, dass‘d do bist, Monika.«

»Einen schönen guten Tag, Anna. Ich freue mich auch, dass du da bist. Wie geht es dir?«

»Mir geht es prima, wenn man von den üblichen kleinen Wehwehchen absieht, die wohl zu unserem Alter gehören. Das Wasser wird mir wieder guttun, ihm sagt man viele Heilkräfte nach. Ich bin übrigens schon zeitig angekommen und habe mir noch ein kleines Frühstück im Hotel Spa gegönnt.«

»Das ist das Hotel gleich hier nebenan, gell?«

»Ja, dort bin ich mit Maria ins Gespräch gekommen, einer jungen Frau, die ein paar Tage zum Ausspannen in Héviz ist. Sie wollte auch gleich noch kommen. Du wirst sie auch mögen. Da ist sie ja schon.« Anna winkte einer jungen Frau zu, die unschlüssig auf der Treppe stand. Dann machte sie die beiden Frauen miteinander bekannt.

»Das ist Maria, von der ich dir gerade erzählt habe. Maria, ich darf dir Monika vorstellen, die ich vorige Woche kennengelernt habe. Sie kommt aus Leipzig und macht in Erinnerung an einen früheren Aufenthalt vor vielen Jahren gerade Urlaub am Balaton.«

»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich kenne Leipzig, eine schöne Stadt. Da war ich mal beruflich auf einer Tagung. Wo sind Sie denn hier am Balaton untergekommen?«

»Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen. Und es freut mich, dass Sie Leipzig kennen und die Stadt Ihnen gefallen hat. Hier wohne ich in einem kleinen Ferienhaus auf Tihany. Woher kommen Sie? Sind Sie Ungarin oder kommen Sie auch aus Österreich wie Anna? Ich kann Ihren Akzent nicht richtig einordnen.«

»Sagen Sie doch einfach Du! Ich bin mit 36 Jahren ja viel jünger als Sie beide. Ich wohne etwas über zwei Stunden von hier entfernt und liebe Héviz. Deshalb komme ich immer wieder gern für einen Kurzurlaub her. Meine Arbeit in der IT-Branche fordert mich völlig, ab und zu brauche ich da eine Pause. Zum Glück hat mein Mann nichts übrig für das Thermalbaden. So kann er gut auf unsere Kinder aufpassen, wenn ich unterwegs bin.«

»Wenn du das möchtest, duze ich dich gern. Aber dann musst du mich auch duzen. Ich bin Monika, aber das weißt du ja schon. Und woher kommst du nun, wo du so gut deutsch sprichst?«

»Ich komme aus Dunajská Lužná südöstlich von Bratislava. Meine Oma hat nur deutsch gesprochen. Unser Ort hieß früher Tartschendorf. Die ganze Gegend war deutschsprachig. Meine Mutter hat einen Slowaken geheiratet und konnte deshalb nach dem Krieg bleiben. So bin ich zweisprachig aufgewachsen.«

»Das gefällt mir. Ich beneide immer Leute, die dieses Glück hatten.«

»Das verstehe ich, es bringt mir auch beruflich einige Vorteile.«

 

Den drei Frauen nähert sich, während sie lebhaft miteinander plaudern, eine schwarzhaarige attraktive Frau, die Monika so um die sechzig schätzt, ebenfalls in einem dieser altmodischen Schwimmringe.

»Entschuldigen Sie bitte«, spricht sie die Frauen an, »ich höre Sie deutsch sprechen, darf ich mich zu Ihnen gesellen?«

»Aber gern doch«, antwortet Anna für alle drei, »wir haben den See doch nicht gepachtet und lieben Gesellschaft.«

Schnell machen sich die drei Frauen mit Erzsébet bekannt, die einfach Erzsi genannt werden möchte. Sie ist tatsächlich sechzig und kommt aus Visegrád am Donauknie. »Ich liebe es, deutsch zu sprechen und freue mich über jede Gelegenheit dazu. Ich gehöre zur ungarndeutschen Minderheit in meinem Heimatort und trotz meiner Arbeit im Tourismusbüro spreche ich viel zu selten meine Muttersprache.«

»Was machst du hier in Héviz, Erzsi?«, fragte Anna, »du entschuldigst, wir haben uns hier aufs Du geeinigt.«

»Das ist schön, gefällt mir. Ich wohne nebenan im Hotel Spa und mache wie jedes Jahr im Frühling eine Kur, habe rheumatische Beschwerden, die danach immer bis Weihnachten abklingen.«

»Dann täusche ich mich nicht, Erzsi«, warf Maria ein, »und habe Sie, Entschuldigung, dich schon des Öfteren mit deinem Mann im Hotel und auch im Park gesehen.«

Die Sechzigjährige ging darauf nicht ein, sondern fragte in die Runde: »Wenn wir hier schon so schön zusammen sind, habt ihr nicht Lust auf ein Glas Törley Gála, einen prickelnden trockenen Sekt? Ich habe da nämlich eine Idee.«

Die anderen Frauen sahen sich ein bisschen erstaunt an und nickten dann bejahend. Schon war die lebhafte Ungarndeutsche unterwegs ins viertürmige Badehaus. Sie kam strahlend zurück und rief schon von Weitem: »Gleicht geht es los. In der letzten Woche habe ich dort hinten, etwas abseits, ein paar Angestellte beobachtet und dachte mir: ›Das wäre auch etwas für mich‹. Jetzt war die Gelegenheit, danach zu fragen. Wozu kann man denn Ungarisch?«

Ihr folgten zwei junge Männer. Einer schob einen schwimmenden Tisch vor sich her, auf dem vier Sektkelche standen, aus Sicherheitsgründen aber nicht aus Glas, sondern aus Acryl, wie sie später bemerkten. Der zweite trug einen Sektkühler, goss den Sekt in die Gläser und lud die Frauen ein, sich um den Tisch zu gruppieren. Dann zogen die beiden Männer sich diskret zurück.

 »Egészségedre! Auf euer und unser Wohl! Santé!« Erzsébet hob ihr Glas und stieß mit den anderen an. »Das ist doch eine tolle Erfindung! Die Angestellten, die ich in der Rezeption danach gefragt habe, meinten, sie wollten das mal ausprobieren und demnächst in ihr Angebot aufnehmen. Es gibt nur noch ärztliche Bedenken wegen des Alkohols. Generell soll man sich ja höchstens für 90 Minuten pro Tag im Thermalwasser aufhalten. Herz und Kreislauf würden sonst zu sehr belastet, was durch Alkohol natürlich weiter verstärkt würde. Aber man kann ja an den Tischen auch Orangensaft trinken. Mit euch lasse ich mir aber den Sekt schmecken. Auf dass die Heilwirkung des Thermalwassers bei uns allen lange anhalten möge!«

Angeregt durch den Sekt schwatzten die Frauen fröhlich über dieses und jenes. Monika nutzte die Gelegenheit, um sich nach dem Pullovermarkt in Siófok zu erkundigen. Maria kannte nur den sehr bekannten großen Wochenmarkt in Fonyód, der der größte am Balaton sei und der aus wenig nachvollziehbaren Gründen Pullovermarkt genannt wird. Dort gäbe es Lebensmittel wie Paprika und Salami, aber auch Backwaren, Obst und Gemüse. Bei den auch angebotenen Antiquitäten fände man durchaus manches Schnäppchen. Vielleicht hat der Markt in Fonyód den früheren in Siófok abgelöst?, fragt sich Monika und gibt sich damit zufrieden.

 

»Aber nein! Nicht doch! Sie können uns doch hier nicht einfach so fotografieren!« Die Grazerin hatte den Fotografen zuerst bemerkt, aber nur die Ungarin konnte ihn in der Landessprache zurechtweisen, die anderen wehrten nur mit den Händen empört ab. »Wir wollen uns doch nicht in irgendeinem Werbeprospekt vom Bad oder einem der Kurhotels wiederfinden«, echauffierte sich Erzsébet und redete dann weiter auf den jungen Mann mit der Kamera ein.

Jedenfalls versuchte er dann, die Frauen auf deutsch zu beruhigen: »Tisch mit Sekt interessantes Motiv. Euch Frauen Photoshop. Niemand erkennen! Bitte, bitte Erlaubnis!«

Monika sprach es aus: »Wenn er das ehrlich meint mit Photoshop, dann werden wir alle wie die blonden Püppchen auf den Fernsehzeitschriften aussehen, von denen ich Woche für Woche denke, die hatte ich doch letzte Woche schon auf dem Titelblatt. Dann macht mir das nichts aus. Niemand würde uns erkennen.« Anna und Maria nickten zustimmend.

»Wenn du und dein Mann nichts dagegen haben«, sagte Maria zu Erzsi, »der wird sich sowieso ärgern, heute nicht mitgekommen zu sein. Die anderen Damen hier hätten sich sicher gefreut. Du hast aber auch einen attraktiven Mann!«

Meinem Mann hatte es damals sehr gut gefallen, unsere erregenden Fummeleien konnte in diesem dunklen Wasser auch niemand anderes bemerken, erinnert sich Monika. Sicher wäre er auch diesmal gern mitgekommen.

»Gut! Meinetwegen!« Erzsébet sagte ein paar Worte auf ungarisch zu dem Fotoreporter, worauf der »Versprochen ist versprochen!« den vier Frauen zurief und noch ein paar Fotos von der fröhlichen Frauenrunde zwischen den Seerosen schoss.

»Ich sah die Fotografiererei vor allem deshalb kritisch, weil László, mit dem du mich immer gesehen hast, Maria, nicht mein Ehemann ist. Er ist mit seinen 55 Jahren wirklich ein sehr anziehender Vertreter seines Geschlechts. Zudem ist er ein sehr guter Gesellschafter, man könnte sagen, von alter Schule. Und er ist bei den Frauen in Héviz überaus beliebt … Denn was ist denn eine Kur ohne einen Kurschatten?«

 

 

Aus der Glanzbroschüre "Balaton 2024" von Magyar Turisztikai Ügynökség ©Gipsz Jakab

 

 

 

 

 

April 2023

 

 

 Diese Geschichte ist original für die Schreibaufgabe April 2023 entstanden und ich habe sie für Freunde schon am 18. März.2023 unter dem gleichen Titel bei BookRix eingestellt. Für die Schreibaufgabe musste sie dann aber wegen der dortigen Zeichenbeschränkung gekürzt werden.

 

Momo

Thema: Schreibe eine Geschichte zum Thema:

„Hallo, sagte die Schildkröte in meinem Wohnzimmer“

 

 

 

Momo

 

 

Am Nachmittag hatte das Wetter mitgespielt. Der leichte Wind war nicht stärker geworden, wie zunächst befürchtet. Renate und Charly, die zum Apéro auf unserer Terrasse waren, sind gerade gegangen.

Während Elisabeth die Teller und Gläser ins Haus trug, legte ich die Tischdecke mit dem Olivenmuster zusammen.

»Vergiss nicht, die Schildkröte reinzubringen«, rief mir Elisabeth zu.

Als wenn ich das gute Stück draußen lassen würde, ein Geschenk von unserer französischen Freundin Danielle, deren Schwester das Keramikreptil für uns gefertigt hatte. Wir hatten schon manche Vasen, Krüge und Skulpturen von dieser Hobbykünstlerin bewundern können. Nun dient die Keramik regelmäßig als Tischtuchbeschwerer – in unserer windigen Gegend sehr zweckmäßig – und als schmückendes Accessoire im Wohnzimmer. Gleichzeitig ist sie Erinnerung an unseren Momo, die Schildkröte, die wir bei unserem Umzug mit nach Frankreich gebracht hatten und die Danielle noch kennengelernt hat.

Die paar Minuten vor dem Abendbrot saß ich auf der Couch, wischte neugierig auf dem Handy herum und stieß dabei auf eine Schlagzeile von FOCUS Online: »Schildkröte überlebt Jahrzehnte auf dem Dachboden«. Der reißerische Artikel berichtete von einer Familie in Brasilien, die nach 30 Jahren ihre seinerzeit verschwundene Rotfußschildkröte beim Entrümpeln des Dachbodens in einer Holzkiste gefunden hatte. Sie hatte die lange Zeit ohne richtiges Essen überlebt. Wahrscheinlich haben ihr kleine Insekten und Kondenswassertropfen genügt. Was für eine Anpassungsfähigkeit!

Beim Abendessen erzählte ich meiner Frau von diesem Wunder. »Wenn das nicht ein Fake ist!«, meinte sie kopfschüttelnd.

 

»Fraaanck, Fraaaanck«, rief da jemand mit leiser, aber seltsam durchdringender Stimme. Ich schaute mich um, konnte aber nicht klären, woher der Ruf kam.

»Hörst du das auch?«, fragte ich flüsternd meine Frau.

»Was soll ich hören?«, fragte sie zurück, ohne ihre Stimme zu senken.

Ich legte den Finger auf die Lippen und antwortete: »Da, jetzt wieder. Da ruft jemand leise nach mir.«

Elisabeth schaute angestrengt, lauschte wohl auch. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Da ist nichts!« Sie stand auf und ließ mich im Wohnzimmer allein.

