Diva Michaela
Eine Sängerin mit Leidenschaft
von
Ursula Gerster
Die Fortsetzung des Romans
>Carmen und Cherubino<
Für die geliebte Mezzonistin
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Alle Rechte vorbehalten © Februar 2020
Impressum
Text und Layout: Ursula Gerster
Covergestaltung: Wine van Velzen
Die Romanfiguren
Michaela Seiler-Schubert, Sopranistin
Christina Seiler-Schubert, Sopranistin,
Michaelas Mutter, genannt Mami
Thomas Schubert, Bariton u. Dirigent an der Semperoper, Michaelas Vater, genannt Papi
Helga und Franz, Michaelas Großeltern, mütterlicherseits
Kurt Seiler, Christinas Bruder, Gutsbesitzer bei Moritzburg, Pferdezüchter
Dr. med. vet. Susanna Mahlsdorf, Kurts Verlobte
Marianne und Georg, Michaelas Großeltern, väterlicherseits
Sybille Strasser, Auslandskorrespondentin, genannt Bille, Michaelas Schulfreundin, die sie nach dem Abi aus den Augen verlor
Kyra Orlowsky, Stella Narov,
Christinas Freundinnen & Michaelas Patentanten
Phillip Roon, Modezar und Michaelas erste Liebe
William Mc Dougal, Earl of Melrose, Countertenor und Michaelas große Liebe
Shadia El Sayedi, Michaelas Freundin+ Kollegin
Kathrin Sommer, Michaelas Freundin+ Kollegin in Aachen
Ben Zoller, gen. Benzo, Dirigent in Aachen, Kathrins Verlobter
Ludwig Hallmaier, Intendant, Bayerische Staatsoper
Martti Raauma, Dirigent, Nachfolger von Alexander Narov
David Parker, Chef der >Met< in New York
Dresden
»Mami, Mami!«
Michaela warf ihre Schultasche auf die Garderobenbank, rannte die Treppe hinauf und flog ihrer Mutter in die Arme. Atemlos sprudelte sie hervor:
»Ich darf im Schulchor mitsingen. Frau Weinberger hat gesagt, ich hätte eine ganz tolle Singstimme!«, erzählte sie eifrig weiter, während der nasse Schnee von ihren Stiefeln auf den Teppich tropfte. »Sie will sogar ein Singspiel mit uns einüben. Ich glaube für das nächste Schulfest…oder so.«
Christinas Blick wanderte von den nassen Stiefeln hinauf in das lachende, vor Aufregung gerötete Gesicht ihrer Tochter. Sie nickte verstehend.
»Jetzt zieh erst mal die nassen Schuhe aus, Liebes. Dann können wir essen und du berichtest mir der Reihe nach, was Frau Weinberger mit euch vorhat.«
In diesem Moment kochten die Nudeln über. Das zischende Geräusch rief Christina in die Küche zurück.
»So ein Mistwetter«, schimpfte Thomas. Er klopfte sich den Schnee vom Mantel und schloss die Haustür.
»Dieser olle Schneematsch blockiert den ganzen Straßenverkehr. Es taut, aber es ist saukalt draußen. Trotzdem müssen wir am Nachmittag zur Probe.«
Michaela umarmte ihren Vater und küsste ihn flüchtig, dann deckte sie den Tisch fertig. »Darf ich nachher mit zur Probe?« fragte sie so ganz nebenbei. Thomas setzte eine strenge Miene auf. »Aber nur, wenn du deine Hausaufgaben fertig hast!«
»Ooch«, murmelte Michaela. »Wir sollen über das Thema Beru7fswunsch schreiben. Da kann ich viel schreiben. Ich hab ja verschiedene Ziele. Apothekerin, Architektin wie Tante Kyra und…« Sie blinzelte ihrer Mutter zu. »Natürlich Opernsängerin.«
Christina stellte lächelnd fest. Du willst mir also Konkurrenz machen. Da haben dir deine Patentanten aber einen schönen Floh ins Ohr gesetzt!« Thomas brummte:
»Aber ohne Ausbildung geht nix – und vorerst schon gar nix. Du bist ja noch viel zu jung. Deine Stimmbänder sind noch nicht ausgewachsen, so wie du auch«, schmunzelte er. Michaela protestierte und stellte sich auf die Zehenspitzen.
»Oh Papi, ich hab doch bald Geburtstag, auch wenn’s noch ein paar Wochen dauert und ich bin schon groß!«
»Das Essen wird kalt!«, funkte Christina dazwischen, »verschiebt eure Fachgespräche auf heute Abend.«
Die kleine Familie genoss das Mittagessen schweigend und blickte ab und zu in den nassen Schneefall hinaus. Morgen war Dreikönigstag und da wünschte man sich eine verschneite Stadt. Über Nacht sollte ja die Kälte wiederkommen, sagte jedenfalls der Wetterbericht. Michaela schob den letzten Löffel Schokopudding in den Mund und lehnte sich zurück.
