Es gibt keine, wirklich keine Stadt, die verdorbener, lasterhafter und ungerechter ist. Mein Vater hat einmal gesagt, dass sich unter dem heutigen Straßenbelag, unter dem alleine schon dreckigen Teer, eine Schlacke befindet, die aus Jahrhunderten von Unrat gepresst wurde. Verdichtet zu der Essenz der Schlechtigkeit.
Diese Schicht bildet das Fundament der Stadt. Meine Stilettos klappern spitz darüber, ultra hohe Absätze, und beim Gehen kommt mir die Erzählung meines Vaters in den Sinn. Ich bin froh, dass ich diese Straßen nur minimal berühre. Die Straßen von London.
Heute ist ein normaler Abend. Ich bin ins Hotel Marriott beordert worden; dort wartet der Umschlag auf mich. Er ist das Wichtigste, der Grund, warum ich diesen Job mache. Der Kunde ist ein classic. Ich unterteile die Männer in vier Kategorien: strange, pervert, first timer und classic. Er hat mich für zwei Stunden gebucht. Das bedeutet Abendessen im Restaurant und dann nach oben aufs Zimmer gehen – für die Nachspeise, um die es eigentlich geht.
Ich ziehe meinen Mantel enger. Überhaupt ist der Sommer ein Witz aus Wind und Regen, ich würde ja auch lachen, wenn mir die Tropfen nicht direkt ins Gesicht peitschen würden. Der Taxifahrer hat mir Mitleid zugelächelt, als er mich an der Ecke Mayfair absetzte. Ich gab ihm für die Gefühlsinvestition drei Pfund Trinkgeld. Wird sowieso eingerechnet, der Kunde zahlt immer die Anfahrt. Sobald es vorbei ist, muss ich alleine nach Hause kommen. Wie beim Handwerker. Und Handwerkerin bin ich.
Das Hotel besitzt ein 5-Sterne-Restaurant, aber gerade deswegen muss ich vorsichtig sein. Mein persönlicher Paragraph 75: Nicht auffallen! Wenn eine exzellent gekleidete Dame in einem Hotelfoyer erscheint (ich trage die Haare hochgesteckt, dazu ein schwarzes Kostüm mit silbrig glänzenden Seidenstrümpfen), dann darf sie nie stehen bleiben. Warum sollte sie auch, wenn sie zum Dinner erwartet wird oder selbst ein Zimmer belegt? Nur ein Callgirl bliebe stehen. Deshalb gehe ich zielgerichtet durchs Foyer und orientiere mich unauffällig.
Links vorne die Rezeption, seitlich daneben geht es zu den Aufzügen. Mein Kopf dreht sich fast unmerklich, da habe ich den richtigen Weg entdeckt. Eine Doppelglastür führt mich über beigen Teppichboden tiefer ins Hotel. Das Restaurant ist nicht zur Straße ausgerichtet, das kommt mir zupass.
Waiting to be seated. Ich melde mich beim Platzkellner an. Diese Herren tragen häufig die Nase hoch, very british, und tun geschäftig. Ich fühle kurz in meinen Blazer, dort habe ich für Notfälle zehn Pfund Bestechungsgeld. Notwendig war es noch nie.
Ich atme auf, als der Kellner kühl aber höflich nickt. Schnell nenne ich ihm den Namen, unter dem der Tisch für heute Abend reserviert wurde. Mein Tischgast sei schon eingetroffen.
Jetzt folgen bange Sekunden: Wie alt wird er sein? Ist er gepflegt? Hat er Mundgeruch? Gutes Aussehen ist mir egal, ich muss ja nur einen Abend mit ihm verbringen. Ich halte mich dicht hinter dem Kellner und lege mein Willkommenslächeln auf. Der Kunde erwartet eine charmante Begrüßung, damit beginnt die Illusion, für die er viel Geld bezahlt.
Das Restaurant ist gut gefüllt, von überall hört man das leise, fast zärtliche Klimpern von Besteck. Ich seufze innerlich auf, als wir am Tisch ankommen. »Hallo, Liebling«, begrüße ich die mir unbekannte Person. »Es tut mir leid, dass ich zu spät bin. In der Firma brauchten sie noch wichtige Unterlagen.« Alles gelogen und im Preis inbegriffen.
Schnell nehme ich Platz und schaue auf mein Gegenüber. Ich schätze ihn auf Mitte vierzig, leichter Grauschimmer an den Schläfen, Maßanzug und sauber rasiertes Kinn. Gut betuchter Geschäftsmann. Der Abend dürfte keine Probleme bereithalten.
Er lächelt schmallippig und räuspert sich. Vollkommen normal: Der Kunde ist anfangs immer nervös. Er muss erst warm werden und sich auf die Illusion einlassen, dass ich seine Geliebte sei.
Hautkontakt ist jetzt das Wichtigste. Ich lege meine perfekt manikürten Finger auf seine Hand. ›Jetzt komm schon. Entspann dich. Du bezahlst dafür, Süßer!‹, sage ich in Gedanken.
Ermutigt blickt der Mann zum Kellner. »Bringen Sie mir einen gut gekühlten Chardonnay und für … dich?« ›Na, geht doch!‹ Ich zeige ihm meine frisch gebleachte Zahnreihe: »Für mich dasselbe, Liebling.« Ich bestelle immer das Gleiche wie der Kunde. Außer es ist harter Alkohol, der ist Tabu – schließlich bin ich im Dienst!
Hotelrestaurants haben ein eigenes Flair. Es ist eine Mischung aus privatem Wohnzimmer und Bahnhofshalle. Fast alle Gäste sind auch Zimmereigner. Sie sind einfach zu faul, abends auszugehen. Somit ist es wie eine erweiterte Hotelsuite. Businessleute, Touristen, kaum Kinder, absolut gar keine Frauen ohne Begleitung. Das spielt mir in die Karten. Niemand verdächtigt mich, nicht dazuzugehören.
»Bist du gut hierhergekommen?«, tastet er vor. Oh je, da muss ich nachhelfen.