Da war es wieder, »Fraaa-aanck …«, begleitet von einem leisen Keuchen. Und noch einmal, ganz deutlich und etwas lauter: »Fraaa-aanck!«

Ich schaute wieder im Zimmer herum – und da sah ich es. Die Schildkröte auf dem Schränkchen neben dem Fernseher bewegte langsam ihren Kopf. Sie war es! Die Keramikschildkröte rief mich. Deutlich sah ich, wie ihr Maul dabei auf und zu ging. Ja, ich weiß, Schildkröten haben einen Schnabel, keinen Mund oder Maul! Egal! Und Keramikfiguren können nicht sprechen …

Aber unsere Schildkröte, die immer da auf dem Schränkchen steht, wenn sie nicht draußen die Tischdecke vor dem Wegfliegen bewahrt, die bewegte sich. Ich sah es ganz deutlich, starrte sie an. Da bewegte sich auch das linke Vorderbein, dann das rechte. Die Hinterbeine zogen nach. Die Schildkröte kam näher. Ihr Kopf streckte sich weiter aus dem Panzer, schaute nach links, dann nach rechts. Ich sah ihren faltigen Hals, die Zunge schlängelte rot aus ihrem Schnabel. Die Keramikoberfläche glänzte nicht mehr, nein, sie sah echt aus, echt – wie eine richtige lebendige Schildkröte. Ich war völlig erstarrt. Es gab keinen Zweifel mehr: Das war Momo! Momo, der vor zehn Jahren gestorben war und den ich schweren Herzens im Garten begraben hatte.

Momo fixierte mich mit seinen lebhaften Augen. »Das hättest du dir nicht träumen lassen, dass ich eines Tages wiederkomme und Rechenschaft verlange. Ihr habt mich einfach aus meiner Heimat entführt und eingesperrt.«

Ich erwachte aus meiner Trance. Das konnte ich nicht auf uns sitzenlassen. »Wir haben dein Leben gerettet! Das war auf einem Gemüsemarkt in Tunesien, wo du mit anderen in einer Kiste angeboten wurdest. Eine Suppe hätte man aus dir gemacht, wenn unsere Tochter nicht so gebettelt hätte und wir dich dem Händler abgekauft hätten.«

»Woher weißt du das? Vielleicht hätte mich auch eine süße kleine Zuleika gekauft und mich in den maurischen Bergen wieder freigelassen? Schließlich bin ich eine maurische Schildkröte.«

»Bestimmt haben wir dir dein Leben gerettet! Eine Zuleika oder ihre Mutter hätte dich in den Kochtopf gesteckt. Aber mindestens auch eingesperrt, um mit dir zu spielen.«

»Aber was war das dann ein paar Tage später? Ihr habt mich röntgen lassen …«

»So kann man das nicht sagen. Wir mussten dich schließlich irgendwo im Gepäck verstauen vor dem Heimflug. Beim Einchecken wird das Handgepäck eben durchleuchtet. Bestimmt haben die Zöllner dich für ein Fischbrötchen gehalten. Das mit dem Artenschutz haben wir erst später erfahren. Heute könnte uns die Tocher nicht mehr überreden. – Na ja, würde sie auch nicht mehr machen, mit ihren über 40 Jahren.«

»Ihr habt mich dann einfach eingesperrt!«

»Wir haben dir ein sehr großes Terrarium beschafft und haben dich viel laufen lassen. Auf dem Balkon, auch in der Wohnung. Erinnerst du dich, wie du uns immer in die Zehen beißen wolltest, vor allem, wenn wir barfuß waren?«

»Ja, ich weiß. Mein Schnabel braucht auch mal etwas Festes zum Beißen. Sonst wird er zu lang.«

»Unsere Mädchen haben dich auch gern nach draußen auf die Wiese mitgenommen. Du warst nicht dauernd im Terrarium. Einmal bist du sogar ausgerissen, obwohl wir den Kindern immer eingeschärft hatten, gut auf dich aufzupassen.«

»Die dachten, Schildkröten sind langsam. Aber hallo, das stimmt gar nicht! Ich dachte schon, ich bin wieder in Freiheit. Dummerweise haben sie mich wieder gefunden.«

»Oh ja, wir haben dich wie verrückt gesucht. Die Kleinste hat dich dann Hunderte Meter weiter gefunden, unter einem Strauch.«

»Das war ärgerlich! Ich habe mich dort wohlgefühlt.«

»Das hättest du aber nicht überlebt. Spätestens im Winter hätten dir die Krähen den Garaus gemacht.«

»Du weißt offenbar gar nicht, was Schildkröten alles aushalten. Hast du nichts von meiner Kollegin in Brasilien gehört, die 30 Jahre fast ohne Fressen ausgekommen ist?«

»Das ist etwas anderes als ein Winter mit Schnee und Frost! Deswegen dachten wir ja auch, dass es dir im Süden Frankreichs, wieder im Mittelmeerraum, gut gefallen wird.«

»Nun ja, die Temperaturen waren schon gut. Aber langweilig war es manchmal doch. Ich war ja immer allein.«

»Ich habe dir ein schönes Gelände eingezäunt, mit einer Höhle zum Verstecken, mit Steinen und einem Hügel zum Klettern. Und einem Netz über allem wegen der Möwen und streunenden Katzen. Wir hatten immer den Eindruck, dass du dich wohlfühlst.«

»Es hat mir auch gefallen, aber manchmal habe ich mir auch Gesellschaft gewünscht.«

»Entschuldige bitte, das wussten wir nicht. Es hieß immer, Schildkröten sind Einzelgänger.«

»Ja, meistens. Aber manchmal juckt es einen eben … Du verstehst?«

»Ich glaube zu verstehen. Aber woher sollten wir denn ein Weibchen für dich bekommen? Wir waren ja auch noch gar nicht lange in Frankreich, als du eines Morgens bewegungslos am Käfigzaun lagst. Du hattest dich nachts gar nicht in deine Höhle zurückgezogen wie üblich.«

»Und da habt ihr mich einfach so eingebuddelt!«

»Aber nicht doch! Wir haben dich angestupst, dich untersucht. Und dann haben wir tagelang gewartet, dich immer wieder versucht, zum Leben zu erwecken. Ich glaube, über zwei Wochen …«

Die Schildkröte wurde immer größer, bewegte sich auf einmal schnell auf mich zu, sodass ich Angst bekam, sie würde vom Schrank herunterstürzen. Mit lauter, empörter Stimme rief Momo plötzlich: »Siehst du denn nicht, dass ich gar nicht tot bin!«

Schweißgebadet fuhr ich auf und stieß mir den Kopf am Schrank, der unser Bett überbaut. Panisch blickte ich im Schlafzimmer umher, das vom Licht des Vollmonds erhellt war. Neben mir lag Elisabeth und atmete ruhig.

Nachdem sich mein wie wild schlagendes Herz beruhigt hatte, legte ich mich wieder hin.

 

»Ich bereite das Frühstück vor, holst du uns ein Baguette?« Eigentlich musste Elisabeth mich nicht auffordern. Das war unsere morgendliche Routine.

»Na klar, wie immer! Une tradition oder ein normales?«

»Wie du willst!«

Ich schaute zu den Nachbarn gegenüber, die auf ihrer Terrasse schon beim Frühstück saßen, und grüßte sie mit einem freundlichen »Bonjour«. Da passierte es! Ein stechender Schmerz im Fußgelenk, mir entfuhr ein »Merde!«. Beinahe wäre ich gestürzt, konnte mich gerade noch abfangen. Neben dem Gartenweg entdeckte ich ein großes Loch, in das mein Fuß geraten war. Mit einem Durchmesser von ungefähr zehn Zentimetern führte es einen halben Meter schräg nach unten. Was war das? Ohne mir meine Verblüffung anmerken zu lassen, nickte ich den Nachbarn nochmal freundlich zu.

 

Auf dem Weg zum Bäcker versuchte ich, die aufkommenden Gedanken zu verscheuchen.

 

 

 

 

Mai 2023

 

 

 Diese Geschichte ist bereits im März 2023 original für die Schreibaufgabe Mai 2023 entstanden. Eine ausführlichere und bebilderte Fassung habe ich schon am 26. März.2023 unter dem gleichen Titel bei BookRix eingestellt.

 

 

 

 

 

 

 

Juwelen und Schmetterlinge

 

Thema: Schreibe eine Geschichte aus der Sicht eines Bösewichts

 

 

 

 

 

 

»Weißt du, Stefanie, dass wir nun schon über ein Jahr in Rio leben?« Florian löste seinen Blick vom Treiben am Strand der Copacabana und drehte sich zu seiner Freundin im Hotelzimmer um. Zwölf Monate immer zusammen …

»Ja, Flori, ich erinnere mich sehr gut an das Hilton-Hotel in Wien, wo wir unser Zehnjähriges gefeiert haben.«

»Dort hast du mich überredet, bei Wollweber einzusteigen, um danach sein Schließfach bei der Bank zu leeren.« Vorher hatten wir nie gemeinsam ein Ding gedreht, immer nur einzeln oder mit anderen.

»Dieses Liebesfest in Wien war der einzigartige Beginn unseres neuen Lebens, in dem Geld für uns keine Rolle mehr spielt.« Stefanie strahlte ihren Lebensgefährten an, ging zu ihm, umarmte und küsste ihn liebevoll.

Wahrlich ein neues Leben, bestätigte Florian in Gedanken. Wir werden weltweit gesucht, Geld haben wir zum Glück genug, den Schmuck bekommen wir aber nicht los. Mit unserem Reichtum können wir nicht allzu offen umgehen. Vorher waren wir zehn Jahre zusammen, aber nicht verheiratet. Es gab auch noch Monika, Babsi und die schnuckelige Jessi 

Stefanie löste sich aus der Umarmung und schaute Florian aufmerksam an. »Ist irgendetwas? Du siehst so nachdenklich aus. Bist du nicht glücklich?«

»Aber ja doch! Ich war noch nie so glücklich! Ich liebe dich so sehr!«

Diese Worte verscheuchten die aufgekommenen beunruhigenden Gedanken der Frau, worauf sie ihren Liebsten heftig an sich drückte.

»Ich denke«, begann Florian, ihr seine Nachdenklichkeit zu erklären, »wir sollten einiges ändern.« Er ging in das zweite Zimmer ihrer Suite und kam mit der Sporttasche wieder, die er zum Fitnesstraining benutzte. Aus der Tiefe der Tasche holte er zwei Flugtickets und zeigte sie ihr.

Sie waren auf ihrer beider falsche Namen, die sie seit der Flucht aus Deutschland benutzten, ausgestellt für einen Flug nach Buenos Aires. »Die sind zwei Monate gültig und können zu einem beliebigen Datum eingesetzt werden. Ich meine, wir sind lange genug hier in Rio. Mein Gefühl sagt mir, dass es für uns kritisch werden kann. Und ihr Frauen sagt doch immer, dass man auf sein Gefühl hören soll. Vielleicht sind wir auch schon im Visier der Polizei. Wir sollten hier bald verschwinden.«

»Nach Argentinien? Da spricht man doch spanisch. Wieso hast du da jetzt angefangen, richtig Portugiesisch zu lernen?«

»Was meinst du damit, Portugiesisch zu lernen …«

»Ich habe dich doch am Schreibtisch gesehen mit dem Deutsch-Portugiesisch-Wörterbuch, wo du etwas auf einen Zettel geschrieben hast.«

»Ach so! Ein bisschen Üben schadet doch nichts.«

 

Nach einem schönen Tag mit Badevergnügen und Strandbarbesuch ging das Paar zurück ins Hotel. Stefanie war rundum glücklich, ein solches Leben war immer ihr Traum gewesen. Einzig und allein die Tatsache, dass Florian sich in ihren Augen viel zu oft nach den brasilianischen Bikini-Schönheiten umsah, trübte die Freude ein wenig. Männer sind halt so, dachte sie.

In Florian hingegen wurde der Gedanke immer drängender, dass er allein mit dem ganzen Reichtum viel freier wäre. Die glutäugigen und atemberaubenden Brasilanerinnen in ihren äußerst knappen Bikinis warfen ihm oft heiße, vielversprechende Blicke zu. Kein Wunder, hier in der Umgebung der teuersten Hotels vermuteten sie in ihm einen superreichen Yankee oder Europäer. Florian stärkte dies in dem Bewusstsein, nur noch ein Anhängsel seiner Partnerin zu sein und sich befreien zu müssen. Sein Plan stand fest.

 

»Bist du für mich noch einmal die verführerische Schwarzhaarige, die ich in Wien gar nicht gleich erkannt habe, als sie aus dem Bad kam?«

»Aber gern doch, Liebster! Für dich mache ich doch alles! Wo habe ich denn die Perücke hingetan? Ach da, in diesem Schubfach liegt sie.« Stefanie verschwand im Bad.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam eine bezaubernde Nackte wieder ins Schlafzimmer. Florian, der sich inzwischen erwartungsvoll auf das King-Size-Bett gelegt hatte, kam es wie ein Déjà-vu vor, obwohl er darauf vorbereitet war. Verführerisch ist sie ja, keine Frage, ging es ihm durch den Kopf, als sie sich zu ihm legte und sich an ihn kuschelte. Das soll für uns eine unvergessliche Nacht werden, an die wir uns gern erinnern. Ich möchte sie auf außerordentliche Art verwöhnen.

