Cover

1

 "Hey. Louise."

Ich ignorierte sie und zog mir meine Kapuze während ich sie weiter ignorierte, bis sie plötzlich stehen blieb. Zögernd drehte ich mich um. "Ist was?", fragte ich beiläufig. Sie schaute in die Ferne, dann sah sie mich aus dem Augenwinkel an und grinste. Ich seufzte resigniert. "Was ist es diesmal?" Ihr Grinsen wurde breiter. "Schau mal da. Adrian mach mit Janine rum." Ich schaute hin, was sich als Fehler herausstellte, denn sie hatte Recht.
Mir wurde heiß vor Eifersucht. Adrian und Janine standen eng aneinander auf der anderen Straßenseite und...machten Sachen miteinander, die mich rasend machten. Ich war wütend auf Adrian, wütend auf Lou, wütend auf mich selbst, weil ich Lou beachtet habe. Seit zwei Jahren war ich schon in Janine verliebt, doch sie findet gleichgeschlechtliche Liebe abartig. Lou hat mir das schon weiß Gott wie oft unter die Nase gerieben, bis ich den Tränen nahe war und sie am liebsten erwürgt hätte. Aber dann würde sie mich nur weiter aufziehen, weil ich weinte.
"Du willst es, nicht wahr?", flüsterte sie mir ins Ohr. "Ich weiß nicht, was du meinst", sagte ich betont gleichgültig, obwohl mich mein gebrochener Tonfall verriet.
"Du willst ihn loswerden. Du willst, dass er endlich die Finger von deiner Janine lässt", säuselte sie weiter. "Na los, geh hin, schrei ihn an, schlag ihn, gib ihm das was er verdient. Genau das willst du doch." Meine Eifersucht und Wut verstärkte sich, bis ich es nicht mehr aushielt und Lou unsanft am Handgelenk packte.
"Halt endlich deine Klappe! Was kannst du eigentlich sonst so, als mir das Leben zur Hölle zu machen?!", schrie ich sie an. Lous Augen weiteten sich, bis sie wieder anfing zu grinsen. Am liebsten hätte ich ihr dieses Grinsen aus dem Gesicht geschlagen, bis ich merkte, dass ich angestarrt wurde. Langsam wandte ich mich um und sah Janines verstörten Blick, der auf mir ruhte.
Es verstrichen einige Sekunden, in denen keiner etwas sagte, doch diese Sekunden fühlten sich an wie Stunden. Ich fing an zu schwitzen und mir war abwechselnd heiß und kalt. Janines überraschter Gesichtsausdruck wurde plötzlich ausdruckslos.
"Freak", zischte sie und zog Adrian in eine schmale Straße. Ich hielt mir die Hände vor das Gesicht und wünschte mir, auf der Stelle im Erdboden zu versinken.
Lou ist meine Doppelgängerin aus einer Parallelwelt, die durch irgendeinen bescheuerten Zufall in dieser Welt aufgetaucht ist und seitdem nicht mehr wegkann. Sie sieht genau so aus wie ich, doch von der Persönlichkeit her sind wir komplett verschieden, denn Lou ist der Teufel höchstpersönlich.
Am Anfang haben wir versucht, sie wieder dorthin zurückzubringen, wohin sie gehörte, doch wir wussten nicht wie. Seitdem haben wir es aufgegeben und sie macht mir mein Leben täglich zur Hölle. Das Problem war, dass niemand sie außer mir sehen konnte. Wenn ich also meinen Verstand verlor, dachte jeder, ich wäre jemand gestörtes, der mit sich selbst redete und Lou hatte ihren Spaß.
Eigentlich hieß sie genau wie ich Louise, aber sie mochte den Namen nicht mehr, seit sie mir auf den Geist ging. Lou war der Meinung, sie würde diesen Namen mit etwas assoziieren, was sie nicht mag. Es ist ziemlich überflüssig zu erklären, wen sie damit meinte.

Erschöpft warf ich mich auf mein Bett. Ich habe einen weiteren Tag in der Hölle überstanden. Doch ich hatte mich zu früh gefreut, denn schon bald betrat Lou mein Zimmer. Ihre Arme waren voll mit Schokoladentafeln und Chipstüten, die sie natürlich aus unserer Küche hatte.
Erstaunt und etwas neidisch sah ich sie an. "Du bekommst nichts von mir, falls du fragen wolltest", sagte Lou und warf sich samt dem Essen mit ihrem Handy auf mein Bett. "Miststück", murmelte ich. "Aber das wirst du doch nicht alles essen, oder? Du wirst noch fett!", sagte ich empört. "Ich kann so viel essen wie ich will, ohne, dass ich zunehme", erwiderte sie und sah nicht einmal vom Handy auf. Ich sagte nichts mehr und machte den Fernseher und meine Videospielkonsole an.
Insgeheim beneidete ich sie dafür, doch das würde ich natürlich niemals zugeben.

"Was spielst du?", fragte Lou nach einer Weile und schaute mir neugierig über die Schulter. "Super Mario", antwortete ich, ohne die Augen vom Bildschirm abzuwenden. "Hm, lass mal sehen. Geh aus dem Weg, ich kann nichts sehen", sagte sie, stellte sich vor mich und lehnte sich so weit nach vorne, dass ich ihren Hintern im Gesicht hatte.
Ich lehnte mich nach rechts, um etwas sehen zu können, doch natürlich merkte sie es und versperrte mir weiterhin meine Sicht. "Dann kauf dir verdammt nochmal eine Brille oder nimm ab, ich kann wegen deinem breiten Hintern nichts sehen." Doch Lou zuckte nur die Schultern. "Dein Problem", sagte sie und sogleich ertönten die Worte "Game Over". "Du verdammte...", setzte ich an und warf mit einer Wasserflasche nach ihr. Lou wich aus, sodass die Wasserflasche mit voller Wucht in den Bildschirm krachte und dieser zu Bruch ging. Lou brach in schallendes Gelächter aus, während ich fassungslos meinen kaputten Fernseher anstarrte.

"Erst dein Computer, jetzt dein Fernseher", tadelte mich mein Vater. Ich senkte den Kopf. Lou und ich saßen am Tisch und ich aß zu Abend, während Lou mich nur beobachtete. Sie tut mir wenigstens den Gefallen, in Gegenwart von meiner Familie keine Gegenstände zu bewegen. Meine Familie kann Lou zwar nicht sehen, aber dafür die Gegenstände, die sie bewegt. "Was machen wir bloß mit dir?", sprach mein Vater weiter. "Tut mir leid", murmelte ich. "Für einen neuen Fernseher musst du aber selbst sparen", rief meine Mutter aus der Küche. "Ist gut", gab ich kleinlaut von mir und aß mein Essen so langsam wie möglich. Ich genoss die Zeit mit meiner Familie, selbst jetzt, wo meine Eltern enttäuscht von mir waren. Doch sie waren es schon gewohnt von mir, dass ich meine Sachen kaputt machte. "Welches Gerät muss wohl als nächstes dran glauben?", fragte mein Vater mit einem ironischen Unterton und ich musste unwillkürlich lachen. Ich wünschte, ich könnte die Zeit anhalten. Bis der entrüstete Tonfall meiner Mutter mich zusammenzucken ließ.

"Wer hat die ganzen Schokoladen und Chips aufgegessen?!"

 

2

 


"Da! Das will ich haben! Kaufst du es mir?", bettelte Lou. "Du hast genug angerichtet, als Danke schön muss ich dir jetzt nicht noch etwas zu essen kaufen."
Ich war genervt. Wegen Lou musste ich die Chips- und Schokoladenvorräte erneuern, da meine Familie natürlich mich verdächtigte, dass ich alles aufgegessen hätte. Während ich meinen Einkaufswagen vor mich her schob, hüpfte Lou fröhlich neben mir her und legte Sachen in den Wagen, die kein Mensch brauchte. Die meiste Zeit verbrachte ich daher damit, alles wieder auszuräumen. Einige Kunden musterten mich mit einer Mischung aus Neugier und Erstaunen, da sie nur die schwebenden Gegenstände sehen können und nicht Lou. Manche rieben sich sogar die Augen, um sicher zu sein, dass sie nicht halluzinierten.
Ich lächelte die Kunden verlegen und entschuldigend an und schob den Einkaufswagen an eine Stelle, wo kein Mensch in der Nähe war.
"Sag mal, bist du bescheuert? Die Leute können dich nicht sehen, das verstört die doch total! Lauf einfach ganz normal wie ein braver Hund neben mir her und fass nichts an, okay? Lou, hörst du mir überhaupt zu? Nein! Nicht die Klobürste! Das ist schon die vierte, die du in den Wagen gelegt hast. Leg die Gartenschere weg! Hörst du? Es ist echt wie im Kindergarten mit dir..."
Aber Lou ignorierte mich. "Dieser Napf ist schön. Wir müssen ihn unbedingt kaufen!" Ich seufzte. "Wir haben gar kein Haustier", gab ich zu bedenken. Aber Lou winkte ab. "Der soll ja auch nicht für ein Tier sein", sagte sie und sah mich grinsend an. Ich rollte mit den Augen.
Schließlich drehte sie sich weg, um die anderen Waren zu betrachten. Ich nutzte diesen Moment der Ablenkung und rannte so schnell es ging zur Kasse, um zu bezahlen. Nachdem der Kassierer mir den Gesamtpreis für das Essen nannte und ich ihm das Geld geben wollte, wurde es mir abrupt aus der Hand gerissen.
"Das ist aber ein schöner Schein", sagte Lou. "Gib das wieder", zischte ich genervt und schnappte nach dem Geld. Lou hielt es hoch, doch da ich genauso groß war wie sie, konnte ich ihr es schnell wieder entnehmen. Erstaunt registrierte ich, dass Lou kicherte und sich gar nicht mehr einkriegen konnte. "Hey, was..." Erst jetzt bemerkte ich den verstörten Gesichtsausdruck des Kassierers, des abwechselnd mich und das Geld anschaute. Doch nicht nur der Kassierer schaute mich so an, sondern auch die gesamte Warteschlange. Als wäre das nicht schlimm genug, stand auch noch Janine in der Schlange und musterte mich mit einem abschätzenden Blick.
Mir sank das Herz in die Hose. Anschließend zahlte ich und eilte so schnell es ging aus dem Supermarkt.

"Du hättest deinen eigenen Gesichtsausdruck mal sehen sollen, als diese Janine dich so angesehen hat, als wärst du irgendwie abartig oder so. Wobei du wirklich abartig bist", sagte Lou und kicherte währenddessen ununterbrochen.
Wir gingen inzwischen nach Hause. Ich studierte währenddessen den Kassenzettel. "Ja, streu halt noch Salz in die Wunde", murmelte ich. "Lou, warum haben wir eigentlich so viel Geld ausgegeben?", fragte ich. Es war mehr, als ich geplant hatte. "Weiß ich doch nicht, ich bin nicht diejenige, die nicht zählen kann", erwiderte sie und ging wieder neben mir her, da sie eben vorging. Ich schaute in die Einkauftasche und sah, dass ich den Futternapf aus Versehen mitgekauft hatte. Sie musste ihn wohl unbemerkt auf das Kassenband gelegt haben. Ich starrte sie daraufhin wütend an, doch Lou grinste nur, ohne mich anzusehen.
Wir setzten unseren Weg fort und als meine Wut sich etwas gelegt hatte, betrachtete ich Lou von der Seite. Sie war wirklich ein identisches Ebenbild von mir. Lou hatte dieselben dunkelblonden Haare, die nicht länger als höchstens schulterlang waren. Hasste sie lange Haare genauso sehr wie ich? Ob sie diese abstehenden Ohren auch nicht mehr sehen konnte? Oder ihr deutlich zu kantiges Gesicht? War sie dankbar für ihre kleine Nase? In diesem Moment fiel mir auf, dass ich Lou nie wirklich in die Augen gesehen habe. Sie muss auch braune Augen haben, dachte ich und am liebsten würde ich sie darum bitten, mich anzusehen. Doch ich wollte die Stille zwischen uns nicht brechen. Ich genoss es, mit Lou Seite an Seite die Straße entlang zu gehen. Wir waren uns mittlerweile so nah, dass unsere Schultern sich fast berührten. Ihre Hand streifte meine und ich zuckte kurz zusammen, doch Lou schien nichts zu merken. Ihr Blick war nur starr und ausdruckslos auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Sie grinste auch nicht mehr.

Ich schrie auf, als eine Hand auf meine Schulter klatschte und Lou und ich auseinander fuhren. "Yo, Louise! Was geht?" Ich stöhnte genervt auf und rieb mir die Schläfe. Julian, mein nerviger Nachbar, aber auch irgendwie mein einziger Freund. "Was gibt es denn?", fragte ich und blieb stehen. Julian musterte mich von oben bis unten und grinste mir anschließend ins Gesicht. "Hast du Bock, dich mit mir zu treffen?", fragte er. Ich legte den Kopf schief. "Heute?" "Ja, gleich direkt. Willst du rüberkommen?" Ich überlegte kurz und sah zu Lou hinüber. Sie schaute Julian interessiert an. Ich versuchte daraufhin zu kalkulieren, ob Julian ihr Typ wäre und ob Lou sich in ihn verlieben könnte. Doch kaum hatte ich den Gedanken gedacht, schlug ich ihn mir gleich wieder aus dem Kopf. "Geht klar. Ich muss nur vorher die Einkäufe hier nach Hause bringen", sagte ich und hielt die Tüte hoch. Julian nickte. "Alles klar, dann bis gleich", grinste er und zwinkerte mir zu. Wir sahen uns noch kurz an, bis er schließlich auf dem Absatz kehrt machte. Während ich ihm nachsah, schlich Lou auf mich zu und legte ihren Kopf auf meine Schulter. "Wer war das?", fragte sie. "Mein Nachbar. Wir sind befreundet", antwortete ich. "Aha", machte sie nur und es breitete sich wieder Stille aus. Julian war mittlerweile verschwunden. "Magst du ihn?", durchbrach sie schließlich das Schweigen. Ich schaute sie überrascht an und versuchte, ihren Tonfall zu analysieren, doch sie schien ehrlich interessiert zu sein. "Schon, aber...er ist nervig", gab ich zurück. "Warum bist du dann noch mit ihm befreundet?" Ich musste nicht lange über eine Antwort nachdenken. "Ich habe sonst keine anderen Freunde." Lou nahm wieder den Kopf von meiner Schulter und wandte sich zum Gehen. Ich ging hinter ihr her. "Das kann ich mir gut vorstellen", gab sie zurück und ich sah wieder das bekannte Grinsen. "Dieser Typ ist so ein Spinner, ich mag ihn jetzt schon nicht", fügte Lou hinzu und ich grinste zurück. Ich konnte bloß nicht erklären, warum ich so erleichtert über ihre Aussage war.

 

3

 

"Und? Was willst du machen? Einen Film gucken?"
Ich schüttelte den Kopf. Julian sah mich etwas enttäuscht an und setzte sich zu mir auf den Boden. Wir saßen in Julians Zimmer, während Lou sich seine Pokale anschaute, die er bei diversen Sportwettkämpfen gewonnen hatte. Ich war mir sicher, dass sie darüber genauso erstaunt war wie ich, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Wie lange war es wohl her, seit ich zuletzt in seinem Zimmer saß und wir einfach nur redeten?
Julian erzählte mir von belanglosen Ereignissen aus seiner Schule, während ich nur mit halbem Ohr zuhörte und die meiste Zeit aus dem Fenster schaute. Draußen dämmerte es bereits, was mich nicht wunderte, denn wir hatten erst Mitte März. Das Fenster war offen, sodass eine kühle Brise meine Haut entlang strich und mir einen kurzen Schauer über den Rücken jagte. Ich wandte meinen Blick vom Fenster ab und sah wieder Julian an, doch der hatte bereits aufgehört, zu erzählen und starrte mich einfach nur an.
"Ist etwas?", fragte ich und legte den Kopf schief. "Du bist abwesend heute." "Hä?" "Du hörst mir gar nicht zu." Doch, klar", versuchte ich mich auszureden. Julian hob eine Augenbraue. Ich war mir sicher, dass er seine Augenbrauen mit einem Filzstift nachgemalt hatte. "Dann wiederhol doch mal, was ich gerade gesagt hab", forderte er mich auf. Ich fing an zu kichern, doch hörte sofort auf, als ich Julians ernsten Blick wahrnahm.
"Ja, also...weiß nicht", gab ich kleinlaut zurück. "Siehst du", sagte er, immer noch ernst. Es entstand eine lange Pause, in der niemand etwas sagte. Nur das Rascheln der Blätter im Wind war zu hören. Dieses Schweigen war nicht dasselbe, wie das Schweigen zwischen Lou und mir. Im Gegenteil. Es war unangenehm. Ich wollte gerade Luft holen, um etwas zu sagen, doch Julian kam mir zuvor: "Du hast eben Selbstgespräche geführt." "Das ist nicht wahr." Lou sah jetzt von den Pokalen auf und schaute zwischen Julian und mir hin und her. Ich warf ihr einen panischen Blick zu, denn sie wusste genauso gut wie ich, warum Julian das dachte. "Wohl wahr", erwiderte er. "Ich hab es doch selbst gesehen, du hast mit dir selbst geredet, als du aus diesem Supermarkt rausgegangen bist. Du kannst mich nicht anlügen. Ich habe es selbst gesehen!" Verzweifelt sah ich wieder zu Lou. Diese erwiderte meinen Blick und grinste mich bloß an.
"Na los", ermunterte sie mich. "Erzähl es ihm doch einfach." "Spinnst du? Er würde dann erst recht denken, ich wäre verrückt." Sogleich schlug ich mir die Hand vor den Mund. Julian sah mich fragend an. "Mit wem redest du da? Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst oder so? Wen oder was siehst du da überhaupt?"
Lou kugelte sich vor Lachen und stürmte aus dem Zimmer, wodurch sich die vorher verschlossene Tür aus Julians Sicht von allein öffnete. Erschrocken drehte er sich um und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.
"Louise? Wer ist da? Machst du das? Was geht hier vor? Hör sofort auf damit! Du machst mir Angst." "Julian, ich mach gar nichts. Das bin ich nicht", versuchte ich, ihn zu beruhigen und streckte meine Hand nach ihm aus. Doch er schlug sie weg und wich zurück. "Fass mich nicht an! Ich weiß nicht, was das sollte, aber die Tür konnte nicht von alleine aufgehen!"
Lou war mittlerweile zurückgekehrt, mit einem vollen Kanister Wasser. Ich starrte sie entgeistert an. "Das wagst du nicht", flüsterte ich. Julian schaute sich ängstlich um. Lou grinste. "Und was, wenn doch?" "Wirst du nicht", antwortete ich. "Mit wem redest du da?!", brüllte Julian völlig außer sich und hielt sich die Ohren mit den Händen zu. Er kniff die Augen zusammen und zitterte am ganzen Körper.
Ich sah ihm hilflos zu, wie er versuchte, sich einzureden, dass das nicht wahr war. Lou war gerade dabei, den Kanister zu kippen, doch ich hielt sie nicht mehr auf und sah zu, wie sie schulterzuckend den Inhalt auf Julian ausleerte. Dieser nahm abrupt die Hände von den Ohren und schnappte erschrocken nach Luft.
Lou hüpfte vergnügt durch den Raum, während Julian und ich uns vom Boden aufrappelten. Keiner sagte etwas, während wir ins Bad gingen und ein Handtuch für Julian holten. Ich sah zu, wie er sich die Haare trocken rubbelte und das Handtuch schließlich auf seine Schultern legte. Lou stützte sich währenddessen mit einem Arm auf meiner Schulter ab und beobachtete Julian hinterhältig grinsend. "Ich glaube, du solltest jetzt besser gehen", sagte Julian, ohne mich anzusehen. Ich drehte mich ohne eine Antwort um und verließ das Bad.

"Das hat echt Spaß gemacht, findest du nicht auch?"
Lou und ich saßen in meinem Zimmer und ich ignorierte sie bereits seit einer halben Stunde. "Ach komm", sagte sie und legte sich zu mir auf mein Bett.
Lou umarmte mich und schlang ihre Beine um meine Hüfte, doch ich schubste sie unsanft von meinem Bett. Ächzend landete sie mit ihrem Hintern auf dem Boden. "Du mochtest ihn sowieso nicht", schmollte sie. "Aber er war mein einziger Freund!", erwiderte ich verärgert. "Ja, und?" Lou setzte sich diesmal an das Bettende und schlug die Beine übereinander.
"Was hat es denn für einen Sinn, mit jemandem befreundet zu sein, den man sowieso nicht mag? Ich persönlich hätte keine Lust auf so etwas und außerdem ist er doch eh dumm. Ernsthaft, was ist so toll an ihm? Ich meine, er malt sich seine Augenbrauen mit Filzstiften nach! Welcher Vollidiot macht sowas?" Ich musste lachen. War Lou bloß eifersüchtig oder versuchte sie mich tatsächlich aufzuheitern? Ich war mir gar nicht sicher. "Du bist doch nur eifersüchtig, weil es solche tolle Typen wie ihn in deiner Welt nicht gibt, oder?", erwiderte ich sarkastisch und Lou fing wieder an zu grinsen. "Absolut. Ich kann mir echt gut vorstellen, mit ihm zusammen zu sein und dann Masken aus Wachsmalstiften zu machen", sagte sie und wir fingen an zu lachen. In diesem Moment vergaß ich Julian und konnte die Zeit mit Lou sogar genießen. Bis sie wieder in die Küche schlich und sich den neu gekauften Essensvorrat aneignete. Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. "Warte, das hilft besser", sagte Lou und warf mir, als ich die Hand vom Gesicht nahm, ein Buch ins Gesicht.

Als ich am nächsten Morgen zur Schule gehen wollte und die Haustür öffnete, sah ich Julian die Straße entlang laufen. "Hallo, Julian!", rief ich ihm entgegen, in der Hoffnung, er hätte alles vom Vortag vergessen, doch er beschleunigte seinen Gang und zog sich seine Kapuze über den Kopf.

 

4

 

"Warum redet Julian eigentlich nicht mehr mit dir? Er geht dir schon einen Monat lang aus dem Weg."
Lou und ich waren auf dem Weg zur Schule. Es war ein warmer Morgen, fast schon zu warm für April. Doch mir kam es gerade recht, denn ich hatte von den kalten Temperaturen endgültig die Nase voll.
Wir gingen eine Allee mit Kirschbäumen entlang, deren Blüten in einem sanften weiß-rosa blühten. Ich hob den Kopf, um die Kirschblüten besser betrachten zu können und deren Anblick zu genießen, solange ich noch konnte. Die Kirschblütenzeit war sehr kurz. Ich wandte mein Gesicht zur Sonne und lächelte. Der April war tatsächlich der schönste Monat im Jahr.
"Hörst du mir überhaupt zu?" Lou riss mich aus meinen Gedanken. "Hast du was gesagt?", murmelte ich genervt. Lou schnaubte. "Ich habe dich gefragt, warum Julian dir schon seit einem Monat aus dem Weg geht." "Ja, warum wohl?", fragte ich verärgert.
Es kann doch nicht sein, dass sie schon wieder vergessen hat, was sie vor einem Monat bei Julian angerichtet hat. "Als ob der immer noch sauer deswegen ist", murmelte Lou und verschränkte die Arme. "Das war doch überhaupt nichts. Der soll sich mal nicht so anstellen." "Überhaupt nichts?!", rief ich aufgebracht. "Du hast ihn zu Tode erschreckt und er ist jetzt total verstört! Ich kann nicht glauben, dass du das dermaßen auf die leichte Schulter nimmst."
Doch Lou zuckte nur mit den Schultern. Mir war klar, dass es sinnlos war, mit ihr zu diskutieren. "Wir sind gleich da. Rede ab jetzt nicht mehr mit mir", wies ich sie an und erstaunlicherweise hielt sie sich sogar daran.
Lou folgte mir durch die Flure lautlos wie ein Schatten. Ich ging in mein Klassenzimmer und setzte mich auf meinen Platz ganz hinten. Den Platz neben mir nahm Lou ein, weil niemand sonst neben mir saß.
Missmutig packte ich Mein Deutschbuch und mein Heft aus. Ich hatte gar keine Lust auf Schule, vor allem weil ich Deutsch genauso sehr hasste wie den Lehrer, den ich in Deutsch hatte. Offenbar hasste er mich auch. Ich legte meinen Kopf auf den Tisch. Meine Kopfschmerzen von heute morgen schienen wiederzukommen.
Lou hatte mich die halbe Nacht wachgehalten, weil ihr langweilig war und anscheinend hatte sie überhaupt kein schlechtes Gewissen deswegen. Meine Kopfschmerzen gingen in Müdigkeit über und während der Lehrer den Raum betrat, fiel es mir immer schwerer, mich wach zu halten.
Spätestens als er anfing zu unterrichten, schlief ich ein.

Etwas klatschte laut neben mir auf und ich fuhr hoch.
Mein Lehrer, Herr Großmüll, hat offensichtlich das Deutschbuch neben mein Ohr geklatscht und starrte mich böse an.
Mit aufgerissenen Augen schaute ich mich um und sah, dass die ganze Klasse lachte und hinter vorgehaltener Hand miteinander tuschelte. Ich geriet ins Schwitzen.
"Louise! Das ist bereits das zweite Mal in diesem Monat, dass du in meinem Unterricht eingeschlafen bist! Ich hoffe, das kommt nicht wieder vor, sonst muss ich deine Eltern benachrichtigen." "Tut mir leid. Passiert nicht nochmal", murmelte ich leise und schaute auf meine Hände. Her Großmüll sah mich herablassend an. "Das will ich doch wohl hoffen", erwiderte er. "Ich werde dir wohl eine Strafarbeit aufbrummen müssen." Ich nickte. Währenddessen ist Lou aufgestanden und stellte sich hinter Herrn Großmüll. "Also, einen schönen Hintern hat er ja."
Ich sprang auf. "Bist du komplett dumm? Das ist doch nicht dein Ernst! Das kannst du doch nicht sagen!" Lou schaute hinter Herrn Großmüll hervor und grinste mich hämisch an. Erst dann realisierte ich was ich gerade getan hatte.
Ich bin vor meinem Lehrer und der ganzen Klasse auf Lous Provokation eingegangen. Mit brennenden Wangen setzte ich mich und alle fingen an, laut zu lachen. Herr Großmüll kochte vor Wut.
"Erstens sollst du mich siezen. Zweitens, was fällt dir eigentlich ein, mich zu beleidigen? Das wird definitiv Konsequenzen haben!" "Aber...ich habe das nicht zu ihnen gesagt! Sondern...ja...." "Sondern zu wem?"
Herr Großmüll verschränkte die Arme vor der Brust. Er grinste mich selbstgefällig an. "Führst du neuerdings Selbstgespräche, oder was?" Die Klasse lachte lauter und ich hatte Tränen in den Augen vor Scham. Ich wäre lieber gestorben, als das noch weiter ertragen zu müssen. "Dachte ich es mir doch." Mit diesen Worten drehte sich Herr Großmüll um.
Lou war inzwischen wieder auf dem Platz neben mir und riss ein Blatt aus meinem Schreibblock heraus. Eine mir unbekannte Melodie summend knüllte sie das Blatt Papier zu einer Kugel zusammen. "Was machst du da?", flüsterte ich, doch sie antwortete nicht. Sie sah noch nicht einmal in meine Richtung, bevor sie die Kugel in die Richtung von Herrn Großmüll warf und ihn mitten im Rücken traf.
Her Großmüll erstarrte. In der gesamten Klasse war es still. Man hätte eine fallende Stecknadel hören können. Ich nahm bloß Lous leises Kichern wahr, was die anderen natürlich nicht hören konnten.
Langsam drehte sich Herr Großmüll um und funkelte mich von der Seite an. Meine Hände zitterten vor Angst. "Louise. Mitkommen", sagte er in einem tödlich ruhigen Tonfall. Mit weichen Knien stand ich auf und folgte ihm zur Tür des Klassenzimmers. Auf halbem Wege stellte mir Lou ein Bein, sodass ich hinfiel und die Klasse wieder zu lachen begann. Herr Großmüll verdeckte mit der Hand aus Fremdscham seine Augen und ich warf Lou einen verzweifelten Blick zu. Doch die lachte sich nur schlapp und kriegte sich noch nicht einmal ein, als wir vor dem Büro des Direktors standen.

Ich sagte kein Wort mehr. Der Schock saß mir tief in den Knochen. Ich wurde für zwei Tage vom Unterricht ausgeschlossen. So etwas ist mir noch nie passiert. Meine Eltern werden mich dafür köpfen, dachte ich. Nicht wortwörtlich, natürlich. "Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen!", rief Lou und hielt ihr unkontrolliertes Lachen nicht mehr zurück. Ich war so schockiert, dass ich es noch nicht einmal schaffte, auf Lou sauer zu sein. Da ich früher aus der Schule herausgelassen wurde, waren Lou und ich allein. Sofort ging ich in mein Zimmer und warf mich auf mein Bett. Endlich konnte ich meinen Tränen freien Lauf lassen und es kümmerte mich nicht einmal, dass Lou hereinkam und mein unkontrolliertes Schluchzen hörte. Ich erwartete bereits dumme Sprüche oder gemeine Bemerkungen, doch nichts davon kam. Stattdessen setzte sich Lou auf mein Bett und legte eine Hand auf meinen Rücken. Sie sagte nichts, während ich mich ausweinte. Die Zeit verging und langsam wurden hörte ich auf zu weinen. Ich weiß nicht, wie lange ich so dalag und bloß die Wärme von Lous Hand genoss, doch all das Weinen hat mich so müde gemacht, dass mir die Augen zufielen. Lou entfernte ihre Hand von meinem Rücken und bevor ich protestieren konnte, hatte sie sich schon zu mir ins Bett gelegt und sich an mich gekuschelt.

Ich konnte nicht anders, als zu lächeln, bevor ich endlich tief und fest einschlief.

