„Sá er einn staðr þar, er kallaðr er Álfheimr. Þar byggvir fólk þat, er Ljósálfar heita, en Dökkálfar búa niðri í jörðu, ok eru þeir ólíkir þeim sýnum ok miklu ólíkari reyndum. Ljósálfar eru fegri en sól sýnum, en Dökkálfar eru svartari en bik.“
„Da ist ein Ort, der Álfheim heißt. Da haust das Volk, das man Lichtalben nennt. Aber die Schwarzalben wohnen unten in der Erde und sind ungleich von Angesicht und noch viel ungleicher in ihren Verrichtungen. Die Lichtalben sind schöner als die Sonne von Angesicht; aber die Schwarzalben schwärzer als Pech.“
Es war eine windige Herbstnacht in der kleinen Stadt Sangerhausen. Der Wind spielte mit den Zweigen der Linden und strich über die laubbedeckten Straßen. Im Licht der alten Laternen sah das Gebäude, das sich hinter den Bäumen verbarg, nahezu friedlich aus. Am Tag tobten hier dutzende Kinder und hauchten dem alten Haus Leben ein. Nun stand es da, ruhig und fast schon gespenstisch, als sich zwei Gestalten aus dem Schutz der Bäume in Richtung der großen Treppe begaben.
„Wir können das nicht tun! Es muss einen anderen Weg geben!“, flüsterte die zierliche Frau, welche ein kleines Bündel in ihren Händen hielt. Sie hielt es so behutsam, dass man den Eindruck hatte, es würde beim bloßen Anblick zerbrechen.
„Wir haben keine Wahl! Nur hier ist sie sicher! Niemand wird je von ihr erfahren, von uns.“
Widerwillig legte sie das kleine Bündel auf der obersten Treppenstufe ab. Dann war es wieder still, bis man den Wind hörte, wie er das Geschrei eines Kindes davon trug.
Das Morgenlicht schien durch die alten Vorhänge und erhellte das kleine Zimmer. Von draußen waren Stimmen zu hören und Kinder rannten im Flur herum. „Yani, wach auf! Alles Gute zum Geburtstag!“, sagte Lily voller Freude. „Toller Geburtstag! Ein weiterer Tag in Gefangenschaft. Und was nützt einem dieser Tag, wenn man ihn nicht mit denen feiert, die einem das Leben geschenkt haben?“ „Sei nicht so melancholisch, Yani! Sonst bekommst du mein Geschenk nicht!“ Ayana setzte sich auf und schaute aus dem Fenster. Der sechste Oktober war für sie nie ein besonderer Tag gewesen. Es gab einen Kuchen und alle mussten ihr gratulieren. Bis sie 11 Jahre alt war, hatte sie noch gehofft, dass eines Tages ihre Eltern vor der Tür stünden, um ihren Geburtstag mit ihr zu feiern. Diese Hoffnung hatte sie nach all den Jahren aufgegeben. Sie lebte schon ihr ganzes Leben hier im Heim und doch war es nie ihr Zuhause. Sie fühlte sich jede Sekunde ihres Lebens eingesperrt und der Wunsch nach Freiheit wuchs mit jedem Tag. Als sie an diesem Morgen den Speisesaal betrat, schauten alle zu ihr auf.
Sie war ein schlankes Mädchen, jedoch nicht sehr groß. Ihre langen braunen Haare fielen ihre Schultern herab, wie ein Wasserfall aus Schokolade und ihre grünen Augen schmeichelten ihrer blassen Haut. Ihre äußerst spitzen Ohren schauten stets ein wenig aus ihren Haaren heraus, weswegen man ihr hier im Heim oft ziemlich verletzende Spitznamen gab. „Schlitzohr“ oder „Esel“ waren da noch harmlos. Lily nannte sie stets „meine kleine Fee“, was ihr zwar nicht wirklich gefiel, aber sie konnte es ihrer besten Freundin auch nicht übel nehmen.
Sie ging schnell zum Tisch, setzte sich und begann, ihr Müsli zu löffeln. Jedes Jahr aufs Neue war es peinlich. Frau Schmitt betrat den Saal und die übliche Peinlichkeit begann. „Ayana hat heute Geburtstag! Wir singen jetzt alle das Lied für sie!“ Musste das wirklich sein? Jedes Mal? Als das Grauen endlich vorbei war, übergab Lily ihr ihr Geschenk. Es war eine Kette mit einer kleinen Fee als Anhänger. Ayana musste schmunzeln. „Danke Lily!“ „Für meine kleine Fee!“, flüsterte Lily ihr zu, so dass nur sie es hören konnte. Tränen bildeten sich in Ayanas Augenwinkeln. Noch nicht einmal Lily hatte sie von ihren Plänen erzählt, aus Angst, sie würde sie aufhalten. Morgen war es soweit! Morgen wollte sie endgültig raus hier und einfach nur frei sein. Einen wirklichen Plan hatte sie nicht. Sie hoffte einfach, dass sie so weit weg laufen könnte, dass niemand sie findet. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, dass sie nicht über die Gefahren nachdachte, die dort draußen auf sie warten würden. Die Entscheidung war gefallen. Morgen um diese Uhrzeit würde sie frei sein.
Tag der Veröffentlichung: 06.08.2013
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