»Nicht so stürmisch, meine Liebste«, wehrte er ihre zärtliche Hand ab, die sogleich Besitz von ihm ergreifen wollte. »Ich möchte dir heute eine ganz besondere Freude machen.«

»Was hast du vor, mein Schatz?«

»Warte ab, ich muss noch etwas holen …« So nackt, wie er war, schlüpfte er aus dem Bett und ging zur Sporttasche, die von vorhin noch am Boden zwischen den Fenstern stand. Er wühlte darin herum. Stefanie konnte nicht erkennen, was er verborgen in den Händen hielt.

»Setz dich bitte auf und schließe die Augen!« Florian legte ihr vorsichtig eine Halskette um. »Du bist wunderschön!« Er war von der Wirkung des Brillanten zwischen ihren Brüsten überwältigt. Der Kristall glitzerte im Licht des Vollmondes, das durch die Vorhänge fiel, in einer Weise, wie er das noch nie gesehen hatte.

Die Frau lief zum Spiegel gegenüber den Betten und staunte: »Das ist wirklich wunderschön!« Aber dann veränderte sich ihr Geschichtsausdruck und sie rief erschrocken: »Das ist doch die Goldkette, die auf dem Fahndungsplakat abgebildet ist, das wir auf dem Postamt gesehen haben. Den Schmuck wollten wir doch gut versteckt halten, das ist zu gefährlich!«

»Keine Sorge! Den sehen hier doch nur wir. Morgen schaffe ich ihn wieder weg. Nimm schon mal den Gepäckschließfachschlüssel!« Er legte den Schlüssel mit der Nummer 6B314 auf den Nachttisch. »Ich habe noch etwas mitgebracht. Du sollst doch auch einmal deine Freude an dem schönen Schmuck haben.«

Florian zauberte einen Rubin hervor, den er sogleich in ihren Nabel platzierte. »Warte, halt still, Liebste! Ich habe hier einen Spezialhautkleber, mit dem ich ihn befestigen kann.«

»Wo hast du denn den her?«

»Aus einem Laden für Karnevalsbedarf, offenbar für die Sambatänzerinnen. Brauchst keine Angst zu haben, in dieser kleinen Flasche ist der passende Klebstofflöser.«

Stefanie drehte sich vor dem Spiegel. Es gefiel ihr, was sie sah. Heftig umarmte sie ihren Liebsten und küsste ihn. »Das ist wirklich eine tolle Überraschung!«

»Warte, komm ins Bett, das ist noch nicht alles. Leg‘ dich hin und entspanne dich, ich möchte deine Schönheit bewundern und feiern.«

Florian beugte sich über sie, gab ihr einen Kuss, in dem sich ihre Zungen leidenschaftlich begrüßten. Dann umfuhr er mit seinen Lippen die schönen weiblichen Hügel, neckte deren Spitzen zart mit den Zähnen, nahm die Brillantkette beiseite, um das Tal zwischen den Brüsten zu küssen und glitt dann weiter hinab. Den leuchtend roten Stein im Nabel umrundete er und erfreute sich dann an dem goldenen Vlies darunter. Seine Finger spielten mit den Löckchen, während er flüsterte: »Hierfür habe ich auch noch etwas Passendes gefunden. Diese Schmetterlingsbrosche mit den Diamantsplittern werde ich hier einflechten. Die Nadel habe ich in Hartgummi eingebettet und unschädlich gemacht, es kann nichts passieren.« Die Finger kitzelten den Venushügel, während er geschickt die Brosche befestigte.

»Nun zeig‘ dich mir ganz, Liebste!« Sacht drückte er die Schenkel auseinander und senkte seinen Mund küssend auf die Lippen, die sich unter zärtlichen Liebkosungen bald öffneten. »Was machst du nur, Liebster? Oh, oh, hör nicht auf!«

»Ach, welch göttlicher Anblick! Nun habe ich hier zwei Paare von Schmetterlingsflügeln übereinander. Schade, dass du das nicht sehen kannst.« Mit Lippen und Zunge erwies der Liebhaber der weiblichen Pracht seine Bewunderung, sodass er bald nur noch lustvolles Stöhnen hörte …

Dabei blieb es nicht, das Paar genoss die körperlichen Freuden, die Mann und Frau gegeben sind, voller Wonne und konnte nicht voneinander lassen, bis beide fest eingeschlafen waren.

 

Stefanie schreckte von heftigem Pochen auf. Florian lag nicht neben ihr. Da flog auch schon die Tür mit großem Krach auf und rings um ihr Bett standen drei bedrohlich wirkende Männer in Uniform.

Die erschrockene Frau saß aufrecht im Bett, die Zudecke bis zum Kinn hochgezogen. Da drängte sich eine Uniformierte resolut zwischen zwei der Polizisten durch und riss Stefanie mit einem Ruck die Bettdecke zur großen Freude ihrer Kollegen vom Körper. Voller Schadenfreude zeigte sie auf die drei Preziosen, die den nackten Körper der Verdächtigen schmückten. Sie rief ein paar Befehle, die Stefanie zwar nicht wörtlich verstand, aber gut zu deuten wusste.

 

Der Comandante der Polizeistation war sehr zufrieden mit sich, es war die richtige Entscheidung gewesen, sogleich einen Trupp loszuschicken, nachdem er die Nachricht erhalten hatte. Ein kleiner Junge hatte einen Zettel für den Revierchef an der Pforte abgegeben auf dem er las:

In connection with a bank robbery in Hamburg, Germany

Naked woman with jewellery from the wanted poster

at the Copacabana Palace Hotel, room 333

 

Por causa de um assalto a um banco em Hamburgo, Alemanha

Mulher nua com jóias do cartaz de procurado

no Hotel Copacabana Palace, quarto 333

 

Weiterer Schmuck und Geld fanden sich im Hotelzimmer nicht, nur ein Schlüssel zu einem Gepäckschließfach. Das aber war leer, nur ein Flugticket nach Buenos Aires, ausgestellt auf die Verdächtige, war darin. Offenbar sollte sie dem Komplizen nachfolgen, der aber nirgends zu finden war – auch nicht in den Flugzeugen nach Argentinien.

 

Zum Zeitpunkt, als die brasilianischen Polizisten das Schließfach 6B314 öffneten, lehnte sich Florian zufrieden in seinem Sessel in der Business Class zurück und blickte auf die blauen Wellen des Südatlantik. In wenigen Stunden würde er in Johannesburg sein. 

 

 

 

 

Juni 2023

 

 

 Diese Geschichte ist im Mai 2023 original für die Schreibaufgabe Juni 2023 entstanden und wurde am 25. Mai 2023 unter dem gleichen Titel bei BookRix eingestellt.

 

Ist dir nicht gut?

 

Thema: Ein Mensch schlägt zurück

 

 

 

 

 

 

 

 

»Sag mal, Stefanie, warum eigentlich hat man dich eingelocht?«

Die Angesprochene überlegte, ob sie Gudrun alles erzählen sollte. Sie war ihr in der letzten Zeit eine gute Freundin geworden. Alles kam in der Erinnerung wieder bitter hoch. Sie brach in Schluchzen aus und stieß kaum verständlich hervor: »Mein Partner, das Schwein, hat mich verraten ...« Sie konnte nicht weitersprechen.

Gudrun nahm sie in den Arm und versuchte, sie zu trösten. »Erzähl, Stefanie, rede dir alles von der Seele, das hilft.«

So erfuhr die Mitgefangene, wie das Gaunerpärchen das Bankschließfach eines reichen Hamburgers leeren konnte und sich mit viel Bargeld, Wertpapieren, Bankunterlagen für Schweizer Nummernkonten, Diamanten und wertvollem Schmuck nach Rio abgesetzt hatte.

Gudruns Augen wurden immer größer. »Wollweber? Den aus Blankenese, Villa Firenze? Ihr habt Wollweber ausgeraubt? Das hätte ich mir nie getraut!«

»Wieso nicht? Der Pfeffersack brauchte doch nicht soviel!«

»Das war so etwas von gefährlich! Es ist doch bekannt, dass er Geschäfte mit der Camorra macht …«

»Oh, das wussten wir nicht. Man hat uns ja auch nicht erwischt, erst als …« Stefanie wurde wieder von heftigem Schluchzen geschüttelt.

»Damit willst du das Schwein doch nicht davonkommen lassen? Ich habe da eine Idee, hast du ein Foto von diesem Verräter?«

»Wie? Was für eine Idee?« Stefanie hatte sich wieder etwas beruhigt. Sollte es eine Möglichkeit der Rache geben? »Ja, ein Foto habe ich, allerdings habe ich es zerrissen. Und dann doch aufgehoben. Über elf Jahre waren wir zusammen. Ich habe ihn so geliebt!« Bei den letzten Worten bebten ihre Schultern wieder.

»Gib mir das Foto! Du weißt, ich werde bald entlassen. Dann gehe ich zu Wollweber. Ich kenne ihn gut.«

»Was? Du kennst Wollweber? Wieso das?«

»Ich war mal die Freundin seines Gärtners. Und da hat sich dann so einiges ergeben … Frag nicht! Ich kann jederzeit zu ihm kommen. Er wird mir keinen Wunsch ausschlagen.«

»Aber niemand weiß doch, wo der Kerl ist, er ist spurlos verschwunden.« Stefanie bezweifelte das Vorhaben ihrer Freundin.

»Die Mafia besteht doch nicht aus Beamten. Sie hat viel effektivere Methoden als die Polizei. Lass mich mal machen. Wie nannte sich dein sogenannter Freund zuletzt?«

»Torsten Tauscher …«

 

Luigi Pirandero und Wollweber schlossen sich zum Abschied in die Arme. Es war ein gelungener Männerabend voller Gaumenfreuden und fruchtbarem Informationsaustausch geworden. »Grüß mir Napoli, Luigi! Und vergiss nicht, die Hälfte der Einnahmen aus den Diamanten, alle Wertpapiere und die Hälfte des verbliebenen Barvermögens sind deine, wenn du diesen verdammten Florian aufspürst und in den Besitz seiner Beute gelangst.«

»Grazie, amico mio. A presto! Arrivederci!«

 

Florian klingelte an der Pforte des schmucken Häuschens N° 25 in der Kreupelhout Lane in Cape Town. Natürlich ist Südafrika mit seinen bekannten Minen auch ein Umschlagplatz für nicht ganz legal gehandelte Diamanten. Sehr lange musste Florian sich umhören, und es hat ihn eine erkleckliche Summe gekostet, ehe man ihm vertraulich diese Adresse genannt hatte.

Ein gut aussehender Mann in den Fünfzigern kam zur Vorgartentür. »Mister Tauscher?«

Als Florian bejahte, reichte er ihm einen Zettel mit einer belgischen Telefonnummer. »Das ist die renommierte Firma Antwerpdiamonds. Verlangen Sie dort Heer Bart Vandervost. Viel Erfolg!«

Es war dann einfacher als zunächst gedacht. Der verlangte Gesprächspartner gab ihm nach den einleitenden Erklärungen eine Handynummer, worüber sie dann das Gespräch fortsetzten. Man vereinbarte für ein paar Tage später ein Treffen in Neapel, zu dem er einige seiner Steine zur Ansicht mitbringen sollte. Der Diamantenhändler hätte dort gerade geschäftlich zu tun, sodass es ihm gut passen würde. Herr Vandervost erklärte ihm: »Sie brauchen nicht alle zu verkaufenden Diamanten vorzulegen, ich sehe mir Ihre Auswahl an und dann sprechen wir über alles Weitere. Das Risiko für den Transport tragen natürlich Sie, Heer Tauscher. Aber sicherlich ist es weniger riskant, die Steine nach Italien zu schmuggeln als ausgerechnet in den Diamanten-Umschlagplatz Antwerpen.«

 

 

Den Abend vor dem Flug nach Neapel verbrachte Florian im GrandWest Casino, wo er, seitdem er in Kapstadt wohnte, Stammgast war. Ein Nachbar am Roulette-Tisch machte ihn darauf aufmerksam, dass heute eine besondere Attraktion im Hause war, nämlich Esther Leraba, eine echte Abakhulu Gogo, wie sich nur über lange Jahre ausgebildete und geweihte einheimische Wahrsager nennen dürfen. Das interessierte Florian und er ließ sich bei ihr anmelden.

Esther empfing ihn in einem leicht abgedunkelten Raum in der zweiten Etage des Casinos. Sie bat Florian, auf einem weichen, würfelförmigen Hocker aus Leder Platz zu nehmen und setzte sich ihm gegenüber auf einen gleichen, mit Ornamenten verzierten Lederwürfel. »Hi, ich bin Esther, du darfst zu mir aber auch Stefanie sagen, wenn dir das angenehmer ist.«

Florian fuhr der Schrecken in die Glieder, er hatte das Gefühl, sein Bauch krampfte sich zusammen. Schweiß brach ihm aus allen Poren.

»Ist dir nicht gut?«, fragte die schwarze, sehr attraktive junge Frau im bunten Gewand mit wohlmeinender Stimme ihren Besucher. Sie reichte ihm einen goldenen Becher mit einer grünlichen Flüssigkeit. »Trink davon, Bruder, das wird dir guttun.« Florian wagte nicht zu widersprechen und setzte den Becher vorsichtig an die Lippen. Das Getränk erwies sich als äußerst wohlschmeckend. Schon nach zwei Schlucken war die ganze Unruhe, die ihn erfasst hatte, verschwunden und ihm wurde wundersam leicht.