 

5

 

 

"Wirst du etwa den ganzen Tag hier rumliegen?" "Du weißt doch, ich hab Hausarrest." Ich lag auf meinem Bett und starrte gelangweilt an die Decke. Die Schule hatte mich für eine Weile vom Unterricht ausgeschlossen und meine Eltern waren so sauer auf mich, dass sie mir Hausarrest erteilt hatten. Ich langweilte mich hier zu Tode, da ich immer noch keinen neuen Fernseher hatte und somit nichts spielen konnte. Meine Bücher habe ich ebenfalls alle gelesen und zum Buchladen durfte ich sowieso nicht. Noch dazu hatte ich Lou an der Backe, die es für eine vernünftige Beschäftigung hielt, meine Gedichtsammlung mit selbst geschriebenen Gedichten auseinander zu nehmen. Wortwörtlich, denn sie riss sämtliche Seiten mit Gedichten heraus, die ihr nicht gefielen. Das waren bestimmt drei Viertel des Buches, doch mir war es komplett egal. Sie waren sowieso nicht gut. Ich drehte meinen Kopf in Lous Richtung und beobachtete sie. Sie arbeitete konzentriert und schien gar nicht zu merken, dass ich sie ansah. Vor ihr lagen zwei Stapel mit einzelnen Blättern, der größere wahrscheinlich mit Gedichten, die ihr nicht gefielen. Da es schon eine ganze Menge war, brach es mir ein wenig das Herz. Was der deutlich kleinere Stapel sollte, war mir schleierhaft. Lou riss geräuschvoll ein weiteres Blatt aus meinem Buch und rümpfte die Nase. "Kannst du dir endlich mal eine andere Beschäftigung suchen?", fragte ich sie leicht genervt. Doch Lou ging auf meine Frage gar nicht erst ein. "Sag mal, kannst du eigentlich etwas anderes als solche Liebesschnulzen an deine Janine schreiben?", fragte sie mich mit einem tadelnden Unterton. "Lass mich doch", antwortete ich und drehte mich auf die Seite. "Was soll ich denn sonst schreiben?" Lou sah von Gedichten auf und schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Ich soll was vorschlagen?" "Wie du willst", antwortete ich und drehte mich wieder auf den Rücken. Ich nahm mein Handy in die Hand, um festzustellen, dass die Schule längst noch nicht vorbei wäre. Ich seufzte. Mir war langweilig. Sogar mit Lou, die sonst immer Ärger anstellte, sodass Langeweile praktisch unmöglich wäre. "Hm", machte sie. "Wie wäre es mit Gedichten über die süßen Jungs?", fragte sie mich. Ich lachte freudlos auf. "So etwas kann ich nicht. Was ist an Jungs denn süß? Außerdem, über welche Jungs soll ich denn schreiben?" "Du musst ja nicht über wen spezifisches schreiben", antwortete Lou. "Aber wenn du unbedingt willst...wie wäre es mit den Jungs aus deiner Klasse?" Ich lachte wieder. "Über wen denn?" Lou überlegte kurz. "Wie wäre es mit Jannis?" "Jannis? Niemals. Der trägt immer so viel Rosenparfüm auf, dass man ihn schon aus zehn Metern riechen kann und der Geruch selbst dann penetrant ist." Lou zeigte mir wieder ihr vertrautes Grinsen und meine Mundwinkel zogen sich automatisch nach oben. "Gut, was ist dann mit Leon?" "Der hat doch gefühlt jede Woche eine neue. Was soll ich denn an ihm toll finden?" Lou wirkte verärgert. "Sag mal, was findest du an Jungs denn eigentlich toll?" "Ich habe nie gesagt, dass ich Jungs toll finde", gab ich zurück und Lou fing an zu lachen. "Dann bleibt es also bei Janine." Ich antwortete nicht und starrte weiter die Decke an, doch ich merkte trotzdem, wie Lou mich ansah. Schließlich seufzte sie resigniert. "Was findest du an Janine so toll? Und überhaupt, ich finde, sie passt gar nicht zu dir." "Findest du?", fragte ich und sah sie wieder an. Lou nickte zustimmend. "Warum nicht?" Lou riss die Augen auf. "Sag mal, bist du irgendwie blind oder einfach nur komplett hohl?" Ich blinzelte sie verwirrt an. Doch sie redete einfach weiter. "Hast du sie dir überhaupt einmal angesehen? Sie sieht so wahnsinnig gut aus! Jetzt stell dir vor, du würdest mit ihr zusammen sein und alle würden sich nur denken, warum so eine Schönheit sich mit so einer Wanze abgibt!" Wütend warf ich ein Kissen nach ihr, doch sie wich problemlos aus. Lachend stand sie auf und steckte ein Gedicht vom kleinen Stapel in ihre Jackentasche. "Na dann, ich bin mal weg. Du kannst dich ja schön weiter langweilen und hier vergammeln." Mit diesen Worten öffnete sie mein Fenster und wollte bereits herausspringen. Das war ungefährlich, denn mein Zimmer lag im Erdgeschoss. "Hab ich denn eine Wahl?!", rief ich ihr hinterher, doch sie ist bereits herausgesprungen. Ich sah ihr nach, wie sie die Straße entlangsprintete.

Nach einer Stunde war Lou immer noch nicht zurückgekehrt. Frustriert fing ich an, das Durcheinander aufzuräumen, das Lou hinterlassen hatte. Ich versuchte, meine Gedichte so gut es ging in mein Buch wieder einzukleben. Währenddessen las ich mir einige alte Gedichte durch. Meine Güte, sie waren wirklich schlecht und viel zu kitschig. Als ich mit den großen Stapel fertig war, machte ich mich an den kleineren Stapel. Mir fiel auf, dass Lou nur Gedichte über Janine zum kleinen Stapel sortiert hatte. Ich habe mal überlegt, sie Janine zu geben, doch das konnte ich mir abschminken. Ich wollte nicht riskieren, dass sie mich hasste. Davor hatte ich zu viel Angst. Mir kamen die Tränen, als ich mich daran erinnerte, wie Janine einst über Lesben und Schwule sprach, als wären sie Unmenschen oder Ungeheuer. Ich spürte einen schmerzhaften Stich in meiner Brust und wischte mir die Tränen weg. Wie oft habe ich mir gesagt, dass ich sie vergessen sollte? Doch mein Herz hörte einfach nicht. Ich liebte sie immer noch.

Nach einigen Tagen ging ich wieder Seite an Seite mit Lou zur Schule. Sie erzählte mir, dass sie am Vortag in der Schule war und berichtete mir die neuesten Ereignisse. Ich ließ sie reden und hörte schweigend zu. Lou verhielt sich wie eine normale Freundin, die gern redete und ich genoss ihre Gesellschaft. In diesem Moment wünschte ich mir, dass es solche Augenblicke öfter geben würde, in denen sie keinen Mist baute und mich einfach in Frieden ließ. Schließlich erreichten wir viel zu schnell die Schule und Lou hörte sofort auf zu reden. Sie folgte mir wieder durch die Flure zum Klassenraum, ohne ein einziges Wort zu verlieren. Der restliche Schultag verlief reibungslos, bis ich nach dem Schulende Janine sah. Sie lehnte mit drei Freundinnen lässig an der Tischtennisplatte vor dem Schultor und starrte auf ihr Handy. Eine der Freundinnen bemerkte mich und tippte Janine an. Sie sah auf und ihre Augen weiteten sich kurz, bevor sie mich hasserfüllt ansah. Ich bekam ein mulmiges Gefühl und mein Herz raste. Lou näherte sich mir und berührte mich sanft am Arm. Ich senkte meinen Kopf und versuchte, so ruhig wie ich konnte an Janine vorbeizugehen. "Hey. Stehen bleiben." Ich blieb stehen und sah Janine an, die mit ihren Freundinnen auf mich zukam. "Du bist Louise, richtig?", fragte sie. Ich nickte zaghaft. "Das ist die.", flüsterte eine Freundin und ich schaute sie überrascht an. Wovon redete sie? Lou kicherte leise und ehe ich mich versah, holte Janine aus und verpasste mir eine Ohrfeige.

6

 

"Was...?", stammelte ich.
Erschrocken legte ich meine kalte Hand an meine Wange, die wegen Janines Ohrfeige brannte. Entgeistert starrte ich sie an, während ich mit Mühe meine Tränen zurückhielt.
Janine erwiderte grimmig meinen Blick, während eine ihrer Freundinnen flüsterte: "Ha! Verdient!" "Oh, heult die Lesbe jetzt?", sagte die andere mit gespieltem Mitleid und lachte.
Ich riss die Augen auf und riskierte einen kurzen Blick zu Lou, die sich zu amüsieren schien.
Na toll.
"Aber woher wisst ihr...?", fragte ich verwundert, doch ich brach abrupt ab, als Janine mir ein Blatt Papier mit geschwungener Schreibschrift vor die Nase hielt. Meine Schrift!
"Das da", sagte sie, "lag in meinem Spind." Ungläubig starrte ich mein Gedicht an, das ich vor Monaten an Janine geschrieben hatte. Wie ist es da bloß hingekommen?
Lou trat an meine Seite, um sich das Gedicht näher anzuschauen und fing sofort an, wie eine Irre loszulachen. In diesem Moment wurde mir auf einmal alles klar. Lou muss das Gedicht in den Spind gelegt haben, als ich suspendiert war. Ich erinnerte mich daran, dass eines meiner Gedichte in meiner Sammlung fehlte. Wieso bin ich nicht viel früher darauf gekommen?
Panisch sah ich Janine an. "Das...", krächzte ich. Meine Stimme wollte mir einfach nicht mehr gehorchen. Ich räusperte mich. "Das ist nicht von mir", sagte ich mit einer bemüht festen Stimme. Doch Janine verzog keine Miene.
"Lüg mich nicht an, du Lesbe", zischte sie. "Denkst du echt, ich wäre so dumm? Da steht dein Name drauf." Ich schaute mir das Blatt genauer an und stellte fest, dass sie Recht hatte. Janine trat näher. "Weißt du eigentlich, wie ich von so Leuten wie dir denke?", flüsterte sie und zwang mich, ihr in die Augen zu sehen, indem sie mein Kinn mit dem Zeigefinger anhob.
Ich schluckte.
Ich hatte schon lange gehofft, ihr einmal so nahe zu sein. Doch in dieser Situation wäre ich am liebsten davongelaufen. Es entstand eine Stille, die die Anspannung nur vergrößerte. Ich hatte so sehr Angst, dass ich unfähig war, ein Wort zu sagen, geschweige denn, mich irgendwie zu bewegen.
"Hat es dir die Sprache verschlagen oder was?", knurrte Janine ungeduldig. Ihre Freundinnen kicherten und Lou lag vor Lachen schon fast auf dem Boden. Als sich unsere Blicke trafen, formte ich ein "Hilf mir" mit den Lippen, doch Lou zuckte nur mit den Schultern. Janine atmete laut aus. "Leute wie du sind echt das letzte."
Mit diesen Worten schubste sie mich von sich weg und trat mir in die Seite, sodass ich zu Boden fiel.
Meine Hände waren wund und ich habe mir beim Fallen auf die Lippe gebissen. Blut tropfte von meinem Unterkiefer auf den Boden und ich atmete schwer vor Angst. "Ihr gehört ausgerottet, jeder einzelne von euch", redete Janine weiter und jedes Wort versetzte mir einen Stich. Ich versuchte, mich aufzurappeln, doch Janine trat mich und ich rollte auf eine ihrer Freundinnen zu.
"Iih, komm mir nicht zu nah, Lesbe, sonst steckst du mich an", rief sie spitz und gab mir einen festen Tritt in die Rippen. Ich stöhnte vor Schmerzen. Wieso musste das passieren?
Janines Freundinnen lachten und ich hörte, wie sie langsam auf mich zukam. Ihre Absätze klackten bei jedem Schritt und mir wurde unbehaglich. "Ich weiß, wie du dich fühlst", sprach sie. Ihre Stimme klang sanft und fürsorglich, doch ich ließ mich nicht davon täuschen. "Du willst das eigentlich gar nicht. Du willst normal sein, wie die anderen. Du merkst selbst, dass es schlecht ist, eine Lesbe zu sein. Aber du kannst es ändern. Sobald du einsiehst, dass es falsch und unnatürlich ist, wird es schon. Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Ich will mal nicht so sein. Lass mich dir helfen. Okay?"
Janine streckte mir ihre Hand entgegen und blickte mich erwartungsvoll an. "Was sagst du?" Normalerweise hätte ich mich gefreut, Kontakt zu Janine aufzubauen und ich hätte vor Freude am liebsten getanzt. Doch ich fühlte nichts weiter als Abscheu. Ich ekelte mich vor dem Menschen, der vor mir stand. Alle Glücksgefühle waren verschwunden. Kalter Hass kroch in mir hoch, füllte jeden Millimeter meines Körpers aus. Ich schlug Janines Hand weg und stand langsam auf. Ich hatte höllische Schmerzen, doch sie hielten mich nicht auf. Sie erinnerten daran, wer sie mir zugefügt hat und das spornte mich an.
"Nein", sagte ich entschieden.
"Was?", fragte Janine verwirrt. "Das einzige, was unnatürlich ist, bist du", erwiderte ich kalt. Janine starrte mich mit offenem Mund an und wollte etwas erwidern, doch ich ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. "Ich kann lieben, wen ich will und wen ich liebe, geht dich überhaupt nichts an. Liebe ist auf jede Art und Weise völlig natürlich und es ist nichts, wofür man sich schämen sollte. Doch du hast dich offensichtlich mit so viel Make-up zugekleistert, dass du das nicht mehr sehen kannst. Ich habe in meinem Leben noch nie einen Menschen so engstirnig und zurückgeblieben wie dich getroffen und wer so denkt wie du, hat Liebe nicht verdient. Also kannst du dir deinen ach so großzügigen Vorschlag sonst wohin stecken."

Es war völlig still.
Man hörte nur das Rascheln der Blätter im Wind. Janine starrte mich an, als hätte sie ein UFO gesehen. Langsam drehte ich mich um und wandte mich zum Gehen, doch nach ein paar Schritten blieb ich stehen und schaute über die Schulter zu Janine. Ich hob stolz mein Kinn und grinste sie an. "Dennoch bin ich froh, dich getroffen zu haben, denn du hast mir gezeigt, was für ein Mensch ich niemals werden will. Ich bin froh darüber, obwohl ich dich dafür hasse, was du getan hast."
Ich drehte mich um und ging. Bevor ich das Schulgelände verließ, schnappte ich mir meine Tasche, die mir beim Sturz aus der Hand gefallen ist. Der Wind zerzauste mein Haar und ich blinzelte der Sonne entgegen. Ich fühlte mich seltsam. Erleichterung machte sich in mir breit, doch gleichzeitig würde ich am liebsten weinen und schreien.

"Du bist zu weit gegangen."
"Ich weiß."
"Es tut so weh."
"Ich weiß."
"Hör auf, das zu sagen. Du hast doch keine Ahnung."
"Ich weiß."
Ich lag auf meinem Bett mit dem Gesicht im Kissen und weinte. Lou stand neben mir und ich spürte ihren Blick auf mir. Ich ertrug es nicht. Ihre Nähe war zu viel für mich. Dennoch wollte ich unbedingt, dass sie blieb. Warum nur? "Es tut mir so leid", flüsterte sie und es klang ehrlich. Sie legte sich zu mir ins Bett und umarmte mich. Doch während ich mich in ihre Umarmung hineinziehen ließ, erkannte ich eine grausame Wahrheit, die mich mehr zerriss als Janines Taten. Eine Wahrheit, die ich mir niemals hätte eingestehen wollen. Es tat so weh.

Ich fing an zu schreien.

 

7

 

"Hey! Was zur Hölle soll das?!"
Lou sprang auf und versuchte, meinen Schrei mit einem Kissen zu ersticken. "Du lockst noch Nachbarn an!" "Ist mir egal!" Ich schubste sie wütend vom Bett. Erschrocken sah Lou mich an. "Du bist an allem schuld!", fuhr ich sie an. Lou blinzelte verwirrt. "Was?" "Tu doch nicht so!", rief ich.
"Warum tust du mir das an? Warum nur? Was habe ich dir je getan? Weißt du eigentlich, was du mit mir machst? Macht dir das etwa Spaß?" Lou schwieg und senkte den Kopf. "Antworte mir gefälligst! Das ist ja wohl das mindeste, was du tun kannst", sage ich und packte Lou am Kragen ihres Hemdes. Ich merkte, wie sie sich anspannte. Ihr Mund war ein bloßer Strich.
Eine Weile starrten wir uns nur in die Augen. Meine waren tränenverschleiert, während Lous Blick gefährlich ruhig war. Schließlich hob sie eine Hand und verpasste mir eine heftige Ohrfeige, sodass ich sie losließ und zur Seite fiel.
Lou richtete sich auf und schaute von oben auf mich herab. Ich fühlte mich klein und hilflos. "Stell dich nicht so an", sagte sie nur und ging zum Fenster. Sie öffnete es und setzte einen Fuß auf das Fensterbrett. "Wohin...", fing ich an, doch ich beendete meinen Satz nicht. Bevor Lou aus dem Fenster ins Gras sprang, drehte sie sich um und sagte zu mir über die Schulter: "Du wirst alles bald verstehen."
Danach rannte sie. Ich rappelte mich auf und stolperte zum Fenster. "Lou!", rief ich. "Komm zurück! Bitte!" Doch sie war schon längst weg. Ich schloss das Fenster und kauerte mich auf den Boden. Die Tränen flossen ununterbrochen meine Wangen herunter. Wie viel hatte ich in letzter Zeit nur geweint? "Lou...", murmelte ich. "Janine...Lou...Janine...Lou."
Ich versuchte mich zu beruhigen, indem ich tief ein und aus atmete. Doch es funktionierte nicht. Ein weiterer heftiger Schluchzer erschütterte meinen Körper und meine Hände, die ich in meinem Haar vergraben hatte, zitterten. "Komm zurück...bitte", wimmerte ich. "Lass mich nicht allein."

"Louise? Alles in Ordnung?"
Ich brummte und drehte mich in meinem Bett auf die andere Seite. Meine Mutter öffnete die Tür und trat zu mir ans Bett. Ich stöhnte und sie legte mir eine Hand an die Stirn.
Seit dem Vorfall mit Lou lag ich nur im Bett und es ging mir schrecklich. Ich musste regelmäßig brechen und hatte andauernd Kopfschmerzen. "Du siehst gar nicht gut aus", bemerkte meine Mutter besorgt. Ich grummelte vor mich hin und schloss die Augen. Das Pochen in meinem Kopf hörte nicht auf.
Meine Mutter legte mir noch einige Kopfschmerztabletten auf meinen Nachttisch und ging wieder aus meinem Zimmer. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte die Decke an. Wie lange lag ich hier schon?
Ich wusste nicht mehr, welchen Tag wir hatten, geschweige denn das Datum. Was machten die Leute in der Schule wohl? Ich fehlte bestimmt schon lange genug, dass es auffiel. Nicht, dass mich der Schulstoff interessierte oder mich irgendwer vermisst hätte. Aber ich dachte trotzdem darüber nach.
In die Schule konnte ich sowieso nicht. Janine wollte ich einfach nicht mehr begegnen. Bin ich deswegen krank geworden?
Ich fasste mir an die Stirn und fuhr anschließend mit einer Hand durch meine Haare. Ich erschauderte, denn meine Haare fühlten sich verfilzt und fettig an. In dem Moment nahm ich einen unangenehmen Geruch wahr, der wahrscheinlich daher kam, dass ich nicht geduscht hatte. Wie lange wohl?
Meine Augenlider wurden schwer. Ich wollte nicht mehr denken.

Ein sachtes Klopfen weckte mich. Meine Kopfschmerzen sind verschwunden und ich fühlte mich endlich ausgeschlafen.
Das Klopfen wurde lauter und ich setzte mich langsam in meinem Bett auf. Ich blickte zum Fenster und sah Lou von außen ans Fenster klopfen. "Lass mich rein!", schrie sie.
Freudig stand ich auf und ging so schnell ich konnte zum Fenster, um Lou reinzulassen. Sobald sie in meinem Zimmer stand, fiel ich ihr um den Hals. Lou versteifte sich, doch sie umarmte mich nach kurzem Zögern.
"Du warst so lange weg", bemerkte ich und löste mich von ihr. "Wo zur Hölle warst du?" Lou grinste. "Mal hier, mal dort. Hast du mich etwa vermisst?" Sie sah mich triumphierend an. Ich drehte meinen Kopf weg.
"Natürlich nicht", murmelte ich, doch die Wahrheit war, dass ich sie schon ein wenig vermisst hatte. "Ich muss zugeben, die drei Wochen ohne dich waren auch für mich etwas einsam." "Drei Wochen?!", unterbrach ich sie erschrocken. Lou nickte. "Außer dir kann mich sonst niemand sehen, wem..." "..hättest du sonst das Leben zur Hölle machen können?", beendete ich ihre Satz und lächelte leicht. Es entstand eine kurze Stille.
"Du siehst scheiße aus", bemerkte Lou. "Und du stinkst." "Hab ich auch schon bemerkt", sagte ich und seufzte resigniert. Daraufhin schob Lou mich ins Badezimmer. Sie schloss die Tür und zog mir meinen Pulli über den Kopf.
"Bist du bescheuert? Was tust du da?! Hey, lass das!", protestierte ich und zappelte wild herum. Lou stöhnte genervt. "Ich will dich baden, du stinkst. Das ist ja nicht auszuhalten", erwiderte sie. "Ich...ich kann das alleine! Geh raus!" "Warum denn?" "Geh einfach!" Lou hielt kurz inne. "Willst du etwa nicht, dass ich dich nackt sehe, oder was?" "Ja, was denkst du denn?", rief ich empört. Lou lachte auf und schüttelte dann den Kopf.
"Erstens, sind wir beide Mädchen und zweitens, haben wir den selben Körper. Drittens, hast du da oben eh nicht viel, also stell dich nicht so an." Ich hörte kurz mit meinem Protest auf. "Du weißt aber schon, dass man das auch auf dich beziehen kann, oder?"
Lou ging gar nicht erst auf meinen Einwand ein. "Jetzt hör endlich auf, herum zu zappeln. Ich meine es nur gut mit dir." Ich gab auf und ließ es einfach geschehen.

Mit tropfnassen Haaren ging ich in mein Zimmer und setzte mich auf mein Bett. Lou setzte sich auf den Boden und streckte die Beine aus.
Mir ging es bereits viel besser. Meine Mutter kam wieder in mein Zimmer und war erfreut, mich in einem besseren Zustand zu sehen. Das Bad tat erstaunlich gut. Und Lous Gesellschaft ebenfalls, auch wenn ich es kaum glauben konnte.

Es war eine Woche vergangen, nachdem Lou wieder aufgetaucht ist und seitdem ist nicht viel passiert. Bis mein Vater an einem Samstagnachmittag von unten rief: "Louise! Wir haben Besuch! Kommst du runter?" Lou und ich wechselten einen schnellen Blick. Sie grinste.
"Mach keinen Mist", warnte ich sie. Sie kicherte. "Ich kann nichts versprechen."

 

8

 

"Sorry, wir sind etwas spät."
Ich vermerkte eine Stimme, der ich kein Gesicht zuordnen konnte. Die Stimme war tief, aber klar und melodisch. Sie musste einem Jungen gehören. "Der Stau schien echt nicht aufhören zu wollen."
Diese Stimme war etwas rauer und kratziger. Ich vermutete, dass es sich um einen erwachsenen Mann handelte. "Kein Problem, ich habe auch etwas gebraucht, um mich fertig zu machen", sagte mein Vater fröhlich. Der Mann lachte.
In dem Moment musste ich an Janine denken. Ihre Stimme war sanft und ruhig, konnte aber durchaus laut werden und gebieterisch klingen. Dabei spiegelte sich immer Stärke und Mut in ihren grauen Augen wider, wenn sie mit dieser Stimme Reden hielt, was sie nur zu gerne tat. Bevor ich diesen Gedanken zu Ende denken konnte, schüttelte ich den Kopf und verbot mir, weiterhin an Janine zu denken.
Lou und ich standen immer noch auf der Treppe, wo wir unsere Besucher nicht sehen konnten. Mein Vater bemerkte mich und winkte mich zu sich. Zögernd schritt ich auf ihn zu. "Das ist meine Tochter Louise", verkündete er und legte mir eine Hand auf die Schulter. "Louise, das ist mein alter Kumpel..." "James", unterbrach der Mann meinen Vater. "Du kannst einfach James zu mir sagen", meinte er lächelnd. Mein Vater grinste und fuhr fort: "Das ist sein Sohn Elliott. Er müsste im selben Alter wie du sein."
Ich sah mir Elliott genauer an. Er hatte schwarze Locken, dunkle Haut und ausdrucksstarke, dunkelbraune Augen, die mich einladend ansahen. Seine Nase war etwas groß und er hatte eine hohe Stirn. Das totale Gegenteil von Janine, die glatte, rote Haare hatte, die ihr bis zu der Hüfte gingen. Ihre Augen waren ein ruhiges grau und ihre helle Haut mit Sommersprossen bedeckt...stopp! Ich durfte doch nicht wieder an Janine denken! Elliott grinste mich an. "Schön, dich kennenzulernen." Er streckte mir die Hand aus und ich schüttelte sie. "Gleichfalls", erwiderte ich knapp. Mein Vater klatschte freudig in die Hände. "Wie wäre es, wenn du Elliott dein Zimmer zeigen würdest und ihr euch besser kennen lernt? James und ich trinken währenddessen einen Tee und unterhalten uns", sagte mein Vater zu mir. Dann wandte er sich an James: "Wir haben uns echt ewig nicht mehr gesehen! Wie lang es wohl her ist? Wie geht es deiner Frau? Mensch, ich habe dir so viel zu erzählen..." Die Stimmen entfernten sich und ich hörte nur noch Gemurmel und Gelächter. Seufzend drehte ich mich um und ging die Treppe hinauf. Doch Elliott hielt mich auf halbem Wege auf. "Warte! Willst du mich nicht einladen, in dein Zimmer zu kommen?" Ich schaute ihn kurz an und ging weiter. Über die Schulter hinweg sagte ich: "Komm mit...wenn du willst." Elliott grinste.

"Du hast echt viele Videospiele! Wollen wir vielleicht eins zusammen spielen?" "Mein Fernseher ist kaputt", erwiderte ich. "Echt? Wieso das denn?" Lou, die neben mir in der Tür stand, kicherte. "Ja, wie konnte das nur passieren? Na los, erzähl es ihm ruhig." Mit einem wütenden Blick brachte ich sie zum schweigen. "Das ist eine lange Geschichte", gab ich als Antwort, was Elliott zu genügen schien. Er schaute sich weiter meine Sachen an und ich seufzte leise. Dieser Junge war vielleicht ganz nett und besaß Unmengen an Charisma, doch mich nervte er ein wenig. "Du hast hoffentlich nichts dagegen, wenn ich mir alles genauer ansehe, oder?" Ich erzwang ein Grinsen und erwiderte: "Nein, hab nichts dagegen." Hatte ich doch. Elliott schien meine Ungeduld nicht zu bemerken, denn er grinste noch breiter. "Gut! Wäre ja schade, wenn ich nicht alles über dich erfahren könnte." Lou kicherte. "Ja. Stimmt, wäre zu schade." Mit diesen Worten marschierte sie quer durch mein Zimmer und zog ein altes Fotoalbum aus meinem Regal. "Lass das...", flüsterte ich hilflos. Das Album landete mit einem lauten Knall auf dem Boden und Elliott und ich zuckten zusammen. Er hob das Album auf und blätterte darin. "Nein, nicht!", protestierte ich und wollte Elliott das Album aus der Hand reißen, doch er lachte nur. "Bist das echt du? Du siehst ja aus wie ein Junge!" Ich spähte ihm über die Schulter und erstarrte. Elliott hatte das absolut hässlichste Bild von mir gefunden und machte sich darüber lustig. Mit glühenden Wangen entriss ich ihm das Fotoalbum und stellte es an seinen Platz zurück. "Hey, was ist denn?", fragte er. "Du hast dich über mich lustig gemacht", erwiderte ich beleidigt. "Nein, habe ich nicht. Kann ich noch mehr sehen? Du sahst echt niedlich aus!" Ich war empört. "Darauf falle ich nicht herein!" Elliott nahm daraufhin mein Kinn und drehte meinen Kopf so, dass ich ihn ansah. "Ich habe das ernst gemeint." Sein spielerisches Grinsen verwandelte sich in ein warmes Lächeln. Für einen Moment hielt ich den Atem an.

Wegen einem weiteren Krachen fuhren wir auseinander. Lou hat mehrere Stapel von Alben und Gedichten auf den Boden geworfen. "Ups!", machte sie nur und streckte mir die Zunge heraus. Lou hüpfte von einem Regal zum anderen und warf stapelweise Alben, Bücher und Papiere auf den Boden. Ich erhaschte einen Blick auf Elliotts Gesicht. Ich erwartete, dass er das Geschehen erschrocken und verstört beobachten würde, doch er sah total begeistert aus. Langsam drehte er sich mit einem irren Grinsen zu mir um. "Louise...? Sag mal, spukt es hier?" Ich grinste zurück und diesmal war mein Lächeln echt. "Ganz genau. Mich verfolgt schon seit einer Weile so ein nerviger Geist, der immer Ärger macht. Du kannst ihn zwar nicht sehen, aber ihn berühren schon." "Im Ernst jetzt?" "Ja. Willst du es mal probieren?" Entschlossen krempelte Elliott seine langen Ärmel hoch. "Okay, I'm ready. Wo ist dieser Geist?" Ich sah zu Lou und grinste sie hämisch an. Sie lachte bloß. "Das ist doch nicht euer Ernst, oder? Der trifft mich doch nie..." "Elliott! Rechts von dir, Hüfthöhe!", rief ich ihm zu. "Alles klar", erwiderte er und trat zu. Sein Fuß traf in ihre Magengrube und Lou stöhnte vor Schmerz. "Louise! Da war was! Ich hab es gemerkt!", rief Elliott aufgeregt. "Spinnst du? Ich hab meine Tage!", rief Lou. "Deswegen verschone ich dich doch nicht", zischte ich ihr zu und gab Elliott die nächste Anweisung. Der nächste Tritt streifte Lou zwar nur, doch das reichte bereits, dass sie die Flucht zur Tür ergriff. Doch ich war schneller und schloss die Tür mit einem Schlüssel, der in meiner Hosentasche lag, ab. Panisch rannte Lou durch den Raum und Elliott jagte sie vergnügt. Obwohl er sie nicht sehen konnte, reagierte er auf meine Anweisungen bestens und traf so gut wie immer. Elliott war erstaunlich schnell. Humor hatte er offensichtlich auf. So viel Spaß es mir auch bereitete, Lou zu ärgern, hatte ich irgendwann Mitleid mit ihr und kündigte das Ende der Jagd an. Elliott ließ sich erschöpft, aber lachend auf mein Bett fallen. Ich schmiss mich gleich neben ihn. "Das hat Spaß gemacht", sagte er. "Finde ich auch", gab ich lachend zurück. Lou hockte schmollend in der Ecke, doch das war mir egal. Eine Weile lagen wir schweigend herum, bis Elliott die Stille durchbrach: "Wir sollten öfter zusammen abhängen." Ich nickte zustimmend. Ja, ich mochte ihn. "Also...Freunde?" Elliott sah mich abwartend an. "Freunde", bestätigte ich. Ich habe mich echt seit Ewigkeiten nicht mehr so gut gefühlt. Anschließend sagte ich etwas, was mich selbst überraschte und worüber ich vorher nicht nachdachte. "Elliott...du bist echt cool." Elliott sagte nichts, sondern nahm bloß meine Hand und drückte sie sanft.

 

9

 

"Du triffst dich wieder mit ihm, oder?" "Was, wenn ja?" "Du triffst dich ja ständig mit ihm! Hast deine Janine wohl endlich aufgegeben, was?" "Was hat das jetzt damit zu tun?" "Stehst du jetzt auf ihn, oder was?"
Ich blieb stehen und drehte mich endlich zu Lou um. Wir waren auf dem Weg zu Elliott. Vor einem Monat besuchte Elliott uns mit seinem Vater und seitdem trafen wir uns jede Woche mehrmals. Lou bestand immer darauf, mitzukommen, wenn wir uns trafen und ich war immer dagegen, doch Lou konnte ich sowieso nie von irgendetwas abhalten.

Einen Moment lang sahen wir uns an, ihr Gesichtsausdruck war neutral. Ich seufzte und wandte den Blick ab. "Du weißt genau, dass das nicht geht."
Aus dem Augenwinkel sah ich Lou, wie sie den Kopf schief legte und mich mit einem leichten, bitteren Grinsen bedachte. "Das könnte sich ändern, weißt du?" Ich winkte ab und ging weiter. Elliott und ich haben uns im Park verabredet. Er sprach immer von einem "Date", wenn wir uns trafen. Doch ich sagte dazu nie etwas, da ich im Stillen hoffte, er würde es nicht ernst meinen. Lou holte mich schließlich ein und wir liefen wieder Seite an Seite. "Mal ehrlich, was findest du bloß an ihm?" "Wie ich schon sagte, ich liebe ihn nicht!" Doch Lou hörte nicht zu.
Sie redete einfach weiter. "Ihr trefft euch ständig! Jeder Mensch mit ein wenig Intelligenz würde erkennen, dass da etwas läuft. Es nervt richtig, dass du das auch noch abstreitest. Entweder, du willst dir das nicht eingestehen, oder du bist einfach nur strohdumm geworden. Ich halte ja das zweite für wahrscheinlicher."
"Hey..."
"Es ist ja fast schon so, dass du sogar mehr Zeit mit Elliott verbringst als mit mir..."
"Aha!" Lou blieb verblüfft stehen. "Was denn?" "Du bist eifersüchtig!", rief ich. "Was? Nein!" "Lou ist eifersüchtig, ha!" Lou lachte nervös. "Wovon redest du?" "Du bist eifersüchtig, weil ich lieber mit Elliott was mache als mit dir", erklärte ich und grinste triumphierend.
Lou schlug mir auf den Arm. "Gar nicht wahr", murmelte sie genervt. "Doch", entgegnete ich und lief weiter. Währenddessen machte sich in mir ein Gefühl von Wärme breit, das ich nicht erklären konnte. Lou holte mich wieder ein. "Du nimmst dich selbst wohl ziemlich wichtig, was? Weißt du was? Du bist furchtbar nervig, dumm, eitel und scheiße. Warum zur Hölle sollte ich eifersüchtig sein? Außerdem kann ich Elliott nicht leiden."
Das warme Gefühl verschwand. "Warum nicht?", fragte ich. Doch Lou zuckte mit den Schultern und antwortete nicht. "Außerdem bist du ziemlich hässlich, wodurch ich mich erst recht wundere, was Elliott an dir findet."
Ich lachte leise. "Dir ist hoffentlich schon klar, dass man das auch auf dich beziehen könnte, weil wir absolut identisch aussehen." Lou grunzte und wandte sich von mir ab.