»Aber ja. Und in Wirklichkeit bin ich zu spät, weil ich mich für dich zurechtmachen musste …« Meine Worte zeigen sofort Wirkung.
»Hat man dir gesagt, was ich gerne habe?« Seine Augen beginnen zu glänzen.
Keine Ahnung, die Agentur hatte nichts erwähnt. Trotzdem nicke ich: »Das werden wir nach dem Essen in Ruhe besprechen.« Ich schürze die Lippen. »Ich gehe mir kurz die Nase pudern … bis der Wein kommt … hast du etwas, was du mir mitgeben wolltest?«
Das ist der Wink mit dem Zaunpfahl. Viele Kunden vergessen am Anfang den Umschlag. Aber dies ist mein persönlicher Paragraph 3: Pay first, then you eat. Es ist nicht so, dass ich den Männern misstraue. Eine spätere Übergabe ist nur ein Stimmungskiller par excellence. Wer will schon ohne Kleider über Geld sprechen? Eben! Also möglichst gleich das Thema erledigen.
Ich stehe auf und blinzele ihm mit künstlichen Wimpern zu. Endlich fällt bei ihm der Groschen und er greift in sein Jackett. Der Umschlag wandert unauffällig in meine hungrige Handtasche. Ich werfe ihm eine Kusshand zu und verschwinde.
In der Toilettenkabine kann ich in Ruhe den Betrag kontrollieren. Fünfzig Prozent gehören mir, den Rest muss ich morgen auf das Konto meines Chefs einzahlen. Meistens maile ich noch der Agentur, dass alles okay sei. Nachdem die Förmlichkeiten erledigt sind, stelle ich mich vor den Spiegel, ziehe mit einem Konturstift den Mund nach und lege frischen Lipgloss auf. Glänzende, verheißungsvolle Lippen. Ein classic denkt während des ganzen Essens an den zu erwartenden Blowjob. Da bin ich mir sicher. Deshalb widme ich meinem Mund die größte Aufmerksamkeit.
Als ich wieder zum Tisch komme, steht der Wein schon an meinem Platz. Er reicht mir strahlend die Speisekarte. »Du ziehst die Blicke der Gäste scharenweise an!«, seufzt er.
»Dankeschön. Aber ich bin nur für dich da, die anderen haben keine Chance.« ›Zumindest heute Abend nicht, Süßer.‹
»Dein Name war …?«
»Heaven.« Der Name ist Programm, ist doch klar.
»Heaven«, seine Stimme ist begeistert, »ich bin Marc.«
Bist du nicht. Wie alle übrigen Marcs, die mich gebucht haben, auch nicht. Das gehört zum Spiel. Kein Mann nennt seinen wahren Namen. Ich ebenso nicht, aber das weiß er.
Wir stoßen an. Er bestellt ein Entrecôte mit Beilage, und ich schließe mich an. Jetzt ist Small Talk an der Reihe. Ich spiele mit den Fingern am Glasstiel und schenke ihm einen gekonnten Augenaufschlag. »Bist du geschäftlich in der City?«
Er sprudelt sofort los, erleichtert, dass wir ein Thema haben: »Ich bin Fond Manager, war gestern noch in Dubai, heute Abend erst eingeflogen. Morgen wird ein stressiger Tag in unserer Londoner Filiale, ich muss die neue Bilanz vorstellen, oh Mann, ich will gar nicht dran denken. Da dachte ich, dass ich mir ein wenig Entspannung verdient habe!« Er zwinkert mir zu und leert den Rest des Glases in einem Zug.
»Eine gute Entscheidung«, sage ich lächelnd. »Du bist bei mir in besten Händen.« Meine handwerklichen – oder besser: mundwerklichen – Fähigkeiten werden von der Agentur gerühmt! Um dies zu unterstreichen, tupfe ich meine Lippen und benetze sie wieder mit Wein. Gerade so viel, dass mir etwas davon in die Mundwinkel läuft. Diese zarte Andeutung bringt die meisten Kunden auf Siedetemperatur
Auch ›Marc‹ scheint langsam Hunger zu bekommen. Auf den Nachtisch natürlich. Er beschleunigt die Arbeit von Messer und Gabel. Ich merke, er will keine unnötige Zeit verschwenden. Die Uhr tickt, so ist das nun mal in meinem Gewerbe. Auch ich esse jetzt schneller. Nichts ist ärgerlicher, als den Kunden warten zu lassen. Wir plaudern noch über das Wetter, den chronisch verstopften Verkehr und die überteuerten Minicab-Taxen.
Als er das Besteck zusammenlegt, führe auch ich die letzte Gabel zum Mund. Natürlich muss er aus Höflichkeit nach einem Digestif, einem Espresso oder Dessert fragen. Und natürlich lehne ich ab. Alles Weitere wird auf dem Zimmer serviert.
Ich erhebe mich vorsichtig, angele meine Handtasche und hake mich unter den wartenden Arm. Das Essen wird automatisch auf seiner Kreditkarte verbucht. Inklusive prozentualem Trinkgeld.
Während wir zu den Aufzügen schlendern, plappere ich ihn voll. Irgendetwas von einer Freundin, deren Hund und wie sich beide auf der Rolltreppe von Harrods beinahe stranguliert hätten. Das ist wichtig, um das Hotelpersonal nicht misstrauisch werden zu lassen.
Im Aufzug gibt es zwei Varianten: Ist er leer, darf er mir an den Hintern greifen. Ist er voll, dann halte ich Abstand und quassele einfach weiter.
Marc hat kein Glück. Zwei Japaner, korpulent und mit identischen Brillengestellen, glotzen mich während der Fahrt an. Ahnen sie etwas? Eigentlich bin ich eine unverdächtige Erscheinung. Zwar bestens gestylt aber business konform.