Danach hantierte Esther mit kleinen Würfeln und Knöchelchen auf dem Teppich zwischen ihnen und prophezeite Florian aus deren Stellung zueinander eine lebendige und blühende Zukunft. Zum Abschluss der Session allerdings warnte sie: »Nimm dich vor einer blonden Frau mit schwarzen Haaren in Acht!« Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen.

 

Völlig benommen taumelte Florian aus dem Casino die Treppen hinab und wandte sich in Richtung des Hotels, das er für die Nacht gebucht hatte, um schneller zum Flughafen zu kommen. Als er am Ende des riesigen Gebäudes ankam, sah er aus dem Dunkel der dort stehenden Büsche und Bäume eine Frau auf sich zukommen. Er riss verwundert die Augen auf. Die Frau schien nackt zu sein und offenbar trug sie eine schwarze Perücke. Seine Beine versagten ihm, er brach auf dem Weg zusammen. Das Gesicht, das sich über ihn beugte, war das von Stefanie. Im Mondschein sah Florian noch ein Messer aufblitzen … Dann wurde es Nacht um ihn.

 

 

 

 

Juli 2023

 

 

Diese Geschichte ist original für die Schreibaufgabe Juli 2023 entstanden. Ich habe sie am 17.06.2023 unter dem gleichen Titel bei BookRix eingestellt.

Ehrliche Arbeit

 Thema: Dumm gelaufen

 

 

 

 

 

 

 

 

Florian erwachte am Morgen durch lautes Vogelgezwitscher über ihm. Er fand sich neben einem Weg unter dunklen Bäumen, ringsum standen dichte Büsche.

Nachdem er sich umgeschaut hatte, erinnerte er sich. Gestern Nacht war er im Casino gewesen, in dessen Park er nun auf dem Rasen lag. Seltsamerweise hatte er keinen schweren Kopf, keinerlei Katergefühl machte ihm zu schaffen.

Diese Wahrsagerin, dachte er bei sich, sie hat mir etwas eingeflößt und eine Warnung ausgesprochen. Ich soll mich vor einer blonden Frau mit schwarzen Haaren in Acht nehmen … So ein Quatsch! Auf dem Weg zum Hotel bin ich dann zusammengebrochen. Eine nackte Frau mit einem Dolch habe ich noch gesehen.

Ihm fiel alles wieder ein. Bart Vandervost, ein Antwerpener Diamantenhändler, erwartete ihn in Neapel. Endlich hatte er einen Tipp erhalten, den Schmuck und die Diamanten, die damals zur Beute beim Bankbetrug von Stefanie und ihm gehörten, zu Geld zu machen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er sich sputen musste, um seine Sachen aus dem Hotel zu holen und noch rechtzeitig zum Flughafen zu kommen.

In der Maschine von Kapstadt nach Neapel grübelte er, was die nächtliche Halluzination und die Drohung der Wahrsagerin zu bedeuten hatte. Ist es mein schlechtes Gewissen? Es ist doch aber nur gerecht, wenn Stefanie jetzt ihre Strafe absitzt. Schließlich hatte sie den ganzen Raubzug geplant. Ich hatte vorher doch immer nur kleine Dinge gedreht und ihr bei dem großen Coup nur ein bisschen geholfen. Und dafür ein Leben lang auf der Flucht? Nein, es war schon richtig, sie in Rio der Polizei zu überlassen und mich abzusetzen. So kann ich jetzt den Reichtum genießen.

 

Das Restaurant “Osteria da Antonio”, das ihm Herr Vandervost am Telefon empfohlen hatte, gefiel ihm außerordentlich. Die Nummer 143 war ja nur wenige Meter vom Mercure Hotel in der Via Agostino Depretis entfernt, in das er eingecheckt hatte. Die zwei schwarzhaarigen Schönheiten am Nachbartisch lächelten ihm wiederholt vielsagend zu. Sie werden doch keine Perücken tragen und eigentlich blond sein?, fragte er sich voller Humor, an die Wahrsagerin denkend. Er bestellte eine Flasche Franciacorta, sozusagen den Champagner Italiens, und bat die Damen an seinen Tisch.

Wenig später legten Giulia und Micaela – so hießen die beiden Heißblütigen – einen solch erregenden Striptease in seinem Hotelzimmer hin, wie ihn Florian noch nie erlebt hatte. Danach kümmerten sie sich gemeinsam darum, auch ihn von seinen Klamotten zu befreien, um ihm una notte indimenticabile zu bereiten, wie sie versprochen hatten. Es ging alles ganz schnell, und auf einmal fand sich Florian nackt auf seinem Bett, Arme und Beine gestreckt an den Bettpfosten fixiert. Das tat seiner gewachsenen Erregung keinen Abbruch, sondern befeuerte sie eher noch.

Verblüfft, aber doch erwartungsvoll, schaute er, zwischen den beiden nackten Schönheiten liegend, auf die sich plötzlich leise öffnende Tür, durch die eine weitere, sehr attraktive junge Frau ins Zimmer trat. Sie trug enganliegende weiße Hosen und ein bauchfreies Top. In ihrem Nabel glänzte ein funkelnder Kristall. Florian konnte seinen Blick kaum von diesem faszinierenden Stein lösen, er bereitete sich gedanklich auf eine sinnenfreudige Überraschung vor, die ihm Giula und Micaela mit der dritten Frau bereiten wollten. Aber dann durchfuhr ihn ein großer Schreck, als er erkannte, dass diese Frau eine schwarze Perücke trug. Sie glich derjenigen, mit der sich Stefanie verkleidet hatte, als sie Wollwebers Bankschließfach betrügerisch leerte, aufs Haar. Ehe er sich versah, legte die Unbekannte mit einer blitzschnellen Bewegung ein Messer an sein emporragendes Körperteil. Florian schrie auf und sein Mannesstolz brach augenblicklich zusammen.

»Ganz ruhig, keine Angst«, sprach sie deutsch zu ihm, »noch tue ich dir nichts. Wir haben nur ein paar Fragen.«

Währenddessen war ein Mann eingetreten, was Florian in der Aufregung gar nicht bemerkt hatte. Der sprach kurz mit Giula und Micaela, gab ihnen ein paar Scheine, woraufhin sie sich vom Bett aufrappelten, ihre Sachen schnappten, erst im Bad verschwanden und dann – wieder angezogen – aus dem Zimmer eilten.

»Mein lieber Florian oder Herr Tauscher, wie du dich Bart Vandervost vorgestellt hast«, wandte er sich dann ganz freundlich und in einwandfreiem Deutsch an den noch immer auf dem Bett Gefesselten, »einen schönen Gruß von meinem Hamburger Geschäftspartner Wollweber und ganz besonders von Stefanie, sie denkt sehr oft an dich.« Er setzte sich direkt neben den nackten Florian aufs Bett. »Meine Assistentin Camilla hast du ja schon kennengelernt. Ich bin Luigi, am besten nennst du mich Capo Luigi, denn ich bin der Boss meines Clans in Napoli, il capo famiglia. Die Polizei nennt uns gern die Camorra, aber wir sind die Bella Società Riformata oder die Schöne Reformierte Gesellschaft.

 Es geht darum, dass der Herr Wollweber unserer Organisation und mir im Besonderen sein Vermögen übertragen hat. Leider mussten wir hören, dass du dich in dessen Besitz gebracht hast. Und dabei auch noch deine Gefährtin verraten hast. Du musst wissen, dass wir in der Familie Verräter gar nicht mögen, egal, was oder wen sie verraten haben.

Also, es ist ganz einfach: Du verrätst mir jetzt, wo du die Beute aus Hamburg versteckt hast. – Sonst … Camilla liebt es, Männchen wie dir Respekt beizubringen.«

Die Frau am Fußende hob das Messer.

Florian begann zu stottern: »Da, da, in der Tasche sind die Diamanten.«

»Willst du mich verscheißern?« Der Ton von Luigi wurde bedrohlich. »Ich meine doch nicht nur die wenigen Steine, die du als Probe dem Antwerpener Diamantenhändler zeigen willst. Ich möchte, dass du uns das Versteck aller Diamanten, des ganzen Schmucks, des Bargelds und der Wertpapiere nennst und die Schlüssel dazu übergibst.«

»Aber, …, aber, die sind doch in Südafrika!«

»Na, und? Du sagst mir jetzt alles Nötige. Ich schreibe es auf, du kontrollierst, ob ich alles richtig habe – und dann telefoniere ich mit meinem Getreuen in Cape Town. Solange bleibst du hier unter der liebevollen Betreuung von Camilla. Capito?«

»Gefesselt?«

»Was denkst du denn?« Luigi grinste boshaft.

»Und wenn ich mal …?«

»Meine Assistentin wird dann dir assistieren. Du bist nicht ihr erster Fall. Denk immer daran, dass sie sehr gern Männchen wie dir etwas abschneidet …

Ich gehe jetzt – und wenn der Mann in Cape Town deine Angaben nicht bestätigt, bist du schon jetzt nur noch ein halber Mann. Und danach würden wir andere Seiten aufziehen!«

 

Es war alles gut gegangen. Jedenfalls, wenn man vom Standpunkt der körperlichen Vollständigkeit Florians ausgeht. Sein Leben aber hatte sich verändert. Luigi hatte ihm klargemacht, dass er in Rio und danach in Südafrika viel zu viel Geld verbraucht hat, Geld, das angeblich Luigi oder seiner famiglia gehörte. »Diese Schulden musst du abarbeiten!«

Florian betreute seitdem die öffentliche Toilette am Hafen, Molo Beverello 13.

»Pecunia non olet«, meinte Luigi. »Unsere Organisation hat fast alle Toiletten Napolis gepachtet.«

Was heißt, betreute? Sauber zu halten hatte er sie. Und die Cents auf dem Teller hatte er abends abzugeben. »Wenn wir nur einen einzigen Cent versteckt finden oder es wegen der Sauberkeit Beschwerden gibt, so darfst du in Betonschuhen auf dem Grund des Hafenbeckens spazierengehen!«

Florian lernte also “ehrliche Arbeit” kennen. Und wegen der unmittelbaren Nähe zum Passagierhafen und dem Busbahnhof war immer Betrieb in seinem Örtchen. Sie war bestimmt eine der meistbesuchten öffentlichen Toiletten der Stadt.

Abends hatte Florian aber nicht etwa Feierabend. Nein, er wurde abgeholt, ihm wurden die Einnahmen abgenommen und er wurde in das ihm bestens bekannte “Osteria da Antonio” gefahren. Dort warteten viele Stapel Teller vom Mittag auf Abwasch, danach schloss sich das Geschirr an, das von der Küche und den Gästen am Abend gebraucht wurde.

Am ersten Abend hatte er zu fragen gewagt, wovon er denn sein Essen und Trinken kaufen könne, wenn man ihm alles abgenommen hat. »Keine Sorge, die Gäste lassen genug zurück …«, war die schlichte Antwort.

Schlafen durfte er nach Lokalschluss auf einer Matratze, die man ihm auf den Flur vor die Personaltoilette des Restaurants gelegt hatte. Die immerhin durfte er des Nachts benutzen.

 

So gingen Monate über Monate ins Land. Eines Tages glaubte Florian seinen Augen nicht zu trauen. Bei einem zufällig erhaschten Blick in den Gästeraum der Osteria sah er Stefanie dort sitzen, natürlich blond … Hat sie ihre Zeit also abgesessen und ist aus allem raus, ging es ihm durch den Kopf. Ihr gegenüber saß Martin, ein Freund aus alten Tagen, mit dem sie manches kleine Ding gedreht hatte. Er strich ihr zärtlich über die Hand und schaute sie verliebt an. Florian gab es einen Stich ins Herz, ihm wurde ganz flau im Magen.

Wenige Minuten später linste Martin beim Gang zur Toilette in den Geschirrspülraum und erkannte Florian. Er steckte seinen Kopf in den Türrahmen. »Was machst du denn hier, Florian?«, rief er erstaunt aus.

Der konnte nur herumdrucksen: »… bisschen was verdienen, Tasche mit Rückflugtickets geklaut …«

Martin beendete die peinliche Begegnung schnell. Zurück am Tisch musste er es aber seiner neuen Freundin Stefanie erzählen.

Sie schien gar nicht so überrascht und tat die Neuigkeit Martins lapidar ab: »Das sieht ja gar nicht gut aus für Florian. Ist seit Rio vielleicht doch nicht so gut für ihn gelaufen.«

 

 

 

 

 August 2023

 

 

Die Geschichte ist original für die Schreibaufgabe August 2023 entstanden, allerdings schon im Juni 2023, weil sie vor allem mit der vorangegangenen eigentlich ganz eng zusammenhängt. Sie sollte für diesen Kurzgeschichten-Wettbewerb aber auch selbstständig stehen können. Ich habe die Geschichte unter dem Titel "Dumm gelaufen" am 26. Juni 2023 bei BookRix eingestellt.

 

 

Unerwartet

Thema: Du kommst auf eine Party, auf der Du niemanden kennst. Dann passiert etwas Ungewöhnliches.