Wir liefen schweigend nebeneinander her. Während Lou schmollte, hob ich den Blick und blinzelte der Sonne entgegen. Es wurde immer wärmer, wie ich zufrieden feststellte. Wir hatten bereits Ende Juni und ich konnte zu meiner Freude schon längst in T-Shirts herumlaufen. Ich verschränkte die Arme hinter meinem Kopf und sah Lou währenddessen aus dem Augenwinkel auf und ab hüpfen. Verwundert drehte ich meinen Kopf leicht in ihre Richtung. "Lou? Alles okay?", fragte ich. Sie grinste mich bloß an. "Das ist ein neuer Gute-Laune-Tanz", erklärte sie und schwang dabei mit ihren Hüften. Sie führte weitere seltsame und dämliche Bewegungen aus und ich sah peinlich berührt weg. "Lou, bitte...das ist komisch." Doch sie hörte nicht auf mich. "Komm, versuch es auch. Das macht Spaß!", forderte sie mich auf und lachte dabei. Ich grinste leicht. Ihr unbeschwerter und glücklicher Anblick wirkte ansteckend auf mich und ich fing damit an, leicht von einen Fuß auf den anderen zu treten. Daraus wurden immer wildere Bewegungen und irgendwann tanzte ich so unkontrolliert wie möglich. Lou und ich drehten uns immer weiter im Kreis und ich stimmte in ihr Lachen ein. Doch nach einer Weile hörte sie plötzlich auf und lehnte sich an einen Baum. Sie bedachte mich mit einem hinterhältigen Grinsen. Ich bekam ein schlechtes Gefühl und hörte auf, mich zu drehen. "Was ist?", fragte ich verunsichert, doch Lou schaute bloß weg. Ich folgte ihrem Blick und sah die fassungslose Schulleiterin meiner Schule auf der anderen Straßenseite. Sie starrte mich mit offenem Mund an und mein Gesicht wurde ganz heiß. Ich hatte bei ihr Mathe und Geschichte und in beiden Fächern stand ich nicht sonderlich gut. Wahrscheinlich dachte sie sich, ich hätte meine Zeit eher mit Lernen verbringen müssen als mit solchem Unsinn. Ich zog den Kopf ein und lief, so schnell ich konnte zum Park. Das lautstarke Gelächter von Lou entging mir nicht.

"Echt jetzt? Ich kann nicht glauben, dass du das ernsthaft durchgezogen hast!" Elliott und ich saßen bereits im Park auf einer Bank und aßen Eis. Lou lehnte an einer Laterne und beobachtete mich, während ich Elliott die Geschichte von der Schulleiterin erzählte. Elliott lachte und ich gab mich beleidigt und drehte mich weg. "Hey, ich lach dich doch nicht aus", rechtfertigte sich Elliott. "Nein, gar nicht", gab ich sarkastisch zurück und schaute mich im Park um. Es waren sehr viele Leute unterwegs, doch mir machte es gar nichts aus. Wenn da nicht diese eine Person wäre, die mir direkt in die Augen sah. Ich erstarrte. Von allen Menschen hätte ich mit Janine am wenigsten gerechnet. Sie saß mit ihrer Clique auf einer Steinmauer und rauchte. Ich saß, wie ihr einige etwas ins Ohr flüsterten und kicherten. Ich bekam Panik. Meine Hände zitterten und ich hielt den Atem an. Elliott legte mir eine Hand auf die Schulter. "Alles in Ordnung?", fragte er. Ich schüttelte langsam den Kopf. Er nahm mich an der Hand und führte mich woanders hin. "Was war los?", erkundigte er sich. "Ich habe...meinen Schwarm gesehen", gab ich zu. "Ist doch gut, oder? Wie ist er denn so?" Er. Elliott ging davon aus, dass es ein Junge war. "Nein. Nicht gut", sagte ich. Schweigen. "Willst du darüber reden?", fragte er vorsichtig. Doch es kam kein Wort aus mir heraus. Stattdessen lehnte ich mich an seine Brust und brach in Tränen aus. Elliott legte die Arme um mich und strich mir über den Rücken. Nach einer Weile löste ich mich von ihm und erzählte ihm alles von Janine und wie sie mich behandelte, ohne dabei einen Namen oder das Geschlecht zu nennen.

Nachdem ich geendet hatte, kratzte sich Elliott ratlos am Kopf. "Das ist heftig", bemerkte er. Ich nickte. Was soll man sonst zu so einer Geschichte sagen? "Ich kann zwar nicht helfen, da ich ihn ja nicht kenne. Er scheint ein richtiger Scheißkerl zu sein. Aber wenn etwas ist, kannst du mit mir darüber reden." Ich schaute zu ihm hoch und lächelte. "Ja...danke." Elliott grinste zurück. Kurz darauf wurde sein Gesicht jedoch wieder ernst und er sagte: "Ich muss dir etwas sagen."

 

 

10

 

"Ich muss dir etwas sagen."
Ich sah Elliott verwundert und gleichzeitig erwartungsvoll an. Er holte Luft, atmete aus, machte eine Faust, machte sie wieder auf.
"Ich...", fing er an, wurde jedoch unterbrochen.
"Louise?"
Wir drehten uns um und ich sah in Julians verblüfftes Gesicht. Ich wollte ihn gerade freundlich begrüßen, doch da fiel mir unsere "Auseinandersetzung" von vor drei Monaten ein. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen, obwohl wir Nachbarn waren.
Ich warf ihm also bloß ein nervöses Lächeln zu und sah zu Elliott, der ihn misstrauisch ansah. "Wer ist das?", fragte Elliott. Ich holte bereits Luft, um zu antworten, doch Julian war schneller. "Oh, nur ihr Nachbar. Kein Grund zur Eifersucht also", sagte er und grinste selbstgefällig.
Elliott knirschte mit den Zähnen. Ich fasste ihn am Arm, doch er schüttelte meine Hand ab und baute sich vor Julian auf.
"Ich nehme dir deine Freundin schon nicht weg", sagte Julian und sah mich an. In seinem Blick lag keine Spur von Freundlichkeit. Er atmete hörbar aus und verschränkte die Arme. Langsam glaubte ich, dass es eine blöde Idee war, in den Park zu gehen.
"Naja, genieße die Zeit mit ihr, solange du kannst. Irgendwann wird sie dich nur noch an sich ketten, weil sie sonst keine Freunde hat, geschweige denn eine Beziehung."
Wovon redete der?
Elliotts Muskeln spannten sich an. "Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Wie kannst du so von Louise reden?" "Tja", machte Julian und zuckte mit den Schultern, "ich kenne sie eben viel länger und besser als du sie jemals kennen wirst." Die Faust, die Elliott eben wieder geballt hatte, ließ er sinken.
Er schien verwirrt zu sein und sah für einen Moment ins Leere. Doch sein Blick klärte sich und er sah Julian mit Entschlossenheit...nein, viel mehr mit roher Wut an. "Du warst also derjenige, der sie verletzt hat", murmelte er, eher an sich selbst gerichtet. Julian legte den Kopf schief.
"Hä?"

In meinem Kopf ratterte es. Wovon rede Elliott jetzt?
"Du Schwein!", schrie Elliott. Ich sah ihn panisch an und schaute mich nach Lou um. Sie war weg.
"Du verdammtes Arschloch! Du hast Louise psychisch total kaputtgemacht!" Julian hob die Hände.
"Alter, was laberst du?! Ich hab nichts getan! Die da ist doch hier die Irre! Mit ihren kranken, telekinetischen..."
Weiter kam Julian nicht, denn Elliott schlug ihm seine Faust in den Magen. Julian stöhnte vor Schmerzen und ich starrte die beiden fassungslos und mit offenem Mund an. Warum tat Elliott das?
Ich sah ich hektisch um, doch in unserer Nähe war niemand. Wir standen irgendwo im Park, wo sonst normalerweise niemand tagsüber hinkommen würde. Nachts schlichen sich betrunkene Studenten hier herum und machten sonst was miteinander. Ich wollte das gar nicht wissen. "Stopp! Hör auf! Weißt du überhaupt, was du da tust?! Hilfe!"
Elliott packte Julian am Shirt und ging gefährlich nahe an sein Gesicht heran. "Wenn du Louise noch einmal etwas antust, mach ich dich persönlich fertig. Und es wird das nächste mal nicht bloß bei ein paar Schlägen bleiben, kapiert?" Julian nickte stumm und Elliott warf ihn praktisch gegen den nächsten Baum. Julian krachte mit dem Rücken dagegen und landete unsanft auf seinem Hintern.
Elliott atmete schwer, während Julian sich aufrappelte und die Flucht ergriff. Erst in dem Moment wurde mir klar, warum Elliott auf ihn losgegangen ist. Langsam drehte er sich mit einem zufriedenen Grinsen zu mir um, doch dieses verschwand, als er mein besorgtes Gesicht sah. "Alles in Ordnung?", fragte er, trat näher und legte eine Hand an meine Wange. Ich drehte meinen Kopf weg.
"Elliott...das war nicht er." "Was...?" "Julian hat nichts gemacht. Die Person, die mich verletzt hat und die ich liebe..."
...war Janine. Doch ich wagte es nicht, es auszusprechen. In Wahrheit liebte ich sie noch nicht einmal mehr.
"...war jemand anderes."
Elliott starrte mich fassungslos an und nahm seine Hand weg. Ich konnte ihm nicht in die Augen sehen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er sein Gesicht in den Händen verbarg. "Hättest du mir das nicht früher sagen können?" "Es tut mir..." Doch er winkte ab.
"Ich habe jetzt eine unschuldige Person total fertig gemacht", sagte er deprimiert und er tat mir ehrlich leid. Ich streckte eine Hand nach ihm aus, doch er wich zurück. "Fass mich nicht an", sagte er kühl und sah mich nicht mehr an. Dieser Tonfall brach mir fast das Herz. "Sag mir einfach, wie ich ihn erreichen kann. Ich muss mich bei ihm entschuldigen."
Ich gab ihm Julians Adresse. Dann ging er einfach und ließ mich stehen. Ich brach in Tränen aus.

"Hey! Da bist du ja! Ist was passiert, während ich weg war?"
Ich saß mittlerweile in meinem Zimmer aus dem Bett und starrte nur vor mich hin, bis Lou fröhlich durch mein Fenster, das offen stand, stieg. Ich sah sie mit tränenverschleierten Augen an. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich und zeigte tatsächlich einen Hauch von Besorgnis. "Was...ist passiert?" "Lou! Wo zur Hölle warst du? Du bist echt schlimm, weißt du das?"
Ich sprang auf und umklammerte sie stürmisch. Endlich ließ ich meinen Tränen freien Lauf und ausnahmsweise machte sich Lou nicht über mich lustig. Sie sagte nichts und strich mir bloß über den Rücken. Sobald ich fertig war mit allem, erzählte ich ihr alles.

Mein Handy piepte.
Wer schrieb mir denn um diese Zeit noch eine Nachricht?
Ich lag noch wach im Bett und wälzte mich seit Stunden hin und her. Wie konnte Lou bloß so friedlich wie ein Baby schlummern? Wahrscheinlich deshalb, weil sie innerlich nicht so aufgewühlt war wie ich. Ich konnte einfach nicht anders als an Elliott zu denken. War er jetzt böse auf mich? Ich hoffte, er nahm es mir nicht zu sehr übel. Ist er wirklich bei Julian vorbeigekommen und hat sich entschuldigt?

Vielleicht sollte ich ihn anrufen.
Vielleicht sollte ich ihm eine Nachricht schreiben. Würde er mir antworten? Oder mich ignorieren?

Mein Handy piepte erneut. Ich seufzte, nahm es von meinem Nachttisch und schaltete es an. Das Licht blendete mich, sodass ich erst einmal meine Augen zusammen kniff, bevor ich es entsperrte und die Nachrichten las. Überrascht zog ich meine Augenbrauen hoch, als ich feststellte, dass die Nachrichten beide von Elliott kamen. Die erste lautete: "Hab mit Julian alles geregelt." Ich seufzte vor Erleichterung. Doch als ich die zweite Nachricht las, drehte sich mein Magen um. "Wenn du wach bist, sei innerhalb von dieser Stunde am Eingang vom Park. Ich werde nicht länger warten." Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war bereits halb eins, doch da ich am nächsten Tag keine Schule hatte, war es mir egal. So leise es ging zog ich mich an und stieg aus dem Fenster. Die kühle Brise streifte meine Arme und ich lief in die Nacht hinein.

 

11

 

"Wo zur Hölle ist der denn jetzt?"
Ich stand am Eingang vom Park und trat ungeduldig von einen Fuß auf den anderen. Vielleicht war ich bereits zu spät? Ich warf einen Blick auf mein Handy und seufzte. Elliott müsste irgendwo noch sein.
Ich betrat den Park und blickte mich um. Die Straßenlaternen beleuchteten den Schotterweg nur spärlich und die sonst leuchtend grünen Büsche und Bäume wirkten beinahe schwarz. Dies verursachte eine gespenstische Atmosphäre und mir wurde unwohl. Es war absolut windstill und angenehm warm und die Luft roch nach Regen. Hatte es etwa geregnet? Ich habe nichts mitbekommen. Ich atmete tief ein und legte den Kopf in den Nacken.
Dunkle Wolken verdeckten die Sicht auf die Sterne. Schade. Ich mochte es, den Nachthimmel zu betrachten.
Da.
Ich hörte Schritte. Die schweren Sohlen krachten lautstark auf das Schotter. Ich drehte mich zur Quelle des Geräuschs um und erblickte die Silhouette eines männlichen Körpers. Ganz langsam schritt er auf mich zu und im schwachen Schein der Laterne sah ich sein Gesicht.

Es war nicht Elliott.
Vor mir stand ein älterer Mann und musterte mich verwundert. "Guten Abend, junge Dame", sprach er in einem gemächlichen Tonfall. "Was für eine warme Nacht heute, nicht?" Ich nickte zaghaft und der Mann ging an mir vorbei. "Wenn das nur immer so bleiben würde. Aber alles ist leider vergänglich."
Mit diesen Worten verschwand der Fremde in der Dunkelheit. Ich sah ihm lange nach.
Wo war er? "Oh, Elliott..."
Ich setzte mich auf eine Bank und wartete. Enttäuscht sah ich erneut auf mein Handy und stellte fest, dass bald die Stunde um ist, die Elliott mir gegeben hatte. Vielleicht sollte ich gehen. Doch ich blieb sitzen. Noch ein paar Minuten, sagte ich mir. Er wird es wohl nicht vergessen haben, oder?
Oder doch. Die Zeit war um. Ich erhob mich und wandte mich zum Gehen, als ich erneut Schritte hörte. Diese waren jedoch schneller und verunsicherten mich. Sie passten in diese Ruhe nicht hinein. Ich unterdrückte den Impuls, meine Ohren zu verdecken. Die Schritte kamen immer näher, bis sie anhielten.
"Louise."

Ich wirbelte herum und sah Elliotts Gesicht. Er atmete noch schwer vom Rennen und starrte mich unverwandt an. "Elliott!", rief ich und umarmte ihn stürmisch. Er drückte mich kurz und rückte von mir ab, um mich ansehen zu können. Seine Gesichtszüge waren bereits weicher. "Wo warst du denn?", fragte ich. Elliott kratzte sich verlegen am Kopf. "Ich dachte, du hättest bereits geschlafen und dann bin ich zum See gegangen. Ich hab nicht damit gerechnet, dass du doch kommen würdest, aber gehen wollte ich auch nicht. Es ist so schön hier. Besonders nachts."
Er sah hoch zu einer Laterne. Ein kühler Wind wehte und die Blätter raschelten. Ich genoss diesen Augenblick für einen Moment.
"Ist mit Julian..."
"Ich habe alles geklärt. Es geht ihm gut. Mach dir keine Sorgen", unterbrach er mich und lächelte leicht. Dennoch zog ich besorgt die Augenbrauen hoch. "Warum hast du mich jetzt hierher bestellt? Konntest du dir nicht einen besseren Zeitpunkt aussuchen? Ich brauche meinen Schönheitsschlaf, weißt du." Elliott lachte. "Es ist halt ziemlich wichtig. Eigentlich wollte ich dir das schon am Nachmittag im Park sagen, aber wir sind ja...unterbrochen worden", meinte er mit einem schiefen Lächeln. "Na dann, schieß los." Elliott holte Luft.
"Weißt du, ich habe da über etwas nachgedacht. Und es ist ziemlich wichtig, dass du jetzt ehrlich antwortest, okay? Also, wir haben bald Ferien und da fragte ich mich, ob du vielleicht Lust hättest, mit mir in den Urlaub zu fahren."

"Das ist nicht dein Ernst, oder?"
Ich starrte ihn ungläubig an. "Doch. Also, hast du Lust?" Mir fehlten die Worte. Damit hatte ich gar nicht gerechnet. "Ja, total gern! Aber ich habe nicht sehr viel Geld."
"Das ist kein Problem. Ich habe noch eine Menge Geburtstagsgeld und weiß einfach nicht, wohin damit. Außerdem finde ich, es in einen Urlaub mit dir zu investieren durchaus sinnvoller als mir unnütze Dinge zu kaufen.
"Bist du dir sicher?", fragte ich nach. "Willst du es nicht lieber sparen?"
Elliott lachte nur. "Glaub mir, da kommt nichts Gutes bei raus."
Ich seufzte. Er wollte sich wohl nicht umstimmen lassen. "Glaubst du, meine Eltern wären damit einverstanden?"
"Bestimmt", erwiderte er.
"Aber wohin fahren wir?", fragte ich. Elliott grinste begeistert.
"Nach Island."

"Island? Was wollt ihr denn da? Da gibt es doch gar nichts."
Meine Mutter sah mich über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg skeptisch an. Ich hatte meinen Eltern beim Frühstück von unseren Plänen erzählt. Mein Vater schien im Gegensatz zu meiner Mutter total begeistert zu sein. "Das ist doch großartig! Die Kinder scheinen sich ja blendend zu verstehen! Ich das nicht toll? Sieh mal, Inge, sie haben sich bereits angefreundet. Wer weiß, vielleicht wird ja mal mehr daraus?"
Mein Vater grinste verschwörerisch und ich sah in Lous Richtung, die ihren Lachanfall kein bisschen zurückhielt. "Papa, bitte", stöhnte ich genervt und Mama lachte. "Na gut, wie ihr wollt. Du kannst mit Elliott auf diesen Trip gehen, aber macht mir nichts unvernünftiges", mahnte sie. "Ja, machen wir schon nicht", antwortete ich und wollte gerade aufstehen.
"Nicht, dass du uns noch eine Schwangerschaft anschleppst", murmelte sie. "Mama!", rief ich empört. Lou lachte nur noch lauter.

"Du findest es wohl zum Schreien komisch, nicht wahr?"
Lou warf sich immer noch lachend auf mein Bett. "Dein Vater versucht wohl, euch zu verkuppeln. Also ich finde das sehr lustig", sagte sie atemlos. "Warum?" "Keine Ahnung. Aber weißt du, was ich glaube?" Lou hatte mittlerweile aufgehört zu lachen. "Ich glaube, das will ich eigentlich gar nicht wissen", entgegnete ich. Natürlich redete Lou trotzdem weiter. "Ich glaube echt, er steht auf dich." "Was? Nein. Wir sind nur Freunde. Da ist nicht mehr."
Lou zog eine Augenbraue hoch. "Ganz sicher? Ich mein, das sieht doch jeder Blinde, dass da was läuft." "Rede keinen Müll", sagte ich genervt und setzte mich neben sie aufs Bett. Lou musterte mich kurz, bevor sie weiterredete. "Wobei es mich schon ein wenig wundert. Du bist eben viel zu scheiße, als dass sich jemand in dich verlieben könnte." Ich atmete hörbar aus. Lou war echt so charmant wie immer. "Danke, gleichfalls."
Ich legte mich auf den Rücken und da Lou auf dem Bauch lag, landete ich mit meinem Kopf auf ihrem Po. "Hey, geh runter da", murmelte sie. "Nee", nuschelte ich nur. Ich war so müde. Am liebsten wäre ich eingeschlafen. "Ich pups dich sonst an", erwiderte sie nur. "Mir doch egal, mach doch, was du willst."
Wir lagen eine Weile so da, bis Lou sich vorsichtig aufrappelte und mein Kopf schließlich auf der Bettdecke lag. Ich schloss die Augen und lauschte ihren Schritten, die sich entfernten und wieder näherkamen. Und dann wurde ich mit eiskaltem Wasser übergossen.
Entsetzt schrak ich hoch und starrte Lou wütend an, die mich nur höhnisch angrinste. "Wofür war das denn?!", beschwerte ich mich. Lou zuckte mit den Schultern. "Du hast es selbst gesagt. Ich soll machen, was ich will."

12

 "Ich bin so müde! Ich könnte jetzt einschlafen."
"Wir sind gerade mal dreieinhalb Stunden geflogen."
"Ja und?"
Die Sommerferien hatten vor zwei Wochen angefangen und Elliott und ich sind endlich nach Island geflogen. Lou kam natürlich mit, was mir teilweise zuwider war, mich teilweise aber auch freute. Ich konnte nicht erklären, warum.
Nachdem wir unsere Sachen im Hotel ausgepackt hatten, gingen wir sofort hinaus, um die schöne Landschaft zu betrachten. Uns begegneten so gut wie gar keine Menschen und Elliott erzählte mir eine Menge aus seiner Vergangenheit. Hauptsächlich ging es um belanglose Dinge wie die Streiche, die er als Kind mit seinen Freunden den Lehrern gespielt hatte oder ähnliches. Irgendwann fing ich an, von mir zu erzählen und wir knüpften weiter an unsere Geschichten an und bald haben wir so viel an unsere Geschichten angeknüpft, dass wir nicht mehr wussten, wie wir vom ersten Thema auf das jetzige gekommen waren.
Ich habe nicht bemerkt, dass Lou nicht mehr bei uns war.
"Das ist total schön hier! Elliott, mach mal Fotos", forderte ich ihn auf und sogleich zückte er sein Handy.
Wir standen in der Nähe eines Wasserfalls, dessen Wasser in der Sonne in allen möglichen Farben schillerte. Ich trat näher an den Abgrund und sah in die Tiefe. Mir wurde schwindelig bei dem Anblick, wie das Wasser gewaltig hinunter raste.
Also ging ich flussaufwärts, während Elliott zurückblieb und weitere Fotos machte. Ich trat so nah an den Rand, dass ich mein Spiegelbild im Wasser sehen konnte und richtete meinen Blick in den Himmel.
Es war immer noch sehr hell, obwohl es bereits zehn oder elf Uhr in der Nacht sein musste, aber im Juli ist es in Island auch nachts hell. Den Blick weiterhin in den blassblauen Himmel gerichtet, wollte ich weitergehen und machte, ohne nachzudenken, einen Schritt nach vorne.
Ich bereute es bitter.
Sogleich umhüllte mich das frostige Wasser und mein Herz setzte einen Schlag aus.
Panisch strampelte ich im Wasser herum und versuchte, mich irgendwo festzuhalten, was leider nicht möglich war. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und die eisige Kälte des Wassers schnürte mir praktisch den Atem ab.
Ich versuchte, gegen den Strom zu schwimmen oder das Ufer zu erwischen, doch die Strömung war viel zu stark.
"Lou! Hilfe!"
Erst jetzt bemerkte ich, dass Lou nirgends zu sehen war. Wo war sie denn jetzt?
Ich wandte mich um und augenblicklich sank mir das Herz in die Hose. Der Abgrund kam immer näher.
"Louise!", rief eine aufgebrachte und panische Stimme. Die Strömung riss mich kurzzeitig unter Wasser und ich schnappte nach dem Auftauchen japsend nach Luft. "Elliott!", rief ich verzweifelt.
Er rannte so schnell er konnte ans Ufer und streckte seine Hand nach mir aus. "Halt dich an mir fest!", brüllte er gegen das Rauschen des Wasserfalls an.
Ich war gefährlich nahe am Abgrund, die Panik wurde immer größer und breitete sich in jeder Zelle meines Körpers aus. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, doch streifte ihn nur. Er war zu weit weg.
Ich bekam ihn nicht zu fassen.
In meinen Ohren dröhnte es. Ich wusste, ich würde sterben. Elliott brüllte etwas, doch ich verstand es nicht. Ich trieb immer näher auf den Abgrund. Ich schloss die Augen und bevor ich die Chance hatte, einen letzten Atemzug zu tätigen, wurde ich für eine kurze Zeit schwerelos.
Eine große Hand umschloss meine und die plötzliche Berührung ging durch meinen gesamten Körper.
Ich schlug die Augen auf und blickte in Elliotts angestrengtes Gesicht. Er klammerte sich an einen Stock, der in der Erde steckte und hing praktisch über dem Abgrund, während er meine Hand hielt.
Elliott versuchte, sich an dem gebrechlichen Stock hochzuziehen, doch ich war zu schwer. Er sah mich entschuldigend und etwas traurig an. Entsetzt spürte ich, wie sein Griff lockerer wurde und ihn langsam die Kraft verließ.
Meine Augen füllten sich mit Tränen. So konnte es doch nicht enden, oder?
"Elliott, du musst mich loslassen!", schrie ich. "Niemals!", brüllte er zurück. "Bitte, sonst werden wir beide da runtergezogen!", rief ich verzweifelt. "Das ist mir egal. Ich lasse dich nicht allein!"
"Elliott...", wisperte ich kraftlos. Ich hatte kaum noch Halt.
Elliotts Hand erschlaffte.
Mit einem gewaltigen Ruck wurden Elliott und ich wieder zurück ans Ufer gerissen. Elliott atmete schwer. "Was zum..."
Wir schauten uns um und ich erblickte Lou, die mich mit ihrem Blick praktisch durchbohrte. Elliott sah immer noch wild umher und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, wer uns wohl zurück ans Ufer gezogen hatte. Natürlich konnte er nicht wissen, dass es Lou gewesen war.
Ich wusste nicht, dass sie so stark war.
Nach einer Weile blickte Elliott mich wieder an. In seinem Blick lag eine Mischung aus Wut und Erleichterung. Er riss ein Büschel Gras heraus und warf es nach mir.
"Du hohle Nuss! Hättest du nicht aufpassen können?! Ich hatte Todesangst um dich!", brüllte er und umarmte mich so stürmisch, dass wir ins Gras fielen und Elliott auf mir landete. Dann tat er etwas, was ich noch nie bei ihm gesehen hatte.
Er weinte.
Ich brach ebenfalls vor Erleichterung in Tränen aus und bedankte und entschuldigte mich abwechselnd. Ich weinte und redete und schrie, bis meine Augen brannten und meine Kehle trocken war.
Unruhig wälzte ich mich in meinem Bett hin und her. Ich konnte wieder nicht schlafen. Elliott atmete tief und gleichmäßig, also ging ich davon aus, dass er schlief.
Nach einer Weile hielt ich es jedoch nicht mehr aus. Ich schlug die Decke zur Seite und setzte mich auf. Lous Bett war leer. Wo war sie diesmal?
Ich beschloss, ein wenig frische Luft zu schnappen und trat vor die Tür, wo ich Lou auf der Treppe sitzend erblickte.
Ich zögerte kurz, bevor ich mich räusperte. "Lou?"
Lou zuckte zusammen.
Langsam drehte sie sich zu mir um...und grinste mich an.
"Wo warst du heute eigentlich, als wir Fotos machen wollten?"
Lou antwortete erst nicht. Sie ließ sich echt Zeit. Doch irgendwann dauerte es mir zu lang.
Ich wollte schon aufstehen, bis sie endlich Luft holte.
"Ihr hattet anscheinend eine Menge Spaß, deshalb wollte ich euch nicht stören", sagte sie patzig. Ich atmete hörbar aus. "Ach Lou...sag nicht, du bist wieder eifersüchtig." Lou drehte den Kopf weg. "Stimmt doch gar nicht." Aber ihr Tonfall verriet sie. Ich lachte leise. Schließlich drehte sie sich doch zu mir um und ich stellte erstaunt fest, dass sie Tränen in den Augen hatte.
"Seit du diesen Elliott kennst, stehe ich nur noch an zweiter Stelle und du machst so gut wie gar nichts mehr mit mir. Immer geht es dir nur um Elliott. Elliott hier, Elliott da. Das macht mich total krank. Was glaubst du, wie ich mich die ganze Zeit fühle? Gut, ich bin eifersüchtig. Aber kann man mir das verübeln?"
"Lou, ganz ehrlich, du machst mir mein Leben nicht gerade leicht."
"Ich weiß. Ich weiß! Aber selbst wenn, ich vermisse dich. Ehrlich! Bitte, es soll wieder so sein, wie es war. Ich will nicht mehr an zweiter Stelle stehen!"
Nach diesem Satz brach sie in Tränen aus und ich nahm Lou unwillkürlich in die Arme. Ihr Körper wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt und ich strich ihr sanft über den Rücken.
"Es tut mir so leid", sagte ich. "Wirklich. Ich habe nicht gewusst, dass du so denkst. Du warst bei mir nie die zweite Wahl. Und du wirst es auch nie sein. Verstehst du?"
Lou nickte und legte ihre Arme um meine Taille.
"Danke, dass du uns heute gerettet hast", flüsterte ich in ihr Ohr. Lou weinte heftiger und drückte mich fester an sich.
Nach einer Weile hatte sie sich beruhigt und rückte von mir ab. Ich grinste sie an.
"Ich habe nicht gewusst, dass du auch ein Herz hast und in der Lage dazu bist, zu weinen", bemerkte ich. Lou lächelte mich grimmig an. "Halt die Klappe, du elendes Miststück", feuerte sie zurück. Ich seufzte. So viel dazu.
"Ja, ich hab dich auch lieb."

13

"Wie lange hast du eigentlich noch vor zu schlafen?"
Prompt wurden die Rollläden hochgezogen und mir die Decke entrissen. Schlaftrunken grummelte ich vor mich hin und wälzte mich an die Kante meines Bettes. Beinahe wäre ich auf den Boden gefallen. Immer noch müde setzte ich mich auf und blinzelte der Sonne entgegen, die durch das Fenster schien.
Ich sah mich nach Elliott und Lou um.
Lou war nirgends zu sehen und Elliott packte einige Sachen in seinen großen Rucksack.
"Was machst du da?", fragte ich verwirrt. Elliott grinste.
"Hab ich dir das nicht während dem Flug erzählt? Wir besuchen heute die Hauptstadt von Island. Ich glaube, sie heißt Reykjavik, oder so ähnlich."
Ich kicherte.
"Du scheinst dich ja bestens auszukennen", erwiderte ich sarkastisch, was er nur mit einem genervten Blick quittierte.
"Schlag doch was Besseres vor. Naja, wie auch immer...danach hatte ich vor, dass wir zur 'Blauen Lagune' gehen. Das ist ein Badesee. Wir werden dort schwimmen gehen, also pack deine Schwimmsachen ein."
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Eilig packte ich meine Sachen zusammen und frühstückte anschließend mit Elliott. Bevor wir losgingen, ging ich noch auf den Balkon, um entsetzt festzustellen, dass Lou sich an meinen Schokoladentafeln zu schaffen gemacht hat.
"Ist das dein verdammter Ernst?! Ich hab die doch für Elliott und mich mitgenommen!"
Lou verzog beleidigt das Gesicht. "Und? Darf ich etwa nichts abhaben? Wie war das noch mal gestern mit unserem Gespräch?"
Ich stöhnte genervt. "Ja schon, aber doch nicht alles", erwiderte ich und nahm ihr die Tafeln ab. Lou schmollte daraufhin. Ich zog an einer Haarsträhne von ihr. "Komm jetzt. Elliott und ich wollen in die Hauptstadt und dann baden gehen. Also zieh dir gefälligst einen Badeanzug drunter." Lou schaute mich mit großen Augen an. "Ich hab aber keinen."
"Dann leih ich dir eben einen."
"Nee, die sind alle total hässlich."
Ich warf ihr einen strengen Blick zu, doch Lou streckte mir bloß die Zunge heraus.
Ich stapfte zurück ins Zimmer und zog tatsächlich den hässlichsten Badeanzug heraus, den ich hatte, den ich Lou zuwarf. Zu meiner Belustigung hatte sie nur noch einen giftigen Blick für mich übrig.