Die Kunden bevorzugen nämlich Natürlichkeit, die Frau von nebenan, mit der sie auch ins Theater gehen könnten (aber nie gehen). Ich bin eine niveauvolle Begleitung, eine Edel-Escort. Ungeschminkt würde ich als Kindergärtnerin durchgehen: milchig blasse Haut und blonde dünne Strähnen. Dazu bin ich so groß wie ein Standventilator. Ich brauche bei einer Buchung mindestens eine Stunde, um mich für den Auftrag aufzuhübschen.
Das Aufzugsdisplay zeigt das oberste Stockwerk. Lautlos rollen die Türen zur Seite. Er führt mich in einen dämmrig beleuchteten Flur und hält vor einer zweiflügeligen Tür. Eine Suite. Nicht schlecht. Da gibt es meist einen Whirlpool im Bad, der von Kunden gern für eine Entspannungsmassage genutzt wird. Ich merke mir die Zimmernummer und folge ihm nach.
Wenn wir das Zimmer betreten, ist es, als schritten wir durch eine Schleuse. Der Kunde verhält sich sofort anders. War er vorher noch um Höflichkeit bemüht, geht es jetzt um sein Geld. Er hat mich gekauft und möchte nun den Gegenwert für seine Investition sehen.
Ich schreite durch den großzügigen Raum, setze mich auf das Kingsize-Bett und ziehe die Schuhe aus. Der Mann ist angespannt, das spüre ich. Er hat sich mit der Hüfte an den TV-Tisch gelehnt und spielt mit der Fernbedienung. Ich will die Atmosphäre lockern: »Wollen wir erst einen Piccolo aus der Minibar trinken?« Meine Stimme soll einschmeichelnd sein, aber ich sehe, dass er überhaupt nicht zuhört. Seine Augen springen nervös zu meinen bestrumpften Beinen, dann zu meinem Ausschnitt und wieder zurück. Er bewertet mich.
»Was machst du alles?«, schießt er hervor.
Ich versuche, Zeit zu gewinnen. Irgendetwas fühlt sich nicht richtig an. Der Mann steht wie unter Strom. Er fährt sich durch die Haare und nestelt an seiner Krawatte. »Na komm, sag schon. Was darf ich mit dir machen?«
»Möchtest du mich ausziehen?«, schlage ich vor. Ich muss seine aufgestaute Energie kanalisieren. Vielleicht wird er dadurch ruhiger.
Er tritt zu mir und schaut auf mich herab. »Lass die Bluse an, zieh nur untenrum alles aus. Ich will, dass es nach einer spontanen Nummer im Büro aussieht.«
Folgsam rolle ich die schönen Strümpfe von den Knien, da korrigiert er erneut. »Die Strümpfe anlassen. Auch die Schuhe. Nur den Slip runter.«
Ich nicke und greife mir unter den Rock, um mein Höschen auszuziehen. Aus Prinzip trage ich ausschließlich teure Dessous. Das kleine Stoffstück ist ein Kunstwerk aus rotem Satin mit aufwendiger Spitze um den Bund und niedlichen seitlichen Schleifen. Doch das beachtet er gar nicht. Der Mann stolziert im Zimmer umher, als würde er angestrengt nachdenken. Ich stehe mit luftigem Schritt bereit und schaue ihm zu.
»Jetzt hab ich’s«, ruft er auflachend. »Ich bin dein Chef! Und du bist die junge Sekretärin, die eine Festplatte gehimmelt hat – da war unser Jahresabschluss drauf, eine Katastrophe!«
Ein Rollenspiel. Nicht ungewöhnlich, aber kein classic mehr. Ich stufe ihn neu ein: ein strange. Jetzt gilt es, ohne Umschweife in seine Fantasie einzusteigen, damit es rasch zum Eigentlichen kommt. Rollenspiele können sich ziehen. Einen Traum, den er schon tausend Mal beim Einschlafen durchexerziert hat – mit der Hand in der Hose – kann schnell anstrengend werden.
Ich gebe die naive Empfangsdame mit Dackelblick und tänzele auf ihn zu: »Dann … komme ich in dein Büro. Ich erwarte die Abmahnung.« Flehend blicke ich zu ihm auf. »Oh bitte, bitte feuern Sie mich nicht, mein attraktiver Chef!«
Sein Gesicht verzieht sich zu einer Fratze. »Halts Maul, du miese Schlampe! Du hast um gar nichts zu bitten. Du hast deine Arbeit zu machen.«
Ich stocke irritiert. Gehört das noch zum Spiel? Das Glitzern in seinen Augen macht mir Angst. Er scheint meine Unsicherheit zu fühlen. Ein eigentümliches Lächeln huscht über seine Lippen. »Wenn du nicht zu normaler Arbeit zu gebrauchen bist … musst du es mit anderen Qualitäten eben wettmachen!«
»Wie kann ich den Fehler wiedergutmachen?«, sage ich demütig und senke den Kopf. Ich höre, wie er den Reißverschluss seiner Hose öffnet. »Konzentrier dich auf die Arbeit, die du am besten kannst. Geh auf die Knie. Mach den Mund auf.«
Ich befolge seine Anweisungen. ›Es ist ein Job, nur ein verdammter Job‹, denke ich, als ich vor ihm niedersinke. Er zieht sich ein Kondom über (ohne geht bei mir gar nichts, das wird von der Agentur schon vorher geklärt). Dann schiebt er mir alles, was er hat, in den Mund. Er will keine Zungenfertigkeiten, er will nur in mich dringen, soweit wie möglich. Als ich würge und zurückzucke, fängt er zu lachen an. »Du wirst es dir nächstes Mal überlegen, bevor du unerlaubt an meinen Computer gehst!« Er schiebt wieder nach, dass ich husten muss. Speichel fließt mir übers Kinn hinab. Der Würgereiz ist unerträglich, aber das scheint ihn anzustacheln.