 

 

 

 

 

Missmutig schlenderte Lukas in herrlichem Sonnenschein die Avenida Argentina in Palma entlang. Seine Gedanken waren bei Vanessa, die ihn vor Kurzem verlassen hatte. Obwohl der Urlaub auf Mallorca als gemeinsamer geplant war, hatte Lukas ihn nicht storniert. Nun war er schon ein paar Tage hier, ohne sich zu etwas Nennenswertem aufgerafft zu haben. Aber heute nach der Siesta hatte er sich endlich entschlossen, das vom Hotel nicht weit entfernte Viertel Santa Catalina zu erkunden.

KAELUM stand da in großen Lettern über einer vergitterten Eingangstür, darüber wehten weiße Fahnen mit dem gleichen Schriftzug. Irgendwo hatte er gelesen, dass der "Kaelum Club" ein bei Touristen wie Einheimischen beliebter Nachtclub sei. Nach solchen Lokalitäten wie am Ballermann stand ihm sowieso nicht der Sinn. Der hier schien kleiner und solider, lag abseits der Menschenmassen. Vielleicht wäre das eine mögliche Abwechslung für mich, dachte Lukas und kehrte deshalb nach dem Abendessen hierher zurück.

 

Wie lange er nun schon mit einer Flasche Estrella Damm in der Hand die Tanzfläche beobachtete, konnte er nicht sagen. Allein zu tanzen war nicht so sein Ding. So ein Club ist ja eigentlich gut geeignet, jemanden kennenzulernen, ganz locker und unverbindlich. Lukas aber wusste, dass er nicht so der Aufreißertyp ist. Also ließ er sich das Bier schmecken und wippte im Rhythmus der Hits, die der DJ auflegte, mit dem Fuß.

Die Kleine dort, die schon mehrfach zu ihm geblickt hatte, könnte ihm gefallen. Schwarze Haare, dunkle Augen, die ihn immer mal anblitzten, das scharfe Outfit – das Mädchen, etwa in seinem Alter, war schon eine Augenweide. War das Zufall, dass er ihre Blicke auffing, oder gefiel er ihr gar?

Bevor er anfing zu überlegen, ob es an ihm war, irgendwie Initiative zu zeigen, holte er sich lieber otra cerveza. Als er wieder an der Säule stand, war die süße Kleine von der Tanzfläche verschwunden. Er suchte mit den Augen die wogende Menge der Tanzenden ab und konnte sie nirgends entdecken. Mit der Flasche in der Hand umrundete er langsam die Fläche, dabei aufmerksam nach rechts und links schauend, auch zu den Gästen an den Tischen ringsum, und immer darauf bedacht, mit niemandem in der Menschenmenge zusammenzustoßen. Aber die Suche blieb vergeblich. Na, dann sollte es eben nicht sein, sagte er sich und war seltsamerweise auch ein bisschen erleichtert. Wie gesagt, er war nicht so der Aufreißertyp.

Neugierig durchstreifte Lukas danach die anderen Räumlichkeiten des Clubs. In einem engen Gang, der offenbar in einen Innenhof führte, waren links einige Türen zu sehen. Lukas vermutete Lagerräume oder auch Zimmer für kleinere Feiern. Plötzlich hörte er Schreie, die aber schnell erstickt wurden. Es klang wie eine weibliche Stimme in höchster Not. Lukas eilte zu der Tür, hinter der er die Geräusche vermutete und lauschte angestrengt. Da hörte er, zwar unterdrückt, aber doch deutlich: »Nein! Nein! Ihr Schweine! Hiiilfe, Hiiilfe ...!«

Mit einem Ruck riss Lukas die Tür auf und erfasste mit einem Blick die Situation. Auf einer Matratze mitten im Raum lag eine Frau. Oberhalb des Kopfes kniete ein junger Mann auf ihren Armen und hielt ihr den Mund zu. Ein anderer Mann lag auf der Frau, deren Kleid hochgeschoben war und fummelte zwischen ihren Beinen. Ohne zu überlegen, schoss Lukas nach vorn und hieb dem Knienden seine Faust mitten ins Gesicht. Durch seine Hand fuhr ein stechender Schmerz, gleichzeitig vernahm er ein hässliches Knacken, Blut spritzte aus der Nase des Angegriffenen. Der taumelte zurück, wodurch die Arme der Festgehaltenen freikamen. Sie schmiss gemeinsam mit Lukas den Bedränger von ihrem Körper. Offenbar war die Rettung noch rechtzeitig gekommen. Lukas schrie den vom Opfer heruntergerissenen jungen Mann, dem sein Ding aus der offenen Hose hing, an: »Ihr elenden Schweine! Verfluchte Dreckskerle, macht, dass ihr verschwindet!« Dabei versetzte er ihm in seiner Wut noch einen Tritt in die Seite. Auch wenn die einheimischen jungen Männer kein Deutsch konnten, verstanden sie sehr wohl, was Lukas wollte, und flüchteten.

Jetzt erst wurde er sich dessen bewusst, was gerade geschehen war. Er war ja nun wirklich kein Schläger, aber hier hatten seine Empörung und Adrenalin ihn das Richtige tun lassen. Seine Fingerknöchel schmerzten gewaltig und wurden dick, das spielte jetzt aber keine Rolle. Er wandte sich der jungen Frau zu, die sich gerade das Kleid wieder zurechtzog und ihn aus tränennassen Augen anstarrte. Da erkannte er sie! Es war das Mädchen, das ihm auf der Tanzfläche aufgefallen war. »Und? Wie geht es dir? Kann ich etwas für dich tun?«

»Du bist mein Retter! Die Schweine ...« Sie brach in Schluchzen aus. »Danke, danke danke!« Dann fiel sie ihm um den Hals.

»Wollen wir die Polizei rufen?«, fragte er die Überfallene.

»Nein, das lassen wir lieber. Mir ist zum Glück nichts weiter passiert – wegen deinem Eingreifen. Außer hier an den Armen wird es wohl blaue Flecken geben.«

»Aber das sind Verbrecher! Die musst du anzeigen!«

»Lieber nicht! Da steht doch dann Aussage gegen Aussage. Womöglich zeigen die dich noch an wegen schwerer Körperverletzung. Mit der spanischen Polizei ist nicht zu spaßen. Die haben auf Mallorca sowieso immer Probleme mit ausländischen Touristen und glauben dann vielleicht eher den Leuten, die ihre Sprache sprechen.«

Das Mädchen schaute ihrem Retter in die Augen und fragte: »Wo kommst du eigentlich plötzlich her? Du bist mir vorhin beim Tanzen schon aufgefallen. Lass mich jetzt bitte nicht allein! Ich möchte nach Hause gehen, das heißt, in mein Ferienquartier.«

»Klar, ich begleite dich.«

Auf dem Weg zum Ferienappartement schauten die beiden sich immer mal um, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand folgte. Die Angst vor einer Rache der Gewalttäter konnten sie nicht einfach abschütteln. Dort angekommen, hatten sie sich viel zu erzählen. Es stellte sich heraus, dass sie einiges gemeinsam hatten. So studierten beide in Halle und waren seit Kurzem wieder solo.

»Ich wundere mich über mich selbst«, sagte Lukas, »ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie richtig geprügelt und heute habe ich so zugeschlagen.«

»Wenn du nicht gewesen wärst, ich mag gar nicht daran denken. Zeig mir mal deine Knöchel, die sind ja ganz blau.«

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Lukas.

»Sarah«, antwortete sie, und er nannte auch seinen Namen.

Sarah holte einen nassen Lappen, um Lukas‘ Faust zu kühlen und seine Schmerzen zu lindern. Dann lud sie ihn zu einem Glas Wein ein. Sie bat ihn, die Nacht bei ihr zu bleiben. »Ich habe jetzt Angst allein. Du kannst hier auf dem Sofa schlafen – oder ich räume mein Bett für dich und schlafe selbst hier.«

Lukas hatte volles Verständnis für das Mädchen, das Schreckliches durchgemacht hatte, und ging gern auf den Vorschlag ein.

 

Beide schliefen ziemlich unruhig in der Nacht, kein Wunder nach dem aufregenden Erlebnis am Abend. Am frühen Morgen rief Sarah leise aus dem Schlafzimmer: »Lukas, bist du auch wach? Kannst du zu mir kommen und mich mal in den Arm nehmen?«

Das tat Lukas sehr gern und schlüpfte zu Sarah ins Bett. Die Umarmung tat ihnen beiden gut. Schnell entwickelte sich mehr und sie fanden großen Gefallen aneinander. In inniger Umarmung schlief das Paar schließlich ermattet und glücklich ein.

Gegen Mittag erwachten sie und fanden sich sogleich wieder in einem innigen und langen Kuss. Atemholend strich Sarah über Lukas etwas stachlige Wangen und sagte zu ihm mit leuchtenden Augen: »Weißt du, schon gestern, als du an der Tanzfläche gestanden hast, habe ich das gedacht. Irgendwie ähnelst du meinem Paps. Jedenfalls gefällst du mir.«

»Du gehörst wohl auch zu den Mädchen, deren Partner wie ihr Vater sein soll? Das soll es ja häufig geben. Weißt du, worüber ich besonders glücklich bin? Dass du nach dem schrecklichen Erlebnis gestern überhaupt noch etwas mit Männern zu tun haben willst.«

 »Aber wieso denn? Die Männer sind doch nicht alle wie diese Kerle. Und du bist sowieso etwas ganz anderes. Am liebsten würde ich dich nie mehr hergeben.«

 

Sie blieben – vielleicht nicht nur aus Furcht vor Verfolgung – in den folgenden knapp zwei Wochen fast immer in Sarahs Appartement. Sie langweilten sich dort aber überhaupt nicht, lernten sich dafür umso besser kennen.

 

Ihre Liebesbeziehung hielt auch dem Studienalltag in Halle während der folgenden Monate stand. Sie wurde immer fester und intensiver. Trotz ihrer beengten Studentenzimmer waren sie fast ständig zusammen. Ihr eigentliches Zuhause, Sarah bei den Eltern in Magdeburg und Lukas bei seiner Mutter in Leipzig, besuchten sie nur noch selten.

 

Es war im Januar, als Sarah ihren Lukas von der Vorlesung abholte. »Komm mit, ich habe eine Überraschung.« Ohne auf der Fahrt dahin mehr zu verraten, führte sie ihn zu einem Hochhaus in Halle-Neustadt. Dort zeigte sie ihm eine Wohnung im siebenten Stock, zwei kleine Zimmer, eine Küchenzeile, ein Bad. »Möchtest du hier mit mir gemeinsam wohnen? Bitte sag ja! Noch heute Nachmittag könnten wir den Mietvertrag unterschreiben ...«

Lukas war sprachlos. Die Wohnung gefiel ihm, sie war auch bezahlbar. Ans Zusammenziehen hatte er überhaupt noch nicht gedacht. Aber natürlich wollte er mit Sarah zusammenbleiben. Das war wirklich eine gute Idee, fand er. »Wie bist du nur auf diese Idee gekommen? Und das heimlich?«

»Wieso, mein Schnuckelchen? Das ist doch klar! Ich möchte doch mit meinem Schatz immer zusammen sein.«

»Ich möchte auch immer mit dir zusammen sein, immer und ewig! Natürlich ziehen wir hierher.« Er nahm Sarah in die Arme und küsste und drückte sie voller Liebe.

 

 

 

 

 September 2023

 

 

Die Geschichte ist original für die Schreibaufgabe September 2023 entstanden, allerdings schon im Juli 2023, gemeinsam mit der Geschichte für den darauffolgenden Monat Oktober 2023. Dort stand die Aufgabe, über das Ende einer großen Liebe zu schreiben, was mich dazu inspirierte, hier den Beginn einer großen Liebe zu erzählen. Natürlich muss jede dieser Geschichten für den Kurzgeschichten-Wettbewerb auch selbstständig stehen können.
Ich habe die Geschichte unter demselben Titel "Unerwartet" am 9. September 2023 bei BookRix eingestellt.

Beide Geschichten über das Studentenpaar habe ich gemeinsam in einem Band schon am 29. Juli 2023 unter dem Titel "Sarah und Lukas" bei BookRix veröffentlicht.

 

Ungeahnt

Thema: Schreibe eine Geschichte über das Ende einer großen Liebe.

 

 

 

 

Die kleine Wohnung in Halle-Neustadt hatten sich Sarah Finke und Lukas Schultze als schnuckeliges Liebesnest nach ihrem Geschmack eingerichtet. Obwohl sie sich erst in den Sommerferien kennengelernt hatten, waren sie sicher, für immer zusammenbleiben zu wollen. Es war die große Liebe. Die Zeit nach dem Studium malten sie sich gern als junges Ehepaar mit zwei niedlichen Kindern aus, um die sie alle beneiden würden.

»Es ist wohl an der Zeit, dich endlich meiner Mutter vorzustellen. Was hältst du davon, Sarah?« Lukas schaute seine Freundin erwartungsvoll an.