"Wahnsinn, das ist total schön hier!"
Elliott, Lou und ich sind nach einer gefühlten Ewigkeit endlich in der Stadt angekommen und Elliott machte begeistert Fotos.
Wir wanderten durch die Straßen und redeten wieder über alle möglichen Dinge, während wir die schöne Umgebung betrachteten und versuchten, die Wörter auf den Straßenschildern auszusprechen. Es klang sowohl bei mir, als auch bei Elliott und Lou absolut grauenhaft.
Während der gesamten Zeit hatte Lou sich an meinen Arm geklammert und mich bloß nicht losgelassen. Ab und zu sahen wir uns an und ich lächelte ihr zu, was sie dann auch erwiderte.
Sie wird für mich immer am wichtigsten bleiben.

Nach einigen Stunden taten uns bereits die Füße weh und wir beschlossen, eine Pause einzulegen. Während Elliott zu einer Pommesbude ging, betrat ich mit Lou einen Souvenirladen.
Ich betrachtete die handgemachten Glasfiguren. Da nur wenige Menschen im Laden waren, war es ziemlich ruhig, man hörte nur das leise Klingeln des Windspiels draußen. Ich atmete tief ein und aus und genoss diese Ruhe.
Bis Lou mich antippte und mir eine total deformierte Tonfigur zeigte.
Die Figur hatte kurze, dicke Beine, dürre Arme, einen runden Bauch und einen sehr Platten Schädel. Die Augen waren winzig, das Grinsen jedoch überdimensional groß. Sie sah ein wenig verstörend aus.
"Sieh mal. Wenn du wiedergeboren werden würdest, dann würdest du genauso aussehen."
Ich schüttelte den Kopf. Wie kindisch.
Dennoch griff ich ein sehr dickes Glasnilpferd und hielt es Lou hin.
"Und du würdest in etwa so aussehen. Nur etwas dicker, weil du in deinem vorherigen Leben nichts anderes als Schokolade und Chips gefressen hast."
"Hey, das ist gemein!" Danach griff Lou nach einer weiteren Figur, die nicht weniger verstörend aussah als die erste und hielt mir diese hin.
"Dann würdest du wohl eher so aussehen. Nur die Ohren müssten noch etwas weiter abstehen."
Ich lachte und nahm mir noch eine Figur.
So ging das mehrere Minuten lang und Lou und ich amüsierten uns. Ich hörte sie seit langem endlich wieder herzhaft lachen und mein Herz wurde um einiges leichter.
"Hey, Louise! Da bist du ja!"
Elliott betrat den Laden und ging auf mich zu.
Lou und ich stellten die Figuren sofort zurück und wir hörten auf zu lachen. Ich vermisste unsere Albernheiten jetzt schon, doch als ich Lou anblickte, hatte sie ein breites, ehrliches Grinsen im Gesicht.
"Und? Sollen wir jetzt baden gehen?", fragte Elliott und schaute mich erwartungsvoll an.
Ich sagte freudig zu, hakte mich bei ihm unter, ergriff Lous Hand und ging aus dem Laden.

"Mann, bin ich müde! Meine Füße tun total weh."
Wir waren bereits ins Hotel zurückgekehrt und Elliott und ich saßen auf den Plastikstühlen auf dem Balkon und genossen die Sicht. Es war bereits Abend und angenehm warm, nicht so fürchterlich heiß wie am Nachmittag. Lou lehnte an der Glastür und hatte die Augen geschlossen. Sie war bestimmt auch müde.
Ab liebsten hätte ich diesen Moment für immer festgehalten. Ich liebte ruhige Momente, die man mit seinen Liebsten verbrachte und in denen man nichts zu sagen brauchte.
Elliott war mittlerweile zu meinem besten Freund geworden.
Ein warmer Wind wehte uns entgegen und streifte meine nackten Arme. Mein Haar, das nun ein wenig länger als schulterlang war, wehte leicht zur Seite.
Ich nahm mir vor, es abzuschneiden, sobald ich wieder zu Hause war.

"Louise?", durchbrach Elliott die Stille.
"Hm?"
"Ich glaube, ich muss dir etwas sagen."
Ich wurde neugierig und drehte meinen Kopf in seine Richtung. "Was denn?"
Elliott wandte sich ab und war für einen Augenblick still.
"Weißt du...ich habe nachgedacht. Viel und lange. Eigentlich wollte ich dir das schon seit Monaten sagen, doch ich wusste nicht wie und wann der richtige Moment dafür war. Weißt du, du warst bis jetzt eine gute Freundin für mich, doch das will ich nicht mehr. Es macht mich eher fertig."
Ich starrte ihn erschrocken an. Was zur Hölle wollte er mir damit sagen?
Elliott drehte seinen Kopf wieder zu mir und suchte meinen Blick. In seinen Augen las ich pure Entschlossenheit und Stärke.
"Ich kann und will nicht mehr mit dir befreundet sein", sagte er mit fester Stimme, "ich will, dass zwischen uns mehr ist."
Ich wagte kaum zu atmen.
"Ich habe mich in dich verliebt, Louise."

Seine Worte trafen mich wie eine eiskalte Dusche. Es konnte nicht sein. Ich konnte nicht mit ihm zusammen sein, aber ich würde ihn verletzen. Gleichzeitig wollte ich ihn auch nicht verlieren. Dennoch entschied ich mich für den ehrlichen Weg.
"Es tut mir leid. Ich kann deine Gefühle nicht erwidern."
In Elliotts Blick spiegelte sich nun eine Mischung aus Entsetzen und Unverständnis wieder.
"Warum nicht?"
Ich wandte den Blick ab. "Das geht nicht", wisperte ich.
Elliott raufte sich die Haare. "Wie, das geht nicht? Ich dachte, du würdest mich auch lieben, nach all dem, was wir zusammen gemacht haben. Magst du mich denn kein bisschen?"
"Doch!", beteuerte ich. "Nur eben als besten Freund..."
"Oh, sei still! Merkst du nicht, wie sehr du mir mit diesem Satz wehtust?"
"Es tut mir..."
"Entschuldige dich nicht. Woran liegt es? Liebst du ihn immer noch? Sag schon! Wie kannst du bloß so ein Arschloch wie ihn lieben?"
"Ich liebe ihn nicht mehr. Aber es geht trotzdem nicht."
"Warum nicht? Sag doch einfach warum, verdammt noch mal!"
Ich zuckte zusammen. Elliott hat mich noch nie angeschrien. Tränen liefen mir über die Wangen. Das konnte doch alles nicht wahr sein.

"Ich bin lesbisch."
"Was?"
Elliott schaute mich verwirrt an. "Nee...oder? Du machst Witze, oder?"
Ich schüttelte den Kopf. Elliott lachte auf.
"Wie kannst du das denn wissen? Du hast bestimmt noch nie einen Jungen geküsst, oder? Warum probierst du es nicht einfach aus?"
Ich schaute ihn entgeistert an. "Elliott, das kannst du doch nicht einfach sagen! Du hast doch bestimmt auch noch nie einen Jungen geküsst und bist dir anscheinend trotzdem so sicher, dass du auf Mädchen stehst."
"Hältst du mich etwa für schwul, oder was?"
Bei seinem abfälligen Tonfall zog sich mein Magen zusammen. Es verletzte mich.
"Nein, aber..."
Weiter kam ich nicht, denn Elliott presste seine Lippen auf meine und ich konnte kaum atmen. Verzweifelt wand ich mich und versuchte, ihn wegzudrücken, doch er war viel zu stark.
Dieser Kuss fühlte sich grauenhaft an. Ich wollte nur weg. Es war falsch. Alles total falsch. Der Kuss. Die Reise. Der Balkon. Elliott. Ich schaute mich nach Lou um und sah, wie sie wie paralysiert Elliott anstarrte. Der Schock stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Der Kuss wurde immer fordernder und irgendwann hatte ich genug.
Ich biss Elliott so fest auf die Lippe, bis ich Blut schmeckte.

Mit einem Schrei löste sich Elliott ruckartig von mir und starrte mich an. "Was zur Hölle sollte das?" Mein Atem ging stoßweise und ich konnte mit dem Weinen nicht aufhören.
Elliott presste die Lippen aufeinander, erhob sich und ging wortlos ins Zimmer.

Am nächsten Morgen wachte ich mit Kopfschmerzen auf. Lou schlief neben mir und ich berührte ihr Haar. Es war total zerzaust und ebenfalls ein ganzes Stück gewachsen. Ich schaute mich um, doch Elliott war nicht mehr da. Vorsichtig stand ich auf und sah mich im Zimmer um. Auf dem kleinen Tisch vor dem Fernseher erblickte ich einen Zettel mit seiner Handschrift.
Ich gehe heute schon nach Hause. Du kannst noch bleiben, wenn du willst. Es ist mir egal. Schreib mir nie wieder und ruf mich auch nicht mehr an. Ich will dich nie wieder sehen.

Ich sank auf die Knie.

 

14

 "Auf einer Skala von eins bis sechs, wie sehr hast du die Schule vermisst?"
"Halt die Klappe."
"Hey, hast du ein Problem?!"
"Ja, dich."
Es war bereits Ende August und das neue Schuljahr begann. Von Elliott hatte ich seit Wochen nichts gehört und auf meine Nachrichten und Anrufe reagierte er nicht.
Das war es dann wohl mit dieser Freundschaft.
Deprimiert stellte ich fest, dass ich nun gar keine Freunde mehr hatte, mal abgesehen von Lou, falls ich sie überhaupt als Freundin bezeichnen konnte.
Eine fröhliche Melodie summend lief sie neben mir her. Die restlichen Ferien lang, nach dem Urlaub von Elliott und mir, hatte sie mir zu Hause so viel Ärger gemacht, dass ich mich mit meinen Eltern heftig gestritten hatte.
Ich atmete hörbar aus und das Herz wurde mir schwer. Meine Mutter verhielt sich zwar wieder einigermaßen normal, aber mein Vater war immer noch sauer auch mich und redete kaum mit mir. Warum machte Lou mir bloß immer alles kaputt?
In dem Moment fiel mir auf, dass ich überhaupt nichts über ihr Leben wusste. Seit März folgt sie mir auf Schritt und Tritt und weiß mehr über mich als jeder andere.
"Lou?", fragte ich.
"Hm?"
"Sag mal...hast du in deiner Welt eigentlich Freunde?" Lou sah mich erst erstaunt an, doch dann kicherte sie. "Natürlich habe ich das."
"Im Ernst? Mit wem....mit wem bist du befreundet?"
Daraufhin nahm ihr Gesicht einen melancholischen Ausdruck an und sie starrte in den Himmel, mit den Armen hinter dem Kopf verschränkt. "So viele habe ich gar nicht. Meine beste Freundin ist Annie. Aber ich kenne sie nur aus dem Internet und sie wohnt in Kanada, daher haben wir uns nie persönlich getroffen." Sie machte eine kurze Pause. "Aber so ist das mit Internetfreunden halt. Und ehrlich, ich vermisse sie. Wir haben schon so lange nicht mehr geschrieben. Das letzte mal haben wir uns über Leitungswasser und Wasser aus Flaschen unterhalten. Irgendwie sinnlos, nicht?" Lou blieb stehen und der Wind strich ihr durch das Haar. Sie hatte es nun kurz geschnitten, ihr Haar ging ihr gerade mal bis unter das Kinn. Ihre hellbraunen Augen glänzten in der Sonne und sie hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen.
Ich wartete darauf, dass sie weitererzählte. Doch sie wandte sich mir wieder zu und ihr Lächeln erlosch.
"Ich sagte ja, ich habe auch nicht viele Freunde."
Lou ging weiter. "Und was ist mit deinen Klassenkameraden?" Lou winkte ab.
"Wir haben ja dieselbe Klasse. Und du weißt genauso gut wie ich, dass unsere Klasse nur aus Idioten besteht."
Nach einer Weile erreichten wir die Schule und Lou hörte sofort auf zu reden. Obwohl alles wie immer war, kam mir etwas seltsam vor. Ich hatte das Gefühl, dass ich angestarrt wurde. Doch das konnte nicht sein, dachte ich.
Mich kannte so gut wie keiner hier.
Ich betrat den Klassenraum und sofort verstummten alle Gespräche um mich herum. Alle Augen waren auf mich gerichtet und einige Schüler tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Was ging hier vor?
Leon bemerkte mich und schritt mit seinen Kumpels auf mich zu. Herablassend lächelte er mich an.
"Na, Louise? Wie viele Freunde hattest du so in den Ferien? Scheint so, als wärst du so verzweifelt gewesen, dass dir echt jeder Typ recht war." Die Klasse lachte leise. Ich sah Leon verwirrt an. "Ich...verstehe nicht ganz."
Leon verdrehte die Augen und holte sein Handy aus der Hosentasche. Er tippte ein wenig darauf herum und hielt es mir schließlich unter die Nase.
Ich erstarrte.
Leon zeigte mir ein Foto, auf dem Elliott und ich abgebildet waren. Entrüstet riss ich ihm das Handy aus der Hand und sah mir das Foto genauer an. Es wurde auf Instagram hochgeladen mit der Bildunterschrift: "Louises neuer Freund! Wieder nur einer von vielen...?"
Ich sah mir das Profil an und musste schlucken. Das Profil war das von Janine. Mit zitternden Fingern tippte ich ihr Profilbild an und schaute mir ihre sonstigen Bilder an, die sie gepostet hat. Neben einem Haufen Selfies und Fotos von leckerem Essen und fantastischen Urlaubsorten fand ich auch viele Fotos von mir mit Elliott an unterschiedlichen Orten.
Zumindest sollte da eigentlich Elliott drauf sein.
Stattdessen waren auf jedem anderen Foto andere Männer zu sehen, die ich nicht kannte.
Janine musste diese Bilder bearbeitet haben. Ich musste zugeben, sie hatte echt Talent dafür.
Janine musste uns gefolgt und heimlich Fotos von Elliott und mir gemacht haben, um genug Material beisammen zu haben. Die fremden Männer hatte sie bestimmt von Bildern aus dem Internet.
Das war einfach nur krank.
Mir wurde schlecht. Hastig drückte ich Leon das Handy wieder in die Hand und ließ meinen Rucksack auf den Boden sinken. Ich sprintete zur Mädchentoilette und übergab mich kurz darauf.
Lou stand hinter mir und hielt mir die Haare aus dem Gesicht.
Ich blieb noch lange Zeit nach dem Schulgong in der Kabine. In die Klasse wollte ich nicht zurück. Doch Ärger von den Lehrern konnte ich nicht gebrauchen.
Ich schleppte mich durch die Gänge und erreichte schließlich den Klassenraum. Mir ging es immer noch schlecht, trotzdem stieß ich die Tür auf.
Das erste, was ich sah, waren meine Schulsachen, die kreuz und quer im Raum verteilt lagen und meine Schultasche hing an einem Fenster. Mein Geschichtslehrer blickte mich erbost an.
"Findest du das etwa lustig, Louise? Anstatt dich zu benehmen, ziehst du so ein Theater ab und verteilst deine Schulsachen im Raum, wie ein Hund." Ich zog den Kopf ein.
"Aber das war ich doch gar nicht..."
"Deine Klassenkameraden sagen da alle was anderes. Sie sagten, du wärst völlig ausgerastet und hast geschrien wie sonst was, völlig ohne Grund."
Die anderen setzten eine Unschuldsmiene auf und ich wurde rot. Zu allem Überfluss hörte ich, wie Lou leise in sich hineinlachte. Ich seufzte resigniert.
"Du wirst jetzt sofort alles aufsammeln und dich dann auf deinen Platz setzen. Dafür gibt es auch einen Eintrag ins Klassenbuch."
"In Ordnung", murmelte ich und hob mein Chemieheft auf, das vor mir auf dem Boden lag.
"Das kommt wohl davon, wenn man den ganzen Sommer lang nur Jungs im Kopf hat", murmelte der Lehrer.
Ich starrte ihn mit offenem Mund an.
Hatte er die Fotos etwa auch gesehen?
Die Klasse beobachtete mich mit einem schadenfrohen und gemeinen Grinsen. Es war so erniedrigend, meine Schulsachen vor aller Augen aufzusammeln.
Schließlich war ich fertig und ich setzte mich erleichtert auf meinen Platz. Doch die Erleichterung hielt nicht lange an, denn kurz darauf wurden mir Zettel zugesteckt.
Ich faltete sie auf, einen nach dem anderen und ich konnte meine Tränen nur mit Mühe zurückhalten. Auf den Zetteln standen haufenweise Beleidigungen und miese Sprüche und es fiel mir schwer zu atmen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass es so weit gekommen war.
Ich sah Lou an, die neben mir saß, doch sie starrte die Zettel nur ausdruckslos an.
Ich atmete auf.
Der Schultag war endlich zu Ende und ich trat ins Freie. Dort sah ich das Schultor. Sobald ich hindurchtrat, würde ich endlich wieder mit Lou reden können. Lou trat an meine Seite und wir gingen mit leichten, federnden Schritten auf das Tor zu. Gleich konnte ich weg.
Dachte ich.
Denn kaum hatte ich das Tor erreicht, versperrten mir Janine und ihre Freundinnen den Weg. Sie grinste mich bösartig an und mein Puls verdoppelte sich.
"Oh nein."

15

"Hey, da ist sie ja wieder."
Janines gehässige Stimme drang mir durch Mark und Bein und ich stopfte schaudernd meine Hände in die Hosentaschen. Ihre Freundinnen tuschelten hinter ihr und kicherten. Ich konnte Janine nur mit großen Augen anstarren.
"Na, sind wir nicht mehr so vorlaut wie letztes Mal?" Sie hob die Augenbrauen und grinste. Ich hielt die Luft an. Außer das Kichern der anderen Mädchen war nichts zu hören und man sah Janine an, wie sie ungeduldig wurde. Ihr Mund verzog sich und ehe ich mich versah, griff sie nach meinen Haaren und zog mich zu sich heran.
Ich kreischte vor Schmerz und Janines Gesicht kam meinem immer näher. Mir wurde übel.
"Ich habe dich was gefragt. Darauf hast du zu antworten."
Mit diesen Worten riss sie mich an den Haaren zu Boden und ich landete unsanft auf der Seite. Ihre Freundinnen kicherten und machten Fotos. Ich fühlte mich so gedemütigt, dass mir erneut Tränen in die Augen stiegen. Warum musste mir das passieren?
"Wieso tust du das?", hörte ich mich fragen. "Was habe ich dir denn getan?"
Janine sah mich überrascht an. "Gar nichts. Dennoch gehören Lesben wie du in die Hölle."
"Wieso?! Das macht alles keinen Sinn! Ich habe dir nichts getan und dass ich lesbisch bin, rechtfertigt deine Taten überhaupt nicht." Janine beugte sich zu mir runter und verpasste mir eine Ohrfeige.
"Nicht in diesem Ton, Madame." Sie ging in die Hocke und sah mich mit einem kalten Blick an. Ich lag immer noch am Boden.
"Aber anscheinend hast du versucht, dich von dieser Krankheit zu heilen, indem du von einem Typen zum nächsten gesprungen bist. Doch ob das geklappt hat?"
Ich spürte ein unerträgliches Stechen in der Brust und das Atmen fiel mir zunehmend schwerer. Es tat weh, wie sie darüber sprach und von einer "Krankheit" redete. Ich verstand einfach nicht, was daran falsch war.
"Aber du weißt doch genau, dass ich nur mit einem Jungen befreundet war! Du hast die Bilder alle nur bearbeitet!"
"Ich weiß nicht, wovon du redest." Doch ihr Grinsen und der Ausdruck von List in ihren Augen verrieten sie. Janine erhob sich wieder.
"Wie auch immer. Dieser Typ, wie war sein Name, mit dem du ja nur 'befreundet' warst?"
"Elliott..."
"Was findet der bloß an dir? Hätte er mich getroffen, hätte er dich ohne zu zögern aufgegeben."
"Warum sollte er?"
"Bei meinem Aussehen und Style kann niemand widerstehen."
Ich wusste sofort, Elliott hätte Janine gehasst. Oberflächlichkeit konnte er nicht ausstehen, er hätte lieber einen Cocktail aus Milch, Jägermeister und Kirschsaft getrunken, als sich mit ihr abzugeben. Doch was wusste ich schon. Ich hatte ihn schon ewig nicht mehr gesehen.
Wer weiß, vielleicht hatte er sich bereits verändert.
"Was machen wir jetzt mit ihr?", fragte eine ihrer Freundinnen. Janine schien kurz zu überlegen, dann sagte sie: "Schmeißt sie dort in den Busch. Ich bin fertig mit ihr."
Janines Freundinnen hoben mich hoch und ich wollte Widerstand leisten. Doch mir tat alles weh und ich hatte einfach keine Kraft mehr. Ich drehte meinen Kopf in die Richtung, in die ich getragen wurde und riss erschrocken die Augen auf. Sie trugen mich geradewegs zu einem Dornbusch! Alles in mir rebellierte und ich wand mich panisch. Doch es brachte nichts.
Mit viel Schwung wurde ich in den Busch geworfen und die Dornen rissen meine Arme und Beine auf. Ich verfluchte mich dafür, dass ich nur ein T-Shirt und Shorts angezogen hatte.
Meine Haut brannte und ich fluchte. Janine schaute auf mich herab und ihre Freundinnen umkreisten mich.
"Das ist mein letztes Geschenk an dich. Wer weiß, wie lange du hier vergammeln wirst."
Ich hielt die Tränen nicht mehr zurück.
"Heulen bringt dir auch nichts mehr. Dein Ruf ist ruiniert. Dir wird keiner mehr helfen wollen. Auch nicht dein toller Freund."
Anschließend verließen sie mich und ich wagte es nicht, mich zu bewegen.
Es vergingen Stunden, doch genau, wie Janine es gesagt hat: Es half niemand. Die Schüler gingen an mir vorbei und entweder ignorierten sie mich oder sahen mich abfällig an. Langsam versuchte ich, mich aus dem Busch herauszuwinden, doch bei jeder Bewegung handelte ich mir immer neue Schnitte ein. Nach einer Ewigkeit hatte ich es endlich geschafft und ich stand blutend und schwer atmend auf dem Schulhof. Er was menschenleer.
Lou hockte auf einer Bank und presste die Hände auf die Ohren. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie schien mit sich selbst zu reden.
Langsam trat ich näher an sie heran.
"Alles meine Schuld...nie wieder...so viel...zu viel...ich kann nicht...", murmelte sie und ihre Stimme zitterte. "Lou? Alles in Ordnung?", fragte ich besorgt. Sie schien mich nicht zu hören. Ich legte eine Hand auf ihre Schulter. "Hey!"
Endlich sah sie auf und betrachtete mich von oben bis unten. "Du...blutest."
Ich lächelte sie traurig an. "Ja...komm, lass uns gehen. Ich will das desinfizieren."
Doch Lou schritt auf mich zu und zog mich in ihre Arme. Sie drückte so fest zu, dass ich vor Schmerzen zischte, doch anstatt sie wegzudrücken, umarmte ich sie. "Es ist...meine Schuld", schluchzte sie und legte ihren Kopf auf meine wunde Schulter. Ihre Tränen brannten, doch ich hielt es aus.
"Alles ist gut. Du bist nicht dran schuld, dass Janine so ist, wie sie eben ist", versuchte ich sie aufzuheitern.
Lou murmelte weitere undeutliche Worte, doch strich mit einer Hand über ihren Rücken und hob den Kopf. Der Himmel nahm einen leichten orangeroten Farbton an, was darauf hindeutete, dass es schon Abend sein musste. Wie lange ich wohl hier draußen war?
Schließlich hatte Lou sich wieder beruhigt und wir gingen endlich nach Hause. Die ganze Zeit über hatte sie nichts gesagt und hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Ich betete, dass meine Eltern nicht da waren, da ich keine Lust hatte, ihnen meine Wunden zu erklären. Ich dachte daran, sie so schnell es geht zu desinfizieren, in Jeans und Pulli zu schlüpfen und mich in mein Bett zu verkriechen.
Doch meine Bitten wurden natürlich nicht erhört.
"Schatz, was ist passiert?!"
Meine Mutter rannte erschrocken auf mich zu und untersuchte meine zerkratzten Arme und Beine. "Was hast du bloß gemacht? Und wo warst du so lange?"
"Ich...bin gestolpert und in einen Busch gefallen." Auf keinen Fall wollte ich ihr erzählen, was wirklich passiert ist.
Mein Vater trat in den Flur und ich suchte seinen Blick. Doch er schaute mich nur kalt an und ging wieder ins Wohnzimmer.
Sein Verhalten mir gegenüber brach mir das Herz.
Nachdem meine Mutter fertig mit desinfizieren war, ging ich sofort nach oben und schmiss mich auf mein Bett. An Hausaufgaben war nicht zu denken, doch das war egal, da meine Mutter darauf bestand, dass ich erst einmal zu Hause bliebe. Ich wandte meinen Kopf Lou zu, doch die schaute aus dem Fenster und beachtete mich nicht.
Woran sie wohl gerade dachte?
 

16

"Was zum..."
Das Klingeln des Weckers riss mich aus dem Schlaf und ich richtete mich auf. Stöhnend fasste ich mir an den Kopf. Das Pochen in meinem Kopf wollte schon seit zwei Tagen nicht mehr aufhören. Lou schlief immer noch.
Wie schaffte die es, so tief zu schlafen?
Bestimmt machte sie sich keine Sorgen.
Oder ihre Sorgen verhindern sie nicht, anders als bei mir.
"Verdammte Scheiße...", fluchte ich leise und lehnte mich an die Wand.
Der Wecker klingelte weiter. Ich hatte keine Lust, ihn auszumachen.
Ich schlug meinen Kopf gegen die Wand.
Noch mal.
Und noch einmal.
Doch das Pochen hörte nicht auf.
"Louise, was machst du denn da?! Hör auf, Quatsch zu machen und mach dich für die Schule fertig!", rief meine Mutter und klopfte wild an die Tür. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Wie konnte ich nur vergessen, dass unsere Wände praktisch aus Pappmaschee waren?
Seufzend sah ich zu Lou, die immer noch schlief. Ich wollte nicht zur Schule. Es hatte doch keinen Sinn. Was sollte ich bloß da?
Dabei war es gerade einmal Ende September. Das Schuljahr fing gerade erst an.
Wie konnte das alles bloß passieren?
Mühevoll stand ich auf und ging zu Lou herüber.
"Hey, Lou. Wach auf."
"Da ist der Freak wieder."
"Was hat die denn wieder an?"
"Wo ist ihr Freund?"
"Hat die wieder einen neuen?"
"Kann die sich nicht einfach verziehen? Die merkt doch selber, dass niemand sie hier will..."
"Mir tun ihre Eltern leid."
"Kann ich bei dir Englisch abschreiben?"
Ich lief durch die Flure und hielt den Kopf gesenkt. Ihre abwertenden und verurteilenden Blicke konnte ich nicht mehr ertragen. Wie konnte das alles nur so eskalieren? Ich war sehr dankbar für die Leute, die mich einfach mieden, anstatt mich fertig zu machen.
Vor einigen Wochen hatten die Schüler nur hinter vorgehaltener Hand über mich geredet. Doch inzwischen war es wohl eine öffentliche Angelegenheit. Die Lehrer schauten weg, wo sie nur konnten. Ich wusste genau, dass sie merkten, was hier vor sich ging. Doch irgendwie unternahm nie jemand etwas.
Ich betrat die Klasse in der Erwartung, dass jemand einen dummen Spruch machen oder mir etwas gegen den Kopf werfen würde, wie ich das gewohnt war. Doch zu meiner Erleichterung wurde ich nur angestarrt. Ich wollte mich gerade auf meinen Platz setzen, als ich etwas an meinem Haar spürte. Ich fasste mir an mein Haar und berührte eine klebrige, noch feuchte Substanz. Vermutlich war es Kaugummi.
Ich verzog angeekelt das Gesicht und starrte denjenigen entgeistert an, der es mir wahrscheinlich ins Haar geklebt hatte. Artur schaute mich mit einem fiesen Grinsen an.
"Was glotzt du so dumm? Mittlerweile bist du doch schon so wenig wert, dass selbst der Mülleimer menschlicher wirkt als du."
Das traf mich mehr als jeder andere Spruch, den die Schüler gebracht hatten. Ich wollte es gar nicht wahrhaben. Doch in Wahrheit war es nicht anders.
Die anderen haben mir seit Wochen nichts anderes signalisiert. Langsam glaubte ich, ob da etwas dran war.
Ich hob den Kopf und straffte die Schultern, um zumindest nach außen selbstbewusst zu wirken. Doch innerlich zerbrach ich. Ich hatte keinen Halt mehr.
Ich spürte Lous Präsenz neben mir und ergriff sofort ihre Hand. Sie drückte sie fest und ihr Händedruck strahlte Stärke und Mitgefühl aus. Doch selbst das half nicht.
Artur hob eine Augenbraue, als Alina neben ihn trat.
"Sieh mal, wie sie einen auf selbstsicher und cool macht. Echt erbärmlich", sagte sie gehässig. Ich schluckte. Das würde nicht gut ausgehen.
"Dabei sollte sie schon längst ihren Platz kennen. Sie wäre wohl die letzte, die mit erhobenem Haupt herumstolzieren sollte."
Alina machte ein merkwürdiges Gesicht und streckte die Nase in die Luft. Sie winkelte ihre Arme wie bei einem Tyrannosaurus Rex an und trippelte mit kleinen Schritten auf und ab.
Die Klasse lachte und mein Gesicht wurde heiß vor Scham.
Ellen, die vor einigen Minuten noch auf dem Tisch saß und eine Banane aß, ging auf mich zu und stellte ihren Fuß mit der dreckigen Sohle auf meine Schulter.
Ich nahm mir vor, nie wieder weiße Sachen zu tragen..
Ellen war furchtbar gelenkig und ich hatte sie immer dafür bewundert, doch jetzt war sie mir komplett egal. Genauso wie alle anderen Klassenkameraden war sie für mich eine bloße, gesichtslose Silhouette, ohne Stimme oder Gewissen.
Ich war wohl nicht die einzige, die an Wert verloren hatte.
Ellen sah mich prüfend an und schwenkte die Bananenschale vor meinem Gesicht herum.
"Wenn das so ist, dann kann ich meinen Müll wohl auch bei ihr entsorgen. Das macht ihr bestimmt nichts aus, oder?"
Ich antwortete nicht. Ellen zuckte mit den Schultern und platzierte ihre Bananenschale auf meinen Kopf.
Die Klasse lachte abermals und ich fühlte mich so entwürdigt, dass mir die Tränen kamen.
"Jetzt heult die schon wieder", sagte Alina tonlos.
"Was zur Hölle ist hier los? Setzt euch sofort auf eure Plätze, der Unterricht fängt gleich an."
Unser Physiklehrer betrat den Raum. Ellen rümpfte die Nase, zog ihren Fuß von meiner Schulter und wandte sich am.
"Louise, was hast du denn getrieben? Geh sofort in den Waschraum und bringe dich in Ordnung. Ich möchte nicht, dass du so herumläufst."
Ich drehte mich langsam um und mir liefen bereits Tränen über die Wangen. Ich sah meinem Physiklehrer kurz in die Augen, bevor ich mich zur Tür wandte und ging.
Ich hätte schwören können, dass ich eine Spur von Mitleid in seinen Augen gesehen hatte.
Ich sah echt übel aus.
Der graue Fußabdruck auf meiner Schulter war nicht zu übersehen und ich hatte Mühe, das Kaugummi von meinem Haar zu entfernen. Am liebsten hätte ich diesen Spiegel zerbrochen.
Nachdem ich das Kaugummi endlich einigermaßen entfernt hatte, lehnte ich mich an die Wand und glitt an der Wand entlang auf den Boden. Ich konzentrierte mich darauf, ein- und auszuatmen, doch ich weinte trotzdem und konnte nicht aufhören.
Lou schaute auf mich herab, sie schien unschlüssig zu sein. Doch schließlich ging sie vor mir in die Hocke und zog mich leicht an sich.
"Halte durch", murmelte sie.
"Du schaffst das schon. Siehst du, irgendwann wird alles besser."
Ich ergriff ihre Hand und hätte ihr so gerne geglaubt. Doch Hoffnung hatte ich schon lange nicht mehr.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich da saß, doch das Pausenklingeln verriet mir, dass ich Physik geschwänzt hatte. Es war mir egal.
Als es zum zweiten Mal klingelte, stand ich doch auf und suchte meinen Rucksack.
Als nächstes hatte ich Englisch.
"Louise, du bist zu spät!"
Schlagartig wurde es im Raum still.
"Tut mir leid", murmelte ich kleinlaut und zog den Kopf ein. Die Lehrerin verzog verärgert den Mund und fasste sich an die Nasenwurzel.
"Wir machen demnächst ein Projekt in Partnerarbeit. Neben Valentin ist noch frei, also wirst du wohl mit ihm zusammen machen müssen."
Ich schaute herüber zu Valentin, der mich neugierig ansah. Valentin war unscheinbar und ruhig, ich kannte ihn nicht besonders gut. Mit einem mulmigen Gefühl ging ich zu ihm und setzte mich. Ich war dankbar dafür, dass er still war und keine dummen Sprüche brachte.
Doch dann stupste er mich an.
"Hey...sorry, dass ich nerve, aber ich hab die Hausaufgaben nicht gemacht. Kann ich bei dir Englisch abschreiben?"
 

