Cover

Die Griechen nannten sie die Weiße

 

Seit unserer Jugend war Frankreich das Land unserer Träume. So war es nicht verwunderlich, dass meine Frau und ich Mitte der Neunzigerjahre endlich beschlossen, eine ausgedehnte Reise durch Frankreich zu unternehmen. Abgesehen von einer Drei-Tage-Pauschalreise nach Paris, gleich nachdem uns dies mit dem Mauerfall möglich wurde, war dies unsere erste Reise nach Frankreich. Seitdem hat uns La France nicht mehr losgelassen. Denn schon auf dieser ersten ganz individuellen Reise, die uns an die Atlantikküste führte, empfanden wir Frankreich als ein großartiges Reiseland. So wie bei diesem ersten Mal haben wir uns auch in den Folgejahren für die Fahrt bis ans gebuchte Ziel immer mindestens eine Woche Zeit gelassen und jedes Mal eine andere Route gewählt, sind unterwegs dort geblieben, wo es uns gefiel, und lernten auf diese Weise Land und Leute recht gut kennen.

Wir hatten alle beide das Glück, in der Schule Französisch gelernt zu haben. Dieser Umstand brachte uns auch mehrere Sommer lang in einem Ferienlager mit französischen Schülern zusammen, die unser Land besuchten. Das beflügelte uns natürlich beim Erlernen der Sprache. Allerdings lag das Abitur beim Antritt unserer ersten Fahrt fast 30 Jahre zurück! Zur Vorbereitung der Tour belegten wir an der Universität einen studentischen Sprachkurs für Fortgeschrittene. Da ich selbst in der Universität arbeitete, wenn auch an einer anderen Fakultät, wurde uns das ganz unbürokratisch ermöglicht. Zur Freude der Seminarleiterin, einer französischen Muttersprachlerin, wurden wir beide schnell die eifrigsten und gelehrigsten Teilnehmer. Im Gegensatz zu den Studenten, die den Kurs für ihren Seminarschein besuchten, hatten wir das ehrgeizige Ziel, unsere verschütteten Französischkenntnisse wieder hervorzukramen und aufzufrischen.

Das war uns auch ganz gut gelungen, konnten wir uns dann doch einigermaßen in den Hotels und Restaurants verständigen. Seinerzeit konnte man die Übernachtung noch nicht per Internet reservieren. Also sind wir ab dem späten Nachmittag mit besonders offenen Augen durchs Land gefahren auf der Suche nach einem schön gelegenen Hotel, das auch unserem Geldbeutel gerecht wurde. Glücklicherweise sind die Zimmerpreise wie auch heute noch stets außen auf einer Tafel zu lesen, sodass man sich peinliche Fragen und eventuelle Rückzüge an der Rezeption ersparen kann. Wir kamen also ganz gut zurecht, waren aber natürlich vor Überraschungen nicht gefeit, die den trotz allem schwachen Sprachkenntnissen und unzureichenden Erfahrungen geschuldet waren. So bedarf das Lesen von französischen Speisekarten eines besonderen Studiums, das wir auch bis heute noch nicht gänzlich abgeschlossen haben. Verständlich ist, das sich zum Beispiel ein Schwein im Stall von einem servierten Teil desselben auf dem Teller auch sprachlich unterscheidet. Darüberhinaus gibt es noch viele andere Schwierigkeiten. Ich erinnere mich an unseren allerersten Abend in einem Hotelrestaurant, als wir als Vorspeise eine Terrine bestellt hatten und dachten, wir könnten daraus für jeden einen kleinen Teller mit einem Süppchen füllen. Stattdessen wurden uns Pastetenscheiben serviert, wie wir mit großen Augen feststellen mussten. Immerhin reichte unser Französisch, um auf den vermeintlichen Irrtum hinzuweisen und sich dann aber vom Kellner aufklären zu lassen, dass „terrine“ auch Pastete bedeutet.

In unseren Anfängen in Frankreich waren wir ebenfalls immer mal wieder verunsichert, wenn die Frau des Hauses mit einer Käseplatte herumkam. War das in unserem bestellten Menü dabei oder würde dann aus dem Drei-Gänge-Menü des Tages ein anderes teurer zu wertendes Vier-Gänge-Menü werden? Und wenn man sich doch entschlösse, die Käseauswahl als zum Menü gehörig zu betrachten, wieviel und von wievielen Sorten darf man sich bedienen? Noch heute lachen wir über unsere damaligen Unsicherheiten.