»Geht bitte nicht ohne mich. Ich schreibe schnell meine Gedanken auf. Morgen ist keine Schule, da kann ich ausführlicher schreiben und die Fehler ausbügeln.«
Die Eltern nickten. »Wir fahren um fünf Uhr los.«
Michaela
Viele Gedanken schwirrten mir durch den Kopf. Ich musste sie nur in die richtige Reihenfolge bringen. Was ich später einmal werden wollte, war doch eigentlich noch gar nicht so wichtig für mich, aber ein Ziel stand schon felsenfest vor meinen Augen. Ich wollte und würde Opernsängerin werden, so wie Mami und meine Patentanten, egal wie! Doch viele Hindernisse mussten auf diesem Weg überwunden werden. Nein, nicht die Schule. Die schaffte ich sicher mit links. Doch dafür musste ich meine Trägheit überwinden. Zum Beispiel, die Hausaufgaben nicht erst in letzter Minute zu machen und für den Unterricht zu lernen. Viel lieber spielte ich Klavier oder hörte mir Mamis CDs an. Und sang nicht schön, aber laut mit. Das tat ich aber nur, wenn Mami nicht zuhause war. Sie war nicht immer begeistert davon. Wenn ich mich allzu traurig fühlte, dachte ich an Tante Kyra und an Tante Stella. Die Stimmen der beiden machten mich wieder fröhlich und meine Traurigkeit flog davon. Oh, gleich fünf…
Michaela klappte das Notizheft zu und schnappte sich ihre Tasche. Die Eltern warteten schon in der Diele auf sie. Alle drei mummelten sich dick in Schal und Mütze ein und machten sich auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle. In dem Schneetreiben kamen sie nur langsam voran und die Bahn ließ auch noch auf sich warten. So langsam wurde es kälter. Auch in der Bahn war es nicht warm, weil immer wieder die Türen aufgingen und eiskalte Luft durch den Wagen zog. Michaela spürte es an der Nasenspitze. Kurz vor der Augustusbrücke hielt die Bahn plötzlich an – nichts ging mehr. Aufgeregtes Gemurmel und dann die Durchsage des Wagenführers:
»Liebe Fahrgäste, der automatische Weichenregler ist witterungsbedingt ausgefallen. Wir müssen sie bitte auszusteigen. Wir können nicht weiterfahren.«
Die Familie eilte über die Brücke und erreichte pünktlich den Bühneneingang der Semperoper und schüttelte sich den Schnee von den Mänteln. Christina brühte in ihrer Garderobe gleich heißen Tee auf. Thomas wärmte seine klammen Hände gern an der heißen Teetasse. Michaela studierte nebenbei die Partitur.
»Mami, welche Partie singst du eigentlich in dieser Oper?«
Christina schmunzelte:
»Na die der jugendlichen Geliebten, die Lola. Heute ist die erste Probe mit dem Orchester, Darum ist dein Vater auch so nervös.« Thomas murmelte etwas und stand auf.
»Ich geh‘ dann schon mal. Mein Orchester wartet.«
»Ich komme gleich nach, muss mich erst einsingen.« Christina wandte sich um. »Michaela hilft mir dabei, ja?« Die nickte begeistert. »Dann kann ich gleich hören, ob es mir gefällt. Leg los, Mami!«
Christina summte nur die schwierigsten Tonfolgen vor sich hin, während sie sich schminkte, auch wenn es noch keine Vorstellung war. Sie mochte nicht ungeschminkt auf die Bühne gehen, denn das helle Licht der Scheinwerfer, ließ sie blass und kränklich aussehen. Nachdenklich hörte Michaela zu, stützte dabei gespannt das Kinn in die Hand. Sie summte gelegentlich mit und blätterte in der Partitur der >Cavalleria Rusticana<. Es klopfte. Thomas schaute herein. »Kommt ihr zwei, wir wollen anfangen.«
Die Probe zog sich in die Länge. Thomas ließ oft Passagen wiederholen. Er bestand auf absoluter Notentreue der Interpretation des Orchesters und der Sänger. Michaela langweilte sich allmählich. Sie hatte sich die Probe lustiger vorgestellt. Sie kannte doch das Libretto und wusste, dass es sich um ein unterhaltsames Stück handelte, wenn auch nicht immer lustig. Gut, dass Bille nicht mitgekommen ist, die hätte sich noch mehr gelangweilt, dachte Michaela. Sie hört zwar zu, konnte sich aber bald nicht mehr konzentrieren. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Aufsatz, den sie übermorgen schreiben musste. Bis sie auch dafür den Faden verlor und ihr ab und zu die Augen zufielen. »Mami, was ist?« gähnte sie, als Christina ihr auf die Schulter tippte.
»Aufwachen, Kleines, die Probe ist aus. Wir beide fahren schon nach Hause. Papi hat noch eine Besprechung mit dem Intendanten. Hoffentlich fährt die Bahn wieder.«
Christina traute dem Wetter nicht, aber der Schneefall hatte aufgehört und es blitzten schon einzelne Sterne durch die abziehenden Wolken. Hmm, das würde eine kalte Nacht werden. Michaela vergrub vorsichtshalber ihre Nase wieder in den Schal. Die Straßenbahn fuhr ihnen genau vor der Nase weg, als sie außer Atem die Haltestelle erreichten. Die nächste Bahn ließ lange auf sich warten. Thomas war schon zuhause. Der Kachelofen strahlte gemütliche Wärme aus. Sogar der Tisch war gedeckt.
»Wie kam’s denn«, lachte Christina, »haben wir etwas zu feiern?« Thomas nickte lächelnd.
»Freilich, ab nächsten Monat gibt’s mehr Gehalt für mich und vielleicht auch die ersehnte Beförderung. Die Direktion hat sowas angedeutet.«
Für diese gute Nachricht bekam er von Christina und Michaela einen Kuss. Dann ließen sich die drei das Abendessen schmecken. Thomas legte Messer und Gabel ordentlich auf den Teller und lehnte sich zurück, blinzelte zu Michaela hinüber.
»Mäuschen, magst du nicht mal bei uns in der Oper mitsingen? Es sind viel zu wenige Kinder diesmal im Chor, darum klingt es so dünn. Das hast du bestimmt auch schon gehört?« Michaela kämpfte mit den letzten Erbsen auf ihrem Teller, dann blickte sie auf.
»Prima Idee, Papi, das wollte ich eh‘ schon lange. Bis jetzt hast du mich nicht gefragt. Kann denn Bille auch mitkommen? Singen kann sie – aber nicht so gut wie ich«, fügte sie in einem Anflug von Divenhaftigkeit hinzu. Thomas stand auf und strubbelte Michaela liebevoll durch die Haare.
»Klar, wir brauchen jede freiwillige Stimme. Ihr zwei steckt doch auch so immer zusammen, also warum nicht auch auf der Bühne?« Christina nickte lächelnd.