Meine Hand hält ihn zurück. »Wenn du das weitertreibst, kotze ich dir auf den teuren Anzug«, sage ich entschieden. Er tut enttäuscht. »Ich dachte, in deiner Preislage wäre ein Deep Throat locker drin.«
Ich komme auf die Beine. »Vielleicht bei guter Vorbereitung und langsamen Vorgehen, aber nicht nach einem Dinner, Süßer.«
Er wirkt wie ein Junge, dem man das Weihnachtsgeschenk abgenommen hat. Was für ein erbärmlicher Mensch! ›Es ist ein Job, nur ein verdammter Job‹, hallt es in meinem Kopf.
Seine Stimme klingt beleidigt, als er sich hin und her wendet – dabei ragt es immer noch aus seinem Hosenschlitz. Einfach nur lächerlich. »Dann …, dann …« Er blickt suchend durch den Raum, der Fahnenmast schwingt seinem Blick hinterher. »Dann beug dich über den Tisch neben dem Fernseher. Und halt den Rock hoch!«
Gehorsam gehe ich in Position und zucke zusammen, als er mir grob zwischen die Schenkel greift. Seine Finger erkunden mich, aber nicht vorsichtig, sondern besitzergreifend. »Du miese Schlampe«, fällt er wieder in seine Rolle. »Das ist deine dreckige, kleine …«
»Aufhören!«, rufe ich dazwischen. Das geht zu weit und in die falsche Richtung. Doch er deutet dies als Teil des Spiels. »Du leistest Widerstand? Vor deinem Chef?« Seine Hände krallen sich in meine Hinterbacken. »Mach die Beine breit!«, kommandiert er.
Ich folge, weil er ohne Geschlechtsverkehr nicht nach Hause gehen wird. Auch hier verhält er sich wie ein Tier. Er nimmt mich und legt ein heftiges Tempo vor. Mein Bauch schabt schmerzhaft an der Tischkante.
»Du verdorbenes Miststück, jetzt geb ich dir, was du verdienst!« Er stöhnt und grunzt und ich falle mitein: »Oh, Sie gemeiner Chef … oh, Sie können mich doch hier im Büro nicht … oh, ah, ah, ja, ja.« So in der Art jedenfalls.
Es scheint ihm zu gefallen, denn er steigert noch mal die Bewegung. Ich komme mir vor wie ein Betonrüttler. Das wird wieder einige blaue Flecken geben. Kurz bevor er am Ziel ist, hält er inne – und zieht sich aus mir zurück. Ich weiß natürlich sofort, was das bedeutet.
Schon erschallt sein Befehl: »Dreh dich um. Geh auf die Knie, schnell! Nun mach, ich bin gleich soweit!«
Ich tue wie geheißen. Als ich sehe, dass er den Gummi abstreift, schließe ich vorsorglich die Augen. Dann bekomme ich alles ins Gesicht. Viele Männer wollen diesen Abschluss. Es ist ein Macht-Ding, eine Demütigung, die mir jedes Mal bis ins Herz sticht. Ich bin für ihn kein ebenbürtiger Mensch, ich bin eine Nutte, die man beschmutzen darf – vielleicht sogar beschmutzen muss, um von der eigenen Erbärmlichkeit abzulenken. Zumindest hat er nun seine Munition verschossen.
Schweigend stehe ich auf und verschwinde im Bad. Als ich zurückkomme – die Haare wieder perfekt gestylt – liegt er entspannt auf dem Bett.
»Du warst echt erste Sahne, Baby«, begrüßt er mich gönnerhaft.
Ich schwanke leicht. Bei seinem selbstherrlichen Anblick wird mir speiübel. Trotzdem ringe ich mir ein Lächeln ab. »Mir hat es auch gefallen«, lüge ich ihm ins Gesicht.
Wir haben noch Zeit, deshalb muss ich mich zu ihm legen. Sein Blick geht verträumt an die Decke. »Das hat richtig gutgetan. Wenn du wüsstest, wie oft mich mein Chef schon rund gemacht hat. Und seine Sekretärin hat sogar ein wenig Ähnlichkeit mit dir!« Er grinst mich von der Seite an.
»Dafür bin ich da, mein Süßer.«
»Natürlich bist du viel heißer als sie.«
»Dankeschön. Du bist aber auch ein heißer Mann.« Wie dick kann man auftragen, ohne dass es komisch klingt? Antwort: unendlich dick. Dann kommt die Mutter aller Freier-Fragen: »Wieso machst du das eigentlich? Du könntest doch jeden Mann haben.«
Und ich gebe die Mutter aller Callgirl-Antworten: »Weil ich einfach Spaß daran habe, mein Süßer!« – und lenke geschickt auf ein anderes Thema.
Warum ich es wirklich mache? So genau weiß ich das nicht mehr. Angefangen hat es mit meinem Traum vom Jurastudium. Meine Eltern kommen aus dem Norden, aus Newcastle. Sie waren von Anfang an dagegen, dass ich ins teure London ziehe. Aber ich war ein Dickkopf. Knocking on hard wood. Wenn ich mir einmal etwas da hinein gesetzt hatte, konnte mich nichts davon abbringen.
Neben dem Studium sollten mich diverse Büroarbeiten über Wasser halten. Ich hatte sogar einen Freund. Einen ganz lieben mit Wangengrübchen. Leider flatterten immer mehr Rechnungen ins Haus – und ich flatterte nach einem Streit aus der Wohnung meines Freundes. Zuviel Geflatter für ein armes Mädchen, das plötzlich auf der Straße stand.
Ich wollte aber auf keinen Fall zurück; ich wollte vor meinem Vater nicht zugeben, dass ich gescheitert war. Eines Tages las ich die Anzeige unserer Agentur: ›Nebenjob für Studentinnen, freie Zeiteinteilung, 50 % Cash‹. Am nächsten Morgen saß ich in dem kleinen schmuddeligen Büro am Themseufer …
Die zwei Stunden sind zu Ende. Ich mache mich fertig zum Gehen und gebe meinen obligatorischen Abschiedskuss auf die Wange. »Es hat mir gut gefallen. Vielleicht sieht man sich wieder?«
Ich werde ihn nie mehr wiedersehen. In der Agentur kann ich angeben, wenn mir ein Kunde nicht zusagt. Er wird dann automatisch für mich geblockt: Heaven ist krank, unpässlich, hat gerade einen Kunden, ob man nicht eine andere Dame in Betracht ziehen könnte? Ich bin fast immer ausgebucht (bis zu drei Termine die Woche, mehr ist ungesund) und kann mir das leisten.
