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Der Junge, der sich in der Tür irrt

Das gleichmäßige Piepen des EKGs gehört zu meinem Zimmer wie das Ticken einer alten Standuhr. Ich habe mir das Betthaupt aufstellen lassen, sodass ich sitzend in meinem Lieblingsbuch lesen kann. Nur der Schlauch zu der Braunüle in der Hand stört beim Umblättern. 

Ein Fenster muss immer gekippt bleiben, egal wie kalt es wird, das habe ich bei den Schwestern durchgesetzt. Momentan regnet es draußen, es regnet schon die ganzen sechs Wochen, seit ich hier eingeliefert wurde. An Tagen, wo es mir gut geht, habe ich mich mal aus dem Fenster gebeugt, um sicher zu gehen, dass es nicht eine Sprinkleranlage ist, die außen an der Fassade befestigt für die unaufhörliche Beregnung sorgt. Auf solche Gedanken kommt man eben, wenn man hier rumliegt.  

 

Meine Mutter besucht mich täglich, und immer ist ihr Mascara von Tränen verschmiert. Ich tue so, als sähe ich es nicht, und sie tut so, als läge ich hier, um eine Blinddarm-OP auszukurieren. Ich bin jetzt fünfzehn und sie könnte mit mir wie mit einem erwachsenen Menschen umgehen, aber sie sieht in mir immer noch das Kind, als ob mich dies vor meinem Schicksal bewahren könnte. Mutterlogik eben. Meine Mitschüler kommen nicht mehr, weil gerade Sommerferien sind. Dort, wo auch immer sie jetzt chillen. Bei mir: Regen-Flat und dunkle Wolken im Gratis-Abo. Und bald wieder eine OP.

 

Ich schaue gar nicht mehr auf, als es aus Höflichkeit klopft und im gleichen Moment die Tür aufgeht.
»Oh, Entschuldigung. Ich dachte, du wärst meine Mutter.« 

Ich blättere bewusst langsam um, aber die Tür wird nicht geschlossen. Ich fixiere trotzig die Buchstaben vor mir. Es ist eine Jungenstimme gewesen. Dunkler als die meiner Klassenkameraden. 

Ich stelle mir vor, dass es der Frontsänger meiner abgeliebten Boygroup ist. Man darf sich ja auch mal etwas wünschen, so kurz vor dem Abkratzen. 

Kein Geräusch. Er scheint genauso hartnäckig zu sein wie ich. Endlich gebe ich auf und drehe genervt den Kopf.  

 

Er ist mindestens einen Kopf größer als ich und dick. Seine Haare sind ein Totalschaden. Und auch noch Brille. 

»Was?«, platzt es aus mir heraus. »Seh’ ich so aus wie deine Mutter?« 

»Nein.« 

»Dankeschön auf Wiedersehn!« 

Ich ziehe die Bettdecke etwas höher über meinen Schlafanzug und stecke meinen Kopf wieder ins Buch. Er macht keine Anstalten, zu gehen. Ein Räuspern: »Hast du heute noch Zeit?« Seine Stimme tastet.

Ich linse wieder zu ihm hinüber. Er trägt ein schickes blaues Hemd mit Hummerkragen, stone washed Jeans und gutes Schuhwerk. 

»Bin heute lei - der schon ausgebucht.« Ich ziehe den Satz in die Länge, um ihm noch mehr Sarkasmus einzuhauchen. 

»Na gut, dann geh’ ich mal meine Mutter suchen. Wenn du möchtest, können wir nachher noch spazieren gehen, ich bin heute den ganzen Tag da.« 

Er muss komplett wahnsinnig sein. Da bin ich mir jetzt sicher. Ich mache eine Geste zum Fenster. »Das ist zu liebenswürdig … bei diesem … herrlichen … Wetter!« 

»Unten an der Anmeldung kann man Schirme leihen.« 

»Du scheinst dich hier gut auszukennen.« 

»Ich versuche nur, an Alles zu denken.« 

»Schlauer Bursche!«  

Er räuspert sich. »Hübsches Mädchen.« 

Dann geht er einfach und schließt hinter sich die Tür.  

 

Ich starre zum Fenster und sehe vor den dunklen Wolken mein blasses, transparentes Spiegelbild. Leicht rötlich schimmernde Augenringe, Schnittlauch-Haare und Pickel am Kinn. Ich lache dreckig in mich hinein. Er kann ja wohl nicht wirklich mich gemeint haben. 

Seine Worte ärgern mich jetzt mächtig. Ich pfeffere das Buch auf den Beistelltisch, reiße mir die Elektroden ab und angele nach meinem Infusionsständer. Die Wut lässt meinen Kreislauf nach oben schnellen, ich platze fast vor Energie.
Mein Entschluss steht schnell fest: Ich werde mit dem Aufzug ins Foyer hinunterfahren und den dicken eingebildeten Jungen suchen. Ihn zur Rede stellen. Was er mit seinem Spruch gemeint hat. Von wegen hübsch und so! Ich bin jetzt richtig auf hundertachtzig. 

Mein Morgenmantel ist von meiner Mutter geliehen. Weinrot. Warum stört mich das auf einmal? Ich schnüre ihn fest zu, schlüpfe in die Hausschuhe und schiebe mich vorwärts.

 

Unten im Foyer ist nichts los. Noch

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.06.2017
ISBN: 978-3-7438-1940-5

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