***

Wie gesagt, unser erstes Ziel in Frankreich war die Atlantkküste, wo wir in einem großen Ferienresort einen Bungelow mieteten. Unser Paradies und zweite Heimat aber ist Aphrodite Village in Leucate an der Mittelmeerküste geworden. Um unsere französische Freundin Dominique aus der Schulzeit in Perpignan zu besuchen, mit der wir über viele Jahre hinweg lockeren Briefkontakt gehalten haben, suchten wir uns ein Urlaubsquartier in der Nähe. So sind wir auf den Badeort Port Leucate und seine Ferienresidenzen aufmerksam geworden. Es war dann Ende der Neunziger, als wir Leucate das erste Mal besucht und hellauf begeistert waren.

Aphrodite Village ist eine dieser Feriensiedlungen, die gemeinsam mit anderen wie dem Club Oasis, Ulysse, was Odysseus bedeutet, den Venusgärten, Eden und weiteren Anlagen, deren Namen die Fantasie anregen, auf einer Halbinsel mit einem langen, feinsandigen Strand zwischen Leucate Plage und Port Leucate direkt am Mittelmeer liegt. Auf der anderen Seite dieser langen schmalen Halbinsel, die einst durch Verlandung entstanden ist, liegt ein großer Salzsee, der Étang von Leucate. Er ist das Ergebnis der Abschnürung der Meeresbucht durch den Verlandungsprozess und stellt heute das größte Flachwasser-Surfgebiet Europas dar. Leucate befindet sich etwa auf halber Strecke zwischen den Städten Narbonne und Perpignan an der Grenze zum wunderschönen Roussillon, der spanischen oder besser katalanischen Ecke des Landes, die erst mit dem Pyrenäenfrieden 1659 zu Frankreich gekommen ist.

Von Aphrodite aus genießen wir einen schönen Blick auf das Corbières-Gebirge und die Pyrenäen mit dem Canigou-Massiv. Überhaupt ist die Landschaft hier von besonderer Schönheit. Die unmittelbare Nähe von Meer und Gebirge fasziniert alle Besucher. Die Küste ist über Hunderte Kilometer flach, aber hier im äußersten Westen des Languedoc, wie dieser südliche Landesteil genannt wird, erhebt sich eine Steilküste. Dieser helle Felsen ist verantwortlich für den Namen des Ortes. Er erinnerte griechische Seefahrer der Antike an die ähnlichen Klippen der Insel Lefkada im Ionischen Meer. Das griechische Wort λευκός (leukós), das sie zur Benennung dieses Kaps benutzten, bedeutet nämlich weiß.

Für meine Frau und ich, die wir die Sonne und die Wärme lieben, ist es ein weiterer Vorzug dieses südlichsten Teils des französischen Festlandes, dass er von der Sonne verwöhnt wird. Durchschnittlich 300 Sonnentage im Jahr werden hier gezählt.

Die inzwischen weit über 40 Jahre alte Feriensiedlung Aphrodite besteht aus ein- und zweigeschossigen kleinen Appartement-Häuschen in landestypischer, sehr anmutiger Bauweise, die zum Teil von ihren Eigentümern auch für Urlauber angeboten werden. Allerdings bleibt eine immer größer werdende Zahl von Leuten einen Großteil des Jahres in dieser grünenden und blühenden, sehr gepflegten Anlage und vermietet nicht mehr. Sie arbeiten in der Umgebung oder sind im Ruhestand.

Wir haben uns von Anfang an in der hier herrschenden ruhigen, ausgeglichenen und freundlichen Atmosphäre wohl gefühlt. In der internationalen Gemeinschaft von Aphrodite Village, zu der neben den Eigentümern auch die jedes Jahr wiederkehrenden Mieter gehören, fühlten wir uns sehr schnell gut aufgehoben. Von besonderem Vorteil war der Umstand, dass wir schon zu Hause begonnen hatten, Pétanque zu spielen. Durch eine Initiative der Deutsch-Französischen Gesellschaft unserer Heimatstadt sind wir mit der Wettkampfvariante des bekannten Boule-Spiels, das man auch gern als den französischen Nationalsport bezeichnet, vertraut geworden. Im Sommer fanden mehrmals die Woche kleine Turniere statt, bei denen man auch einiges gewinnen konnte wie Wein, Näschereien, Gutscheine und ähnliches. Die Mannschaften wurden immer ausgelost, aber manchmal wollte es der Zufall, dass meine Frau und ich zusammen spielen konnten. Da wurden wir auch schon mal als das „couple diabolique“, das teuflische Paar, bezeichnet, weil wir gut aufeinander abgestimmt waren und deshalb oft gewannen. So haben wir im Laufe der Jahre durch das gemeinsame sportliche Spiel während des Urlaubs viele Freunde und Bekannte unter den Franzosen, Belgiern, Niederländern, Schweizern und natürlich auch Deutschen gewinnen können.