Als ich kurz darauf vor dem Hotel stehe, kommt mir der Regen wie ein zärtlicher Mantel vor, der mich umhüllt und in dem ich ertrinken will. Vor Scham und vor Demütigung. Keine Frau kann sich daran gewöhnen, benutzt zu werden.
Ich winke ein schwarzes Cab heran. Der Fahrer schenkt mir einen vielsagenden Blick, als ob er wüsste, was mir widerfahren ist. Ich rolle mich auf der Rückbank zusammen und zische ihm meine Adresse zu. Wir fahren durch die Bond Street, vorbei an Luxusboutiquen und prächtigen Stadtvillen, dem Aushängeschild Londons. Doch das sind nur Fassaden. Längst kann ich dahinter sehen. Und das, was ich sehe, höhlt meine Seele aus.
Ich sehne mich nach dem kleinen Mädchen, das im Auto der Eltern den Kopf aus dem Fenster hielt, und sich an den vorüberfliegenden Bäumen schwindlig sah. Aber ich kann nicht mehr zurück. Meine Eltern würden es nicht verkraften.
Im Schein der Straßenlaternen sehe ich dem Regen zu. Meine Kehle wird trocken und ich kurbele das Fenster herunter. Ich will hören, wie es auf die Straße prasselt. Auf die Schlacke, den Unrat, die jahrhundertealte Schicht, deren Teil ich geworden bin.
Lautlos laufen die Tränen über meine Wangen.
London ist im Sommer ungenießbar. Es ist von Touristen überflutet. Die Sandalen besohlten Deutschen, die breit gesichtigen US-Boys, die laut parlierenden Spanier – keiner würde mich buchen. Ich bin für die Masse zu teuer. In der allgemeinen Urlaubszeit ist für mich Flaute. Die Einwohner meines Landes zieht es an die Küste, nach Brighton, oder sie fliegen gleich auf den Kontinent, ans Mittelmeer.
Ich habe mir nach dem Arschloch-Kunden ein paar Tage Auszeit genommen und liege auf meiner kleinen Dachterrasse (eher ein Dachausstieg, alles andere ist auch für mich unbezahlbar), die Beine ausgestreckt auf dem Geländer und höre alte Klassiker. Nat King Cole, Aretha Franklin, Miles Davis. Dazu Bourbon on the Rocks. Nicht sehr mädchenhaft aber mit Stil.
Plötzlich reißt mich das Telefon aus den Träumen. Der Liegestuhl kippt gefährlich, als ich mich zu dem Tischchen strecke, auf dem das rechteckige Ding fast einen Herzanfall bekommt. Natürlich die Agentur.
»Heaven, ich hab einen dicken Fisch. Hättest du Lust, den Köder zu geben?« Mein Chef klingt immer leicht schmierig, als hätte er noch einen Löffel Erdnussbutter zwischen den Zähnen.
»Was für ein Kunde?« Wir halten uns nicht mit Begrüßungsformeln auf. Zeit ist Geld, so sieht das auch die Agentur.
»Ein Zwei-Stunden-Date, nichts Außergewöhnliches. Noch heute.«
Er lässt die Stimme oben, als wollte er noch etwas sagen. Ich lausche in den Apparat.
»Nur …«
»Spuck es aus.«
»Er will sich mit dir etwas später treffen.«
»Später heißt?«, hake ich nach. Mittlerweile habe ich meine Beine wieder entknotet und sitze rittlings auf dem Stuhl.
»Sehr viel später. Zwei Uhr morgens.«
»Wie bitte? Was will er denn mitten in der Nacht? Ist er Schlafwandler?«
»Du weißt doch Heaven, der Kunde ist König, wir stellen keine Fragen.«
»Gib ihm ein anderes Mädchen. Ich muss mich erholen. Mein Bauch hat immer noch Schrammen …«
Mein Chef lacht nur und faselt etwas von Berufsrisiko. Er bleibt hartnäckig: »Heaven, er besteht darauf, er will nur dich. Er zahlt Nachtzuschlag. Das Doppelte!«
Jetzt werde ich hellhörig. Nicht des Geldes wegen, aber ich bin wie eine neugierige Katze. Ich muss wissen, was es mit dem Kunden auf sich hat.
»Dann … also gut, ich mach den Termin. Ich weiß nur nicht, ob der Herr viel von mir haben wird. Ich werde total übermüdet sein.«
»Ich wusste, dass du mich nicht hängen lässt, Kleine. Bist meine Lieblingsangestellte!« Er gibt mir die Adresse. Es ist kein Hotel. Es klingt eher wie ein Pub und befindet sich in der Nähe von Covent Garden, dem Künstlerviertel. Ich lebe seit Jahren in London, aber diesen Namen habe ich noch nie gehört.
»Ach, Heaven?«
»Was?«
»Er hat ein Erkennungszeichen angegeben.«
Ich schweige laut ein Fragezeichen.
»Er … er wird eine Sonnenbrille tragen.«
Ich pruste das Display voll. Das ist nicht mehr strange. Das ist eine neue Kategorie. Stupid nenne ich sie einfach. Dümmer als um zwei Uhr morgens mit Sonnengläsern herumzulaufen, geht es wohl nicht.
Mein Wecker klingelt mich um Mitternacht aus dem Schlaf. Ich springe unter die Dusche und trockne mich gründlich mit einem flauschigen Handtuch ab. Dann geht es an die lästige Prozedur: Wachsen und Rasieren. Kein Härchen darf übrig bleiben, der Kunde möchte die Beine glatt und die Intimzone weich wie einen Pfirsich. Mein Kapital, also mein Körper, wird daraufhin mit Rosenöl eingerieben. Ich dufte frisch und lieblich, ich könnte mich selbst aufessen.
