Wenn die Tage dunkel und etwas träge sind, wenn der Wind einem kalt und feucht ins Gesicht schlägt und die Äste der Bäume wie Knochenhände in den Himmel ragen, dann ist meine Zeit gekommen.
Ich gehe auf die Pirsch, um sie zu sehen – dick eingepackte Mädchen.
Mögen sich meine Freunde nur ruhig nach dem Sommer sehnen und von nackten Beinen in kurzen Röcken schwärmen, mir gibt das Alles nichts. Es ist mir zu direkt, zu plakativ, wenn sie es mir offenherzig zeigen, in luftigen Blusen und kurzen Shirts. Ich warte, bis meine Jahreszeit gekommen ist. Dann gehe ich spazieren und bin in meinem eigenen, nasskalten Paradies.
Sie tragen ihre Kleider wie weiche Zwiebelschalen aus Wolle, Kaschmir und Jacquard. Bauschige Schals sind um ihre Hälse geschlungen wie bunte Würgeschlangen, aus denen rote Nasen blitzen. Die Mützen und Käppchen sitzen tief in der Stirn, sodass man die Farbe ihrer Haare nur an ein paar verwegenen Strähnen erahnen kann.
Und die Augen dieser Mädchen leuchten. Je kälter es ist, desto mehr leuchten sie. Es ist, als ob die ganze Wärme unter den vielen Schichten ihrer Kleider sich in ihnen ein Ventil suchen würde, um nach außen zu dringen.
Ich beobachte sie verstohlen, wie sie in grobledrigen Schnürschuhen durch das nasse Laub stapfen. Manchmal weht mir der Wind ihr helles Lachen herüber und erzählt mir von der Lebenslust, die unter den dicken warmen Sachen pocht.
Wenn ich ganz durchgefroren bin und meine Ohren sich vor Kälte taub anfühlen, suche ich Unterschlupf in einem versteckten Café und setze mich dort alleine an den kleinsten Tisch. Ich will mich gar nicht unterhalten – ich will lauschen!
Ich stecke meine Nase ganz tief in eine alte Zeitung und schlürfe langsam eine Melange. Und nach einer Weile passiert es dann: Aus dem Knäuel aus klirrendem Geschirr und lautem Gelächter schälen sich weiche Stimmen. Wie leise, feine Glöckchen unter lautem Stuhlgerücke.
Ich konzentriere mich ganz auf ihre Frequenz. Aufgetaut von schwerem Kaffeeduft werden sie immer fröhlicher und mutiger. Dann höre ich all die kleinen Geheimnisse, die sie unter ihren Rollkragenpullis mit sich herumtragen.
Wie gern würde ich mich als Winzling in einer der weiten Taschen ihrer Jacken verstecken und mich mitnehmen lassen. Bestimmt wohnen sie in einer kleinen Altbauwohnung direkt unter dem Dach. Dort angekommen würde ich mich in ihre Zimmer schleichen, während sie noch in der Küche Tee aufsetzen. Versteckt unter der Bettdecke würde ich warten, bis sie müde und zufrieden ihre Kleider ablegen – Stück für Stück, Hülle für Hülle. Aber dann kneife ich die Augen zu. Ich will doch weiter träumen – von meinen dick eingepackten Mädchen.
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2016
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