»Eines Tages werden wir die Oper übernehmen, so wie die Wagners in Bayreuth.«
Michaela ging früh zu Bett an diesem Abend. Die Töne schwirrten noch lange in ihrem Kopf herum. Wenn dieser Sängerberuf immer so anstrengend war wie heute Abend, dann würde sie es sich noch einmal überlegen, ob sie eine Karriere daraus machte. Die Basis dafür, ein gutes Stimmchen, wie die Leute immer sagten, ja die hatte sie. Aber? Ich frage einfach mal Tante Kyra, überlegte sie noch und war schon im Land der Träume.
Michaela
Zehn Jahre war ich damals alt – und ich frage mich bis heute, ob der Traum, den ich in dieser Nacht träumte, meinen Entschluss beflügelte, nun doch Opernsängerin zu werden. In so einem Traum herrscht ja meist ein heilloses Durcheinander – und ein bisschen unwirklich war das alles schon. Es geschah wie hinter einem Schleier.
Ich stand vor einer, nein, in einer riesigen Bauzeichnung und konnte darin umhergehen. Als Architektin hatte ich den Plan gezeichnet, so stand es jedenfalls in großer Schrift am unteren rechten Rand der Zeichnung. Plötzlich verwandelte sich der Plan zum fertigen Objekt. Es handelte sich um ein Opernhaus mit eigener Apotheke. Dort verkaufte ich in den Spielpausen keine Medizin, sondern Noten, und zwar singenderweise!
Die Besucher kamen in Scharen, um mich zu hören und Noten zu kaufen, die auch als Eintrittskarten galten. Das war ein ganz tolles Gefühl. Auch Mami, Tante Kyra und Tante Stella waren mit von der Partie. Papi dirigierte, natürlich ohne Noten. Was wir aufführten, daran erinnere ich mich nicht mehr. War dieser Traum ein Hinweis auf meine berufliche Laufbahn? Immer wieder wurde mir gesagt, dass ich zuerst einen >sogenannten< bürgerlichen Beruf ergreifen sollte, damit mein Leben im abgesicherten Modus ablaufen konnte. Aber welchen Beruf sollte ich ergreifen? Eine Sängerlaufbahn allein, sei zu unsicher. Hach, verflixt noch mal! Ich konnte mich nicht entscheiden zwischen Architektin und Apothekerin. Baupläne zeichnen war nicht so mein Ding. Ich hasste das Fach Geometrie. Diese Berechnungen brachte ich nie auf den rechten Nenner, egal, wieviel Hirn ich auch einsetzte. Das Zeichnen langweilte mich einfach. Ich fragte mich oft, wie Tante Kyra es bis zum Dipl. Ing. geschafft hatte. Na, mit Fleiß und Ehrgeiz natürlich! Auch wenn es sie manche Überwindung gekostet hatte, wie sie mir einmal verraten hatte. Chemie mochte ich eigentlich lieber, folglich ging mein Blick in Richtung Apothekerin. Ich war schon immer gut im Zusammenmixen von Pülverchen. Auch wenn’s manchmal knallte und blitzte. Studieren musste ich für beide Berufe. Das hieß weiterlernen nach der Schule und dem Abi, siehe oben!
Kurz und gut, ich stürzte mich mit Begeisterung in die alltägliche Arbeit im Opernchor und zog Bille mit. Unsere freien Nachmittage schrumpften. Je nach dem, was auf dem Spielplan stand und die Kinderstimmen benötigt wurden, zum Beispiel bei >Carmen< und der >Cavalleria Rusticana<. Für die Vorstellungen mussten wir uns auf die Abende einstellen und für uns Couchpotatos fielen die Seifenopern aus. Das ging uns aber am A… vorbei. Die richtigen Opern boten ein viel interessanteres Vergnügen, vor allem, weil wir auch darstellerisch gefordert wurden. Von wegen, nur an der Rampe rumhängen. In >Carmen< hieß es marschieren:
»Schnell herbeigestürmt wie’s Wetter, ‚s kommen die Soldaten ja, Hört der Trompete Geschmetter:
Trateratatata!
Wenn die Wachen aufmarschieren, geh’n wir wie Soldaten mit,
Lasst voran uns defilieren: Eins! Zwei! Im gleichen Schritt.
Brust heraus, den Kopf nach oben,
und die Arme ziehet an; Rasch die Füße nun gehoben,
So marschier’n wir Mann für Mann!
Wir sind da! Tatateratatata!
Schwetzingen, zehn Jahre später
Michaela warf die Tasche aufs Bett und griff nach dem Telefon.
»Ah Mami, wie schön deine Stimme zu hören…Ja, es geht mir gut…natürlich bin ich nervös«, kicherte sie. »Du weißt doch wie das ist. Fein dass ihr beide kommt! Ich freue mich riesig. Wenn ihr unten in der ersten Reihe sitzt, hilft mir das sicher, mein Lampenfieber in den Griff zu bekommen. Mami du hast ja die Tricks von Tante Kyra noch drauf, oder? Hmm…also bis Morgen!«
Sie legte den Hörer auf und ging ins Bad. Ja, ihre Karriere als Opernsängerin hatte eigentlich schon vor 22 Jahren begonnen. Als sie zum ersten Mal die Bretter, die die Welt bedeuteten, betreten hatte, im Bauch ihrer Mutter. Zu Hause entkam sie den Tönen auch nicht.