Meine Haare wollen einen frechen Seitenscheitel, den ich mit einer kleinen Spange fixiere. Ich grinse mir im Spiegel zu. ›Mach mich zu einem heißen Feger!‹, flüstert mein Gegenüber. »Ich arbeite daran«, gebe ich geschäftig zurück.
Unterwäsche für heute Nacht: ein Traum aus weißer Spitze, leicht durchsichtig, dazu halterlose Strümpfe. Obendrüber kommt ein rotes Satinkleid, das über meinen Knien endet. Ein schneller Blick auf die Uhr. Eine halbe Stunde habe ich für die Anfahrt ausgerechnet – das Minicab-Taxi ist schon bestellt – dazu eine Viertelstunde als Sicherheit. Es ist Eins, also muss Heaven in die Hufe kommen.
Es fehlt noch die Kriegsbemalung. Meine unreine Haut wird unter einer Foundation versteckt und zusätzlich gepudert. Meine Wimpern machen mit künstlicher Hilfe jedes Kamel neidisch. Viel Kajal und Smokey Eyes. Als Lippenfarbe wähle ich ›Red Riot‹, ein knallendes Rot, und male mir einen Kussmund. Dann atme ich tief durch.
Jetzt bin ich bewaffnet und fühle mich sicher. Kein Mann kann unter diese Panzerung dringen. Er erblickt nur eine selbstbewusste Escort-Dame, die bis zu zweihundert Pfund für den Abend nimmt.
Ich schlüpfe in passende Lack-Stilettos und fingere aus der Handtasche den Wohnungsschlüssel. Unten wartet schon das Taxi.
Die Adresse gehört zu einem heruntergekommenen Häuserblock gegenüber dem Touristen-Flohmarkt Covent Market. Ich schaue dreimal in mein Handy und erkundige mich nochmals beim Taxifahrer. Doch er nickt nur genervt. Ein paar Pfund extra heitern seine Miene sofort wieder auf. Mit quietschenden Reifen macht er kehrt und lässt mich mitten in der Nacht auf der einsamen Straße zurück.
Vorsichtigen Schrittes nähere ich mich dem maroden Gebäude. ›Meat & Buns‹ heißt unser Treffpunkt, doch weder ein Restaurant noch ein Pub ist meilenweit zu sehen. Da entdecke ich einen dunklen Seiteneingang, in dem eine Treppe abwärts führt. Plötzlich höre ich auch leise Musik. Eine Dive Bar! Diese untergeschossigen Lokale sind ein Relikt aus den Sechzigern, als man die Keller der Häuser zu verrauchten Kaschemmen ausbaute.
Unten empfängt mich ein düsteres Lokal. Alles ist furchtbar eng. In der Mitte stehen viele kleine Tische, auf denen sich Teelichter im Besteck spiegeln. Der Laden ist gut besucht, es wirkt wie ein geheimer Treffpunkt, ein Rückzugsort für Leute, die sich vor der Nacht verstecken. Und ich sehe noch etwas: Keiner der Anwesenden ist in Ausgehgarderobe. Ich leuchte wie ein Pfau in einer Taubenkolonie.
Wieso bestellt mich der Kunde zu so später (oder früher) Stunde in diesen Schuppen? Als sich die ersten Köpfe drehen, suche ich schnell nach einem Platz. Hinter einem muskulösen Dschingis Kahn und einer abgetakelten Opernsängerin – so wirken die beiden zumindest auf mich – finde ich einen Tisch und lasse ich mich nieder. Aber keiner schenkt mir Beachtung.
Sobald ich meine Tasche abgestellt habe, wird mir im Vorbeifliegen eine Karte unter die Nase gelegt. Meine Augen forschen durch den Raum. Erst links, dann rechts. Keine Sonnenbrille! Ich lache in mich hinein: ›Eine Fehlbuchung, war ja eigentlich klar!‹
Persönlicher Paragraph 22: Die Ausnahme gehört zur Regel! Es kommt nicht oft vor, dass ich einen Korb erhalte, aber es gibt durchaus Kunden, die kalte Füße bekommen oder denen der Kitzel, einen Escort-Service engagiert zu haben, schon ausreicht. Meist melden sie sich kurz nach dem Termin bei der Agentur und sagen unter fadenscheinigen Gründen ab: Die Ehefrau ist krank, der Flieger verspätet, vor der Haustür ist die Straße gesperrt, weil … weil gerade Aliens zu einem Einkaufsbummel in London gelandet sind. So in der Art jedenfalls, es spielt auch keine wirkliche Rolle. Ich sitze gerne um zwei Uhr morgens in einer Kneipe herum! Ist meine Lieblingsbeschäftigung! Meine Laune sinkt im Minutentakt.
Die Essensdüfte wecken meinen Magen auf. Überall auf den Tischen stehen Schälchen mit appetitlich portionierten Kleinigkeiten. Dazu gibt es würfelförmige Miniaturherde, die glühende Steine bergen. Mein Bauch überstimmt mich: Wenn ich ihn schon zu unchristlicher Zeit mitschleife, will er wenigstens seinen Spaß haben.
Ich nehme mir die Speisekarte. Seufzend lese ich laut vor mich hin: »Korean Fried Wings …«
»Das würde ich nicht bestellen«, kommt es über meine Schulter.
Als ich den Kopf herumreiße, sehe ich hinter mir einen jungen Mann, vielleicht Anfang dreißig. Er hat eine Frisur wie ein Dirigent, die Strähnen ragen wild nach allen Seiten, nur dass die Haare nicht weiß, sondern haselnussbraun sind. Stahlblaue Augen funkeln mich an und um sein Kinn spielt ein bübisches Lächeln. Meine Vermutung: verwöhnter Langzeit-Student aus reichem Elternhaus. Diese Typen konnte ich noch nie ausstehen.