Aphrodite Village besitzt auch zwei schöne Swimmingpools, die zu nutzen besonders angenehm ist, wenn die Tramontane bläst und der Strand sozusagen von einem Sandstrahlgebläse heimgesucht wird. Dieser Wind kommt oft unverhofft von den Bergen herunter und kann dann einen Tag oder drei oder gar sieben heftig und kalt blasen. Er putzt den Himmel blitzblank, treibt aber leider auch das warme Wasser ins Mittelmeer hinaus. Aber so wie man die Provence trotz des gefürchteten Mistral überall in der Welt liebt, so gehört die Tramontane eben zum südlichen Languedoc-Roussillon. In Leucate werden jährlich internationale Surfmeisterschaften ausgetragen, nicht ohne Grund nennt sich der Ort gern auch Welthauptsatdt des Windes.

Spätestens dann, wenn der Wind die Leute vom Strand fernhält, war in den vielen Jahren, die wir dort Urlaub gemacht haben, Gelegenheit, das interessante, geschichtsträchtige Hinterland zu erkunden. Hier im Roussillon, dem katalanischen Land und dem benachbarten Land der Katharer gibt es eine ungeheure Vielfalt an Landschaften, Klöstern, Burgen, Museen, Weingütern, schmucken Dörfern und interessanten Städtchen zu besichtigen. Obwohl wir schon so oft und lange dort waren und nun sind, lernen wir immer wieder Neues kennen.

***

Das Département Aude, zu dem Leucate gehört, wird von Carcassonne aus verwaltet. Die weltbekannte mittelalterliche Cité von Carcassonne ist die größte erhaltene Festungsanlage Europas und eines der beliebtesten touristischen Ziele ganz Frankreichs. Deshalb ist es eine sehr gute Idee, sie außerhalb der Saison zu besuchen, wie wir dies gern machen. Weitere Ausflugsziele sind die Burgen in den Corbières, in denen die Katharer vor der Verfolgung durch die päpstlichen Kreuzzügler im 13. Jahrhundert ihre letzte Zuflucht fanden. Das Wort Ketzer leitet sich im Übrigen von der Bezeichnung der Katharer ab, was wiederum die „Reinen“ bedeutet.

Sehenswert sind viele Abschnitte des Canal du Midi, zum Beispiel die Schleusentreppe „Neuf écluses“ bei Béziers. Auch die Stadt Béziers selbst mit seiner von einem Felsplateau weithin ins Land blickenden Kathedrale und der Kanalbrücke über den Fluss Orb ist einen Besuch wert. Das gilt erst recht für Narbonne, das Zentrum der ersten römischen Provinz in Gallien, der „Gallia Narbonensis“, mit der wunderschönen Markthalle, der Kathedrale, die eine der höchsten Frankreichs ist, und den Resten der „Via Domitia“, der historischen römischen Verbindungsstraße zwischen Italien und Spanien.

Die Leucate am nächsten gelegene Stadt ist Perpignan, die südlichste und heißeste Großstadt Frankreichs. Die Hauptstadt des katalanisch geprägten Roussillons, offiziell des Départements Pyrénées Orientales, nennt sich auch „Perpinyà - La Catalunya“ und ist praktisch die kleine Schwester Barcelonas. Zu besichtigen ist hier beispielsweise das Palais der Könige von Mallorca, denn von 1276 bis 1344 war Perpignan Hauptstadt des unabhängigen Königreiches Mallorca. Interessant ist auf jeden Fall auch die vielgerühmte Karfreitagsprozession, bei der um die tausend furchteinflößend aussehende rote und schwarze Kapuzenmänner durch die Straßen ziehen. Diese älteste katalanische Prozession geht auf die katholische Bußbrüderschaft „Confrérie de la Sanch“ zurück, die „Bruderschaft des Blutes“, die in historischer Zeit unter anderem zum Tode Verurteilte zum Galgen begleitete. Heute ist diese berühmte Prozession eine Mischung aus religiöser Tradition, katalanischer Folklore und touristischer Attraktion, bei der mehrere Dutzend Mysterienbilder, die Wochen vorher in selbstloser gemeinsamer Arbeit hergestellt wurden und den Kreuzweg und die Leiden Jesus darstellen, durch die Stadt getragen werden.