Michaela
Ja, so begann meine Sängerinnenkarriere. Nein, nicht erst am ersten Probennachmittag für >Cavalleria Rusticana< in der Semperoper. Viel früher schon bekam ich Musik in meine Ohren. Vielleicht schon in jener Nacht, als meine zukünftigen Eltern in Baden-Baden ein Konzert gaben. Sie kannten sich erst seit drei Monaten, nein falsch. Sie kannten sich schon länger, aber jetzt erst hatte es zwischen ihnen gefunkt. Sicher hatte auch das Konzertprogramm dazu beigetragen, dass sie später nach einer kurzen Eifersuchtsszene, im Hotelzimmer einander verführten, um den schönen Abend romantisch zu beenden. Zumal nach dem guten Essen in Victors Restaurant. Kyras Vater flirtete mit meiner Mutter, kam aber nicht zum Zuge. Sie ließ sich nicht von dem charmanten älteren Herrn um den Finger wickeln. Sie liebte nur meinen Vater. Und sie lieben sich immer noch heiß und innig. Mutter Opernsängerin, Vater Dirigent und Sänger. Erblich belastet nennt man das wohl in meinem Fall. Mami ist immer noch die kleine zierliche Person mit der großen Sopranstimme. Die von Tante Kyra beschützt wurde und ihr die Angst vor dem Lampenfieber nehmen konnte. Als Baby liebte ich Mamis klaren Sopran, wenn sie übte, egal was sie sang. Mit Däumchen im Mündchen lauschte ich Mozarts Melodien. Wenn sie aber zu hohe oder was gelegentlich vorkam, falsche Töne produzierte, hielt ich mir schnell die Ohren zu oder strampelte. Ich hatte keine Möglichkeit zur Flucht aus der dunklen warmen Höhle. Wie gern hätte mitgesungen, verzichtete aber lieber auf das Gurgeln mit Fruchtwasser. Mamis Atemübungen kamen auch meiner Lunge zu Gute. Sie trimmten mein Atemvolumen auf Sängerinnen-Niveau. So sagten es jedenfalls der Arzt und die Hebamme. Ich hatte es eigentlich darauf angelegt auf der Opernbühne in die Welt zu kommen. Den Einsatz dazu würde Papi mit dem Taktstock geben. Aber Mami blieb in den letzten Wochen vor meiner Ankunft zu Hause. Ich hatte ihr wohl einige Probleme verursacht. So kam ich schließlich in einem sterilen Kreißsaal zu Welt. Nix mit zauberhafter Opernwelt! Das war an einem sonnigen Februartag. Mein erstes Debüt! Die Stimme war da – und wie! Tante Stella und ich können leider nicht gemeinsam feiern. Bis zu ihrem Geburtstag hätte ich zu lange warten müssen. Hier in Schwetzingen gebe ich morgen wieder ein Debüt. Die Festspiele habe ich darum ausgewählt, weil es hier mein köstliches Lieblingsgemüse gibt, den Spargel. Ich kann nie genug davon bekommen, würde sogar darin baden.
Es war ein weiter Weg bis hierher und er ist noch nicht zu Ende. Noch bin ich an keinem Opernhaus fest engagiert. Tingle hin und her, stoße mir die musikalischen Hörner ab, wie Tante Kyra sagen würde. Ich wohne noch immer im Elternhaus am Stadtrand von Dresden, fast auf dem Dorf. Habe seit einigen Wochen mein eigenes Reich unter dem Dach. Ich liebe schräge Wände, so gemütlich ist’s nur bei mir. Ich hab’s mir selber ausgebaut. So konnte ich mein Architekturstudium gleich praktisch anwenden und zeigen, was ich gelernt hatte. Dazu gab’s Tipps von den Patentanten. Die beiden kommen immer gern zu uns, wenn sie an der Semperoper gastieren. Zwei Häuser weiter mieten sie immer dieselben Ferienwohnung, denn bei uns ist leider wenig Platz für Gäste. In unserer Villa aus der Gründerzeit leben meine Großeltern im Parterre – und wir im ersten Stock. Im Dachgeschoß residier ja ich.
Ein großes, teils verwildertes Grundstück mit altem Baumbestand umgibt das Haus. Wir lieben diesen wilden Garten, der sich bis zur Elbe hinunterzieht. Die Elbe war für mich als Kleinkind tabu. Es gab ein absolutes Verbot für mich, dort zu spielen. Ich durfte nur dort sein, wenn ein Erwachsener dabei war. Der Fluss hätte mich ohne weiteres mitgenommen bis nach Meißen, wäre ich hineingefallen. Meine Großeltern väterlicherseits hätten mich dort rausfischen können, hoffentlich noch lebendig. Als ich in die Schule kam, wurde das Elbe-Verbot bald aufgehoben. An dem Tag, als ich ganz stolz, nach vielem Wasserstrampeln, mein Schwimmabzeichen nach Hause brachte. Aber mal ganz ehrlich, so ganz geheuer ist mir tiefes Wasser immer noch nicht. Sei es nun ein See, ein Fluss oder gar das Meer. Lieber bin ich im Schwimmbad oder an einem kleinen Bach, der sich fröhlich plätschernd durch die Wiese schlängelt. Ich brauche immer Grund und erreichbares Ufer, zur Sicherheit, in der Nähe.
Bille und ich waren im Sommer kaum aus dem Garten heraus zu locken. Dort erledigten wir unsere Hausaufgaben, bestellten unser kleines Beet oder spielten nur. Ha, Lesen nicht zu vergessen, im Baumversteck. Bille, sie heißt richtig Sybille, hatte immer neue Ideen. Sie wohnte schräg gegenüber von uns in einem etwas kleineren Haus, welches aber Platz genug hatte für die Familie. Billes ältere Brüder, zwei an der Zahl, gingen ihre eigenen Wege. Wir Mädels waren ihnen nicht erwachsen genug. Wir Mädels machten unser eigenes Ding.
An Regentagen blieben wir meistens im Haus. Ich hatte zum Glück ein geräumiges Kinderzimmer und soo viel Platz zum Spielen. Zu gerne führten wir auch Theaterstücke auf. Solche, die in der Schule gelesen wurden oder auch selbstgeschriebene, für die Sommerfeste in unserer Straße. Das war Billes Leidenschaft. Sie übernahm selbstverständlich die Regie und die Hauptrollen. Mir blieb die Darstellung der anderen Personen, oft drei oder mehr Rollen gleichzeitig, jedenfalls während der ersten Proben. Einfach war es nicht, die Nachbarskinder für das Theaterspielen zu begeistern. Sie zickten rum, übernahmen lieber die einfache Rolle des Publikums und klatschten fröhlich Beifall, auch wenn das Stück ein Trauerspiel war. Dann erklärten Bille und ich die Vorstellung für beendet und zogen uns beleidigt hinter den Vorhang zurück.