17

"Hä?"
"Ja...ich hatte gestern keine Zeit und dann...ja...hab's vergessen."
Ich schaute Valentin von der Seite an. Seine Stimme klang monoton und man hörte so gut wie keine Akzente. Erst in diesem Moment ist mir aufgefallen, dass ich noch nie richtig seine Stimme gehört habe.
Natürlich wusste ich, dass er in meiner Klasse war, doch Valentin war immer sehr unscheinbar und ruhig. Mit seinem dichten, rabenschwarzen Haar und seinen oft grauen Klamotten fiel er eben nicht besonders auf.
Ich zog eine Augenbraue hoch.
"Aha. Und wie kommt es? Was hattest du denn gestern gemacht?"
Nicht, dass es mich interessiert hätte.
"Naja...äh...", stammelte er und kratzte sich verlegen am Kopf. Dann ließ er die Schultern sinken und richtete den Blick auf sein aufgeschlagenes Englischbuch.
"Um ehrlich zu sein, vor ein paar Tagen ist ein neues Spiel auf den Markt gekommen und ich habe es mir gekauft. Dann habe ich bis spät in die Nacht gespielt und total vergessen, dass ich noch etwas aufhatte."
Sofort war ich Feuer und Flamme.
"Im Ernst? Welches denn? Wahrscheinlich habe ich das schon, da ich mir die meisten Spiele immer sofort kaufe."
"Ruhe dahinten! Solltet ihr zwei nicht arbeiten?", ermahnte uns die Lehrerin streng. Ich warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und Valentin fing an, zu erzählen. Was Videospiele anging, hatten wir denselben Geschmack. Doch für Bücher konnte ich ihn leider nicht begeistern.
"Doch, im Ernst, du solltest unbedingt mal einen Krimi lesen. Danach willst du nichts anderes mehr machen wollen."
Doch Valentin rümpfte nur die Nase.
"Nein, tut mir leid, Bücher sind echt nicht mein Ding."
Valentin schob sich seine Brille hoch, obwohl, sie auf seiner schmalen Nase perfekt saß.
"Pass auf, ich hab zufällig ein Buch dabei. Ich hab immer eins dabei, weißt du."
"Im Ernst? Warum tut man ich freiwillig zusätzliche Last an? Ich finde, die Schulbücher sind schwer genug."
Ich verdrehte die Augen und kramte in meiner Schultasche. Doch mein Buch konnte ich einfach nicht finden. Schließlich stupste Lou mich an und drückte mir unter dem Tisch ein Buch in die Hand.
"Das ist aus der Tasche rausgefallen", flüsterte sie mir zu. Ich lächelte sie dankbar an und gab Valentin das Buch. Er betrachtete es misstrauisch.
"Oh...ich wusste gar nicht, dass du dich auch für sowas interessierst."
"Ja, klar doch! Weißt du, wie spannend das ist? Es geht um ein Mädchen, dass in einer Stadt lebt, in der ihre Freunde und Bekannte ständig entführt werden und..."
"Also, ich will ja nichts sagen, aber für mich sieht das sehr nach einem Erotik-Roman aus."
Ich errötete sofort.
"Was?! Gib her."
Ich entriss Valentin das Buch und starrte es entsetzt an. Er hatte recht. Währenddessen hörte ich Lou leise kichern. Ich sah zu ihr herüber und merkte, dass mein Buch aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag. Lou erwiderte meinen Blick und grinste mich an. Warum musste sie nur so sein?
Ich klappte das Buch auf und bemerkte Ellens Namen auf der ersten Seite.
Warum las die so etwas?
Ich wandte mich zu Valentin um und er grinste mich an. Mir wurde unwohl.
"Was ist?"
"Es ist okay. Du musst dich nicht dafür schämen."
"Aber das Buch gehört nicht mir!"
"Warum war es dann in deiner Tasche?"
"Schau mal."
Ich hielt Valentin das Buch unter die Nase und verwies auf Ellens Namen. Valentin kicherte leise.
"Aber trotzdem...wie kommt es in deine Tasche, wenn es Ellen gehört?"
"Keine Ahnung. Wahrscheinlich..." Ich warf Lou kurz einen bösen Blick zu.
"...war das eine dumme Mobbing-Aktion von den anderen."
Valentin zuckte mit den Schultern.
"Gut möglich."
Wir schwiegen eine Weile, bis ich wieder Luft holte.
"Eine Frage. Warum redest du eigentlich mit mir? An dir ist ja wohl nicht vorbeigegangen, was die Leute über mich sagen und...ja. Müsstest du mich nicht eigentlich hassen?"
Valentin schaute mir eindringlich in die Augen und es entstand wieder eine unangenehme Pause, bis er weitersprach.
"Klar habe ich das mitbekommen. Mir ist ehrlich gesagt egal, was die anderen sagen. Hauptsache, du bist du und ehrlich gesagt, finde ich dich ziemlich interessant. Ich möchte dich besser kennen lernen."
Ich sah Valentin mit großen Augen an und das Eis war offiziell gebrochen. Wir vergaßen unsere Englischaufgaben und redeten, bis es zur Pause klingelte.
"An sich macht der Gedanke gar nicht mal so wenig Sinn. Ich mein, je nachdem wie viel positives Karma du ansammelst, wirst du als ein Lebewesen mit entsprechendem Wert wiedergeboren."
"Schon klar, aber ist es nicht irgendwie eingebildet, praktisch zu sagen, dass der Mensch am meisten Wert ist?"
"Wie meinst du das?"
"Schau mal, man sagt ja, dass wenn man extrem viel positives Karma sammelt, dann wird man als Mensch wiedergeboren. Irgendwie wird ja der Mensch als Übertier dargestellt."
"Übertier? Auf jeden Fall eine interessante Bezeichnung."
"Du weißt, wie das gemeint ist! Aber, sag mal, Valentin, meinst du, es gibt eine Religion, die alle Weltreligionen in einem zusammenfasst?"
Valentin atmete schwer aus.
"Komischer Gedanke. Aber warum nicht? Man kann ja an das glauben, woran man will. Wir könnten auch hier und jetzt unsere eigene Religion gründen."
"Können wir. Woran glaubst du eigentlich?"
"An alles und an nichts."
"Okay, interessant. Hilft mir nur leider nicht weiter."
Valentin grinste mich schief an. "Und du?"
Ich überlegte kurz. Über Religion hatte ich noch nie richtig nachgedacht. "Eigentlich glaube ich nicht wirklich an etwas", antwortete ich schließlich.
"Auch nicht an Einhörner?"
Ich schaute Valentin verdutzt an.
"Was hat Religion mit Einhörnern zu tun?"
"Das ist doch jetzt voll im Trend, oder?"
"Valentin, der Trend ist schon seit zwei Monaten nicht mehr 'trendy'."
"Oh...ich lebe manchmal doch ziemlich hinter dem Mond."
Ich lachte und Valentin verschränkte die Arme hinter dem Kopf. So lange habe ich mich schon ewig nicht mehr mit jemandem unterhalten. Mit Valentin konnte ich über alles reden und selbst die Themen, die ich vorher uninteressant oder sinnlos fand, waren Themen, über die es Spaß machte sich mit ihm zu unterhalten.
Als es klingelte, gingen wir zurück in den Klassenraum und setzten uns sofort nebeneinander. Die neugierigen Blicke der anderen entgingen mir nicht, doch ich ignorierte sie so gut ich konnte. Es gab nur noch Valentin und mich. Auch in den nachfolgenden Stunden waren wir nur am reden und diskutieren.
Ich fragte mich immer wieder, warum wir uns nicht schon vorher kennen gelernt hatten. Valentin war ein toller Mensch. Ich fühlte mich in seiner Nähe jede Minute wohler und es fühlte sich so an, als wären wir schon ewig befreundet.
Nach und nach erzählte er von seiner Familie und seinem Vogel, der nachts seltsame Geräusche macht, weil er Hunger hat. Im Gegenzug erzählte ich auch ein wenig von mir.
Nach dem Unterricht beschlossen wir, uns einmal zu treffen. Wir tauschten Handynummern aus und verabschiedeten uns dann. Ich stand lange vor dem Schultor und sah ihm lächelnd nach.
Lou trat neben mir und mit einem Grinsen sagte sie: "Ich glaube, den mag ich. Der scheint cool drauf zu sein."
Ich nahm sie an der Hand und wandte mich zum Gehen. Endlich hatte ich wieder einen Freund. Wahrscheinlich den besten, den ich jemals hatte.
Ich war ewig nicht mehr so glücklich gewesen.
 

18

 „Hey. Kann ich reinkommen?“
Ich hielt Valentin lächelnd die Tür auf und ließ ihn eintreten. Wir haben uns zum lernen und zocken verabredet. Aber hauptsächlich zum zocken. Ich wusste jetzt schon, dass ich das mit dem Lernen nicht lange durchhalten würde. Lou lehnte lässig an der Wand und sah uns ausdruckslos an. Ich fragte mich, an was sie wohl dachte.
Valentin zog an meinem Ärmel und ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Ich führte ihn in mein Zimmer, doch auf der Türschwelle zögerte er.
„Was ist los?“, fragte ich.
Valentin wurde etwas rot und kratzte sich am Kopf.
„Naja…ich war noch nie im Zimmer eines Mädchens und…naja. Irgendwie ist es seltsam. Ich hab mir dein Zimmer anders vorgestellt.“
Ich hob eine Augenbraue.
„Ach, wie denn? Alles pink und glitzernd und mit einem Schminktisch und ganz vielen Einhornkuscheltieren?“
Valentin lachte verlegen. „Ja, ungefähr. Nur noch mit Barbie-Postern und einem begehbaren Kleiderschrank. Natürlich auch in Pink“, sagte er und zwinkerte mir dabei zu. Ich sah ihn warnend an, doch Valentin lachte nur. Anschließend wanderte sein Blick zu meinem neuen Fernseher, den Lou glücklicherweise nicht zerstört hatte.
„Das sind viele Spiele“, staunte er. Er nahm mehrere gleichzeitig aus dem Regal unter dem Fernseher heraus und hielt schließlich eins hoch, nicht ohne vorher einen prüfenden Blick darauf gerichtet zu haben.
„Lass uns das jetzt spielen. Ich wollte mir das eigentlich mal holen, aber das Geld habe ich leider nicht dazu. Also, wo ist der zweite Controller? Der müsste doch irgendwo sein…“
Valentin fing an, den Bereich in der Nähe des Fernsehers abzusuchen und ich nahm ihm währenddessen lachend das Spiel ab.
„Vergiss nicht, warum du auch hier bist. Wir wollten für Chemie lernen“, erinnerte ich ihn. Valentin ließ enttäuscht die Schultern sinken.
„Ey, ich hab kein Bock mehr!“ Valentins Chemiebuch knallte auf den Tisch und ich schreckte hoch. „Ich kapier es einfach nicht. Wir müssen hier ewig irgendwelche Formeln lernen und Reaktionsgleichungen aufstellen und was bringt uns das? Absolut gar nichts! Es juckt noch nicht einmal irgendwen. Und mir ist der Scheiß auch komplett egal!“
Ich sah Valentin verwirrt an.
„In zehn Jahren wird mich niemand fragen, was ich für eine Note in dieser Klausur hatte, also muss ich dafür auch nicht mehr lernen! Mir reicht es. Ich will jetzt etwas Vernünftiges machen.“
Mit diesen Worten stand er auf und setzte sich vor meinen Fernseher. Er holte das Spiel hervor und kramte nach dem zweiten Controller.
„Wo zur Hölle ist der?!“
Ich schüttelte den Kopf. „Was ist denn so schwer an Chemie?“
Langsam drehte er sich zu mir um und sah mich verstört an. „Halt die Klappe. Du bist ja auch eine von diesen komischen Menschen, die Chemie-LK nehmen.“
„Valentin, ernsthaft. Du benimmst dich gerade, als würdest du schon ewig hier wohnen und hättest etwas verlegt. Weißt du, aus meiner Sicht sieht das komisch aus“, wechselte ich das Thema und holte den Controller von meinem Bücherregal herunter.
Warum er dort lag, wusste ich auch nicht recht.
Valentin machte große Augen und ich startete endlich das Spiel.
„Mein Rücken tut weh!“
„Bitte, jammere nicht rum.“
„Aber mein Rücken tut so weh!“
„Heul doch.“
„Das ist nicht nett.“
Valentin verschränke gespielt beleidigt die Arme vor der Brust.
Ich zog ihn auf die Beine und er stand ächzend auf.
„Hey, hast du Lust, Eis essen zu gehen?“, fragte er.
„Jetzt? Wir haben doch Oktober…“
„Ja und? Die Jahreszeit spielt ja keine Rolle. Eis kann man immer essen.“
„Mh…ja, stimmt.“
Valentin strahlte und holte ein paar Münzen aus der Hosentasche hervor, die er hochschnippte. Was auch immer er damit erreichen wollte, es gelang ihm nicht besonders gut, da die Münzen sofort auf den Boden fielen. Valentin bückte sich, um sie aufzuheben und in dem Moment flog ein Kissen nach dem anderen auf ihn zu.
Ich wirbelte herum und sah auf einmal Lou neben mir, die Valentin mit meinen Kissen und Kuscheltieren bewarf. Sie schien sich zu amüsieren.
Genervt schlug ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn.
Es ging wieder los.
„Ist das jetzt dein Ernst? Was soll das?“
Valentin sah mich vorwurfsvoll an und er klang ehrlich verärgert. Ich wurde nervös.
„Ja…also…nein, ich meine…das war ich nicht.“
Ich senkte den Kopf. Natürlich würde er mir das nicht glauben.
„Ach, dann waren das wohl Geister, oder was? Oder vielleicht Aliens?“
Ich biss mir auf die Lippe.
„Warum machst du das? Da will ich dich auf ein Eis einladen und dann kommt sowas. Dankst du den Leuten etwa so? Dann brauchst du dich auch nicht zu wundern, wenn keiner etwas mit dir zu tun haben will.“
Das saß. Warum war er jetzt so gemein? Valentin hätte das einfach als Scherz abstempeln können. Er ist doch sonst lustig und versteht Spaß.
„Na, wenn das so ist…“, fing er an und sogleich warf er mir ein Kissen gegen den Kopf.
„Hey, was…“, stammelte ich, doch Valentin lachte wie verrückt. Ich konnte ihn nur verstört anstarren, bis ich mich schließlich zusammenriss und ihn mit einem Kuscheltier abwarf.
Daraus wurde eine Kissenschlacht, die wildeste, aber auch die anstrengendste und beste, die ich je hatte. Wir lachten und kreischten und so viel Spaß hatte ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr.
Erschöpft sanken wir auf den Boden und ich begutachtete das Chaos um mich herum. Meine Mutter würde ausrasten, wenn ich das nicht bald aufräume. Ich sah Valentin an.
„Bist du noch sauer?“
„Ich? Nein, war ich nie.“
„Aber du warst total gemein zu mir, nachdem ich das Kissen nach dir geworfen habe.“
Valentin lachte. Es war ein schönes, herzhaftes Lachen, das mir immer noch in den Ohren nachklingt.
„Das war nur Spaß. Ich habe dich geärgert. Du hättest echt mal dein Gesicht sehen müssen!“
Jetzt lachte er mich aus. Ich überlegte ernsthaft, ob Lou oder er schlimmer war.
Ich boxte ihn in die Seite und stand auf. Meine Mutter durfte dieses Chaos nicht sehen.
„Jetzt komm schon, hilf mir, das alles aufzuräumen.“
„Nee, keine Lust. Ist ja dein Zimmer.“
Ich stemmte die Fäuste in die Hüften.
„Jetzt mach schon. Du bist dafür auch verantwortlich.“
Stöhnend rappelte Valentin sich auf und half mir, alles aufzuräumen, doch nicht ohne Gejammer und Beschwerden.
„Jetzt sei doch mal endlich still. Du bist fast schlimmer als Lou.“
„Hey!“, kam es von Lou. Doch Valentin hielt in seiner Bewegung inne und sah mich verwirrt an.
„Wer ist Lou?“
Verdammt.
„Äh…Lou ist…eine Cousine. Die ist echt nervig. Sie ist gefühlt zwei Köpfe kleiner als ich und mindestens doppelt so breit.“
Lou schlug mir verärgert auf den Arm.
„Ach so“, sagte Valentin und lachte.
Nach kurzer Zeit sah das Zimmer wieder normal aus, als wäre nichts gewesen.
„Hey…willst du immer noch mit mir Eis essen?“, fragte ich zögerlich.
Valentin grinste mich an.
„Klar doch.“

19

 

„Ich bin heute bei Valentin.“
Meine Mutter schaute mich überrascht an.
Ich saß mit meiner Familie am Esstisch und wir aßen Frühstück. Meine Mutter, die gerade eine Brotscheibe mit Marmelade beschmierte, hielt inne. Sie schaute mich verwundert an. Mein Vater schaute noch nicht einmal von seiner Zeitung auf und nippte weiterhin an seinem Kaffee.
War er immer noch sauer auf mich?
Vor drei Monaten hatte ich mich mit meinem Vater gestritten und seitdem ist er mir total aus dem Weg gegangen. Natürlich ist Lou daran schuld. Doch über diesen Streit wollte ich nicht nachdenken.
„Hast du was dagegen?“, fragte ich.
„Nein, natürlich nicht! Es ist nur so, dass du in letzter Zeit sehr viel mit Valentin machst und…naja. Ich mein, er scheint nett zu sein…“
„Mama, wir sind nur Freunde!“
„Ja, schon gut, aber…was ist jetzt eigentlich mit Elliott? Ihr wart doch auch so gute Freunde und jetzt trefft ihr euch ja gar nicht mehr.“
Elliotts Namen zu hören versetzte mir einen Stich. Ich hatte den Gedanken an ihn so gut wie möglich verdrängt, doch jetzt kamen all die schönen Erinnerungen an ihn hoch und ich musste fast weinen.
Ich vermisste Elliott wirklich.
„Ach, das…keine Ahnung, er hat im Moment echt viel zu tun“, murmelte ich leicht bedrückt.
Meine Mutter zog misstrauisch eine Augenbraue hoch.
„Wenn du meinst. Och, Günther, sag doch auch mal was! Interessierst du dich denn gar nicht für das Leben unserer Tochter?“, fragte sie an meinen Vater gerichtet.
Dieser antwortete nicht.
„Meine Güte, jetzt rede doch mal mit uns!“, rief meine Mutter verärgert.
„Ja, was soll ich denn dazu sagen? Soll sie sich doch rumtreiben, wie sie will, Hauptsache, sie macht keinen Ärger.
Ich schluckte schwer. Seine Worte wogen so schwer, dass sie mir die Luft zum Atmen nahmen und ich drohte zu ersticken. Mein eigener Vater hatte sich völlig gegen mich gerichtet. Wie konnte das alles nur passieren?

„Aber ich warne dich: Meine Eltern sind ein wenig…anders.“
„Wie anders?“
„Du wirst sehen.“
Verwirrt sah ich Valentin an, der mit mir im Flur stand und meine Jacke aufhängte. Ich stand in seiner Wohnung und war froh darüber, dass sie beheizt war. Die Temperaturen waren selbst für November viel zu niedrig und es fühlte sich so an, als würde jede Zelle meines Körpers endlich auftauen.
Tatsächlich war ich sogar ein wenig aufgeregt, da ich seine Eltern kennen lernen würde.
Was sie wohl von mir halten würden?
Valentin bedeutete mir zu folgen und kaum betrat ich das Wohnzimmer, wurde ich sogleich stürmisch umarmt.
„Hey, du musst Louise sein! Schön dich kennen zu lernen. Ich bin Valentins Mutter. Du kannst mich aber einfach Gisela nennen und mich duzen. Auf Höflichkeitsgetue stehen wir überhaupt nicht. Mensch, du bist sogar richtig süß! Valentin hat echt einen guten Geschmack.“
„Mama, bitte“, stöhnte Valentin und ich musste unwillkürlich lachen. Seine Mutter mochte ich jetzt schon.
„Yo, was geht denn hier ab?“
Ein Mann in Holzfällerhemd und ausgeleierter Latzhose betrat den Raum und haute mir so kräftig auf die Schulter, dass sie leise geknackt hat.
„Du musst wohl das Girl sein, über das unser Sohn in letzter Zeit gespeakt hat. Echt nice, dich kennen zu lernen, Louise. Ich bin übrigens der Herbert.“
Valentin warf mir einen vielsagenden Blick zu.

„Du musst wissen, ich war einst der größte Player an meiner Schule!“, prahlte Valentins Vater, als wir am Tisch saßen und Tee tranken. Ich sah verwirrt zwischen Valentin und Herbert hin und her. Gisela lachte.
„Trombone Player, natürlich“, fügte er hinzu.
„In der Tat, er war damals wirklich echt groß und hat in der Band immer Posaune gespielt“, sagte Gisela.
„Yes, indeed, alle Girls waren damals total scharf auf mich. Kein Wunder, I looked super cool mit meiner Trombone!“
„Eigentlich war ich so ziemlich die einzige, die dich toll fand. Alle anderen fanden dich komisch.“
„Ach, rede du bloß. Du hast absolutely no clue, wie das damals echt war.“
„Jaja.“
Ich genoss die Zeit bei Valentin und seine Eltern mochte ich sehr. Gisela hatte einfach eine liebenswerte Art, auch wenn sie etwas viel redete und Herbert war zwar mit seinem Denglisch etwas seltsam, aber er war lustig und nett. Auch mit Valentin redete ich viel und wir erzählten einander eine Menge.
„Weißt du, my dear Louise, als ich in deinem age war, da war ich echt very tall and good-looking. Nicht nur das, ich war auch echt smart und schrieb meist die besten grades der Klasse. Ich weiß noch, wie Gisela mich im Band-Room mit meinen Homies beim Proben beobachtet hat. Ihre Wangen waren immer red und…hach, so war das damals. Frisch in love…naja, jedenfalls fand ich die auch ganz cute und dann war da dieser Ball. You know, Gisela war sehr beliebt bei den Boys. Also sprintete ich sofort in ihren Kurs, hielt ihre Hand und fragte: ‚My beloved Gisela, würdest du mit mir zum Ball gehen? ‘ Tja, wie konnte sie auch nein sagen? Dann haben wir auf dem Ball gedanced und sind dann zusammen gekommen. So war das. Was für eine schöne Love-Story.“
Ich lachte und versuchte, mir das vorzustellen. Herbert erzählte viele Geschichten und ich amüsierte mich. Valentins Eltern schienen sich wirklich zu lieben. Am liebsten wäre ich eingezogen und hätte mit ihnen gelebt. Doch eine Sache hatte ich nicht gewusst.
„Bin wieder da“, ertönte eine weibliche Stimme, die ziemlich müde klang. Überrascht drehte ich meinen Kopf in die Richtung, woher sie kam.
„Hallo, Anna. Komm ins Esszimmer, wir haben Besuch“, sagte Gisela lächelnd. Ich war verwirrt. Wer war das?
Ein Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und blasser Haut trat ein und setzte sich auf einen freien Stuhl. Sie trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Bügelfaltenrock. Ihren Kleidungsstil konnte man als formell bezeichnen.
„Na, Süße, wie war das Konzert?“, fragte Gisela liebevoll und schenkte Anna eine Tasse Tee ein.
„Anstrengend“, sagte sie und nahm die Tasse dankend an. Dann richtete sie ihren Blick auf mich. Augenblicklich wurde ich nervös. Sie war wahnsinnig hübsch.
„Du bist Louise, oder? Ich bin Anna, Valentins Schwester“, sagte sie.
„Freut mich, dich kennen zu lernen.“
Ich lächelte nervös.
„Du musst wissen, Anna spielt Klavier und sie hat mehrmals im Monat Konzerte. Sie gehört zu den besten Klavierspielern in ihrer Altersgruppe“, erläuterte Valentin. Anna wurde leicht rot.
„Sag das doch nicht“, murmelte sie schüchtern.
Ich redete mit der gesamten Familie, bis es spät wurde. Auch Anna war sehr nett und mich faszinierte von Anfang an ihre sanfte und melodische Stimme. Sie klang, als würde sie singen. Doch die Zeit ging leider viel zu schnell vorbei und schließlich musste ich gehen. Ich verabschiedete mich von allen und Valentin begleitete mich in den Flur.
„Es war schön heute, deine Familie kennen zu lernen. Sie ist echt cool“, sagte ich und Valentin grinste.
„Ich fand den Tag auch toll. Du musst mich unbedingt wieder einmal besuchen.“
„Das werde ich“, versprach ich und umarmte ihn zum Abschied. Er erwiderte freudig meine Umarmung und ich verabschiedete mich auch von ihm.
Auf dem Heimweg hakte sich Lou bei mir unter.
„Weißt du, was bemerkenswert ist?“
„Was denn?“
„Du hast heute mich diesmal nicht blamiert“, stellte ich fest.
„Stimmt“, sagte Lou und grinste.
„Das muss ich unbedingt noch nachholen.“
Ich lachte nervös und richtete meinen Blick in den Himmel.
Was für eine klare Nacht.