»Den Gedanken hatte ich schon lange«, antwortete Sarah, »ich freue mich, deine Mutter kennenzulernen. Gern können wir auch zuerst nach Magdeburg zu meinen Eltern fahren.«

»Ich rufe meine Mutter an und sage ihr, dass ich am Sonntag zum Kaffee komme und dich mitbringe. Sie ist ja schon ganz neugierig auf dich.«

 

Am Sonntagabend in der S-Bahn von Leipzig zurück nach Halle meinte Sarah: »Deine Mutter ist sehr nett, ich mag sie und ich glaube, sie mag mich auch.«

»Du hast recht, meine Mutti merkt, was mir guttut. Ich hatte eine schöne Kindheit. Natürlich war es für sie nicht immer leicht. Schließlich hat sie mich ganz allein großgezogen.«

»Was ist eigentlich mit deinem Vater? Du hast nie von ihm erzählt.«

»Nein, ich kenne ihn gar nicht. Ich weiß nur, dass er Marco heißt. Er hat meine Mutter verlassen, als sie mit mir schwanger war. Das war auch der Grund, dass sie nie nach ihm gesucht hat, so hat sie es mir erzählt. Mit einem solchen Mann wollte sie nicht zusammenleben und sie wollte auch keinerlei Beziehung mehr mit ihm wie Unterhalt und so. Lieber hatte sie mich für sich allein.«

»Hat dir der Vater gefehlt im Leben?«

»Das kann ich gar nicht sagen, schließlich kannte ich es nicht anders. Manchmal war ich schon ein bisschen neidisch auf meine Freunde in der Schule, wenn sie von Unternehmungen mit ihrem Vater erzählten. Und wenn ich heute darüber nachdenke, kommt es mir schon so vor, als wenn mir in manchen Situationen ein väterliches, ein männliches Vorbild fehlt. Aber ich würde meiner Mutti daraus nie einen Vorwurf machen.«

 

Am darauffolgenden Wochenende war das Paar in Magdeburg bei Sarahs Eltern. Lukas verstand sich mit ihnen auf Anhieb. Sie waren ihm sehr sympathisch in ihrer offenen, freundlichen Art.

»Wir dürfen doch Lukas zu dir sagen? Ich bin Michael, meine Frau heißt Karin«, bot Sarahs Vater sehr bald das Du an. »Trotzdem möchte ich noch nach deinem Nachnamen fragen. Ich muss doch wissen, wie der Mann heißt, den sich meine Tochter ausgesucht hat.«

»Klar! Ich heiße Schultze, mit tz, Lukas Schultze.«

»Schultze mit tz. Das finde ich ja witzig. Ich hatte mal eine Freundin, sie betonte auch immer das mit tz. Na ja, bei diesem Allerweltsnamen muss man das wohl.«

»Finke ist ja nun auch kein seltener Name!«

»Da hast du vollkommen recht, Lukas mit tz«, witzelte Sarahs Vater.

Nach dem Kaffeetrinken bummelten die vier durch die Altstadt. Obwohl die Familie Finke erst vor etwa zehn Jahren von Würzburg nach Magdeburg gezogen war, präsentierten sie die neue Heimatstadt voller Stolz. Gern zeigten sie Lukas, was die Stadt so zu bieten hat. Sie besuchten den Dom mit dem Grab von Otto I., dem ersten römisch-deutschen Kaiser. Am Elbufer entlang, an dem im Mittelalter der Bürgermeister Otto von Guericke das berühmte Halbkugelexperiment zur Wirkung des Luftdrucks gezeigt hatte, ging es weiter zum schönen Elbauenpark. Lukas musste zugeben, dass er als Leipziger noch nie zuvor in Magdeburg war.

Karin, die mit ihrer Tochter im Park hinter den beiden Männern lief, befragte sie neugierig nach der Mutter von Lukas.

»Andrea ist eine sehr nette Frau. Ich glaube, sie hat mich in ihr Herz geschlossen und freut sich für ihren Sohn, dass er mich gefunden hat.«

»Du sagst Andrea zu ihr?«

»Ja, sie hat mir das Du angeboten wie ihr doch auch Lukas.«

»Gern! Etwas anderes, Sarah. Ist dir aufgefallen, dass dein Freund ein bisschen Papa ähnelt?«

»Ja, das habe ich ihm schon auf Mallorca gesagt. Vielleicht gefällt er mir deshalb so sehr.«

 

Die Nacht verbrachte das junge Paar im Zimmer von Sarah. Es wurde zwar etwas eng, aber es hatte für Sarah einen besonderen Reiz, ihren Freund im Bett ihrer Jugendträume zu umarmen.

Erst zum Mittagessen ließen sich die jungen Leute wieder sehen. Als Lukas auf Wunsch der Hausherrin ihr die Bratenplatte mit einem Lächeln herüberreichte, wurde ihr auf einmal ganz anders. Es war ihr, als hätte sie die Szene schon einmal erlebt. Sie starrte Lukas an und fragte sich, ob sie ihn irgendwie von früher kannte. Dem jungen Mann wurde schon der Arm schwer, da fragte sie rundheraus: »Sag mal, warst du schon einmal in Würzburg?« Dann merkte sie, dass das Unsinn war und sagte: »Vergiss es, ich bin ein bisschen durcheinander.«

Die Eltern ließen es sich nicht nehmen, das junge Paar am Nachmittag nach Halle zu fahren. »Die neunzig Kilometer sind doch keine Entfernung!«, betonte Michael. Sie wollten unbedingt die Wohnung kennenlernen.

»Das habt ihr euch sehr schön gemacht«, freute sich Karin, und Michael überraschte, wie vorher mit seiner Frau abgesprochen, das Paar mit der Zusicherung, die Miete für die Studenten zu übernehmen. Sarah und Lukas wussten gar nicht, wie sie den beiden danken sollten.

 

Auf der Rückfahrt fragte Karin ihren Mann: »Hast du mitbekommen, dass die Mutter von Lukas Andrea heißt? Hattest du nicht eine Andrea aus Leipzig als Freundin?«

»Na, und? Sogar eine Schultze mit tz. Leipzig ist eine Großstadt!«

»Ein seltsamer Zufall ist es trotzdem«, murmelte Karin in ihren nicht vorhandenen Bart.

In der Nacht hatte sie wirre Träume. Sie fühlte sich in die Jugendzeit versetzt. Es war Michael, der ihr ganz nahe kam, um sie zu küssen … Da verwandelte sich sein Gesicht plötzlich in das von Lukas.

 

Bald nach diesem Wochenende schlugen Sarahs Eltern vor, die Mutter von Lukas einzuladen, um sich gegenseitig kennenzulernen, wo sie nun doch praktisch eine Familie bildeten. So kam es, dass am vereinbarten Sonntagnachmittag Sarah und Lukas die Leipzigerin am Bahnhof abholten und in die Magdeburger Wohnung begleiteten.

Beim Blick aufs Klingelschild fragte Andrea, an Sarah gewandt: »Ihr heißt Finke?« Was für ein Zufall, dachte sie noch und dann stand sie im Wohnzimmer Michael gegenüber. »Du? Michael? Michael Finke? Ich dachte, du lebst in Würzburg?«

»Bist du es wirklich? Andrea? Du hast dich kaum verändert. Aber setzt euch doch alle erst einmal!«

Das unerwartete Wiedersehen nach über dreiundzwanzig Jahren führte zu einer lebhaften Unterhaltung, der die drei anderen interessiert folgten.

»Aber warum hast du dich, nachdem du mit deinen Eltern weggezogen bist, überhaupt nicht mehr gemeldet?«

»Ich habe versucht, dich zu vergessen. Wegen der Entfernung zwischen Würzburg und Leipzig sah ich für uns keine Chance. Du hast doch auch nichts mehr von dir hören lassen.«

»Ja, ich hatte Marco kennengelernt und mich mit ihm getröstet. Aber als ich dann schwanger wurde, ist er einfach verschwunden und hat mich sitzenlassen. Deswegen habe ich Lukas dann allein großgezogen. Mit einem solchen Schuft wollte ich nichts mehr zu tun haben.«

»Das tut mir leid. Da habe ich es besser getroffen. Ich verliebte mich in Karin. Wie du siehst, sind wir heute noch glücklich zusammen.«

»Was für ein Zufall, dass wir uns über unsere Kinder wiedergetroffen haben!«

 

In der darauffolgenden Nacht lag Karin lange wach. In ihrem Kopf arbeitete es, verrückte Gedanken kamen und vergingen wieder. Auf einmal beherrschte ein schrecklicher Verdacht ihr Denken …

Am Morgen recherchierte sie im Internet und tat dann das, was sie für notwendig hielt.

 

Nur zwei Wochen später hielt sie den Brief aus Kufstein in der Hand. Der ihren Verdacht bestätigte.

Sie rief Michael an und bat ihn, sofort von seiner Arbeit nach Hause zu kommen. Hier konfrontierte sie ihn mit der Tatsache, die aus dem Schreiben hervorging.

»Wir fahren jetzt sofort nach Leipzig. Das musst du mit deiner Andrea klären, das will ich jetzt genau wissen.« Klang da Eifersucht durch?

»Das ist nicht meine Andrea. Schon Jahrzehnte nicht mehr. Ich verstehe das gar nicht.« Michael sah ein, dass dringender Klärungsbedarf bestand. So setzten sie sich ins Auto und neunzig Minuten später klingelten sie bei Andrea Schultze.

Diese konnte das gar nicht fassen. Sie schaute immer abwechselnd Karin und Michael an und stammelte: »Aber … aber … wir haben doch damals, du erinnerst dich, Michael, nur ein einziges Mal …, zum Abschied …«

»Das spielt doch keine Rolle, wie oft …«, ging Karin etwas unwirsch dazwischen.

Andrea brach in Schluchzen aus, sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen. »Das konnte ich doch nicht wissen. Mein ganzes Leben wäre wahrscheinlich ein anderes geworden.« Hemmungslos weinte sie weiter.

Dann raffte sie sich auf und flüsterte: »Aber wieso hast du …, Karin? Das ist doch illegal. Oder war Lukas einverstanden?«

»Du hast recht, Andrea. Es ist nicht erlaubt, sogar strafbar. Aber mit seiner Zahnbürste war es in Österreich möglich. Sollte ich unsere Kinder sehenden Auges weiter ins Unglück stürzen lassen?«

 

Gemeinsam fuhren die drei dann nach Halle und eröffneten den Kindern die kaum fassbare Nachricht. Karin übernahm das: »Wir haben eine schlechte und eine gute Nachricht für euch. Michael ist auch der Vater von Lukas. Ihr seid Geschwister, Halbgeschwister.«

Es dauerte eine Weile, dann schlug die Nachricht ein wie ein Blitz. Blankes Entsetzen war in den Gesichtern der Liebenden zu sehen. Sarah rannte ins Bad und schloss sich dort ein. Man konnte nur noch Wimmern hinter der Tür hören. Es dauerte Stunden, ehe sie überredet werden konnte, herauszukommen und mit ihren Eltern mitzufahren.

 

***

 

Der offizielle Vaterschaftstest wurde bald nachgeholt – mit demselben Ergebnis.

Zwei Jahre hatten Sarah und Lukas keinen Kontakt mehr. Aber dann trafen sie sich wieder und seitdem entwickelt sich ein freundschaftlich-geschwisterliches Verhältnis.

 

 

 

 

 November 2023

 

 

Die Geschichte ist original für die Schreibaufgabe Oktober 2023 entstanden, allerdings schon im Juli 2023, gemeinsam mit der Geschichte für den vorigen Monat September 2023. Beim Nachdenken über die Aufgabe, über das Ende einer großen Liebe zu schreiben, fiel mir der Plot zur vorliegenden Geschichte ein.

 Dann ergab es sich ganz selbstverständlich, diese im Vormonat vorzubereiten, um den Beginn dieser großen Liebe zu erzählen, was sich leicht mit dem Septemberthema zu Ungewöhnlichem auf einer Party verbinden ließ.

Die Geschichte unter dem Titel "Ungeahnt"  habe ich dann erst am 1. Oktober 2023 bei BookRix eingestellt.

Beide Geschichten gemeinsam über das Studentenpaar habe ich allerdings schon vorher in einem Band am 29. Juli 2023 unter dem Titel "Sarah und Lukas" bei BookRix veröffentlicht.

 

Adam putzt – Warum nicht?

Thema: Schreibe eine Geschichte zum Thema „Ungewöhnlicher Nebenverdienst“.
     Womit könnte man sein Konto aufbessern?

 

Warum nicht?

 

 »Bist du’s, Hasi?«, rief Max aus der Küche, als Sabrina, geschafft vom Arbeitstag, den Flur betrat. »Einen Moment, ich komme gleich!«

Noch während sie die Schuhe abstreifte, war ihr Mann da. Er gab ihr ein Begrüßungsküsschen und sagte: »Setz dich schon mal, ich bin gleich fertig.« Wirklich, Maximilian hatte sich wieder einmal übertroffen. Der Tisch war gedeckt, Wein funkelte in den Gläsern und er hatte Gulasch gekocht. Wie von Zauberhand fiel die Anspannung von der jungen Frau ab.

Seit ein paar Jahren arbeitete sie als Kassiererin bei einem Discounter, um den Kredit für ihr kleines Häuschen gemeinsam schneller abzahlen zu können. Das lief alles ganz gut bis vor einem halben Jahr, als die Firma, in der Maximilian eine gutbezahlte Stelle hatte, in die Insolvenz gehen musste. Trotz intensiver Bemühungen war es dem Ehemann bisher nicht gelungen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. So kümmerte er sich um den Haushalt.