»Die ham‘ geene Ahnung von Gunst und Gultur«, war dann immer Billes Kommentar. Doch wir gaben nicht auf, Kultur auf die Straße zu bringen.
Sie musste sich oft meine Opern- und Operettenbegeisterung gefallen lassen. Ich spielte ihr aus meiner Plattensammlung Aufnahmen mit meinen Lieblingssängern vor und sang die Arien pantomimisch mit, dirigierte Walzer und Sinfonien wie Papi. Bille hört geduldig zu, spendete Beifall, obwohl es nicht so ganz ihr Musikgeschmack war. Natürlich gab es hin und wieder heiße Diskussionen zwischen uns, welche Sänger besser waren oder gut aussahen. Meistens endete der Streit in lautem Gelächter. Wenn Bille sich wieder mal zuhause sehen ließ und nicht gleich nach der Schule mit zu mir ging, dann kam sei bestimmt gegen Abend. So war ich nicht mit Oma und Opa allein. Meine Eltern hatten ja in der Woche drei oder vier Vorstellungen zu meistern und fast jeden Nachmittag Probe. Gut, dass meine Großeltern im Hause wohnten. Großvater arbeitete bis zur seiner Pensionierung, als beamteter Billettknipser und Straßenbahnfahrer und war immer unterwegs in der Stadt. Großmama war eine künstlerisch begabte Schneiderin. Hätte sie die Möglichkeit gehabt, wäre sie als junge Frau Modedesignerin geworden. Aber die Liebe kam dazwischen und zwei Kinder, meine Mami Christina und Onkel Kurt. Ich saß oft bei ihr und las, während die Nähmaschine ratterte. Ihre Versuche, mir das Nähen beizubringen, waren vergeblich. Meine Nähte glichen immer Schlangenlinien oder der Faden riss. Ich bastelte lieber mit Opa in seiner Werkstadt im Garten. Auch Mami war keine Nähkünstlerin. Sie malte und zeichnete gerne. Ich bin nicht aus der Art geschlagen, wie Sie vielleicht mutmaßen werden. Ich habe meine Studienzeit erfolgreich hinter mir und darf mich jetzt Dipl. Ing. nennen, für Bauwesen und Landschaftsarchitektur. Nebenbei und gegen Ende des Studiums verlegte ich den Schwerpunkt auf den Gesang. Das kommt mir jetzt sehr zu Gute. Tante Kyra war und ist eine strenge gute Lehrerin. Man durfte sie nur nicht reizen, dann ging sie kurz aber heftig in die Luft. Vor allem, wenn man absolut nichts kapieren wollte. Sie konnte einen zaghaften Kandidaten richtig platt machen, mit ihrem russischen Temperament. Tante Stella blinzelte mir dann immer heimlich zu.
»Nimm‘s nicht so schwer, sie meint’s nicht so!«
Tatsächlich nahm mich Tante Kyra gleich darauf in den Arm, ermahnte mich aber:
»Mäuschen, nimm’s dir zu Herzen. Mir ist es auch nicht anders ergangen bei Elisabeth. Und es hat mir sehr geholfen.«
Oh verflixt, jetzt hätte ich doch beinahe die letzte Probe vergessen…
Michaela schnappte sich die Noten und eilte den langen Gang hinunter, wischte im letzten Moment atemlos durch die Tür in den Konzertsaal. Alle Musiker saßen schon auf ihren Plätzen und blätterten in den Noten. Der Dirigent wandte sich ihr zu. Einen Augenblick schaute er sie finster an, lächelte dann aufmunternd und begrüßte sie mit einem festen Händedruck. Dann hob er den Taktstock. Ganz konzentriert, aber mit halber Stimme begann Michaela zu singen und hörte gleichzeitig die Stimme ihrer Mutter:
»Ich sprach, dass ich furchtlos mich fühle und trotz Gefahr, Mut meine Seele belebt…«
Die Micaëla war Christianes Lieblingspartie – und diese Liebe hatte sie in vielen Unterrichtstunden an ihre Tochter weitergegeben. Die Probe verlief ohne weitere Hindernisse. Langsam wurde es Zeit zum Mittagessen. Michaelas Magen hatte sich schon öfter gemeldet, einmal sogar mitten in einem Lied. Michaela erschrak, nahm einen Schluck Wasser und sang weiter. Der Konzertmeister und der Dirigent hatten es gehört und schmunzelten in sich hinein. Den Nachmittag verbummelte Michaela in der Stadt. Leider begann es zu regnen und sie flüchtete sich in ein Café. Sie genoss den Cappuccino und blätterte in bunten Zeitschriften und Magazinen, hörte dem Gemurmel der anderen Gäste zu. Allein hier zu sitzen war aber doch ein wenig langweilig. Schade, dass Bille nicht dabei war. Gerade jetzt kreuzte die Schulfreundin wieder ihren Gedanken auf. Wo sie jetzt wohl steckte? Wann hatten sie sich zum letzten Mal gesehen? Michaela konnte sich nicht mehr daran erinnern. Nach dem Abitur hingen sie nicht mehr so oft zusammen. Nein, zerstritten waren sie nicht. Es hatte sich einfach so ergeben. Sie rührte gedankenverloren im Cappuccino.
Michaela
Doch, jetzt fällt’s mir wieder ein. Wir saßen unten an der Elbe auf unserem Badesteg, ließen die Füße im Wasser baumeln und schwiegen. In die Stille hinein fragte Bille plötzlich:
»Hast du eine Idee, wohin wir unsere Abi-Reise machen sollen? Ich dachte an einen vier Wochen Tripp per Bahn durch ganz Deutschland.« Ich nickte nachdenklich.