»Ich bin mir nicht sicher«, sage ich und drehe mich ganz zu ihm. »Aber ich könnte wetten, dass ich Sie nicht nach Ihrer Meinung fragte.«
»Sie haben zu laut gedacht. Da musste ich Sie warnen.«
Sein rauchiger Akzent lässt ihn reifer wirken als er aussieht. Er beugt sich zu mir. »Die Spezialität des Hauses sind die Buns, sie werden an Stäbchen über den Tischherden flambiert.« Er deutet auf die tumben Gefäße mit den Glühsteinen. Mein Blick gleitet an seinen Finger entlang und ich erschauere.
Ich hatte schon immer ein Faible für schöne Männerhände. Aber was ich hier unter die Augen bekomme, grenzt an Perfektion. Schmale Glieder und ein kräftiger Handrücken, auf dem blassblaue Äderchen schimmern. Die Hand eines Gottes. Wer hat die an einen solchen Schnösel geklebt?
Er nimmt seinen Rucksack und setzt sich mir gegenüber. »Ähm«, gebe ich Laut. »Ich erwarte noch einen Gast, eine Verabredung.«
Er setzt sich, ohne eine Miene zu verziehen. Na super, jetzt kann ich den Sonnenbrillen-Kunden abhaken! Es kommt nicht gut, wenn ich mich vor einem Termin mit anderen Männern unterhalte.
»Ach so.« Der Dirigenten-Student scheint sich zu besinnen. Mit seinen Götterhänden hebt er den Rucksack auf den Schoß und kramt darin herum. Dann legt er eine Sonnenbrille auf den Tisch. »Ich habe sie nur mitgenommen.« Er grinst wieder spitzbübisch. »Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden. Nur ein Idiot würde nachts eine Sonnenbrille tragen.«
Mir fehlen die Worte. Und das passiert selten. Es ist mein Kunde! Und ich habe ihn gleich zu Anfang schnippisch abgefertigt. Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder sauer sein soll. Ich entscheide mich für die Schnittmenge und tue diplomatisch: »Das war nicht fair.«
Er nickt lässig und winkt dem Personal. »Ich werde es wiedergutmachen. Sogleich.« Eine asiatische Kellnerin nähert sich freudestrahlend und hält ihm ihr Ohr hin. Er flüstert nur wenige Worte, aber die Kleine zerfließt fast und eilt von dannen.
»Sie scheinen ein Stammgast zu sein?« Ich hebe eine Braue.
»Sagen wir: Ich mag dieses Restaurant. Es hilft mir, mich zu entspannen.«
Er faltet seine Hände ineinander (ich seufze lautlos) und schenkt mir einen Blick, der mir bis ins Mark dringt. »Ich freue mich sehr, dass Sie die Mühe auf sich genommen haben, mich heute zu begleiten.«
›Begleitung‹ – dieses Schlüsselwort versetzt mich sofort wieder in den Berufsmodus. Natürlich hat er mich als Begleitservice gebucht und erwartet professionellen Smalltalk.
»Und mich freut es, dass ich einen attraktiven Mann kennenlernen darf«, säusele ich. »Ihre Frisur ist … extravagant.«
»So bin ich aus dem Bett aufgestanden.«
Ich lache wie ein Vöglein, um Zeit zu gewinnen. »Ein Mann mit Humor, ich liebe es!«
»Das war ernst gemeint.«
Ich atme tief ein, um meine Gedanken zu ordnen. Neuer Versuch: »Sie haben bestimmt einen interessanten Beruf.«
»Ich habe noch nicht einmal eine Ausbildung.«
»Ein Studium?«
»Und ich habe die Schule abgebrochen.«
Der Mann macht mich fertig. »Dann … haben Sie eine Aura, die mich ganz in Ihren Bann …«
Seine feingliedrige Hand winkt ab. »Können wir diese Art der Unterhaltung jetzt beenden?«
Er seufzt und schenkt mir einen bittenden Blick. Ich fahre mir durch eine Strähne und blinzele irritiert. »Ich … ich entschuldige mich … ich wollte nicht indiskret … die meisten Männer lieben es, über ihren Beruf …«
»Ich spiele ein wenig Klavier.«
»Ah … ah so«, stottere ich.
»Am Wochenende gebe ich eine Kostprobe. Vor ein paar Leuten. Sie sind gerne eingeladen …«, er kneift eines seiner eisblauen Augen zusammen, » … Heaven. So heißen Sie doch?«
»Ja, so lasse ich mich nennen«, kommt es aus mir. Dieser Mann bringt mich total aus dem Konzept. Je länger er mich ansieht, desto nervöser werde ich. Obwohl er ein Bubenlächeln hat, strahlt er absolute Selbstsicherheit aus. Und da ist noch etwas anderes, etwas, was tief hinter seinen Augen begraben liegt. Aber ich komme nicht dazu, es zu entdecken.
»Also … Heaven.« Er schmunzelt vielsagend. »Warum stoßen wir nicht auf den jungen Morgen an?« In diesem Moment wird mir von der Seite ein kleines Glas hingestellt. Es ist mit flüssigem Bernstein gefüllt und am Rand mit einer dicken Zuckerkruste verziert. Er hält ebenfalls eines in der Hand und prostet mir zu. »Ich heiße Aleksandrej.« Er lächelt schief: »Wirklich.«
Der Drink schmeckt himmlisch. Nach Lagerfeuer unter klarem Sternenhimmel. Ich reiße mich zusammen. »Also gut, Alexander …«
»Aleksandrej.« Seine Finger spielen mit dem Pfefferspender. Es ist ein Genuss, ihnen einfach nur zuzusehen.