»Du warst heute aber wieder sehr fleißig, mein Schatz«, meinte Sabrina nach dem Essen, als sie auf der Couch kuschelten. »Ich habe gesehen, dass überall Staub gewischt ist, auch das Bad ist blitzeblank.« Sie gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die etwas kratzige Wange.

»Ich habe vormittags auch die Fenster auf der Westseite geputzt, das kannst du jetzt im Dunkeln nicht sehen. Morgen sind am Nachmittag die auf der Ostseite dran, heute früh schien die Sonne voll drauf, da konnte ich das nicht.«

»Du machst das wirklich toll! Ich freue mich darüber.«

»Kann schon sein, aber mir fällt trotzdem die Decke auf den Kopf. Außerdem mache ich mir Sorgen, wie wir künftig unsere Raten weiter zahlen können. Es müsste wieder mehr Geld ins Haus kommen …«

»Ich befürchte, dass du so schnell keine passende Stelle findest. Aber ich habe eine Idee.« Sabrina machte eine kleine Pause, ehe sie weitersprach: »Sei mir bitte nicht böse, wenn ich dir das vorschlage. Du kümmerst dich so gut um unseren Haushalt, bist unübertroffen gründlich beim Putzen …«

Maximilian fiel seiner Frau ins Wort. »Du meinst, ich soll meine Dienste anderen anbieten? Eine männliche Putzfee?«

»Na ja, man könnte es ja mal versuchen. Für manche ist dies vielleicht ein besonders attraktives Angebot.«

Nach kurzem Überlegen meinte Max: »Okay, ich bin mir dafür ja nicht zu schade. Wenn ich etwas dazuverdienen kann. Aber nur, bis ich wieder eine ordentliche Stelle gefunden habe.«

 

Auf die Anzeige meldeten sich viele Interessenten. Max putzte stundenweise bei gutsituierten Ehepaaren, in Arztwohnungen, bei Rechtsanwälten, auch bei manch alleinstehender Geschäftsfrau. Unter seinen Kunden sprach sich sein Fleiß, seine Gründlichkeit, sein offensichtliches Putztalent sehr schnell herum und er konnte sich vor Anfragen kaum retten. Zudem wurde er nicht schlecht bezahlt. Es hätte ewig so weitergehen können, zumal ihm immer noch Zeit blieb, den eigenen kleinen Haushalt in Schuss zu halten und seine Frau ab und zu mit seinen Kochkünsten zu verwöhnen.

Bis er eines Tages bei Frau Dr. Kerstin Beyer, einer verwitweten Studienrätin, die Wohnung putzte. Als er gerade mit Staubwischen und Staubsaugen im Wohnzimmer fertig war, lud sie Maximilian zu einer Tasse Kaffee ein. Die attraktive Fünfzigerin meinte zu ihm: »Sie machen Ihre Arbeit sehr gut, ich freue mich, wieder einmal einen Mann im Hause zu haben und sehe Ihnen gern zu. Wenn ich ehrlich bin, muss ich aber sagen, dass es mir noch mehr Vergnügen bereiten würde, wenn ich Sie bei Ihrer Reinigungstätigkeit gewissermaßen in Reinkultur erleben dürfte.«

Der Putzmann verstand nicht recht, oder er glaubte das nicht, was er verstanden zu haben meinte. »Frau Doktor, ich verstehe nicht …«

»Ich glaube schon, dass Sie mich verstanden haben. Es würde mir ein großes Vergnügen bereiten, Sie im Adamskostüm arbeiten zu sehen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich möchte Sie nur ansehen, nicht anfassen oder gar Weiteres. Anderes interessiert mich nicht. Ich würde Ihnen auch den dreifachen Stundensatz zahlen.«

Max war verblüfft, aber nach kurzer Überlegung erklärte er sich einverstanden. Warum auch nicht? Dieselbe Arbeit bei dreifacher Bezahlung … Er ging regelmäßig an den FKK-Strand, mit Sabrina, aber seit er arbeitslos war, auch mal allein. Also, was soll’s? Wenn die sympathische Studienrätin ihren Spaß daran hat.

Es stellte sich heraus, dass ihm das Nacktputzen gefiel, sich frei und ungezwungen, durch nichts eingeschränkt, zu bewegen, eben so, wie Gott ihn erschaffen hat. So kam es, dass er drei bis vier Mal in der Woche mit großem Vergnügen in die Stadtvilla der Frau Dr. Beyer kam und andere Anfragen ablehnte.

Nachdem das einen halben Monat so ging, erzählte er dieses Abenteuer endlich seiner Frau, als sie abends gemütlich auf der Couch zusammensaßen – und Sabrina hätte sich vor Lachen beinahe verschluckt. Sie hatte zwar ungläubig einige Male nachfragen müssen, aber dann begriff sie. Von Eifersucht, wie er befürchtet hatte, keine Spur. Eher im Gegenteil – ihr Geschäftssinn erwachte.

Nach gemeinsamer Beratung gründete Maximilian eine Ein-Mann-Firma, die ihre Dienste unter dem Motto „Adam putzt in Reinkultur“ anbot. In einschlägigen Annoncen wurden höchste Sauberkeit und Hygiene sowie Diskretion versprochen und „keine sexuellen Interessen“ betont, Vergütung nach Vereinbarung. Nach zwei Wochen war das Auftragsbuch voll, weiterer Anzeigen bedurfte es nicht.

 

Der Nacktputzer Adam erfreute sich höchster Beliebtheit. Wie schon zuvor sprachen sich sein Fleiß und sein Putztalent herum, aber vielleicht auch andere Vorzüge des Mannes. Jedenfalls wurde er sehr viel von alleinstehenden Frauen gebucht, selten von Paaren. Anfragen von Männern gab es auch, diese lehnte er aus „terminlichen Gründen“ ab.

Die Frauen, die er aufsuchte, verhielten sich sehr unterschiedlich. Manche zeigten ihm, was sie gereinigt haben wollten und zogen sich dann zurück, schauten nur ab und zu fast schüchtern nach dem nackten Mann. Sehr oft bemerkte Maximilian, dass die Frauen offenbar vorher gründlich saubergemacht und aufgeräumt hatten, sodass für ihn eigentlich nichts zu tun übrig blieb. Sie wollten sich wohl nicht mit einer unordentlichen Wohnung blamieren, aber auf die Anwesenheit und den Anblick des jungen Mannes nicht verzichten. So putzte Max eben unter ihren Augen zum Schein. Insgesamt fühlte er sich sehr wohl und von den Kundinnen geschätzt.

Einmal empfing ihn eine attraktive Mittdreißigerin im Negligé, das sie sogleich auch noch auszog. »Sie haben doch nichts dagegen?«, meinte sie keck. »Ich möchte, dass wir uns quasi auf gleicher Augenhöhe begegnen.«

»Aber nicht doch! Sie können sich in Ihrer Wohnung frei bewegen. Ich bin aber nur für das Putzen da.« Max wollte Missverständnissen vorbeugen.

Es gab auch Situationen, in denen Max nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. So konnte er gewisse körperliche Reaktionen nicht verhindern, wenn sich die Hausfrau lasziv in ihren Sofakissen rekelte. Er versuchte, sich dann völlig auf seine Reinigungsarbeit zu konzentrieren. Dabei war klar, dass manche Frau ihn bewusst provozieren wollte. So bemerkte eine Auftraggeberin bei der Bezahlung: »Wissen Sie, ich habe mich über die sichtbare Neugier Ihres Mäxchens ganz besonders gefreut.« Sie legte noch einen großen Schein auf die vereinbarte Summe.

In der Folge versuchte Maximilian manchmal, sich erregende Bilder im Kopfkino auszumalen, um etwas mehr von sich zu zeigen. Häufig mit dem Erfolg eines erhöhten Trinkgeldes.

 

Nach Feierabend saßen Sabrina und ihre Freundin Isabell, die stellvertretende Filialleiterin des Marktes war, in dem beide arbeiteten, im Bistro. »Lass uns noch ein bisschen länger schwatzen, Sabrina. Ich lade dich zu einem Glas Sekt ein.« Isabell hatte noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Dort wartete niemand auf sie. »Prost, auf unsere Freundschaft!« Sie stießen miteinander an und nippten dann an ihren Gläsern. Isabell schaute Sabrina an und meinte: »In letzter Zeit wirkst du nicht mehr so gedrückt wie noch bis vor Kurzem. Es freut mich, dass du wieder lockerer und fröhlicher bist. Geht es dir und deinem Mann wieder besser? Ich weiß, dass dich seine Arbeitslosigkeit belastet hat.«

Da erzählte Sabrina der Freundin voller Vertrauen von der neuen, gut honorierten Tätigkeit von Max und verschwieg auch nicht das dabei Besondere.

»Das scheint mir ja eine recht delikate Sache zu sein. Aber wenn es genug einbringt, warum nicht? Ihr geht ja auch nackt baden, wie du schon mal erwähnt hast. Erlebt er da aber nicht manchmal gewisse Angebote einsamer Damen?«

»Nein, nein! Max erzählt mir alles. Es gibt schon Frauen, die mehr wollen, aber er hat ja mich. Und liebt mich! Ein Hinweis auf die Regeln genügt in solchen Fällen: Ansehen ja, mehr nicht!«

 

Bald gehörte Isabell auch zum Kundinnenkreis von Adam putzt. Max kannte sie vorher nicht. Er fand sie attraktiv und sympathisch. Gleich beim ersten Mal zog sie sich auch aus und sagte: »Du sollst dich bei mir wohl fühlen. Mir selbst wäre es unangenehm, nackt mit Angezogenen zusammen. Deshalb stelle ich Gleichheit her.«

Sie flirtete frei und offen mit ihm, aber hielt die körperlichen Grenzen ein: Berührung war tabu. Dafür bestellte sie ihn immer häufiger zu sich und gab ihm anstrengende Reinigungsaufgaben wie den Kampf gegen die hartnäckige Verkalkung der Duschkabine oder beim nächsten Mal die Säuberung der fettigen Dunstabzugshaube. Als er sich dazu auf einen kleinen Tritt stellen musste, kam sie ihm doch recht nah …

Ein anderes Mal kam Maximilian beim Schrubben der in das Ceranfeld eingebrannten Flecken ins Schwitzen, sodass er anschließend duschen musste. – Und da passierte es. Auf einmal stand Isabell vor ihm unter der Dusche, sie glitt an seinem Körper herunter und wurde aktiv …

 

Bereits am selben Abend gestand Max alles seiner Frau. Am nächsten Tag stellte sie ihre angebliche Freundin zur Rede. Diese lachte ihr aber nur ins Gesicht. »Was hast du denn gedacht? Sollte ich einen Mann, der so gut putzen kann und das auch noch gern macht, einfach so laufen lassen?«

 

 

 

 Januar 2024

 

 

Die Geschichte ist original für die Schreibaufgabe November 2023 entstanden zum Thema: Ungewöhnlicher Nebenverdienst. Sie trug und trägt im Schreibforum den unverfänglichen und den Forumsteilnehmern nicht vor dem Lesen zuviel verratenden Titel "Warum nicht?" Vorab habe ich sie in BookRix unter dem Titel "Adam putzt" am 10. Oktober 2023 eingestellt.

 

Die böse Hexe – Nur der linke Weg ist der rechte

Thema:  Wie ist die Hexe aus Hänsel und Gretel zu dem geworden, was sie ist?

 

 

Nur der linke Weg ist der rechte

 

Jacob erwachte aus tiefem Schlaf. Verwundert schaute er um sich und wusste im Moment gar nicht, wo er war. Das kannte er, denn nach einem oder gar mehreren Tagesmärschen fiel der junge Zimmergeselle oft todmüde auf die Schlafstatt, wenn er endlich eine gefunden hatte. Er lag auf einer breiten Matratze in einem Raum, der von Gitterstäben begrenzt war. Schwaches Dämmerlicht drang durch einen dunklen Vorhang hinter dem Gitter. Plötzlich durchfuhr ihn ein Schreck, als er erkannte, was heute anders als sonst war. Er war nackt, vollkommen nackt. Nirgends war seine Kluft zu sehen.

Auf einmal wurde es hell, der Vorhang war beiseite geschoben worden. Eine bildschöne junge Frau stand am Gitter und schaute ihn an. Da fiel Jacob alles wieder ein. Gestern am Abend war er auf seiner Wanderung tief in einem dunklen Wald endlich auf ein Haus gestoßen und hatte um Einlass gebeten. Diese junge Frau hatte ihn freundlich aufgenommen, ihm Brot und Braten vorgesetzt und dazu einen Krug voll köstlichen Weins. Sie hatte aufmerksam zugehört, als er von den Erlebnissen auf seiner Walz erzählte und ihm zugelächelt. Ein Kamin verbreitete wohlige Wärme in der Hütte. Jacob erinnerte sich noch an einen Küchenherd, auf dem es in einigen Töpfen brodelte, ein Sofa mit vielen bunten Kissen und daneben eine Tür, von der er annahm, dass sie in eine Schlafkammer führt. Ein Teil des Raumes, in dem er mit der hübschen Blonden gesessen hatte, war mit einem Vorhang abgetrennt. Wie Jacob hierher, offenbar hinter diesen, gekommen war, wusste er allerdings nicht.