»Bahn ist gut. Wie wäre es mit Skandinavien? Rentiere, Blaubeeren, endlose Wälder und Weite, Nordkap und finnisches Bier!«
»Lange helle Nächte, klare Seen, Einsamkeit und fröhliche Städte«, warf Bille ein.
So schwärmten wir eine Weile, konnten uns aber nicht einigen, wer die besseren Argumente hatte. Schnell noch ein paar Runden gegen die Strömung geschwommen und dann ab zum Nachmittagskaffee.
»Ginder kommt, der Gaffee wird kalt!«
Das war die Stimme meiner Großmutter. Ihrem Ruf folgten wir gerne, Dresdener Eierschecke und Blechkuchen zieht immer. Ein paar Tage später kam Bille mit einer traurigen Nachricht, die sie mir schonend beizubringen versuchte.
»Jetzt ist es endgültig, wir werden von hier wegziehen. Mein Vater, der Herr Oberstleutnant wird in H. das Garnisonskommando übernehmen und wir müssen mit«, schniefte sie, versuchte mich aber zu trösten. »Wir werden uns viele Briefe schreiben und viel telefonieren und all die technischen Möglichkeiten nutzen, die es heut zutage gibt, Mail, FB und so weiter, weißt du!«
Doch das half nicht gegen meine Traurigkeit und den Zorn, der trotz ihrer lieben Worte in mir aufstieg. Ich sah es ein, sie musste mit, konnte nicht alleine hierbleiben, (aber doch bei uns wohnen), schoss es mir durch den Kopf. Bille musste ja alles aufgeben, den Schulchor, den Kirchenchor und nicht zuletzt den Opernchor, in dem wir mittlerweile sehr engagiert waren. Die Freunde und die liebste Freundin, mich. So war es jetzt an mir, Bille zu trösten. Ich berief mich auch auf die vielfältigen Möglichkeiten, die Verbindung zwischen uns nicht abreißen zu lassen. Noch war es nicht so weit. Die Vorbereitungen für den Umzug von Billes Familie waren erst angelaufen. So blieb uns noch eine Gnadenfrist bis zu unserer Trennung, die wir effektiv nutzen wollten. Die Abi-Reise war beschlossene Sache und führte uns wirklich vier Wochen mit Rucksack und Eisenbahn durch Skandinavien.
Beinahe wäre aber nichts daraus geworden. Ich hatte mich inzwischen nach einer Gesanglehrerin umgesehen, da Mami meinen Unterricht nicht weiter übernehmen konnte. Sie war öfter mit Papi auf Tournee und konnte die Termine nicht absagen, wegen mir. Doch die besagte Dame sagte ab. Tante Kyra war auch nicht erreichbar, beruflich sehr eingespannt und selten zuhause in München oder Griechenland. Also verschoben sich meine Gesangsstunden bis auf weiteres. Nach der Abi-Reise würde ich weitersuchen und die Termine in Einklang bringen. Huch! Eine diffizile Rechenaufgabe: Architektur, Musikhochschule und Gesangsunterricht möglichst unter einen Hut zu bringen. Meine Eltern schüttelten die Köpfe, wenn ich das Gespräch darauf brachte. Ich liebäugelte mit Landschaftsarchitektin – und auch darum wollte ich unbedingt nach Skandinavien. So planten Bille und ich erst mal unsere Reise und schleppten stapelweise Prospekte aus dem Reisebüro nach Hause und vertieften uns in die Schönheit der skandinavischen Landschaft. Es blieb uns auch genügend Zeit, den Führerschein zu machen. Über das erste Auto machten wir uns keine Gedanken. Die Reise war uns erst mal wichtiger. Das Interrail-Ticket war uns dabei sehr behilflich.
An einem trüben Nachmittag brachte Papi uns im strömenden Regen zum Bahnhof. Gut gelaunt und abenteuerlustig wurden wir nun doch noch nass. Die nassen Klamotten verteilten wir im ganzen Abteil. Der Schaffner meinte lachend, ob wir schon für das Campen üben wollten. In Kiel schien dann die Sonne. Am meisten freuten wir uns auf die Schiffsreise, hatten aber auch ein wenig Angst vor der Seekrankheit. Doch die verschonte uns. Die Kabinen in der Sparklasse der >MS Color Line Fantasy< waren wirklich klein und eng, aber wir hatten sie ja nur zum Schlafen gebucht. Das Leben an Bord lockte uns und sollte nicht spurlos an uns vorüberziehen. Also dann, das Gepäck abgestellt und wieder an Deck. Mehrere Bars warteten auf uns und auch das Tanzvergnügen. Die Seekrankheit hatte keine Chance uns zu erwischen. Wir hingen zwar an der Reling, aber nicht um die Fische zu füttern. Es gab ja nicht nur Wasser bis zum Horizont zu sehen. Ein kreischender Möwenschwarm umkreiste uns und Schweinswale begleiteten uns einige Seemeilen lang. Die Einfahrt in den Oslo-Fjord wollten wir nicht verpassen. Gleich nach dem Frühstück entdeckten wir die ersten Landmarken. Oslo empfing uns mit strahlendem Sonnenschein Das kleine Hotel war nicht weit weg vom Rathaus und vom Opernhaus entfernt. Natürlich pilgerten wir dorthin. Der Spielplan sagte uns allerdings nicht zu. Wagner und moderne Oper gab’s im Angebot. Also verzichteten wir und ließen uns durch die Stadt treiben. An der Straße zum Schloss entdeckten wir gemütliche Cafés, von denen wir eins testeten. Gut gestärkt besuchten wir dann den Vigeland- Skulpturenpark und ließen uns von den Figuren verzaubern.