»Alek - san -drej«, spreche ich nach. »Sie spielen Klavier und lieben es, zu Unzeiten essen zu gehen. Ich würde gerne mehr über Sie erfahren.«
»Und ich würde gerne wissen, was Sie zu essen gedenken.«
»Ich richte mich ganz nach Ihnen.«
»Das darf ich nicht akzeptieren.«
»Empfehlen Sie mir etwas aus der Karte.«
Er nimmt das angeknickte Faltblatt in die Hand, aber irgendetwas stimmt nicht. Seine Augen springen ständig hin und her, als folgten sie einer aufgeregten Fliege. Zum ersten Mal sehe ich ihn unsicher werden. Schließlich trifft mich sein kristallklarer Blick. »Machen Sie mir die Freude und wählen Sie für mich. Ich kenne sowieso alle Gerichte.« Es ist keine Bitte, es ist eher eine unumstößliche Feststellung. Die freundliche Asiatin steht schon neben mir. Ich wähle ein Fleischgericht, die Buns und mehrere Beilagen.
Sofort ist er erleichtert. In meinem Kopf gehe ich meine Kategorien durch. Strange? Eher very strange bis crazy. Der Mensch bleibt mir rätselhaft. Im ganzen Durcheinander hätte ich das Wichtigste vergessen. Ich räuspere mich und schenke ihm mein süßestes Lächeln: »Ich gehe mir kurz die Nase pudern. Gibt es etwas, was Sie mir mitgeben wollten?«
Keine Reaktion.
Ich klimpere mit den Wimpern, aber er schenkt mir nur einen fragenden Blick. Langsam werde ich ungeduldig. »Haben Sie noch etwas für mich?«, helfe ich nach.
»Nicht, dass ich wüsste …«, antwortet er irritiert.
Ich beuge mich weit über den Tisch. »Ich meine den Umschlag.«
»Einen Umschlag?«
»Das Ge-schäf-tli-che«, buchstabiere ich jede Silbe. Mein Gott, wie kann man so auf der Leitung stehen!
»Oh, Geschäftliches regelt mein Manager.«
Ich muss trocken kichern. Ich stelle mir vor, mit seinem ›Manager‹ den Vertrag auszuhandeln. ›Schauen wir mal: Blowjob à fünf Minuten, danach einmal Doggy Style mit Happy Ending, macht 200 Pfund, sind wir im Geschäft?‹ Ich schüttele die obskuren Gedanken aus meinem Kopf und lege eine ernste Miene auf.
»Okay, es tut mir leid, wenn die Agentur das nicht geklärt hat: Ich bestehe auf Barzahlung. Im Voraus.«
Er scheint ehrlich überrascht. Dann bekommen seine Augen ein Leuchten. Er stützt die Ellenbogen auf und faltet seine wohlgeformten Hände. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, raunt er mir zu. »Ich habe heute kein Bargeld bei mir, aber ich besitze etwas Wertvolles, das ich als Pfand hinterlegen könnte.«
Das ist mir auch noch nicht passiert. Bin ich ein Pfandleihhaus? Die Rolex für einen Quickie? Er scheint zu merken, wie mein Gesicht immer länger wird.
»Warten Sie bitte. Ich trage es immer mit mir. Es ist zu kostbar, um es aus der Hand zu geben.« Er widmet sich wieder seinem Rucksack. Die Arme wühlen, dann stocken sie mitten in der Bewegung. Ein schwarzes Kästchen erblickt das Licht. Seine feingliedrigen Finger balancieren es zu mir und platzieren es genau in meine Hände. »Bitte, seien Sie vorsichtig.«
Ich öffne die Schatulle. Ein Brillantring? Eine antike Münze? Eine naturgewachsene Perle? Meine Hand zieht ein Stück Metall heraus. Es sieht nicht wertvoll aus. Zwei kleine Stäbe, die sich halbrund verbinden und dort in einen einzelnen Steg münden. Ich habe so etwas noch nie gesehen.
»Eine Stimmgabel«, klärt er mich auf. »Von meiner Mutter. Sie hat damit eigenhändig ihr Piano gestimmt.« Er nimmt sie mir aus der Hand. »Passen Sie auf.« Er schlägt mit der Gabel gegen die Tischkante und berührt dann mit dem Ende des Steges den Tisch.
Ich höre einen klaren, dunklen Ton. »Das ist der Kammerton A«, kommt es feierlich.
»Ich bin mächtig beeindruckt«, gluckse ich. »Aber ich weiß immer noch nicht, wie Sie mich bezahlen wollen.«
»Diese Stimmgabel ist äußerst kostbar.«
»Das sehe ich leider nicht so.«
Er legt den Kopf schräg. »Sie verstehen nicht. Sie ist für mich eine Kostbarkeit. Unersetzlich. Für alle anderen ist sie nur ein Stück Metall.«
Ich kann mich seinen Augen nicht entziehen. Graublau wie ein gefrorener Wintersee. Es liegt etwas Schwermütiges in ihrem Leuchten. Eine Melancholie, kühl und zugleich voll lodernder Wärme. Je länger wir uns ansehen, desto mehr entdecke ich. Da ist ein Schmerz, den er versteckt. Ganz tief unter dem schimmernden Eis liegt etwas begraben, aber es ist nur ein Schatten, der im nächsten Moment verschwunden ist.
»Werden Sie mein Angebot annehmen?« Seine Stimme klingt jetzt rauer und fremder als zuvor. Ich kann ihr nicht widerstehen. Meine Neugierde auf diesen Menschen brennt lichterloh und nichts kann sie löschen. Wie ferngesteuert nicke ich und verstaue das Pfand in meiner Tasche.
Das Essen kommt. Verschiedene kleine Schalen, aus denen es köstlich duftet. Als Besteck werden Stäbchen gereicht. Dazu trinken wir einen trockenen Wein. »Darf ich Sie einweisen?«, fragt er lächelnd. »Ich zeige Ihnen, wie Sie die Buns über dem Feuer erhitzen, ohne dass sie verkohlen.« Er gibt mir Hilfestellung und lacht dabei, weil ich mich ungeschickt anstelle. Seine Hände sind angenehm kühl und fühlen sich genauso an, wie sie aussehen: göttlich.
Als ich den Dreh heraus habe, begegnen sich wieder unsere Augen. »Erzählen Sie aus Ihrem Leben«, fordert er mich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 06.12.2017
ISBN: 978-3-7438-4495-7
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