»Ich sehe, du hattest einen anregenden Traum«, unterbrach eine liebliche Stimme seine Gedanken. »Hast du vielleicht von mir geträumt?«

Jacob wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er versuchte, seine Erregung mit den Händen zu verstecken. »Warum bin ich nackt? Wo sind meine Sachen?«

»Deine Kleidung habe ich im Waschtrog eingeweicht. Sie war schmutzig und roch nicht sehr angenehm. Ich werde sie nachher waschen.

Aber du brauchst dich vor mir nicht zu genieren. Komm bitte her und zeige mir, was du da Schönes hast! Stecke es durchs Gitter und lass es mich anfassen.

Danach bringe ich dir feines Weizenbrot, Milch und Honig zur Stärkung.«

Was sollte der Wanderbursche machen? Die junge Frau hatte ihn wohl in der Nacht willenlos gemacht, vielleicht mit dem Trunk. Sie hatte ihn ausgezogen und in den Gitterkäfig hinter den Vorhang gesperrt. Er war ihr Gefangener. Jacob überließ sich also ihren Händen – und erfuhr ungeahnte Zärtlichkeiten. Von einem Augenblick zum anderen war er ihr verfallen.

Sie entließ ihn aus dem Käfig, worauf der Bursche sich voller Verlangen bei der Verführerin lustvoll revanchierte.

An ein Weiterwandern war in den nächsten Tagen nicht zu denken, abgesehen davon, dass die Fenster vergittert waren, die Tür abgeschlossen und der Schlüssel versteckt. Die Anziehungskraft der holden Weiblichkeit hielt Jacob fest. Nana, so nannte sich die Frau, hatte den jungen Mann verhext. Die beiden litten keine Langeweile, sondern erfreuten sich gegenseitig an immer wieder neuen und ebenso alten sinnlichen Spielen.

In einer Atempause fragte Jacob endlich, was ihn schon lange beschäftigte: »Wie kommt es, dass eine so schöne junge Frau wie du hier einsam und weit weg von den nächsten Dörfern im Wald lebt?«

»Oh, das ist eine lange Geschichte. Ich komme aus Bessartshausen hier im Hessischen, etwa einen Tagesmarsch entfernt. Es war meine Oma, die mir schon in frühen Kindertagen viel beibrachte. Sie lehrte mich die Kräuter, Beeren und Pilze des Waldes kennen. Zu allen wusste sie, wozu sie nützlich sind. Oma zeigte mir, welche man zum Heilen auf Wunden legen konnte, aus welchen sich allerlei Tees und andere Tränke brauen ließen und welche gut zum Essen oder auch zum Würzen der Speisen waren. Manche ihrer Sude hatten überraschende Wirkungen, die die Leute im Dorf verblüfften und für glatte Zauberei hielten. Sie verstand es, mit verschiedenen Mitteln die Sinne der Menschen anzuregen, sie im Glück schwelgen zu lassen und ins Traumland zu schicken. Als ich schon älter war, verriet sie mir Rezepturen, die Frauen und Männer in gegenseitige Begierde und Liebestaumel stürzten.«

 »Ja, das sind doch alles schöne Sachen und erklärt nicht …«, fiel ihr Jacob ins Wort.

»Da hast du recht, aber die Leute nannten meine Oma eine Hexe, die ihre Zauberkünste vom Teufel gelernt hätte. Manche behaupteten gar, dass sie mit dem Teufel buhle.«

»Da hat man ihr wohl den Prozess gemacht?«

»Zum Glück ist es nicht so weit gekommen. Der damalige Pfarrer von Bessartshausen war ein kluger Mann, der auch gern manche der Tränke und Tinkturen meiner Großmutter zu seinem persönlichen Wohl nutzte. Er hielt eine schützende Hand über sie.«

»Das ist ja gut gewesen! Aber wieso du …?«

»Nicht so ungeduldig, mein stürmischer Liebhaber! Ich sehe, du würdest gern schon wieder etwas ganz Anderes mit mir machen, als meine Erklärung zu hören.« Dabei blickte sie dorthin, wo sich seine Gelüste offenbarten. »Meine Mutter hatte von ihrer auch sehr viel gelernt und wurde deshalb auch für eine Hexe gehalten. Leider habe ich sie nie kennengelernt, denn sie ist bei meiner Geburt gestorben. Trotz aller angeblichen Zauberkünste meiner Großmama. Die Leute sahen in diesem Unglück ein Zeichen. Und ich war fortan das böse Hexenkind.«

»Das ist ja schrecklich, arme Nana. Es tut mir so sehr leid.«

»Ach was! Ich hatte meine Oma. Und als ich mich für die Burschen im Dorf zu interessieren begann, wusste ich, wie ich sie mir gefügig machen konnte. Und zwar alle, die ich wollte … Ich habe mich nie mit nur einem zufrieden gegeben. Du hast es ja auch schon bemerkt: Ich liebe die Männer. Aber ich war nicht egoistisch. Wenn ein Mädchen ein Auge auf einen Burschen geworfen hatte, so half ich ihm mit meinen Mitteln, ihn für es zu gewinnen. Umgekehrt tat ich Gleiches auch für die Bauernsöhne und Knechte im Dorf. Ich brauchte ja nicht alle gleichzeitig für mich. Ich verriet den Liebenden auch die Geheimnisse, die sie vor unerwünschten Schwangerschaften bewahrten.«

»Ja, das ist doch alles kein Teufels- und Hexenwerk?«

»Richtig! Ich habe dann aber einen großen Fehler begangen.«

»Welchen? Hast du zwei Burschen zugleich in dieselbe Jungfer verliebt gemacht und die haben sich die Köpfe eingeschlagen? Oder was …?«

»Nein, ich bin auf das Werben eines stattlichen Bauern in den besten Mannesjahren eingegangen und habe ihn so verwöhnt, wie er es von seiner Bäuerin nicht kannte. Und es hat ihm und mir gefallen. Ich liebe die Männer! Es ist so schön, wenn solch starke Mannsbilder wie Wachs in meinen Händen sind. Genauso wie du auch, mein Süßer! Es blieb nicht bei dem einen Bauern. Meine Talente sprachen sich herum, auch andere Bauern und Großknechte, der Metzger, der Müller, der Bäcker, sogar der Dorfschulze besuchten mich. Das blieb deren Frauen nicht lange verborgen, die darob ein großes Geschrei anstimmten und viel Schlechtes über mich herumerzählten. Das Hexenkind war zu einer bösen Hexe geworden. Die Weiber lagen dem Pfarrer in den Ohren und fanden Gehör. Ihm erschien mein Lebenswandel längst als gotteslästerlich, er wollte einen Prozess gegen mich anstrengen. Wegen Teufelsbuhlschaft und frevlichem Verstoß gegen das heilige Sakrament der Ehe.«

»Und? Kam es zu einem Hexenprozess gegen dich?«

»Nein, das hat der Bischof in Fulda verhindert. Er hatte gelegentlich auch sinnliche Freuden in meinem Bett genossen.«

»Oh …!«

»Bist du eifersüchtig? Das ist doch Jahre her!«

»Und wieso bist du denn nun hier – mitten im Wald?«

»Als meine Großmutter starb – Gott hab sie selig – wurde es ganz schlimm. Der Pfarrer setzte sich gemeinsam mit den alten Weibern im Dorf durch, selbst gegen den Schulzen. Vor allem wohl, weil sich der schon alte Lehrer und Kantor nicht gegen seinen Pfarrer und Dienstherrn stellte. Er mochte mich, hatte aber keine fleischlichen Gelüste mehr. So wurde ich aus Bessartshausen verbannt. Dem Lehrer habe ich es aber gemeinsam mit dem Schulzen zu verdanken, dass die jungen Männer des Dorfes mir hier im Wald das Blockhaus hingesetzt haben. Sie haben dafür nur eine Woche gebraucht. Es ist solide und hat alles, was ich brauche. Mit den Früchten des Waldes kann ich mich sowieso ernähren, selbst Fallenstellen habe ich gelernt. So kommt ab und zu auch ein Braten auf den Tisch.«

»Aber du bist ganz allein …« Jacob beugte sich zu ihr und streichelte bedauernd ihre Wangen. Dann gab er ihr einen Kuss.

»Ich bin doch nicht allein! Es kommen wie du immer mal Gesellen auf der Walz vorbei. Die Burschen aus Bessartshausen wissen ja auch, wo sie mich finden. Und sie können sich schon mal ab und zu von der Arbeit frei machen. Sogar aus dem Dorf auf der anderen Seite des Waldes kamen schon Mannsleute, um mir Gesellschaft zu leisten.«

»Da habe ich ja Glück gehabt, dich hier allein anzutreffen. Hast du mir eigentlich etwas eingeflößt, um mich in deinen Käfig sperren zu können?«

Darauf antwortete Nana nicht, lächelte nur versonnen.

»Ich bin jedenfalls froh, das Hexenhaus hier gefunden zu haben«, sagte Jacob und lachte. »Beim Abschied von meinem letzten Meister flüsterte er mir zu, dass ich an der großen Weggabelung tief im Wald den rechten Abzweig nehmen soll. Die Meisterin aber mischte sich ein und meinte, ich soll nicht auf ihren Mann hören, nur der linke Weg sei der rechte. Sonst käme ich auf wenig gottgefällige Abwege.«

»So etwas haben mir die Burschen, die mich besuchen, auch schon erzählt. Es kursieren Gerüchte, dass hier tief im Wald eine Hexe haust, die kleine Kinder anlockt, um sie zu essen. Vor allem auf Jungen hätte sie einen Riesenappetit und sperrt sie ein, um sie fett zu füttern. Weil sie schlecht sieht, lässt sie sich die Finger durchs Gitter stecken, um zu fühlen, ob ihr Opfer zugenommen hat. Das erzählen die Weiber im Dorf vor allem den Knaben, damit sie sich das merken und auch später nicht das Hexenhaus suchen, von dem die älteren Brüder hinter der Hand nur Gutes erzählen. Manche behaupten gar, ich sei schon tot, verbrannt, wie es sich für Hexen gehört. Die träumen noch von den fürchterlichen Hexenverbrennungen.«

Nana schaute Jacob an und fragte dann gespielt empört: »Sag mal, habe ich mir von dir den Finger durchs Gitter stecken lassen?«

Jacob schüttete sich bald aus vor Lachen.

»Weißt du was, mein Süßer, ich esse zwar keine Knaben, aber dich habe ich zum Fressen gern und möchte dich jetzt gleich auf der Stelle vernaschen.

»Da bin ich gern dein Naschwerk«, konnte der junge Mann gerade noch sagen, bevor beide in einem leidenschaftlichen Kuss versanken.

Nachdem die erste Glut wieder gelöscht war, sprach Nana ihre Befürchtungen aus: »Es sollte mich nicht wundern, wenn die Gerüchte von irgendjemandem aufgeschrieben und dann gedruckt werden. Was schwarz auf weiß zu lesen ist, glauben die Leute – und dann bin ich auf ewig DIE BÖSE HEXE.«

 

Nachsatz:

 

Die Befürchtung von Nana erfüllte sich schon im Jahr 1812. Jacob (sic!) und Wilhelm Grimm hatten die immer weiter ausgeschmückte Geschichte, die über sie in Hessen im Umlauf war, aufgegriffen und an Stelle 15 in ihre Kinder- und Hausmärchen aufgenommen. Seitdem ist sie immer weiter verbreitet worden.
Es wurde Zeit, hier einiges geradezurücken und über die Wahrheit aufzuklären.

 

 

             Januar 2024

 

Die Geschichte "Nur der linke Weg ist der rechte" ist original für die Schreibaufgabe Dezember 2024 im November 2023 entstanden und vorab bei BoohRix von mir am 11. November unter dem Titel "DIE BÖSE HEXE" veröffentlicht worden.

 

 

 

 

Eternity

 Thema: Du erwachst, öffnest die Augen, aber nicht in deinem eigenen Körper.

              Kafka lässt grüßen

 

 

 

 

                                                                                                                               Januar 2024

 

Die Geschichte "Eternity" ist durch die Themenstellung für Februar 2024 angeregt worden und für das Schreibforum Mitta Januar 2024 entstanden. Sie hält sich allerdings nicht pedantisch an diese Aufgabenstellung, aber der Protagonist und Ich-Erzähler fragt sich wegen ungewöhnlicher Umstände zu Recht, ob er er selbst ist. Bin ich wirklich ICH? Damit kommt stellt sich die Frage, ob er im eigenen Körper steckt, indirekt.

Für BX-Freunde ist "Eternity" sie vorab schon am 14.1.2024 zum Lesen eingestellt worden.

Impressum

Texte: Franck Sezelli
Bildmaterialien: (Cover der Geschichten) Franck Sezelli unter Verwendung von privaten Fotos und von freien Pixabay-Bildern
Cover: Franck Sezelli unter Verwendung eines freien Pixabay-Bildes
Tag der Veröffentlichung: 03.05.2022

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Man muss systematisch Verwirrung stiften – das setzt Kreativität frei. Alles, was widersprüchlich ist, schafft Leben. – Salvador Dalí –

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