Zwei Tage später saßen wir im Zug nach Trondheim. Der großartige Nidaros Dom zog uns in seinen Bann. Nicht nur Frankreichs gotische Kathedralen, sind einen Besuch wert. Wir mussten uns aber bald trennen. Ein Hurtigruten Schiff wartete auf uns. Das zweite Schiffsabenteuer begann. Wir enterten die Kabine auf der MS Princesse Ragnhild und richteten uns für fünf Tage ein. Machten auch Station auf den Lofoten, überquerten den Polarkreis und sahen uns in Tromsö um. Im Hafen von Harstadt wartete schon die MS Kong Harald, um uns weiter in den Norden mitzunehmen. In Honningsvag stiegen wir aus und machten uns per Bus auf den Weg zum Nordkap. Der Busfahrer raste im rasanten Tempo die Serpentinen hinauf, oft mit nur zwei Rädern über dem Abgrund. Da half nur noch anklammern an der Lehne des Vordersitzes, um nicht umher geschleudert zu werden. Bille holte vor jeder Kurve tief Luft, sprach sich selbst Mut zu. Wir hatten Glück. Kein Nebel umwallte den nördlichsten Punkt Europas, nicht ganz nördlich und widerlegte somit Tante Stellas Unkenruf, dass am Nordkap immer Nebel sei. Aber ein kalter Wind pfiff aus dem Westen zu uns herüber. Er kam von der vorgelagerten Insel. Sie ist der eigentliche nördlichste Punkt Europas.
Zurück in Honnigsvag nahmen wir den Bus nach Alta. Am anderen Morgen erkundeten wir das Städtchen und fanden ein Reisebüro, welches uns weiterhalf, denn wir wollten ja weiter nach Finnland. Wir mussten leider auf die steinzeitlichen Felszeichnungen verzichten. Die Eisenbahn brachte uns über Nacht nach Oulo. Die Hafenstadt bietet nicht viele Sehenswürdigkeiten, also weiter nach Süden. Wir ließen das landschaftlich karge Lappland hinter uns, durchfuhren endlose Wälder und vorbei an klaren Seen. Der Saimaa-See lächelte uns zu und mittendrin die Burg Olavilinna. Das kleine Städtchen durchstreiften wir ein paar Tage lang. In den Wäldern ringsum waren die Blaubeeren noch nicht reif, aber schon so groß wie Kirschen. Tante Stella hatte uns von den Opernfestspielen in der Burg vorgeschwärmt, wo sie schon gesungen hatte. Aber bis Juli/August wollten und konnten wir nicht warten. Tante Stellas Reiseroute zu verfolgen, von der sie uns berichtet hatte, haben wir nicht geschafft.
Aber auf Bille wartete eine Überraschung. Vom Städtchen Savonlinna wanderten wir über eine alte Holzbrücke hinüber zur Burg. Vor lauter Gucken und Reden achtete Bille nicht auf den Weg, stolperte und wäre fast hingefallen. Ein junger Mann, der hinter uns ging, fing sie auf. Er hielt sie eine Weile fest und redete beruhigend auf sie ein. Natürlich verstanden wir beide kein Wort. Dazu waren unsere finnischen Sprachkenntnisse zu dürftig. Englisch half uns immer weiter und ab und zu auch Deutsch. Vor allem bei älteren Leuten, die wir vorzugsweise nach dem Weg fragten. Nur bei dem jungen Mann half uns das nicht viel. Bille hatte den ersten Schreck überwunden und wir gingen weiter, flüchteten vor dem ersten Donner in die Burg. Der junge Mann trabte schweigend neben uns her. Bille und er tauschten immer wieder Blicke. Na, sollte sich da etwas anbahnen? Ich fühlte mich langsam wie ein drittes oder fünftes Rad am Wagen und begann mich zu ärgern. Hinter dem großen Burgtor schien ich für die beiden nicht mehr vorhanden zu sein. Na, das konnte ja was werden. Das Burgcafé war geöffnet. Wir setzten uns und unser Begleiter bestellte drei Kaffee. Ich hielt’s nicht mehr aus, wollte endlich wissen, wer der freundliche junge Mann war und fragte ihn direkt. Bille wusste es ja schon.
»Ja«, lachte Mirkko, so hieß er und schüttelte seine blonde Mähne. »Ich wohne in der Burg und kann sie euch gerne zeigen, wenn ihr wollt. Mein Vater ist hier Burgwart, sozusagen der Hausmeister. Ich studiere in Helsinki Musik und Schauspiel und Deutsch und habe ein paar Tage Ferien. Ich kann euch gerne am Montag nach Helsinki mitnehmen.« So antwortete er grinsend in einwandfreiem Deutsch. Bille schickte ihm einen liebvollen Blick, also damit ihr Einverständnis und blinzelte mir zu.
»Das ist eine gute Idee«, meinte sie. »Dann sparen wir die Bahnfahrt und sehen noch mehr von der Landschaft.«
An diesem Nachmittag trieben wir uns in der Burg herum. Mirkko zeigte uns seine Lieblingsplätze. Er begann mit dem Rundgang im Verlies. Buh, dort unten war es feucht und kalt und dunkel. Verrostete Eisenketten hingen noch an der Wand. Es fehlte nur das Skelett daran, um den Grusel komplett zu machen. Nix wie weg. Auf der Bühne vor dem Rittersaal fühlten wir uns wohler. Die Sonne spielte Scheinwerfer. Ich hätte gleich singen wollen. Zauberflöte oder Macbeth? Die Akustik war wunderbar. Hinter der Bühne ging es eng zu, nicht nur während der Festspiele. Zwei Künstler müssen sich eine Garderobe teilen, in der man sich kaum drehen kann. Überall stößt man an felsige Wände. Viel Privatsphäre gibt’s da nicht. Der Zugang zur Bühne ist recht niedrig, nur durch ein wenig Kletterei zu erreichen. Ich machte mir aber noch keine Gedanken darüber. Schließlich schlenderten wir über den Wehrgang zu den Türmen. Freie Aussicht über den See, auf dem Segelboote kreuzten. Den Abend ließen wir in der Sauna ausklingen, so wie sich das an einem Wochenende in Finnland gehört. Nicht zu vergessen der Grillspaß und viele Flaschen Bier dazu. Im Nachhinein muss ich sagen, wurde Mirkko mir immer sympathischer. Er war wirklich ein Gentleman. Gerne wären wir noch länger in Savonlinna geblieben, aber unser Urlaub neigte sich dem Ende zu. Die letzten Tage blieben für Helsinki reserviert. Auf dem Weg dorthin lotste uns Mirkko noch nach Turku. Das dürften wir nicht auslassen, meinte er. In dem Schloss habe er auch schon gewohnt. Von den Landschaftsgärten sah ich nicht viel, aber von der Landschaft: Wasser, Wälder und Wiesen und spektakuläre Sonnenuntergänge. Meistens krabbelte ich alleine ins Hotelbett. Bille und Mirkko ließen sich Zeit und fanden lange nicht aus den Federn. Bille genoss ihr Reiseabenteuer. Mit Mirkko sahen wir mehr von Land und Leuten, als wenn wir alleine unterwegs gewesen wären. Doch nach vierzehn Tagen hieß es Abschied nehmen, im Olympiahafen von Helsinki.