 

20

 

„Hast du die Hausaufgaben verstanden?“
„Wir hatten was auf?“
„Och, Valentin…“
Ich verbarg mein Gesicht in meinen Händen. Valentin war echt immer so.
„Wieso vergisst du immer, Hausaufgaben zu machen? Du kannst dich nicht immer darauf verlassen, dass ich sie auch habe.“
„Ich habe sie ja auch nicht einfach nur vergessen.“
„Ja, was dann? Keine Lust gehabt?“
„Nee, ich hab sie absichtlich vergessen.“
„Aha, absichtlich also. Also hattest du doch keine Lust?“
„Nein, hörst du mir eigentlich zu oder muss ich das für dich am besten zum Mitschreiben nochmal wiederholen?“
„Ach, jetzt bin ich also taub und dumm?“
„Gott, ihr Frauen seid so kompliziert.“
Ich musste lachen. Mittlerweile war es zur Routine geworden, dass ich ihn jeden Morgen mit den Hausaufgaben nervte und er sich darüber aufregte.
„Also, was hatten wir auf?“
Ich seufzte und musste kurz überlegen.
„Geschichte, Mathe und Physik.“
„Kann ich…“
„Ja, kannst du.“
Valentin machte große Augen und umarmte mich stürmisch.
„Danke, du rettest mir den Hintern! Ich kann mir nicht noch einen vierten Klassenbucheintrag leisten.“
Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Valentin kam so oft zu spät und vergaß so oft die Hausaufgaben, dass die Lehrer nicht mehr bei Abmahnungen blieben. Erstaunlicherweise gingen seine Eltern sehr locker damit um.
„Sag mal, ist Anna eigentlich genauso wie du, was die Schule angeht?“
Valentin lachte laut auf. Fand er meine Frage echt so lächerlich?
„Gar nicht. Sie schreibt fast immer nur Einsen und ist klasse im Klavier spielen. Kein Wunder, schließlich ist sie hochbegabt. Schade nur, dass die Gene sich entschlossen haben, mich dumm zu machen.“
„Oder faul“, warf ich ein. „Vielleicht hast du auch so viel Potenzial wie Anna, nur du nutzt das einfach nicht aus.“
„Kann sein.“ Valentin zuckte mit den Schultern und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. „Aber selbst wenn, es ist mir egal, genauso wie die Schule.“
„Willst du später nicht einen guten Abschluss haben und dann studieren?“
„Nee“, antwortete er.
„Oder zumindest eine Ausbildung machen?“, fragte ich verzweifelt.
„Auch nicht.“
„Was zur Hölle wirst du dann machen?!“
Valentin grinste mich an. „Ich werde Filmstar! Dann muss ich nicht arbeiten und verdiene Millionen!“
„Aber das ist auch eine Menge Arbeit…“
„Ach, was weißt du schon!“, unterbrach er mich und ich seufzte resigniert.
Schließlich klingelte es und wir gingen in den Physikraum, wo er neben mir die Hausaufgaben von mir abschrieb. Währenddessen beobachtete ich den Rest der Klasse. Einige Jungs spielten am Handy, eine andere Gruppe bestehend aus zwei Jungs und vier Mädchen schauten ein Video und einige Mädchen machten Selfies.
Warum auch immer man im Klassenraum Selfies machen sollte.
Mittlerweile beachtete mich so gut wie keiner mehr, was mich sehr beruhigte. Ich sah mich nach Lou um und fand sie an Lauras Platz. Sie schrieb etwas in ihr Heft und hatte dabei ein irres Grinsen im Gesicht. Ich wurde unruhig. Was machte sie dort?
Der Lehrer betrat den Raum und alle setzten sich an ihre Plätze. Für Nachdenken war keine Zeit mehr. Dennoch ließ ich meinen Blick zu Lauras Platz schweifen.
Sie starrte komplett verstört auf ihr Heft.
„Okay, ich gehe schnell etwas kopieren. Ihr könnt eine kurze Pause machen“, verkündete der Lehrer und ging aus dem Raum. Ich legte den Stift auf mein Heft und schaute mir meine Notizen an. Physik war eines meiner Lieblingsfächer, daher passte ich immer gut auf.
Ganz anders als Valentin, der links neben mir den Kopf auf den Tisch gelegt hat und schlief. Ich schlug ihm auf den Hinterkopf und er schreckte sofort hoch.
„Ist was passiert?“
„Du hast die erste Stunde Physik verschlafen“, antwortete ich.
„Und der Lehrer hat nichts gemerkt?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Geil“, meinte Valentin und grinste siegessicher. Ich schüttelte abermals den Kopf, aber diesmal aus Verwunderung. Wahrscheinlich war es dem Lehrer egal, wer aufpasste und wer nicht.
„Sag mal, passt du überhaupt…“
Doch ich konnte meinen Satz nicht zu Ende führen, denn sogleich ergoss sich eine klebrige Flüssigkeit über meinen Kopf und ich verzog angeekelt das Gesicht. Es musste sich um Cola handeln.
Entgeistert wirbelte ich herum und sah Laura neben mir mit einer leeren Colaflasche stehen.
„Huch, mein Fehler“, sagte sie und grinste hinterhältig.
„Warum hast du das getan?“, fragte ich.
„Weil du es dir verdient hast.“
„Womit denn bitte? Ich hab dir nichts getan!“
„Ach, ist das so?“
Laura hielt mir ihr Heft unter die Nase. Dort war ein hässlich gemaltes Mädchen abgebildet, welches wahrscheinlich Laura darstellen sollte und ich las die Worte über dem Mädchen.
Ich werde jetzt am besten nicht sagen, um was für Worte es sich handelte.
„Das war ich nicht!“, versuchte ich mich zu verteidigen.
Lauras Gesicht war ausdruckslos.
„Das ist aber deine Handschrift, oder?“
Stimmt.
Plötzlich lachte Lou laut los und in dem Moment begriff ich. Lou hatte vorhin in Lauras Heft geschrieben, erinnerte ich mich. Ich war wieder kurz davor, zu weinen. Wir hatten natürlich auch dieselbe Handschrift.
„Du weißt schon, ich kann das jetzt den Lehrern melden und du kriegst richtig Ärger“, sagte Laura und mittlerweile hatte sich ein Halbkreis aus schaulustigen Schülern um sie herum gebildet.
„Du bist nicht besser. Schließlich hast du mich gerade eben mit Cola überschüttet. Das kann ich auch melden“, warf ich ein. Doch Laura beeindruckte das nicht.
„Ich hab Beweise für deine Tat. Du nicht. Wenn du sagen würdest, ich hätte die Cola über dich geschüttet, würde dir niemand glauben, denn du hast keinen handfesten Beweis.“
Blöderweise musste ich zugeben, dass sie recht hatte. Ich bekam ein ganz schlechtes Gefühl.
„Aber dafür hat sie einen Zeugen.“
Ich sah überrascht zu Valentin, der bereits von seinem Stuhl aufgestanden ist und Laura ernst anblickte. Diese sah verwirrt drein.
„Ja, und? Wer würde dir schon glauben? Außerdem, warum verteidigst du sie überhaupt?“
„Weil sie nichts getan hat. Sie war die ganze Zeit bei mir. Und weil Louise meine Freundin ist.“
Mir wurde augenblicklich warm ums Herz und ich unterdrückte den Impuls, Valentin zu umarmen. Die Klasse fing an zu tuscheln und Laura hob eine Augenbraue.
„Ach, seid ihr jetzt zusammen, oder was? Hast du etwa die Gerüchte nicht gehört? Die benutzt dich doch eh, merkst du das nicht?“
„Richtig. Das ist nur ein Gerücht. Nichts weiter.“
Verwirrtes Murmeln.
Laura knirschte mit den Zähnen.
„Außerdem, was habt ihr alle gegen Louise? Was hat sie euch getan?“, fragte Valentin ruhig.
„Sie…ist einfach abstoßend.“
Valentin verzog wütend das Gesicht.
„Na, wenn das so ist. Weißt du eigentlich, wie abstoßend und ekelhaft ich dich gerade finde? Wie abstoßend ich euch alle finde? Ihr seid alle bloß Janines Hündchen, merkt ihr das nicht? Wahrscheinlich nicht, sonst hättet ihr ja ein paar Gehirnzellen mehr gehabt. Aber anstatt euch selbst zu fragen, ob das, was ihr tut, überhaupt richtig ist und ob ihr das wollt, tut ihr alles, was Janine verlangt. Wahrscheinlich nur, um bei ihr einen Platz zu gewinnen. Aber ich sag euch was. Janine schert sich einen Dreck um euch. Ihr könntet jetzt verrecken und sie würde nicht einen Finger rühren. Denn für Janine seid ihr nicht viel mehr wert als ein Mistkäfer. Komm Louise, wir gehen jetzt.“

Valentin nahm mich an der Hand und führte mich an unserem verwirrten Physiklehrer vorbei, der einen Stapel an Kopien in den Händen hielt. Ich sah mich nach hinten um und alle sahen uns verwirrt und völlig sprachlos hinterher. Selbst Lou war wie vom Donner gerührt.
Ich ging mit Valentin raus auf den Schulhof und nach und nach verlangsamte er seine Schritte.
Unsicher lächelte er mich an. „Alles in Ordnung?“
Nein. Gar nichts war in Ordnung.
Meine Tränen verschleierten mir die Sicht und die Worte blieben mir im Hals stecken. Statt einer Antwort warf ich mich gegen seine Brust und weinte. Valentin schloss die Arme um mich und legte sein Kinn auf meinem Kopf ab.
Ein Gefühl von Geborgenheit erfüllte mich, aber gleichzeitig fühlte ich mich so schlecht wie noch nie.
Dieses Gemisch aus diesen Gefühlen war paradox und geradezu toxisch.
Ich konnte nichts dagegen tun.

21

 

„Sieh mal, die Bank da ist frei.“
Seit dem Vorfall mit der Cola gab es keine besonderen Zwischenfälle mehr. Ich war fast immer mit Valentin zusammen unterwegs und wir wurden ständig angestarrt. Die Geschichte musste sich herumgesprochen haben. Doch es war mir ziemlich egal. Hauptsache, Valentin war an meiner Seite.
Wie immer setzten wir uns in der Pause auf eine Bank auf dem Schulhof und redeten. Valentin schwärmte gerade von einer Serie, die er die ganze Nacht durchgeschaut hat.
„Du hast aber hoffentlich die Hausaufgaben diesmal gemacht, oder?“
Valentin grinste mich an. „Klar doch.“
Ich seufzte erleichtert. Doch plötzlich lache er laut los.
„Was ist denn jetzt? Warum lachst du?“, fragte ich.
„Hast du mir das jetzt echt geglaubt? Ich mache meine Hausaufgaben nie“, sagte er und verschränkte die Arme lässig hinter dem Kopf. Valentin schaute in den Himmel und ich tat es ihm gleich. Der Himmel war von dunklen, grauen Wolken bedeckt und es sah so aus, als würde es anfangen zu regnen.
Kein schöner Anblick.
Valentin fing wieder an zu reden und ich riss meinen Blick vom Himmel los.
Um anschließend mit ihm darüber zu diskutieren, ob Hühner es merken würden, wenn man ihre Küken mit genmutierten Küken vertauschen würde. Wie wir auch immer auf diese Idee kamen.
Ich merkte, wie Lou sich neben mich setzte und an meinem Ärmel zupfte. Verwundert wandte ich mich um und sie deutete nach vorne.
„Ich glaube, wir bekommen Besuch.“
Schlagartig wurde mir übel.
Ich sah Janine mit ihrem Gefolge auf uns zugehen. Sie blickte grimmig drein und ihre Freundinnen waren alle am Handy und kicherten über irgendetwas. Ich musste den Impuls unterdrücken, aufzustehen und wegzulaufen. Janine kam immer näher, bis sie direkt vor uns stand. Doch mich blickte sie nicht an.
Sondern Valentin.
„Hey, du da. Der Emo“, sagte sie.
Valentin hörte auf zu reden und schaute sie ausdruckslos an.
„Meinst du etwa mich?“, fragte er tonlos.
Janine presste die Lippen zusammen. „Wen denn sonst? Wer läuft denn sonst immer nur in grau und schwarz herum und schneidet sich nie die Haare?“
„Das ist immer noch kein Grund, mich als Emo zu bezeichnen. Nicht, dass es schlimm wäre. Aber du solltest nicht einfach so Annahmen machen“, erwiderte Valentin.
„Du sollst mich nicht belehren. Ich bin hergekommen, weil ich noch etwas besprechen muss.“
Janine warf mir kurz einen bösen Blick zu und wandte sich wieder an Valentin.
„Und was denn? Ist das echt wichtig? Wie du siehst, ich habe zu tun.“
„Ich hab gehört, du hast die da verteidigt“, sagte Janine und machte dabei ein Gesicht, als hätte sie etwas ekelhaftes gegessen.
„Ja, und?“
Man konnte Valentin deutlich anmerken, wie genervt er war.
„Warum gibst du dich eigentlich mit ihr ab? Das ist sie echt nicht wert. Komm, mach mal was aus deinem Leben und such dir richtige Freunde.“
„Danke, nein. Louise ist meine Freundin. Also geh jetzt und nerv mich nicht.“
Janine knirschte mit den Zähnen und ich blickte kurz zu Lou. Ihrem Grinsen nach zu urteilen, amüsierte sie sich wohl prächtig.
„Jetzt nicht mehr. Glaub mir, ich werde dich davon überzeugen, dass sie es echt nicht wert ist.“
„Und wie willst du das bitte anstellen?“
Janines Mund verzog sich zu einem diabolischen Grinsen.
„Mein lieber Emo.“
„Hör auf, mich so zu nennen.“
„Ich weiß Sachen über dich, die vielleicht nicht unbedingt jeder wissen sollte. Es wäre also wirklich schade, wenn diese Informationen an die Öffentlichkeit geraten würden. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es die anderen brennend interessiert.“
Valentin machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Was weißt du schon? Ich wette, das denkst du dir eh nur aus.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“
Janine beugte sich vor und flüsterte Valentin etwas ins Ohr. Ich beobachtete, wie Valentin erschrocken seine Augen aufriss und immer bleicher wurde.
Schließlich trat Janine grinsend zurück und Valentin stand ganz langsam mit gesenktem Kopf auf.
Was würde er machen? Würde er mich verteidigen?
Einige Augenblicke lang geschah nichts.
Doch schließlich drehte er sich zu mir um. Sein spöttischer Gesichtsausdruck brach mir das Herz.
„Was ist? Dachtest du echt, wir wären Freunde? Mal ehrlich, wie dumm bist du eigentlich?“
„Valentin, das kannst du doch nicht ernst meinen!“, rief ich verzweifelt.
„Aber es war halt schon lustig, wie du mir einfach blind vertraut hast. Wie ein Hündchen seinem Herrchen.“
„Valentin bitte!“
„Wie auch immer, es war nett mit dir. Aber jetzt ist es an der Zeit, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Du bedeutest mir nichts.“
Ich erstarrte.
„Ganz recht, du bist für mich nichts wert.“
Seine Worte trafen mich so tief, dass ich schon fast körperlichen Schmerz verspürte. Ich wollte am liebsten schreien.
Janine und ihre Freundinnen lachten und zogen Valentin mit sich.
Er ging ohne Protest mit, doch als er sich noch einmal umdrehte, sah er mich tieftraurig an.
Von seinen Lippen konnte ich die Worte „Tut mir leid“ ablesen.

Ich saß lange auf der Bank wie festgenagelt und traute mich nicht, mich zu bewegen. Lou stupste mich an und zerrte an mir mit der Erklärung, ich sollte zum Unterricht gehen. Doch ich starrte nur ins Leere. Valentins Worte hallten noch immer in meinen Ohren nach.
„Du bist für mich nichts wert.“
Ich spielte die Szene immer wieder in Revue in meinem Kopf ab, obwohl ich genau wusste, wie sehr ich mich dadurch selbst kaputt machte. Dennoch konnte ich mir keinen Reim darauf machen, warum er so plötzlich die Seiten gewechselt hatte. Fröstelnd umarmte ich mich selbst, da ich erst jetzt merkte, wie kalt es eigentlich war. Kein Wunder auch, es war kurz vor den Weihnachtsferien.
Ah, Weihnachten.
Meine Eltern werden nicht da sein.
Ich musste es wohl alleine verbringen.
Mir kamen die Tränen. Warum musste das alles passieren? Womit hatte ich mir das nur verdient? Je mehr Zeit verstrich, desto schmerzhafter wurden Valentins Worte. Ich konnte es nicht ertragen.
Dennoch nahm ich es ihm nicht übel. Denn jetzt wusste ich, was für ein Mensch Valentin wirklich war.
Er war zwar liebenswürdig und nett, aber dennoch ein furchtbarer Feigling.
Der nächste Tag in der Schule war die reinste Hölle. Das Mobbing wurde deutlich schlimmer und Valentin kam gar nicht erst in die Schule. Lou hielt die ganze Zeit über meine Hand und es gab mir zumindest ein bisschen Halt. Doch eine besonders große Hilfe war es dennoch nicht.
Alle schienen gegen mich zu sein. Janine sprach zwar gar nicht mehr mit mir, doch hin und wieder sah ich, wie sie mich leicht grinsend beobachtete.

Als ich am Nachmittag heimkam, verbarrikadierte ich mich sofort in meinem Zimmer und ließ meinen Tränen freien Lauf. Die anderen könnten recht haben.
Wahrscheinlich hatte ich wirklich an Wert verloren.
Vielleicht hatte ich mir das doch verdient.
Ich konnte es einfach nicht mehr glauben. Ich konnte nicht glauben, wie sehr mich die Menschen verändert hatten.
Denn mittlerweile war es so unerträglich geworden, dass ich nicht mehr weiterleben wollte.

 

22

 

„Wo gehst du hin?“
„Nirgendwo.“
„Das ist aber nicht der Schulweg.“
„Gut so.“
„Du kannst dich nicht ewig verstecken.“
„Selbst wenn, es ist mir egal.“
Lou folgte mir und ich ging so schnell ich konnte in den Wald. Mein Atem bildete kleine Wölkchen in der Luft und erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, wie kalt es war. Fröstelnd vergrub ich mein Kinn in meinem Schal und setzte mich endlich auf einen abgestorbenen Baumstamm.
Ich ging jeden Tag hier hin.
Bereits seit einem Monat ging ich nicht mehr zur Schule. Das ist den Lehrern natürlich aufgefallen und sie haben schon mehrere Briefe geschickt und mehrmals angerufen. Natürlich habe ich alle Briefe verbrannt und die Nummer blockiert. Doch ich wusste nicht, wie lange ich damit durchkommen würde.
Lou setzte sich neben mich.
„Wegen dir riskiere ich ein weiteres Mal, dass meine Jeans dreckig wird“, murrte sie.
„Die Male davor ist sie aber nur ein Mal dreckig geworden.“
„Zwei Mal“, korrigierte sie mich.
„Mir doch egal, wie oft.“
„Was ist denn jetzt eigentlich mit Valentin?“, fragte sie nach einer Weile.
Ich zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das denn wissen?“
„Tja, mich wundert es nicht, dass er kein Bock mehr auf dich hatte. Ich mein, du bist echt absolut kacke.“
„Danke, das hilft sehr.“
„Ich mein, du bist sowas von langweilig und unerträglich, dass ich sogar lieber meine Zeit mir Ratten verbringen würde.“
„Weißt du, du kannst auch gerne gehen. Niemand zwingt dich, hierzubleiben.“
Doch insgeheim wollte ich genau das.
Lou grinste mich an. „Ne, du, es macht Spaß, dir auf die Nerven zu gehen.“
„Du meinst wohl mein Leben zu zerstören“, korrigierte ich.
„Du übertreibst. Aber hey, ich mach nur meinen Job.“
Ich verdrehte die Augen und schaute hoch. Am liebsten hätte ich mich einfach fallen gelassen und für einen kurzen Moment die Schwerelosigkeit gespürt. Dann würde mich sanft das Wasser auffangen und davon spülen. Die Last würde von meinen Schultern fallen und das Wasser würde sie davon tragen. An einen weit entfernten Ort. Ich würde endlich wieder atmen können.
Das Wasser umschließt meine müden Arme und Beine und mein Kopf taucht unter und ich brauche nie wieder aufzutauchen. Denn ich kann trotzdem atmen, selbst unter Wasser.
Ich schloss die Augen und hielt an dieser Fantasie fest. Sofort ging es mir besser. Vielleicht sollte ich ein Gedicht darüber schreiben. Ich hatte ja schon lange nichts mehr geschrieben.

Ich hörte gedämpft Stimmen, die ich niemandem zuordnen konnte. Langsam schlug ich die Augen auf und sah mich um. Lou hatte den Kopf auf den Schoß gelegt und sie atmete gleichmäßig. Vielleicht schlief sie.
Ich stand auf und sah mich ein wenig um. Die Stimmen kamen näher und schon bald konnte ich in der Ferne vier Gestalten sehen. Selbst von weitem sah man, dass es sich um männliche Jugendliche handeln musste, bestimmt nicht älter als siebzehn. Ein Junge rückte einige abgefallene Äste und Zweige zurecht und ein anderer hantierte an einem Feuerzeug herum.
Was zur Hölle taten sie da?
Der Junge mit dem Feuerzeug beugte sich nach vorne und sofort sah ich eine Flamme, die schnell wuchs. Ich schaute fasziniert zu.
„Das ist Brandstiftung.“
Ich zuckte zusammen und erblickte Lou neben mir, die anscheinend aus dem Nichts aufgetaucht war. „Ich weiß. Was sollen wir machen? Sollen wir die Polizei rufen?“
Lou grinste.
„Nee, bis die Bullen ankommen, sind die auf und davon. Pass auf, ich hab eine bessere Idee.“
Lou bückte sich und wühlte im Dreck herum, bis sie einen verdreckten Tennisball fand.
„Woher weißt du…“
Doch ich sprach nicht zu Ende, denn Lou warf den Ball in Richtung der Jungs. Der Ball traf einen Jungen am Arm und er drehte sich in unsere Richtung um.
Mir wurde flau im Magen.
„Hey! Wer ist da?!“
Seine Freunde drehten sich ebenfalls um und sofort verstummte ihr Gelächter.
„Komm sofort raus! Ich weiß genau, dass da jemand ist.“
Die Jungs kamen immer näher und mein Herzschlag beschleunigte sich.
„Der Typ kann was erleben.“
Ich bekam Panik und meine Augen weiteten sich. Sie würden mich verprügeln, so sahen sie zumindest aus. Oder noch schlimmer.
Lou lachte kurz auf und warf mir einen amüsierten Blick zu.
„Lauf“, flüsterte sie.
Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, sprang auf und rannte, so schnell ich konnte.
Doch die Jungs hatten mich gesehen und rasten mir hinterher.
„Da ist sie! Schnappt sie euch!“
„Na, warte! Du kannst was erleben!“
Ich rannte ziellos durch den Wald und versuchte, meine Verfolger abzuhängen, doch sie waren viel zu schnell. Plötzlich stand einer von ihnen direkt vor mir und fast wäre ich ihm in die Arme gelaufen. Doch ich schlug rechtzeitig einen Haken und wich ihm aus. Der kalte, beißende Wind trieb mir die Tränen in die Augen und langsam verließ mich die Kraft. Ich hatte Seitenstechen und jeder Atemzug fühlte sich so an, als hätte ich lauter kleiner Nadeln in meiner Lunge. „Lou…“, keuchte ich, doch natürlich war sie nirgendwo.
Plötzlich packte mich einer von den Jungs am Handgelenk und grinste mich an. Ich versuchte, mich loszureißen, doch er war viel zu stark.
„Na, wen haben wir denn da? Jungs, ich hab sie!“
Keine Minute später kamen die anderen angelaufen und umkreisten mich und den Jungen, der mich festhielt.
„So, was machen wir denn jetzt mit dir?“
„Ich werde niemandem etwas sagen, ich schwöre es!“, rief ich verzweifelt. Die Jungs grinsten.
„Ach, ist das so? Und warum sollten wir dir glauben?“
Mir kamen die Tränen. Was machte ich nur falsch, dass ich ständig in Ärger geriet?
„Wie wär es, wenn wir sie…“
Doch der Junge brach mitten im Satz ab. Ich hörte eine Sirene.
„Shit, die Bullen kommen! Lass uns abhauen!“
„Was machen wir mit dem Mädchen?“
„Lass sie, wir müssen verschwinden!“
Die drei anderen Jungs liefen sofort weg und derjenige, der mich festgehalten hatte, warf mich mit voller Wucht gegen den nächsten Baum. Mein Kopf stieß gegen den Baumstamm und ich verlor sofort das Bewusstsein.
Die Luft roch nach Rauch, als ich endlich aufwachte. Ich rappelte mich auf und hielt mir meinen pochenden Hinterkopf. Ich musste so schnell wie möglich weg.
Ich nahm mir vor, Lou in Einzelteile zu zerlegen sobald ich sie wiedersah.
Ich lief aus dem Wald hinaus und sah mich kurz um, damit ich wusste, wo ich war.
Erleichtert darüber, dass ich von Zuhause nicht weit weg war, ging ich ohne Umwege oder Zwischenfälle heim.
Lou erwartete mich bereits in meinem Zimmer. Sie las gerade ein Buch, dass ich auf meinem Bett liegen gelassen hatte.
„Hat ja lange gedauert“, bemerkte sie, ohne aufzusehen.
Die Wut übermannte mich und ich griff nach dem nächstbesten Gegenstand und warf ihn nach ihr. Leider konnte Lou rechtzeitig ausweichen.
„Hey, wofür war das denn?!“
„Bist du komplett bescheuert? Diese Typen haben mich verfolgt, der eine hatte mich festgehalten, dann gegen einen Baum geworfen und ich bin ohnmächtig geworden. Du verdammtes Biest! Warum musst du das immer machen?“
Lous Gesicht nahm einen unsicheren Gesichtsausdruck an.
„Du bist heil zurückgekommen, also brauchst du dich nicht so aufzuregen.“
Ich raufte mir entnervt die Haare und griff nach einer kleinen Tasche.
„Wohin gehst du?“
„In die Stadt.“
„Kann ich mitkommen?“
„Wie du willst.“
Lou sprang erfreut auf und kurz danach brachen wir auf. Es hatte keinen Sinn, Lou nicht mitzunehmen. Sie macht sowieso immer, was sie will.
Nach einigen Läden und einem Besuch im Cafe ging es mir schon viel besser. Lou und ich schlenderten die Straßen entlang, bis wir wunderschöne Musik hörten. Dieses Instrument erkannte ich immer wieder.
Jemand spielte Saxophon.
Ich folgte der Musik und stieß schließlich auf eine große Menschenmenge. Sie war so dicht, dass ich mich durchkämpfen musste, um einen Blick auf den Musikanten zu erhaschen. Schließlich war ich so weit durchgekommen, dass ich die Person mit dem Saxophon sehen konnte.
Doch was ich sah, überraschte mich. Denn ich hätte nie gedacht, dass ich diese Person je wiedertreffen würde.

23

 

„Anna?“, flüsterte ich.
Ich konnte sie nur anstarren. Sie spielte auch Saxophon? Und dies mit einer solchen Hingabe und Leidenschaft. Man konnte aus den Tönen ihre Gefühle praktisch heraushören. Der sanfte Wind blies ihr langes Haar leicht zur Seite und ein paar Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Sie runzelte daraufhin die Stirn und machte eine kurze Unterbrechung, um sie sich hinter die Ohren zu streichen. Danach fing sie wieder an zu spielen und die Zeit stand wieder still.
Die Menschenmenge um sie herum beobachtete sie gespannt und fasziniert, doch sie sah es nicht.
Ihre Augen waren die ganze Zeit geschlossen.
Bestimmt war es beim Klavier spielen genauso.
Lou trat dichter an mich heran und ihr kleiner Finger berührte versehentlich meine Hand.
Ich zuckte fast zusammen, doch sie schien nichts zu merken.
Mit Mühe löste ich meinen Blick von Anna und sah Lou von der Seite an. Sie schaute Anna an, doch ihr Blick…er war erfüllt von tiefer Trauer.

Die letzten Töne erklangen.
Anna senkte ihr Saxophon, atmete ein und aus und öffnete die Augen.
Die Leute applaudierten kräftig und Anna schaute sich überrascht um. Es waren tatsächlich eine Menge Menschen gekommen und sie lächelte nervös.
Schließlich erblickte sie mich und schnell packte sie ihr Instrument weg.
Die Menge murmelte verwirrt und enttäuscht und löste sich langsam auf. Anna schritt langsam auf mich zu.
„Hey. Ich hab dich echt lange nicht mehr gesehen“, sagte sie lächelnd.
Ich lächelte unsicher zurück.
„Ja, stimmt.“
„Hast du vielleicht ein wenig Zeit?“
Anna trat von einem Fuß auf den anderen. Sie war wohl eher schüchtern.
„Ja, klar. Willst du irgendwohin gehen?“
„Ja, tatsächlich wollte ich mit dir in das Restaurant dort drüben gehen. Ich habe nämlich Hunger. Dann können wir uns ein wenig unterhalten und ich lerne dich auch besser kennen.“
Sie lachte verlegen und wurde etwas rot.
Süß.
„Warum nicht?“, meinte ich schulterzuckend. Ich hatte sowieso nichts Besseres zu tun.

„Was nimmst du? Es gibt so viel Auswahl, ich kann mich gar nicht entscheiden!“
Ich brauchte nicht nachzudenken.
„Ich nehm Spaghetti Bolognese“, sagte ich sofort.
„Dann nehme ich dasselbe“, sagte Anna.
Wir bestellten und während wir auf das Essen warteten, unterhielten wir uns über belanglose Themen. Doch sobald das Essen kam, holte ich tief Luft und fragte mit klopfendem Herzen die Frage, die ich ihr bereits stellen wollte, seit ich angefangen habe, mit ihr zu reden.
„Wie geht es Valentin?“
Anna hielt inne und schaute traurig weg.
„Du hast wohl auch nichts von ihm gehört, was?“
Ich schaute sie verwirrt an.
„Wie jetzt? Was meinst du damit?“
„Valentin…er ist einfach abgehauen.“
Anna hatte Tränen in den Augen und sie verbarg ihre Tränen hinter einer Hand. Ich streckte mich über den Tisch zu ihr hin und legte meine Hand auf ihre, die die Gabel fest umklammert hielt.
„Was ist passiert?“
Meine Stimme war vollkommen klanglos.
„Meine Eltern haben sich heftig mit Valentin gestritten. Es war ein riesiges Drama und es wurde richtig laut. Valentin war vollkommen außer sich. Dann hatte er genug, hat seinen Rucksack genommen und ist gegangen. Danach kam er nicht wieder. Ich habe ihr seit Wochen nicht gesehen.“
Es musste schlimm für Anna sein. Sie tat mir so leid. Ich versuchte, sie zu trösten und sie beruhigte sich nach einer Weile. Doch in Wahrheit ließ mich Valentins Verschwinden völlig kalt. Ich ging sowieso nicht mehr zur Schule. Und wiedersehen wollte ich ihn auch nicht.
Valentin hatte sich gegen mich entschieden. Die anderen hat er zwar zurechtgewiesen, dabei war er selbst kein bisschen besser. Er hatte doch selbst viel zu viel Angst vor Janine.
„Worüber habt ihr euch denn gestritten?“
„Das…ist nicht wichtig.“
Anna kamen wieder die Tränen und ich beschloss, das Thema zu wechseln.
„Du hast ja gar nicht erzählt, dass du Saxophon spielst. Du musst Talent haben, wenn du zwei Instrumente spielen kannst.
Annas Miene hellte sich sofort auf.
„Eigentlich spiele ich drei.“
Ich starrte sie verblüfft an.
„Saxophon, Klavier und Euphonium.“
Ich lachte nervös.
„Hast du überhaupt noch Freizeit?“
„Naja…wie man’s nimmt.“
Ich wurde tatsächlich ein wenig neidisch.
„Aber warum hast du eben auf der Straße gespielt?“
„Ich mache das öfters“, erwiderte Anna und lächelte breit.
„Manchmal bin ich es eben leid, immer nur für mich zu spielen und ich muss eben einfach mal raus. Den Leuten scheint es zu gefallen.“
„Kein Wunder. Du spielst wahnsinnig gut.“
„Naja…nicht wirklich.“
Ich seufzte. Was würde ich alles geben, um so talentiert zu sein.
„Weißt du, ich würde echt gern mal hören, wie du Klavier und Euphonium spielst. Meinst du, ich könnte mir das irgendwann mal anhören?“
Anna lächelte erfreut.
„Ja, klar! Hast du demnächst vielleicht Zeit? Dann könntest du vorbeikommen und ich spiele dir etwas vor.“
„Unbedingt!“
Plötzlich zupfte mich Lou am Ärmel.
„Lass uns gehen. Jetzt.“
Ich schüttelte sie ab. Dafür war jetzt nicht die Zeit und eine weitere Freundschaft würde sie nicht zerstören.
„Bitte. Es ist dringend.“
Genervt sah ich Lou an und stellte mit Schrecken fest, dass sie kurz davor war zu weinen. Ihrem Gesichtsausdruck nach sah sie so aus, als würde sie ernsthaft Schmerzen erleiden. Was war mit ihr bloß los?
„Also…ich muss mal gucken, ob ich Zeit hab. Aber es ist schon spät und ich muss los“, sagte ich und sah Anna entschuldigend an.
„Oh, kein Problem. Komm einfach vorbei, ja?“
Ich nickte und holte bereits mein Portemonnaie heraus, um zu bezahlen. Doch Anna hielt mich auf.
„Schon gut, ich bezahle.“
Ich sah sie dankbar an, verabschiedete mich und eilte aus dem Restaurant.
Den ganzen Rückweg über war Lou sehr ruhig. Sie starrte bloß mit leerem Blick vor sich hin und ich konnte mich nicht trauen, sie anzusprechen. Sie wirkte komplett abweisend.
Die Straßen wurden immer leerer und schon bald war keine einzige Menschenseele mehr zu sehen. Ich beschloss, einen Versuch zu wagen.
„Was war eigentlich los mit dir? Du warst so komisch.“
„Es war nichts.“
Ich atmete genervt aus. „Doch, da war was. Sag schon. Hat es was mit Anna zu tun?“
„Bleib weg von ihr. Triff dich nicht mit ihr. Bitte“, flehte sie. Ich wurde unruhig.
„Wieso?“, fragte ich vorsichtig, „was ist mit ihr?“
Wir standen bereits vor meiner Haustür und ich steckte schon den Schlüssel ein und drehte ihn, als Lou plötzlich sagte:
„Sie war meine Freundin.“
Ich hielt mitten in der Bewegung inne und sah Lou an.

„Freundin? Wie?“
Mittlerweile waren wir in meinem Zimmer und Lou kauerte sich auf meinem Bett zusammen. Sie sah aus wie ein Häufchen Elend. Irgendwie hatte ich Mitleid mit ihr.
Plötzlich fing sie aus dem Nichts an, zu weinen. Sie weinte heftig und die Tränen flossen und flossen. Ich sprang von meinem Stuhl auf, auf dem ich vor ein paar Momenten noch saß und rannte zu ihr aufs Bett.
Ich drückte ihren Kopf auf meine Brust und meine Hand verschwand unter ihren Haaren.
Lou weinte lange. Die Zeit schien nicht voranschreiten zu wollen. Schließlich drückte sie mich von sich weg und rieb sich mit dem Ärmel über die Augen, die bereits total rot waren. Ihre Nase lief und die Wangen waren auch gerötet. Ein paar lose Strähnen hingen ihr ins Gesicht, die von den Tränen auch schon feucht waren.
Sah ich auch immer so aus, wenn ich weinte?
Lou holte mehrmals Luft und brauchte mehrere Anläufe, bis sie einen Satz zustande bringen konnte, der in mir komplette Verwirrung auslöste.
„Anna war…meine Freundin. Wir waren zusammen.“

24

 

„Was?“
Ich konnte Lou nur mit offenem Mund anstarren.
„Wie lange? Und seit wann? Wie kommt es, dass ich nicht mit ihr zusammen war? Du bist schließlich mein Parallel-Ich.“
Lou seufzte.
„Nur, weil ich dein Parallel-Ich bin, heißt das nicht, dass in unseren Welten auch alles parallel abläuft. Manche Dinge haben wir gemeinsam, manche aber auch nicht, wie du hoffentlich gemerkt hast“, antwortete sie.
Ich war äußerst unzufrieden mit der Antwort. Dabei wollte ich unbedingt, dass Lou ins Detail ging.
„Warum bist du eigentlich dagegen, dass ich Anna näher kennen lerne? Sie scheint doch ganz nett zu sein…“
„Das ist sie auch. Von außen. Jedoch gibt es eine Geschichte, warum sie eigentlich anders ist, als sie sich gibt.“
Ich rückte näher an Lou heran.
„Erzählst du sie mir?“, bat ich.
Lou zog ihre Beine an und legte ihr Kinn auf ihre Knie. Sie schloss die Augen und atmete langsam ein und aus. Ich gab ihr die Zeit, die sie benötigte, um sich zu sammeln und sich die Ereignisse wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Dann fing sie an zu erzählen.