Generell ist die Region Nord-Katalonien reich an folkloristischen Traditionen, die von der Bevölkerung mit viel Enthusiasmus gepflegt werden. Gern erinnere ich mich an das „Fest der Riesen“, das wir an einem Ostersonntag in Villefranche-de-Conflent besucht haben, einem Städtchen in den Pyrenäen, das zu den „Plus Beaux Villages de France“, den „Schönsten Dörfern Frankreichs", zählt. Diese kleine Festungsstadt liegt im engen Tal des Têt und ist allein schon einen Ausflug wert. Der Ort besteht im wesentlichen nur aus zwei kleinen Straßen und ist von einer hohen Stadtmauer umgeben, die auch heute noch vollständig erhalten ist und so an die viel größere Cité von Carcassonne erinnert.

Gerade zu Ostern erleben die katalanischen Bräuche im Roussillon einen Höhepunkt. Gern sind wir zu Gast beim Ostermontags-Dorffest in Saint Cyprien, das mit Gesang, katalanischen Tänzen und vor allem dem „Teilen des österlichen Omeletts“ begangen wird, einem köstlichen Rührei in frischem Baguette. Bereits am Samstag werden dazu Eier und Wurst im Ort von Frauen und Männern in traditioneller Tracht gesammelt, wobei sie zur Erbauung der Einwohner und Touristen Osterlieder singen, auf katalanisch „Els goigs dels ous“.

Lohnenswert finden wir auch immer Ausflugsfahrten ins benachbarte Spanien, wie zum Beispiel für einen Besuch des interessanten Dalí-Museums in Figueres, oder an einen der belebten Badeorte der Costa Brava. Auch einen Tagesausflug ins quirlige Barcelona kann man unternehmen, nach Möglichkeit nicht in der heißesten Jahreszeit.

Die Pyrenäen locken uns ebenfalls zu reizvollen Ausflügen. Mit dem „Kleinen gelben Zug“ haben wir uns von Villefranche-de-Conflent bis Mont-Louis über schwindelerregende Abgründe fahren lassen, beides sind sehenswerte mittelalterliche, befestigte Städtchen, an deren Umfriedung kein anderer als Vauban, der berühmte Festungsbaumeister Ludwigs XIV., mitgewirkt hat.

Auch die Natur hat in dieser Gegend viel zu bieten. Ich denke hier an die „Orgeln von Ille-sur-Têt“, eine faszinierende Landschaft von durch Erosion entstandenen Säulen in einem Felsengebirge. Die „Gorges de la Fou“, ebenfalls in den Pyrenäen gelegen, bilden Europas engste Schlucht, die bis 150 m tief, aber teilweise nur mannsbreit ist, und im heißen Hochsommer willkommene Kühle bietet.

Auf unserem Freizeitprogramm, das wir oft auch mit unserer französischen Freundin Dominique aus unserer Jugendzeit und ihrem Mann bestreiten, steht auch regelmäßig ein Besuch der Purpurküste, der Côte Vermeille, des felsigen buchtenreichen Küstenabschnitts, an dem die Pyrenäen ins Mittelmeer abfallen, und der nach Spanien führt. Hier haben das Künstlerstädtchen Collioure, die Hafenstadt Port-Vendres und Banyuls-sur-Mer jedes seine eigene spezifische Anziehungskraft. Banyuls hat übrigens neben dem sehr guten natürlichen Süßwein gleichen Namens auch den weltbekannten französisch-katalanischen Bildhauer Aristide Maillol hervorgebracht, dessen üppigen weiblichen Statuen man im Roussillon überall begegnet.

***

Meine Frau und ich sind in den vergangenen Jahrzehnten in Frankreich und speziell in Leucate heimisch geworden und haben die Umgebung und ihre Bewohner schätzen gelernt. Seit einigen Jahren sind wir ganz nach Frankreich gezogen und Einwohner von Leucate geworden. Jedes Jahr im Dezember freuen wir uns über die Einladung des Bürgermeisters zur großen Weihnachtsfeier der Senioren des Ortes, bei der wir stundenlang mit köstlichen Speisen und guten Weinen verwöhnt werden, bei der getanzt wird und wir uns mit den anderen „Leucatois“, zu denen wir nun auch gehören, unterhalten können.

Von der Region kennen wir aber immer noch nur einen Bruchteil. So bleiben uns auch in den kommenden Jahren noch genügend Möglichkeiten für interessante Erkundungen und Entdeckungen.

 

Impressum

Texte: Franck Sezelli
Cover: Gerbil - CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1060344
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2021

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinem Wohnort Leucate in Südfrankreich gewidmet.

Nächste Seite
Seite 1 /