 

„Vor einem halben Jahr habe Anna kennen gelernt. Genau wie du habe ich mich erst mit Valentin angefreundet. Eigentlich ist es genau so abgelaufen wie bei dir. Ich war bei Valentin zu Hause und habe mich dort mit ihr erst mehr oder weniger angefreundet. Dann habe ich sie zufällig in der Stadt gesehen und mich immer wieder mit ihr getroffen. Es hat nicht lange gedauert, bis ich mich in sie verliebt habe.
Wir haben später Nummern ausgetauscht und praktisch jeden Tag miteinander geschrieben und manchmal auch telefoniert. Ich war so verliebt in sie, dass ich kaum etwas anderes im Kopf hatte. Meine Noten gingen den Bach runter, das Verhältnis zu meiner besten Freundin wurde schlechter und auch mit Basketball habe ich damals aufgehört. In meinem Team gehörte ich zu den besten und wir haben fast jedes Spiel gewonnen.
Basketball war für mich alles. Ich habe nichts lieber gemacht. Doch schon bald ist es mir so egal geworden, dass ich sehr schnell abrutschte und mich immer verschlechterte. Jeder bekam es mit, dass die beste Spielerin immer schlechter wurde und irgendwann sahen auch meine Eltern keinen Sinn mehr darin, mich weiter spielen zu lassen und haben mich einfach abgemeldet. Das schlimmste war, dass ich mich noch nicht einmal dagegen gewehrt hatte. Aber zurück zum Punkt.
Ich widmete meine freie Zeit nur Anna. Wenn sie gerade keine Zeit hatte, etwas mit mir zu unternehmen, dann dachte ich immer an sie und malte mir die verrücktesten Szenarien aus. Bald habe ich angefangen, mir Geschichten und Gedichte auszudenken und sie aufzuschreiben. Irgendwann habe ich die Szenarien gemalt. Verrückt, was man alles macht, wenn man verliebt ist.
Zu der Zeit hätte ich echt alles für Anna getan.
Ich habe immer und immer wieder angedeutet, dass ich mehr als nur Freundschaft für sie empfinde, doch sie hat es nie verstanden. Anna dachte immer, ich wäre einfach nur nett. Um ehrlich zu sein, ich war viel zu schüchtern, um es ihr ins Gesicht zu sagen. Dazu hatte ich den Mut nicht. Außerdem, ich bin ein Mädchen. Ich hatte zu viel Angst vor ihrer Reaktion. Also ging das Spiel immer weiter und tatsächlich dachte ich daran, sie einfach aufzugeben.
Irgendwann, ich weiß nicht mehr so genau, wann, sagte sie: ‚Du bist eine echt gute Freundin. Fast wie eine kleine Schwester. ‘
Als sie mir das gesagt hat, habe ich sie angelächelt, doch innerlich zerbrach ich. Es war ein sonniger Tag im Juli, das weiß ich noch.
Als ich dann zu Hause war, fing ich an zu weinen. Es…
Es tat einfach weh, einzusehen, dass zwischen uns wahrscheinlich nie mehr als Freundschaft sein könnte. Von da an weinte ich fast jeden Tag. Ich zwang mich, den Kontakt zu ihr vorübergehend abzubrechen, auch wenn es umso mehr wehtat, sie nicht sehen zu können. Natürlich hatte sich Anna gewundert, warum ich nichts mehr mit ihr unternahm, doch ich gab mich beschäftigt und redete mir ein, es würde helfen. Das tat es natürlich überhaupt nicht.
Nach drei Wochen hielt ich es nicht mehr aus. Ich rief sie weinend an und bat sie, mich zu treffen. Kurz darauf trafen wir uns im Park. Endlich habe ich beschlossen, ihr zu sagen, wie ich wirklich fühlte.
Anna war verwirrt, als sie mich weinen sah. Diese dämlichen Tränen konnten einfach nicht aufhören zu fließen. Alles oder nichts, sagte ich mir.
Meine Güte, es hat so lange gedauert, bis ich ein vernünftiges Wort herausbekommen habe. Ich habe lange geübt, wie ich es ihr sagen würde.
Doch wie du dir schon denken kannst, sie sagte mir, sie würde genauso fühlen. Bestimmt kannst du dir vorstellen, wie überrascht ich war.
Tja, dann sind wir eben zusammen gekommen. Doch um ehrlich zu sein, unser Verhältnis zueinander hat sich kaum verändert. Wir haben immer noch dieselben Sachen wie vorher gemacht, abgesehen davon, dass wir Händchen gehalten haben. Doch das war mir egal. Denn ich hatte die Bestätigung, dass sie mich liebte.
Oder zumindest dachte ich, dass Anna mich lieben würde.
Nach einiger Zeit wollte ich den nächsten Schritt wagen und küsste sie zum ersten Mal auf die Wange. Ich weiß noch genau, wie angespannt sie war und sie mir sagte, dass sie nicht bereit wäre, weiterzugehen. Natürlich respektierte ich das.
Mit der Zeit wurde Anna aber immer komischer. Sie traf sich bald gar nicht mehr mit mir und sagte immer, sie hätte eine Menge Konzerte. Ich glaubte ihr, schließlich spielt sie drei Instrumente. Jedoch ahnte ich überhaupt nicht, was Anna wirklich machte.
Ich traf mich immer noch mit Valentin und war mit ihm befreundet. Daher fragte ich ihn ein wenig über Anna aus. Als ich erwähnte, dass Anna oft auf Konzerten vorgespielt hatte, war Valentin verwundert. Laut ihm hatte Anna seit Wochen kein einziges Konzert gehabt und ab da wurde ich misstrauisch.
Es wurde total krank, denn ich fing doch tatsächlich an, ihr auf Social Media nachzustellen. Ich ging alle ihre Beiträge durch, las alle Kommentare und sah mir an, wem ihre Beiträge gefielen. Das ist ziemlich verstörend, wenn man darüber nachdenkt.
An einem Tag ging ich in die Stadt, um mich abzulenken. Ich setzte mich in ein Cafe an einen Tisch und bestellte mir etwas zu trinken. Während ich wartete, sah ich Anna, wie sie das Cafe mit einem Jungen betrat. Sie gingen einfach an mir vorbei und ich blieb einige Momente völlig verwirrt auf meinem Stuhl sitzen. Sie verschwanden hinter einer Wand und ich beschloss, ihnen zu folgen.
Ich musste mit ansehen, wie Anna und der Junge eng umschlungen auf dem Sofa in einer einsamen Ecke saßen und miteinander rumknutschten. Alles, was ich tat, war einfach nur herumzustehen und sie anzustarren. Schließlich bemerkte mich Anna und sah mich ausdruckslos an. Dann bildete sich ein amüsiertes Lächeln auf ihrem Gesicht und sie sagte: ‚Tja, du hast mich erwischt. Ich denke, du hast es schon verstanden. Ich habe dich sowieso nicht geliebt, also…ich denke mal, es müsste dich nicht zu sehr treffen, oder? ‘
Ohne nachzudenken, rannte ich aus dem Cafe und brach den Kontakt zu Anna und leider auch zu Valentin ab. Danach durchlebte ich die reinste Hölle. Ich dachte an nichts anderes und meine Eltern machten sich große Sorgen um mich. Bis heute habe ich Anna nicht aus dem Kopf bekommen. Als ich sie wiedergesehen habe, hat es mich wie eine kalte Dusche erwischt. Ich war bereit, wegzulaufen, doch natürlich konnte Anna mich nicht sehen.
Ah, verdammt, jetzt heule ich wieder.
Anna war meine große Liebe gewesen. Doch sie hat mich völlig zerstört. Deswegen wollte ich auch nicht, dass du zu ihr Kontakt aufbaust.“


Lou verstummte und die Stille wurde von ihren Schluchzern erfüllt. Ich hatte sie noch nie so lange weinen gesehen. Instinktiv nahm ich sie in den Arm.
Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass ich mich nicht in Anna verlieben könnte. Schon gar nicht nach dem, was Lou erzählt hätte.
Sogleich überkam mich der Scham. Denn ich liebte eine andere Person…und das war auch nicht viel besser. Ich durfte sie gar nicht lieben. Ich konnte es doch gar nicht. Doch dagegen konnte ich nichts machen, also musste ich es akzeptieren. Es war einfach seltsam und ich hatte es mir nie eingestehen wollen. Doch in dieser Situation mit der weinenden Lou wurde mir bewusst, dass es keinen Sinn mehr machte, davor wegzulaufen.
Ich liebte Lou.
Und dazu musste ich stehen.

25

 

„Lass uns Basketball spielen.“
Überrascht sah Lou von ihrem Handy auf. Zwei Tage zuvor hatte sie mir ihre Geschichte mit Anna erzählt und ich hatte mir seitdem den Kopf darüber zerbrochen, was ich machen könnte, damit es ihr besser ging. In Wahrheit hasste ich Basketball über alles, doch ich wollte so viel Zeit mit Lou verbringen wie nur möglich. Ich wollte vor allem nicht mehr über Anna nachdenken.
Und Lou sollte dies auch nicht tun.
Diese zog eine Augenbraue hoch.
„Kannst du das überhaupt? Ich wette, du würdest wie ein schwerfälliger Elefant auf und ab hüpfen und es am Ende sogar schaffen, dir selbst den Ball mehrere Male an den Kopf zu hauen.“
Lou brach in lautes Gelächter aus.
„Wobei, weißt du überhaupt, was ein Ball ist? Hattest du mal einen in den Händen gehalten? Ein Ball ist so ein rundes Ding, meistens aus Leder, zumindest wenn man von einem Fuß- oder Basketball spricht und man benutzt ihn zum…“
„Ja, verdammt, ich weiß was das ist! Hältst du mich für dumm oder was?“, unterbrach ich sie ärgerlich. Lou zuckte bloß mit den Schultern.
„Ja. Also, inkompetent siehst du auf jeden Fall aus.“
Das war’s dann wohl mit meiner Freundlichkeit. Genervt warf ich mit einem Kissen nach ihr und nahm mein Handy. Ich merkte, wie Lou mich eine Weile anstarrte und schließlich versuchte, mir das Handy aus der Hand zu reißen.
„Komm schon, lass uns gehen.“
„Nee.“
„Ich werde mich auch benehmen. Versprochen. Ach, komm schon. Spiel mit mir Basketball. Bitte. Und hör endlich auf, dir Bilder von Ellen in ihren zu kurzen Kleidern anzuschauen, die sie auf Instagram postet. Also echt, du hast wirklich keinen Geschmack.“
„Aber ich…“
Genervt schüttelte ich den Kopf und machte mein Handy aus. Natürlich habe ich etwas anderes gemacht, doch Lou zu berichtigen machte keinen Sinn. Ich stand auf und ging aus meinem Zimmer, um meine Schuhe und meine Jacke anzuziehen. Normalerweise würde ich Ende Februar niemals freiwillig rausgehen, aber diesmal machte ich eine Ausnahme.
„Ah, ich würde zu gern sehen, wie du beim Spielen total unbeholfen und ungeschickt sein wirst. Ich kann es kaum erwarten.“
Ich drehte mich um und sah Lou finster an.
„Lou, weißt du was?“
„Nee.“
Am liebsten hätte ich ihr dieses Grinsen aus dem Gesicht geschlagen.
„Geh dich einfach vergraben.“
„Nein, geh mehr in die Knie! Verdammt, was machst du da?! Das sieh komplett kacke aus! Was machst du bitte mit deinen Armen? Das kann man nicht Basketball spielen nennen. Selbst ein Team bestehen aus einem Dreijährigem und einer schwangeren Frau wäre besser als zwanzig Versionen von dir.“
„Dann mach es doch besser!“, rief ich verärgert.
Wir waren gerade einmal zwanzig Minuten auf dem Basketballplatz und ich hatte bereits keine Lust mehr. Statt selbst zu spielen, trainierte, beziehungsweise, quälte mich Lou und machte sich über mich lustig. Frustriert warf ich den Ball auf den Boden und er schlug so fest auf dem Boden auf, dass er mir gegen das Kinn sprang und ich zurücktaumelte.
Natürlich lachte Lou mich daraufhin aus.
„Was habe ich dir gesagt? Siehst du, ich hatte recht. Du hast dir mit dem Ball selbst ins Gesicht gehauen. Du bist echt unglaublich.“
Lou ging vor Lachen in die Knie und hielt sich den Bauch. Obwohl ich wütend auf sie war, musste ich lächeln. Ich hatte sie schon wirklich lange nicht mehr so herzhaft lachen hören und mir wurde bewusst, wie sehr ich das vermisst hatte.
Lou grinste mich an und stand wieder auf.
„Gut, ich zeige dir mal, wie das wirklich geht.“
Sie hob den Ball vom Boden auf und fing an zu dribbeln. Dann legte sie los.
Ich konnte die Augen kaum von ihr abwenden. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und schienen vollkommen natürlich zu sein, als würde sie täglich nichts anderes tun. Lou blickte konzentriert nach vorne und schien alles um sich herum zu vergessen. Ich hätte gern gewusst, in welcher Welt sie gerade war. Bestimmt stellte sie sich vor, wieder in ihrer Mannschaft zu spielen und einen Korb nach dem anderen zu erzielen. Schließlich würde sie das Spiel gewinnen und ihre Mannschaft wird zum Sieger ernannt. Ich hätte ihr am liebsten den ganzen Tag zugesehen und ich wünschte mir, dieser Moment würde so lange andauern wie nur möglich.

„Was macht die denn hier?“
„Das ist unser Platz, verzieh dich!“
„Hey, kennst du die?“
„Alter, kann die hexen?!“
Ich drehte mich um und Lou hörte abrupt auf zu spielen. Ich erblickte Julian und einige weitere Jungs, einer von ihnen hielt einen Ball in der Hand.
„Komm, kleine. Geh heim mit deinen Puppen spielen. Das hier ist nichts für dich“, sagte einer der Jungs. Julian grinste mich an.
„Na, Louise? Was machst du denn so ganz allein hier? Auf deinen Freund warten? Oh, warte, ich habe ihn schon echt lange nicht mehr gesehen. Hat bestimmt die Fliege gemacht. Kein Wunder, lange hält man es mit dir eben nicht aus. Also würde ich vorschlagen, du gehst einfach.“
Ich schaute Julian ausdruckslos an.
„He, kennst du die?“, fragte einer seiner Freunde.
Julian rümpfte die Nase. „Ja, leider sind wir Nachbarn.“
„Du kannst ja auch einfach umziehen, ich zwing dich ja nicht hierzubleiben und dich würde sicher auch niemand hier vermissen“, hörte ich mich sagen. Lou stieß einen pfeifenden Ton aus und ich staunte über mich selbst. Seit wann konnte ich so schlagfertig sein?
Julians Gesicht verzerrte sich zu einer wütenden Grimasse.
„Spuckst heute große Töne, was?“
Plötzlich fiel mir etwas auf und ich grinste hinterhältig.
„Ach, Julian. Wo sind denn heute deine Augenbrauen hin? Hast du diesmal vergessen, sie mit dem Filzstift nachzumalen?“
Die Jungs murmelten verwirrt. „Alter, als ob du das echt machst?“, sagte einer und die anderen fingen an, auf ihn einzureden. Julian versuchte natürlich, es zu leugnen. Doch einer der Jungs wurde plötzlich blass und starrte in Lous Richtung.
„Leute, ich will ja nicht die Stimmung vermiesen, aber bin ich der einzige, der gerade einen schwebenden Ball sieht?“
Die anderen hörten sofort auf zu reden und starrten ungläubig zu Lou. Natürlich sahen sie Lou nicht. Doch sogleich kam mir eine Idee und ich grinste Lou an. Sie sah mich verstohlen an und ich wusste genau, dass sie genau das gleiche dachte. Ich streckte meine Arme aus und ahmte Gesten aus Star Wars nach. Lou kam mit dem Ball auf mich zu und die Jungs beobachteten mich ungläubig.
„Das wagst du nicht“, zischte Julian. „Lass das.“
Doch ich hörte nicht auf ihn und machte einfach weiter. Auf einmal schnellte meine Hand nach vorne, sodass sie auf einen Jungen zeigte und Lou warf mit dem Ball nach ihm. Dieser traf ihn im Bauch und augenblicklich krümmte er sich und verzog das Gesicht vor Schmerz.
Die anderen riefen aufgeregt und sahen zwischen mir und dem Jungen hin und her.
„Komm, Julian. Wir gehen woanders hin.“
Gesagt, getan. Die Jungs verzogen sich vom Platz und Lou und ich brachen in lautes Gelächter aus.
„Sein Gesicht war legendär! Ich hätte gern mehr mit ihnen gespielt. Aber sie sind so schnell gegangen. Was für Feiglinge.“
Ich stimmte Lou zu. Es hatte tatsächlich Spaß gemacht, obwohl es gemein war. Doch es war mir ziemlich egal.
Eine Weile schwiegen wir, bis Lou wieder das Wort ergriff.
„Ich wusste nicht, dass du so austeilen kannst.“
Ich seufzte. „Tja, dein Verhalten hat wohl auf mich abgefärbt. Ich verbringe echt zu viel Zeit mit dir.“
Lou grinste selbstgefällig.

Bald waren wir wieder zu Hause und ich ging in mein Zimmer.
„Das müssen wir unbedingt noch mal machen! Du musst auch öfter mal Basketball spielen. Ich werde dich auch persönlich trainieren, wenn du willst. Hey, hörst du mir eigentlich zu?“
„Ja…ja.“
Doch eigentlich war ich mit meinen Gedanken woanders.
Denn auf meinem Tisch lag ein Brief.

26

 

„Oh. Von wem ist der?“
„Mann, Lou, ich weiß es doch selbst nicht. Da steht der Absender nicht drauf.“
„Warum öffnest du ihn nicht einfach?“
Ich starrte den Briefumschlag an, während Lou mir neugierig über die Schulter schaute. Schließlich nahm ich ihn und riss ihn auf. Ich zog zwei Bögen Papier heraus und mir sprang die leicht geneigte Schrift sofort ins Auge. Das Herz wurde mir schwer und ich hatte bereits Tränen in den Augen. Das konnte doch nicht sein. Hastig suchte ich nach dem Ende vom Brief und sah tatsächlich, dass dieser von Elliott kam.
Ich hatte ihn schon so lange nicht mehr gesehen und ihn schrecklich vermisst.
„Na, was für eine Überraschung“, bemerkte Lou.
„Halt die Klappe“, fuhr ich sie an. „Schließlich ist es deine Schuld, dass…“
Ich hielt inne. Tatsächlich war es gar nicht ihre Schuld, dass unsere Freundschaft zerbrochen ist. Wahrscheinlich war es meine Schuld. Dann hätte ich diesen Brief doch gar nicht verdient.
„Ach egal, vergiss es.“
„Na los, lies ihn doch endlich“, forderte Lou ungeduldig. Ich seufzte und drehte den Brief wieder um, sodass ich wieder am Anfang war.
Dann begann ich endlich zu lesen.

 

Liebe Louise,
wie geht es dir, wie geht es deinen Eltern? Ich hoffe, du hast mich nicht zu sehr vermisst, denn du hast tatsächlich schon echt lange nichts mehr von mir gehört. Was natürlich einen Grund hatte, aber bitte denke nicht von mir, ich hätte den Kontakt abgebrochen, weil ich dich nicht mehr mag. Ich kann mir schon vorstellen, wie du dieses Stück Papier mit offenem Mund und einem total verblüfften Blick anstarrst. Ist bestimmt ein sehr lustiger Anblick. Nur zu gern würde ich das jetzt mit ansehen. Doch natürlich geht das leider nicht.
Vielleicht erzähle ich dir erst einmal, was ich so getrieben habe, während wir uns nicht gesehen haben. Genau das haben wir doch immer gemacht, sobald wir uns wieder trafen. Wir haben uns immer gegenseitig erzählt, was in den letzten paar Tagen alles passiert ist, weißt du noch? Ah, ich schwelge gern in Erinnerungen.
Auf jeden Fall muss ich dir erst von meiner Reise nach Japan erzählen. Ich habe recht lange dafür gespart. Genau genommen habe ich direkt nach unserem Urlaub in Island angefangen zu sparen. Leider konnte ich nicht zu lange da bleiben, da Japan verdammt teuer ist. Die drei Tage dort habe ich ausgenutzt wie ich nur konnte. Ich bin immer so gegen sechs aufgestanden und blieb teilweise noch bis zwei Uhr nachts auf, manchmal sogar noch später. Ich hab also kaum Schlaf bekommen, aber ich hatte eine richtig gute Zeit dort.
Es gab viele Tempel, Parks und seltsame Restaurants und noch viel mehr, doch wenn ich alles genau darüber berichten würde, würde der Brief bestimmt zehn Seiten lang werden. Mindestens. Ich habe mir so viele Sehenswürdigkeiten angesehen, wie ich konnte. Ich war auch in Tokio und ich muss sagen, dort leben verdammt viele Menschen. Meiner Meinung nach ist es zu voll dort. Das wäre eher gar nichts für mich. Doch es gab dort so viele Geschäfte voll mit Anime, Manga und Games, das glaubst du nicht. Japan hat außerdem so viele verrückte Produkte und Süßigkeiten und natürlich musste ich mein Geld dafür aus dem Fenster werfen. Als ich wieder zu Hause war, haben mich meine Eltern gefragt, wozu ich das alles brauche, aber für mich war es das total wert.
So viel zu meiner Japanreise. Ich glaube, ich langweile dich mittlerweile schon ein wenig damit. Die Tage gingen einfach zu schnell vorbei und ich erinnere mich gerne immer wieder daran. Doch das ist auch das einzig Gute, das in der letzten Zeit passiert ist.
Die Wahrheit ist, ich vermisse dich. Ich vermisse dich so sehr, dass ich an nichts anderes mehr denken kann. Wie oft musste ich den Impuls unterdrücken, einfach zu dir zu gehen und dich in die Arme zu nehmen? Zu oft. Doch ich weiß genau, dass wenn ich dem Impuls nachgegeben hätte, hätte ich mir nur wehgetan. Denn ich liebe dich immer noch.
Die letzten Monate waren nicht schön. Ich versuchte, meine Erinnerung an dich in Alkohol zu ertränken und ging ständig in irgendwelche Clubs und machte dort Sachen, bloß um mich abzulenken. Glaub mir, ich bin überhaupt nicht stolz drauf.
Mittlerweile geht es mir gut und ich kann ein wenig besser damit umgehen. Also brauchst du dir meinetwegen keine Sorgen zu machen.
Das am letzten Tag unserer Island-Reise tut mir leid. Ich habe kein Problem damit, dass du lesbisch bist. Wahrscheinlich hattest du diesen Eindruck von mir und ich hoffe sehr, dass du mich deswegen nicht hasst. Das Problem ist nur, dass ich mir einfach keine Freundschaft mehr mit dir vorstellen kann. Ich würde wahrscheinlich daran zerbrechen, denn entweder will ich mit dir zusammen sein oder gar nichts. Tut mir leid, diese Formulierung ist etwas unglücklich. Aber ich bin nicht sonderlich gut mit Worten.
Vorher ging ich davon aus, dass du bloß in einen anderen Jungen verliebt warst und da bestand theoretisch für mich die Chance, das zu ändern. Doch in dem Moment, als du mir sagtest, dass du lesbisch bist, wusste ich, dass du dich nie in mich verlieben könntest und das tat echt weh. Ich weiß, dafür kannst du gar nichts.
Bestimmt fragst du dich, warum ich dir gerade jetzt einen Brief schreibe. Einerseits brauchte ich Zeit, um alles zu verarbeiten, daher schreibe ich so spät. Aber eigentlich gibt es noch einen anderen Grund, warum ich dir schreibe.
Demnächst werde ich mit meiner Familie wegziehen. Ich bekomme bald eine kleine Schwester und dafür ist unsere Wohnung nicht groß genug. Deswegen habe ich beschlossen, dir zum Abschluss dieses Kapitels meines Lebens zu schreiben und all das hinter mir zu lassen. Wahrscheinlich sind wir bereits weg, sobald du das liest. Meine neue Adresse habe ich mit Absicht nicht dazugeschrieben.
Das ist bereits alles, was ich dir sagen wollte. Mir tut das alles echt leid, Louise. Ich wollte dir nicht wehtun. Vielleicht können wir uns wiedersehen, wenn wir älter werden und ich darüber hinwegkomme. Mir bleibt nur noch zu sagen, dass du eine gute beste Freundin warst und ich dich sehr vermissen werde. Doch von jetzt an werde ich stark sein und nach vorne blicken. Hoffentlich kannst du das auch.
Ich wünsche dir von Herzen noch ein schönes Leben.
Dein Elliott

 

Eine einzelne Träne kullerte meine Wange hinunter. Dieser Brief hatte mich glücklich gemacht und selbst Lou stand reglos neben mir und kämpfte offensichtlich mit den Tränen. Behutsam strich ich die Papiere glatt und legte sie in eine Schublade, die ich nie benutzte. Passenderweise hatte sie ein Schloss. Ich musste nicht lange suchen, bis ich den passenden Schlüssel in meinem Zimmer fand. Dann schloss ich die Schublade ab und schloss somit auch die Erinnerungen an Elliott in meinem Herzen weg. Elliott war ein guter Mensch. Ich habe ihn als besten Freund geliebt, doch jetzt würde ich nicht mehr wegen ihm weinen.

 

27

 

Und? Gehst du heute in die Schule?“
„Nee.“
Lou und ich saßen auf einer Bank im Park und ich beobachtete die Menschen um mich herum. Es waren hauptsächlich Rentner unterwegs in der glänzenden, verschneiten Gegend. Ich blinzelte der Morgensonne entgegen und mein Atem bildete kleine Wölkchen. Ich war froh, dass es geschneit hat, selbst jetzt, wo bereits Ende Februar war, denn ich liebte Schnee.
Ich drehte den Kopf in Lous Richtung und sah sie an. Ihr Blick war in ihren Schoß gerichtet und sie spielte mit ihren Händen. Sie wirkte nervös, aber auch etwas besorgt.
„Was ist los?“, fragte ich sie. Lou seufzte.
„Ach…weiß nicht“, murmelte sie. Ich rutschte unruhig auf der Bank hin und her.
„Na los, sag jetzt endlich“, forderte ich sie ungeduldig auf und endlich sah sie mich an. Ihre Augen glänzten und blickten tieftraurig drein.
„Ah, weißt du, irgendwie vermisse ich so meine Internetfreundin und meine Eltern…“
„Du hast doch dieselben Eltern wie ich und mit deiner Internetfreundin schreibst du ja. Also, wo ich das Problem?“
„Das mit den Eltern ist etwas anderes. Ich sehe sie zwar jeden Tag, aber es ist nicht dasselbe“, antwortete Lou und sogleich schämte ich mich für meine grauenhafte Ignoranz und Dummheit.
„Und hier kann ich nicht schreiben. Ich hab einfach nirgendwo Empfang oder Internet“, fuhr sie fort.
Verwundert holte ich mein Handy heraus und schaltete den Bildschirm an. Bei mir funktionierte alles normal.
„Vielleicht ist es deswegen, weil du nicht in deiner Welt bist?“, gab ich zu bedenken. Lou zuckte mit den Schultern.
„Schon möglich.“
Mehr sagte sie zwar nicht, aber ich war mir sehr sicher, dass ihr etwas ganz anderes Sorgen bereitete.
„Machst du dir Sorgen wegen Anna?“
„Nein!“, rief Lou etwas zu heftig und wurde sogleich verlegen. Ich schüttelte den Kopf und seufzte.
„Du machst dir ja immer noch Sorgen! Kannst du mir jetzt endlich mal sagen, worüber?!“
„Hab ich doch schon!“
„Aber das ist doch nicht alles gewesen!“
Lou verdrehte die Augen und schaute weg. Es entstand eine Stille zwischen uns, in der ich nur die zwitschernden Vögel und die frostige Kälte wahrnahm. Ich fing an, unerbittlich zu zittern und vergrub mich tiefer in meine Winterjacke. Meine Füße scharrten im Schnee und fingen an, Muster zu malen, die ich selbst nicht verstand. Würde ich noch lange auf eine Antwort warten müssen?
Doch Lou räusperte sich endlich.
„Ich hab das Gefühl, dass etwas Schlechtes passieren wird.“
Ich schlug die Beine übereinander und stützte meinen Ellenbogen auf mein Knie. Mein Kinn legte ich auf meiner Handfläche ab.
„Und was soll das sein?“
„Keine Ahnung.“
„Ach du scheiße.“
Meine Laune sank schließlich auf den absoluten Nullpunkt. Es war unausstehlich kalt und Lou benahm sich völlig seltsam. Langsam hatte ich genug. Ich stand auf und streckte mich. Lou regte sich nicht.
„Also, ich hab keine Lust. Ich geh nach Hause.“
Plötzlich sprang Lou auf.
„Gute Idee. Ich auch.“

„Hey. Mir ist langweilig.“
„Dann mach was.“
„Ich weiß nicht was.“
„Mal was.“
„Kann ich nicht.“
„Wieso?“
„Ich kann nicht malen.“
„Du kannst überhaupt nichts.“
Lou lag auf meinem Bett und wälzte sich hin und her. Ich saß an meinem Schreibtisch und schrieb einige Gedichte auf. Es waren Gedichte, die ich einmal gehört und auswendig gelernt habe, weil ich sie schön fand. Lou hat sich einmal darüber lustig gemacht.
Langsam wurde ich etwas schläfrig. Wie lange schrieb ich schon? Bestimmt mehrere Stunden. Ich schaute kurz auf mein Handy und bemerkte, dass tatsächlich schon zweieinhalb Stunden vergangen sind. Habe ich mir echt so viele Gedichte merken können?
„Lass uns rausgehen.“
Ich stöhnte genervt auf. Was für eine grandiose Idee.
„Und was sollen wir draußen machen? Uns die Ärsche abfrieren, während du mich mit deinen sinnlosen Sorgen volllaberst?“, erwiderte ich mit einem sarkastischen Unterton. Doch Lou grinste mich hinterhältig an.
„Ich habe eine bessere Idee.“
„Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“
Lou hatte sich tatsächlich ein altes Bettlaken von mir geschnappt und hielt es an zwei Enden fest, sodass der Rest im Wind herumflatterte. Sie rannte damit hin und her und stieß mehrere, völlig irre Schreie aus, dass ich tatsächlich daran dachte, sie vielleicht zu einem Arzt zu schleppen. Wahrscheinlich hätte Lou sich mit allen Vieren dagegen gewehrt. Bei der Vorstellung musste ich kichern.
„Mach doch auch mit!“, rief mir Lou zu.
„Das macht voll Spaß.“
„Lieber nicht, sonst gucken die Nachbarn noch komisch. Ich schau einfach zu.“
Lou zuckte mit den Schultern und lief weiterhin hin und her. Ich grinste. Zumindest hatte sie ihren Spaß. Ich setzte mich auf den Bordstein und legte mein Kinn auf meine auf den Knien verschränkten Arme.
Doch ich hätte dies nie tun sollen. Ich hätte aufstehen und Lou mit dem Bettlaken von der Straße holen sollen. Doch was ahnte ich schon? Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass im nächsten Moment ein Auto gerade noch ausweichen können und volle Kanne in eine Hauswand hineinfahren würde?
Natürlich musste der Fahrer das geisterhaft in der Luft schwebende Laken gesehen haben. Ich war schon längst aufgestanden und Lou stand verwirrt in der Gegend herum. Mehrere Nachbarn sind aus ihren Häusern geströmt und redeten aufgeregt durcheinander wie aufgescheuchte Hühner. Manche hielten sich Handys an die Ohren und schon bald war die Straße voll mit Polizisten und Sanitätern. Ich war einfach nur verwirrt. Wer war der Fahrer?
Unter den Menschen konnte ich meine Mutter erkennen. Ihre Mascara war verschmiert wegen den Tränen und einige Leute versuchten, sie zu trösten, aber erfolglos. Schließlich schafften es die Sanitäter, den Fahrer aus dem Wagen zu befördern und auf eine Trage zu legen.
Der Anblick schockte mich.
Auf der Trage lag ein Mann mittleren Alters. Er hatte große, klaffende Wunden und die Augen waren geschlossen. Das Gesicht war aschfahl und er zeigte keine Lebenszeichen. Doch das war nicht einmal das schlimmste.
Der Mann auf der Trage war mein Vater.
„Lou…was hast du getan?“
Nervös saß ich vor dem Raum, in dem mein Vater lag. Neben mir weinte meine Mutter und schien nicht aufhören zu wollen. Im Krankenhaus schienen die Leute alle Hände voll zu tun zu haben, auch um diese Uhrzeit.
Ich umklammerte meine Mutter und versuchte, gegen die immer schlimmer werdenden Bauchschmerzen anzukämpfen. Was, wenn mein Vater es nicht schaffen würde? Ich machte mir solche Sorgen. Er hat seit dem Vorfall im August kein einziges Wort mehr mit mir gewechselt. Er konnte doch nicht einfach von uns gehen. Ich malte mir aus, wie mein Vater erwachte, ich ihm in die Arme springen würde und er alles vom August vergessen hätte. Mein Vater würde mir dann endlich verzeihen und ich werde jeden Tag dankbar dafür sein, dass ich ihn habe.
Nach einer gefühlten Ewigkeit rief uns bereits der Arzt zu sich, um uns über den Zustand meines Vaters zu berichten. Er lächelte zwar, doch dieses Lächeln erreichte nicht seine Augen. Mein Herz sank mir in die Hose und ich bekam ein schlechtes Gefühl.
Der Arzt wandte sich an meine Mutter.
„Es tut uns leid. Wir haben alles getan, was wir für ihn tun konnten. Doch ihr Mann hat es leider nicht geschafft.“
Mir stockte der Atem. Das konnte nicht sein. Meine Mutter weinte immer heftiger und schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich fing an zu weinen und hörte nicht mehr auf.

 

28

 


„Es tut mir leid“, sagte Lou, ohne mich anzusehen.
Es sind nun einige Tage seit der Beerdigung meines Vaters vergangen. Für den Unfall und somit den Tod von meinem Vater fühlt sich Lou verständlicherweise verantwortlich. In einer gewissen Hinsicht war sie das auch. Dennoch war ich überhaupt nicht sauer auf sie und ich hasste sie auch nicht. Ich wusste genau, welche Schuldgefühle sie plagten und ich hatte sogar ein wenig Mitgefühl mit ihr, da sie einfach nicht aufhören konnte, sich zu entschuldigen.
Doch ihre Entschuldigungen holten mir meinen Papa auch nicht zurück.
Ich lag auf dem Bauch auf meinem Bett und starrte ins Leere. Meine Mutter hat mich für ein paar Tage von der Schule freigestellt, was nicht nötig war, denn ich ging sowieso nicht mehr hin. Doch das konnte und durfte sie natürlich nicht wissen.
„Es tut mir echt leid“, kam es erneut von Lou. Ich antwortete ihr nicht mehr. Die Erschöpfung breitete sich in jeder Zelle meines Körpers aus und ich konnte mich kaum noch bewegen. Bald fielen mir die Augen zu und ich nahm meine Umgebung nur noch verschwommen wahr, bevor ich endlich einschlief.
Das Bett senkte sich neben mir und ich schlug die Augen auf. Langsam hob ich den Kopf und blickte in Mamas Gesicht, welches mich traurig anlächelte.
„Hast du gut geschlafen, mein Schatz?“, fragte sie mich liebevoll. Ich rieb mir die Augen.
„Geht so“, murmelte ich. Meine Mutter zog mich sanft in ihre Arme und ich drückte sie an mich.
„Wir werden das gemeinsam durchstehen“, flüsterte sie. „Wir haben einander. Ich hab dich lieb und ich werde dich auf keinen Fall im Stich lassen. Hast du verstanden?“
Ich nickte und der Tonfall meiner Mutter und die Erinnerung an meinen Vater trieben mir erneut Tränen in die Augen.
„Aber Papa hat seit unserem Streit nicht mehr mit mir gesprochen. Er hat mich bestimmt gehasst und ich konnte das nie klären. Und jetzt ist er weg.“
Jetzt konnte ich die Tränen nicht mehr aufhalten. Meine Mutter hielt mich weiterhin fest und strich mir über den Rücken, bis ich mich ausgeweint habe und ich ihr wieder in die Augen sah.
„Dein Vater hat dich nie gehasst. Was auch immer passiert ist, er hat dich immer geliebt und liebt dich immer noch.“
„Woher willst du das wissen?“
„Glaub mir, ich weiß das. Ich erinnere mich so gut an jene Abende, an denen er völlig ratlos war und er nicht wusste, wie er wieder mit dir reden könnte. Ich kann dir sagen, er hat dich genauso sehr vermisst wie du ihn.“
Danach schwiegen wir. Mama blieb noch eine Weile neben mir sitzen, bis sie aufstand, mir einen Kuss auf die Stirn drückte und mein Zimmer verließ. Lou hat sich auf dem Boden zusammengerollt wie eine Katze und schien tief und fest zu schlafen. Ich erinnerte mich wieder an jenen Tag im August, an dem mein Vater und ich uns so sehr gestritten haben, dass wir von da an nicht mehr miteinander geredet haben.

„Komm schon. Du kannst doch nicht immer nur an ihn denken.“
Ich saß auf meinem Bett und hatte mich fest in eine Decke eingewickelt. Meine Haare habe ich nicht gewaschen und gegessen habe ich auch nicht besonders viel. Elliott war nicht mehr da. Wir waren keine Freunde mehr. Es war vorbei. Ich würde ihn nie wiedersehen. Augenblicklich füllten sich meine Augen mit Tränen und Lou sprang auf, um sie mir wegzuwischen.
„Jetzt hast du aber auch genug geheult. Diesen Typen brauchst du nicht.“
„Aber er war mein bester Freund…“
„Keine Widerrede. Du musst etwas machen, damit du nicht mehr so hässlich aussiehst. Unbedingt. Ich kämpfe schon dagegen an, blind zu werden.“
„Halt die Klappe“, erwiderte ich eingeschnappt, musste aber dennoch lachen. So ganz unrecht hatte Lou nämlich nicht.
Ich stieg in die Dusche und ließ das warme Wasser auf mich niederprasseln. Das tat gut. Meine Gedanken setzten aus, ich lauschte einfach nur dem Geräusch und sah zu, wie der Wasserdampf nach und nach die Glasscheibe und den Spiegel bedeckte.
„Bist du endlich mal fertig?!“, rief Lou ungeduldig von draußen. Ich erschrak und wusch mir in Rekordzeit die Haare. Schließlich stieg ich aus der Dusche, trocknete mich ab und zog mich an.
Vor der Tür wartete Lou bereits auf mich und sah mich kritisch an.
„Wie lange brauchst du denn? Ich habe mittlerweile schon vierzehn Rezepte gefunden.“
Ich blinzelte verwirrt.
„Rezepte? Wofür?“
Lou schaute mich mit einem Blick an, als wäre ich das dümmste Wesen auf Erden.
„Wir backen Kekse. Ist doch klar.“
„Lou, ich glaube nicht, dass das richtig sein kann.“
Wir standen schon seit zehn Minuten in der Küche und Lou gab mir die ganze Zeit Anweisungen, was ich zu tun hatte. Ich backte zwar nicht oft, aber trotzdem wusste ich, dass Lous Angaben ziemlich seltsam und unpassend waren.
„Bist du dir sicher, dass hier fünf Löffel Backpulver reinkommen?“
„Mann, kannst du endlich mit dieser dämlichen Fragerei aufhören?! Wenn ich sage, da kommen fünf Löffel Backpulver rein, dann kommen halt auch fünf Pulver Backpulver rein! Was ist so schwer daran, es zu kapieren?“
„Ja, schon gut, reg dich ab.“
Ich fing an, den Teig umzurühren, der langsam dickflüssig wurde. Lou nahm inzwischen die geschmolzene Schokolade vom Herd und gab sie in den Teig hinzu. Wir wollten nämlich Schokokuchen machen.
„Ich glaube, wir brauchen mehr Schokolade.“
Ich starrte Lou perplex an.
„Bist du wahnsinnig?! Wieso das denn?“
„Weil ich es will.“
„Machst du das überhaupt noch nach Rezept.“
„Nö.“
Ich seufzte. Natürlich nicht, es war schließlich Lou. Lou wandte sich von mir ab, um sich das Rezept anzuschauen. Währenddessen probierte ich ein wenig vom Teig und verzog augenblicklich das Gesicht. Es schmeckte noch schlimmer, als ich erwartet hatte.
„Lou, wir müssen das noch mal machen“, sagte ich und Lou drehte sich ruckartig zu mir um.
„Ne, vergiss es.“
„Doch, bitte! Es schmeckt ekelhaft.“
„Tut es nicht.“
„Doch, probier doch mal.“
Lou schritt zu mir und tauchte ihren Finger in die klebrige Masse. Kaum hatte sie probiert, nahm ihr Gesicht einen lustigen Gesichtsausdruck an und ich musste unwillkürlich lachen.
„Das schmeckt nur deswegen scheiße, weil du es gemacht hast. Das kann ich ja zehn Mal besser.“
„Was? Gar nicht! Deine Anweisungen waren sowas von seltsam. Lass mich mal das Rezept sehen.“
Ich ging an Lou vorbei zum Rezeptbuch und erschrak. Lou hatte die Menge von allen Zutaten verfünffacht. Das konnte wohl nicht wahr sein.
„Lou, du bist dumm. Du bist richtig, richtig dumm!“, schrie ich und warf mit meiner Schürze nach ihr. Aber sie lachte nur und klatschte etwas Teig auf einen Löffel, welchen sie dann nach mir warf. Ich wich aus, doch trotzdem landete der Teig auf meinem frisch gewaschenen Haar.
„Ist das dein Ernst? Jetzt darf ich noch einmal duschen gehen“, sagte ich genervt.
Lou zuckte mit den Schultern.
„Tja, Pech für dich.“
Ich verengte meine Augen zu Schlitzen und spannte mich an.
„Dir werde ich es zeigen.“
Lou und ich standen uns in der Küche gegenüber. Ich war bewaffnet mit einer Hand voll mit Teig und in der anderen hielt ich eine Käsereibe. Lou grinste mich schelmisch an und lud auf zwei Bratpfannen einen ordentlichen Haufen Teig. Ich muss sagen, Lou hatte da eine eindeutig bessere Strategie. Es entstand eine angespannte Stille. Wir starrten uns entschlossen in die Augen und Lou war gerade dabei, Luft zu holen. Doch eine aufgebrachte Stimme ließ es nicht dazu kommen.
„Aufhören! Was geht hier vor?!“
Wir erschraken und sahen in die Richtung, aus der die Stimme kam.
In der Tür stand mein Vater und starrte verstört auf die Bratpfannen.

 

29

 


„Louise…was tust du da?“
Der Tonfall meines Vaters war völlig verängstigt und mit zitternder Hand deutete er auf die Bratpfannen. Lou verstand und legte sie eilig auf den Herd.
„Papa, das…das kann ich erklären“, sagte ich etwas kleinlaut.
„Du kannst das also erklären, ja?!“, wütete er.
„Dann kannst du mir sicher auch erklären, mit wem du hier die ganze Zeit redest, ja? Und du kannst mir auch erklären, warum alles hier mit Teig voll ist, warum die Gegenstände hier einfach so in der Luft schwebten und sich selbstständig gemacht haben, ja?“
Mein Vater war jetzt voll in Fahrt.
„Papa, bitte. Hier fliegt gar nichts. Du bildest dir das alles ein. Bestimmt hast du dich überarbeitet.“
„Sag mal, hältst du mich für dumm oder was? Ich habe alles von Anfang an genau beobachtet und ich bin mir sicher, dass ich nicht halluziniere. Das alles hat sich gerade eben einfach so bewegt und du willst mir ernsthaft erklären, dass es nicht so passiert ist?“
Ich senkte den Kopf.
„Es gibt für alles eine logische Erklärung…“
„Die einzige logische Erklärung, die es momentan gibt, ist, dass du besessen bist.“
„Bitte was?“
„Du hast mich verstanden. Du bist besessen oder kannst auf sonst eine andere Art hexen. Louise, ich bin zwar dein Vater, aber…ich will erst einmal nicht mehr mit dir reden.“
Mein Vater wandte den Blick ab.
„Papa, das kannst du doch nicht ernst meinen…“
„Doch.“
„Papa, bitte…“
„Nenn mich nicht so!“
Ich erschrak. Mein Vater hatte mich noch nie angeschrien.
„Ich bin nicht dein Papa. Und du bist nicht mehr meine Tochter. So eine wie dich will ich nicht in meinem Haus haben! Verschwinde und lass mich einfach in Ruhe!“
Meine Hände fingen an zu zittern und mir liefen bereits Tränen über die Wangen.
„Papa, nein…nein! Das meinst du nicht ernst! Bitte! Ich hab dich doch lieb! Ich werde es nie wieder machen, versprochen! Bitte hasse mich nicht! Sag doch endlich was. Papa!“, rief ich verzweifelt. Doch mein Vater drehte sich wortlos um und ging.
Ich blickte zu Lou hinüber. Sie schlief immer noch auf den Boden. Ob es wohl stimmte, was Mama gesagt hat? Ich hoffte es.
Langsam stand ich auf und schaute mich um. Auf meiner Kommode stand ein eingerahmtes Bild von meiner Familie und mir. Ich war da noch klein, bestimmt fünf Jahre alt. Meine Mutter sah so viel jünger aus und mein Vater hielt mich lachend im Arm. Man sah kein einziges graues Haar und seine Gesichtszüge wirkten entspannt und nicht so gestresst wie in der letzten Zeit. Zu der Zeit, als er noch am Leben war.
Sein glücklicher Anblick versetzte mir einen Stich. Wieso konnte er nicht immer so glücklich sein? Warum musste er so früh sterben? Wie gern ich ihn jetzt bei mir hätte. Ich hätte ihm so viel zu sagen. Doch ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte.
Je länger ich das Foto ansah, desto schmerzhafter war für mich die Erinnerung an ihn. Also nahm ich es und legte es mit der Vorderseite auf die Kommode, sodass ich es nicht mehr ansehen musste.
Ich ging in meinem Zimmer auf und ab und überlegte, was ich machen sollte. Ich wollte auf keinen Fall in meinem Zimmer bleiben. Freunde hatte ich nicht, aber alleine sein wollte ich auch nicht. Meine Mutter hatte viel zu tun, deshalb wollte ich sie nicht stören. Ich sah erneut zu Lou und mir kam sofort eine Idee.
„Lou. Wach auf.“
„Mh. Noch fünf Minuten.“
„Nein, nichts da. Du stehst jetzt auf.“
„Nö.“
Ich seufzte.
„Bitte Lou. Tu es für mich.“
„Nö.“
„Gut, dann bleibt mir wohl nur eine Möglichkeit.“
Ich beugte mich zu Lou hinüber und fing an, sie zu kitzeln. Schallendes Gelächter erfüllte den Raum und allein Lou lachen zu hören verbesserte meine Laune sofort.
„Komm schon, hör auf! Ist ja gut, ich bin wach! Was willst du?“
Ich ließ von ihr ab und Lou setzte sich nach Atem ringend auf. Sie sah mich so genervt an, dass ich wieder lachen musste.
„Also, was willst du? Was ist so wichtig, dass du mich unbedingt aus meinem Schönheitsschlaf reißen musstest?“
„Der hätte dir doch eh nichts gebracht“, erwiderte ich, wodurch ich einen wütenden Blick erntete.
„Ich wollte mit dir rausgehen.“
Lou sah mich verwundert an.
„Das ist alles? Einfach nur rausgehen und die Zeit totschlagen?“
Ich nickte. Eigentlich war das nicht alles, denn ich wollte mehr, als bloß die Zeit totzuschlagen. Doch das konnte ich ihr nicht sagen. Noch nicht. Lou erhob sich und grinste mich an.
„Na, dann los.“
Ich nickte und wir stürmten nach unten, um unsere Jacken anzuziehen. Bevor wir gingen, verabschiedete ich mich schnell von meiner Mutter.
„Aber sei um sechs zu Hause“, sagte sie.
„Mach ich.“
Wir gingen hinaus und Lou atmete erleichtert aus. Sie war anscheinend genauso froh wie ich, dem engen Zimmer entkommen zu sein. Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und sah nach der Uhrzeit. Uns blieben ungefähr vier Stunden.
Doch dann fiel mir etwas auf.
Mein Handy zeigte mir auch den Tag an. Ich las: „Montag, 06. März.“
Es war mein Geburtstag und sowohl meine Mutter, als auch Lou und ich hatten ihn völlig vergessen.
„Hey, Lou. Alles Gute zum Geburtstag!“
„Hä?“
Ich lachte über ihren verwirrten Gesichtsausdruck.
„Sechster März, schon vergessen?“
Sofort hellte sich ihre Miene auf.
„Ah, stimmt! Wie konnte ich das nur vergessen? Dir auch alles Gute!“
Ich lachte und Lou stimmte ein Geburtstagslied an, was ich freudig mitsang. Wir gingen zum Park und Lou krähte vergnügt ein paar weitere Lieder und obwohl ihre Stimme grauenhaft war, genoss ich es, ihr zuzuhören.
Ich kaufte uns Eis und wir gingen zum Wald. Auf dem Weg dorthin erzählte Lou von den Reisen, die sie mit ihren Eltern gemacht hat und ich wurde richtig neidisch, weil ich mit meinen Eltern so gut wie nie verreiste. Da sah man, wie unterschiedlich unsere Welten tatsächlich sein konnten. Natürlich erfreute Lou sich an meinem neidischen Gesichtsausdruck und zog mich damit auf. Wir lachten und alberten herum, bis wir im Wald ankamen. Unser Eis war bereits aufgegessen und wir verbrachten die Zeit damit, im Wald herumzurennen und über Wurzeln und umgestürzte Bäume zu springen. Bald waren wir über und über mit Gras, Staub und Dreck bedeckt, dass wir uns nur ansehen mussten, um einen Lachanfall zu bekommen. Langsam wurde es etwas kühler und unsere schweißnassen Klamotten klebten an unseren Körpern. Lou und ich sahen einen kleinen Bach und setzten uns ans Ufer.
Eine Zeit lang sagte keiner etwas, doch das war mir recht so. Ich war völlig müde und ausgelaugt, aber seit langem wieder richtig glücklich. Lou hatte sich die Schuhe und Socken ausgezogen und hatte ihre Füße in den Bach gelegt und ich schaute der Sonne entgegen, die sich hinter den Baumwipfeln versteckte.
„Sag mal, bist du denn nicht sauer auf mich?“, brach Lou die Stille.
„Wieso?“, fragte ich verwundert.
„Naja, wegen deinem Vater…“
„Das ist nicht deine Schuld. Ich bin überhaupt nicht sauer. Du konntest es doch nicht wissen.“
„Aber…“
„Kein aber. Hör auf, darüber nachzudenken, okay?“
„Aber…“
„Versprich es mir“, forderte ich.
Lou schwieg kurz. Schließlich nickte sie und legte ihren Kopf auf meine Schulter.
„Aber warum bist du denn nicht sauer? Warum hasst du mich nicht?“
Ich holte tief Luft. Der Moment war gekommen. Nur darauf habe ich gewartet.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und schloss die Augen. Ich würde es jetzt endlich sagen.

 

30

 

„Ich bin nicht sauer auf dich, weil ich dich liebe.“


Lou schreckte hoch und starrte mich an.
„Was?“, hauchte sie ungläubig.
Ich wurde rot und senkte beschämt den Kopf. Vielleicht hätte ich es doch lassen sollen. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Ich habe mich in dich verliebt, Lou.“
Eine Zeit lang war es komplett still. Die Blätter raschelten und der Wind zerzauste mir das Haar. Ich hielt den Atem an und wartete darauf, dass Lou etwas sagte. Lou wandte den Blick ab und schaute in die Ferne. Endlich fing Lou an zu reden. Doch es war nicht das, was ich mir erhofft habe.
„Weißt du, es gibt da eine Sache, die du wissen musst.“
Ich schaute Lou von der Seite an.
„Eigentlich wusste ich die ganze Zeit, wie ich in meine eigene Welt zurückkonnte.“
Das kam überraschend.
„Was? Wieso warst du dann die ganze Zeit hier?“
„Das will ich dir jetzt erklären. Vor einigen Jahren habe ich erfahren, dass ich zwischen meiner und deiner Welt hin und her springen kann. Ich war ziemlich oft hier und habe dich immer beobachtet. Du hast mich nie gesehen, da ich mich immer versteckt habe. Ich habe ziemlich schnell bemerkt, dass mich die anderen Menschen nicht sehen konnten. Doch ich wusste nicht, was die Konsequenzen waren, wenn ich mich hier aufhielt. Das Schicksal hat vorbestimmt, was in unseren Leben passieren wird, auch wenn es nicht immer ganz fair ist. Doch ich ahnte nicht, dass ich die Ereignisse verzögerte, wenn ich mich in deiner Welt befand. Früher lief alles zeitgleich ab. Wenn du an einem Tag Deutsch geschrieben hast, habe ich das am selben Tag auch gemacht. Wenn du an einem Tag im Schwimmbad warst, war ich das auch. Ich glaube, du verstehst, was ich meine. Doch mit der Zeit verzögerte sich alles. Als ich in meiner Welt mein Handy verloren habe, hast du es erst zwei Tage später als ich verloren. Das hat mich echt gewundert. Doch mir war das egal, denn ich habe dich trotzdem immer wieder besucht. Vor einem Jahr habe ich genau dasselbe durchlebt wie du dieses Jahr. Es war die reinste Hölle und mich lässt diese Zeit noch heute nicht los. Damit du dies nicht auch durchmachen musstest, bin ich in deine Welt gereist und dann hast du mich kennen gelernt. Ich habe dir die Lüge aufgetischt, dass ich keine Ahnung habe, wie ich zurückkomme, damit du mich nicht fortschickst. Und jetzt sind wir hier. Ich weiß, du glaubst, ich hätte dir dein Leben mit Absicht zur Hölle gemacht. Doch glaub mir, ich wollte nur das Beste für dich. Ich habe Janine dein Gedicht nur in den Spind geworfen, damit sie dich hasst und du so schnell wie möglich von ihr wegkommst. Doch ich konnte nicht ahnen, dass es so weit kommen würde. Julian habe ich nur verstört, weil er ein manipulativer Idiot ist. Ich wollte von Anfang an nicht, dass du dich mit Elliott anfreundest, da du ihm nur wehgetan hättest. Aber das ließ sich wohl nicht vermeiden. Valentin ist schwer in Ordnung, aber eben ein Feigling. Das habe ich tatsächlich nur in dieser Welt herausgefunden. Anna war…nun ja. Das habe ich dir erzählt. Zumindest auf sie hast du dich nicht eingelassen. Das mit deinem Vater war keine Absicht. Es tut mit total leid.
Dennoch, alles, was ich getan habe, hat dir nur wehgetan und ich kann es nicht wiedergutmachen. Ich wollte dir nur helfen, habe aber versagt. Nicht nur das, du hast dich jetzt auch noch in mich verliebt. Das war alles nicht geplant. Das Schicksal kann man wohl nicht umgehen, egal was man tut. Es tut mir so leid.“
Lou vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und ihr Körper wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt. Ich legte ihr einen Arm um die Schultern und zog sie an mich. Zum Glück ließ sie es zu.
Langsam begann ich alles zu begreifen und ihr Verhalten in der Vergangenheit war für mich nicht mehr schleierhaft. Ich hatte irgendwann einfach angenommen, sie hätte zwei Persönlichkeiten; eine gemeine und skrupellose und eine fürsorgliche Persönlichkeit. Dabei wollte sie mir nur helfen mit ihren Gemeinheiten und sorgte sich gleichzeitig um mich. Hört sich etwas paradox an.
Die Sticheleien gehörten aber wahrscheinlich einfach zu ihrem Charakter.

Schließlich hörte Lou auf zu weinen und wir erhoben uns, um nach Hause zu gehen. Es war schon fast sechs.
Wir gingen aus dem Wald hinaus und verließen den Park. Die Straßen waren seltsamerweise menschenleer. Schließlich kamen wir vor meinem Haus an. Doch statt hinein zu gehen, blieben wir stehen.
„Ich will noch nicht rein“, sagte Lou. „Du?“
„Auch nicht“, erwiderte ich.
„Aber weißt du“, fing ich an und Lou wandte sich mir zu.
„So ganz schlimm ist es auch nicht, dass du hier bist. Ich mag deine Gesellschaft und du bist sowieso immer bei mir. Also hält ich ja eigentlich nichts davon ab, für immer bei mir zu bleiben, oder? Und wenn du doch deine Familie und deine Internetfreundin vermisst, kannst du ja sowieso zwischen den Welten hin und her hüpfen, oder?“
Ich lächelte Lou an, doch sie lächelte nicht zurück.
„Das geht nicht“, wisperte sie.
„Wie jetzt?“
„Ich kann hier nicht bleiben. Ich glaube, ich gehe jetzt.“
„Was? Wohin?“
„Nach Hause. In meine Welt.“
Lou drehte sich um und wandte sich zum Gehen.
„Warte, bitte! Du kommst doch wieder, oder?“
Lou sah mich über die Schulter hinweg an.
„Nein, tut mir leid. Lebe wohl.“
„Lou, bitte! Überleg es dir!“
Endlich blieb Lou stehen und drehte sich zu mir um. Die untergehende Sonne warf ein warmes, orangenes Licht auf ihre Haut und ihre Haare gingen mit dem Wind mit.
„Weißt du, ich glaube, wir sollten von hier an unsere eigenen Wege gehen. Es wird niemandem geholfen, wenn ich hierbleibe. Du hast gesehen, wie die Menschen in Wirklichkeit sein können. Du hast gesehen, wie krank und falsch diese Welt und wie unfair das Leben ist. Meine Welt ist nicht besser, aber wir müssen alle lernen, damit umzugehen.
Du warst für mich wie eine Freundin und ich mochte dich sehr. Die Zeit mit dir war schön und ich bin froh, dass ich dich kennen lernen konnte. Danke für alles.
Leb wohl, Louise.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging.
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Ihre letzten Worte hallten in meinem Kopf nach.
„Leb wohl, Louise. Leb wohl, Louise. Leb wohl. Louise. Louise.“
Louise.
Sie hat meinen Namen gesagt. Ich habe ihn seit einem Jahr nicht mehr aus ihrem Mund gehört. Er klang so schön, wenn sie ihn aussprach. Ich wünschte, ich könnte sie dazu bringen, ihn noch einmal zu sagen.
Ich erwachte aus meiner Starre. Panisch suchte ich die Straße ab, doch sie war leer.
Ich fing an zu rennen. Ich rannte und rannte und ignorierte das Brennen in meinen Lungen. Ich ignorierte meine müden Beine, die nicht mehr laufen wollten. Ich rannte einfach weiter. Ich wollte Lou finden. Ich musste sie finden.
„Lou! Wo bist du?“, rief ich. Natürlich erhielt ich keine Antwort.
„Bitte, sag mir, wo du bist! Zeig dich endlich! Komm zu mir zurück! Bitte! Ich brauche dich! Verlass mich nicht! Ich flehe dich an, komm zu mir zurück!“, schrie ich.
„Wenn du hier weiter so rumbrüllst, rufe ich die Polizei!“, rief ein wütender Nachbar, aber ich achtete nicht auf ihn.
Ich lief immer weiter, bis ich vor Erschöpfung zusammenbrach. Die Tränen liefen mir in Strömen die Wangen hinunter. Ich habe zu viel geweint. Zu viel gelitten. Ich hatte keine Kraft mehr. Lou hatte mich kaputtgemacht, doch trotzdem konnte ich nicht ohne sie.
Ich lag hilflos auf dem kalten Asphalt. Allein und zurückgelassen. Mein Handy vibrierte. Wahrscheinlich machte meine Mutter sich Sorgen, weil ich nicht zurückgekommen war. Doch ich hatte keine Kraft mehr. Ich konnte nur noch atmen.


„Lou, bitte…komm zu mir zurück.“

 

Epilog

 

Viele Jahrhunderte später

 

Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und senke den Kopf. Die Ältesten nicken und fangen an zu murmeln. Es hat mich viel Kraft gekostet, meine Geschichte zu erzählen, damit der Prozess durchgeführt werden kann und die Schuldigen verurteilt werden können.
Ich bin schon lange tot. So lange, dass ich aufgehört habe zu zählen, wie alt meine Seele ist. Hier im Jenseits herrschen völlig andere Gesetze und Regeln als auf der Erde und ich kann damit viel besser leben.
„Nun gut, Louise“, sagt die älteste Seele.
„Der Rat hat entschlossen, dich auswählen zu lassen, welche Strafe die Schuldigen erleiden müssen. Denn nur du allein kannst wissen, wie viel Leid sie dir angetan haben und nur du kannst entscheiden, wie viel sie dafür bezahlen müssen. Wir überlassen es jetzt ganz dir.“
Ich nickte und schaue in die Runde.
An harte Stühle gekettet sitzen die Seelen von Janine, Elliott und Lou. Durch sie musste ich die schlimmsten Zeiten durchmachen. Alle drei starren mit leerem Blick vor sich hin. Es ist unerträglich, sie anzusehen.
Als erstes blicke ich zu Elliott. Im Grunde hat er nichts Schlimmes gemacht, denn Elliott ist ein von Grund auf guter Mensch.
„Lasst Elliott frei“, verlange ich.
Die Ältesten verziehen keine Miene und sogleich brechen die Ketten auf. Elliotts Blick klärt sich und er sieht mich mit einem dankbaren und warmen Blick an, bevor er verschwindet.
Als nächstes sehe ich zu Janine.
Sie war ein grauenhafter Mensch, aber dennoch bringe ich es nicht über mich, ihr etwas anzutun. Im Laufe der Jahre hat sie sich zum Guten verändert, also sage ich: „Lasst auch Janine frei.“
Die Ältesten blicken mich etwas ungläubig an, doch die Ketten zerfallen und auch Janine erwacht aus ihrer Starre. Sie sieht mich etwas verwirrt an, doch dann bringt sie ein zaghaftes Lächeln zustande und verschwindet ebenfalls.
Jetzt sehe ich Lou an, sage aber nichts. Ich gleite langsam auf sie zu.
„Lou“, sage ich, doch sie reagiert nicht.
Ich lege einen Finger unter ihr Kinn und hebe es hoch, sodass sie mich ansieht. Ich hasse es, wie sie mich mit diesen emotionslosen Augen ansieht.
„Lou, hörst du mich?“, sage ich, doch sie antwortet nicht. Ich seufze.
„Wie auch immer.“
Ich ziehe den Finger zurück und ihr Kinn sackt auf ihre Brust. Dann drehe ich mich um und schaue sie über die Schulter hinweg an.
„Weißt du, ich habe dich geliebt. Doch du hast mein Leben zerstört.“

Danksagung

Ich möchte allen danken, die sich die Zeit genommen haben, dieses Buch zu lesen! Doch ganz besonders möchte ich mich bei meiner Freundin Anja dafür bedanken, dass sie dieses Buch während der Bearbeitung gelesen und mich auf Fehler hingewiesen hat. Danke auch dafür, dass du mir einige Ideen gegeben hast. Ohne die wäre mein Buch bestimmt nur halb so interessant gewesen. 

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass dies ein fiktives Werk ist und alle vorkommenden Namen nichts mit Personen aus dem echten Leben zu tun haben. 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.04.2018

Alle Rechte vorbehalten

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