>Schön ist die Liebe im Hafen…<
Die MS Finlandia schob sich durch die Schären vor Stockholm. Mit fiel es schwer Skandinavien hinter mir zu lassen und ich versprach mir, dass mich meine Opernkarriere auch dorthin führen würde. Auch Bille wollte nicht loslassen. Sie wollte Mirkko am liebsten mitnehmen. Er tröstete sie und versprach ihr hoch und heilig, sie in den Semesterferien zu besuchen. Was er dann tatsächlich auch wahrmachte. Nicht immer ist ein Urlaubsflirt so beständig, wie zwischen Bille und Mirkko. Leider war ich damals nicht zu Hause und konnte die Wiedersehensfreude nicht miterleben. Aber Bille berichtete mir begeistert davon und ich durfte auch seine Briefe lesen, na ja, nicht alle!
Meine Bewerbungen an verschiedene Apotheken und Architekturbüros hatte ich abgeschickt. Jetzt blieb mir nur noch, die Antworten abzuwarten. Natürlich rechnete ich mit Absagen, aber bis es soweit war, wollte ich die Wartezeit nutzen. Die Musikhochschule hatte auch Ferien. Also las ich Fachbücher, übte Klavier, studierte Noten zuhause – und was weiter? Ich wusste es nicht. Ein Anruf aus Griechenland brachte mir die Lösung. Ich war in die Partie der Micaëla vertieft, die ich so gerne einmal auf der Bühne singen wollte, allein schon Mami zuliebe. Sie hatte mich bisher unterrichtet, aber nun war ihre Freizeit doch sehr begrenzt. Die Semperoper hatte in diesem Sommer ihren Schwerpunkt auf Tourneen gelegt und einige der Solisten mussten mit. Auch Papi und das halbe Orchester tourten durch die Republik. Vier Tage in der Woche waren meine Eltern nicht zuhause. Zum Glück waren Oma und Opa ja da. So brauchte ich um meine Versorgung nicht zu bangen. Doch war die Zeit recht langweilig für mich. Daran konnte auch die Gartenarbeit nichts ändern und das tägliche Warten auf den Briefträger.
Bille war auch nicht mehr da. Wir konnten uns nicht mehr treffen, die Köpfe zusammenstecken und uns über alles austauschen, Klatsch und Tratsch aus der Promiwelt. Über unsere musikalischen Vorlieben streiten und Fachgespräche über den Opernchor und die neueste Mode führen. Telefonieren brachte auch nicht viel. Sie fehlte mir einfach. Ihren philosophischen Erkenntnissen konnte ich oft nicht zustimmen. Ich hielt dagegen, so kamen wir ins Streiten, was aber meist in Gelächter endete. Meine Patentanten waren weit weg auf ihrer Insel und dachten sicher nicht an ihr Patenkind, das zu Hause versauerte. Weit gefehlt, sie hatten mich nicht vergessen.
So klingelte an diesem regnenden öden Sonntagnachmittag laut und aufdringlich das Telefon. Ich hielt mir die Ohren zu, starrte auf die Noten, um sie mir einzuprägen und auch den Text. Auf Französisch, dem Original. Mami hatte es auch lernen müssen, folglich konnte ich es auch! Aber Omas Stimme war nicht zu überhören.
»Michaela«, tönte es von unten herauf, »deine Patentanten wollen dich sprechen!«
Wie der Blitz sauste ich hinunter in die Diele, hielt den Hörer ans Ohr, meldete mich atemlos.
»Michaelamäuschen«, klang Tante Stellas dunkle Altstimme in mein weit offenes Ohr.
»Hast du Lust für ein paar Wochen zu uns auf die Insel zu kommen. Du hast doch jetzt sicher Zeit?«
Tante Kyra flüsterte laut und vernehmlich im Hintergrund. »Lass ihr keine Zeit zum Überlegen. Versprich‘ ihr Himmel und Hölle! Sie muss kommen. Ich brauche unbedingt eine Schülerin!« Tante Stella wehrte sie ab.
»Ja, ja, Kyra, ich bin doch schon dabei unsere Kleine zu überzeugen. Sie kommt ganz best…«
Dann hörte ich ein Geräusch, das ganz nach einem Kuss klang. Sie vergaßen, dass ich mithören konnte. Dann hörte ich nichts mehr, außer leisen Tönen der Zärtlichkeit. Ich grinste in mich hinein und lauschte stillvergnügt. Oh diese zwei Turteltäubchen! Tante Kyra meldete sich wieder. Sie sprach nicht, sie sang leise. Hingerissen lauschte ich dieser >Stimme, die ich schon als Baby so liebte:
»Sag Michaela kommst du zu uns?
Um mit uns zu Singen, nur für deine Kunst?
Du wirst schon seh’n, es wird ganz toll.
Sehnend Verlangen schwellt uns die Brust,
Freudiges Bangen, herrliche Lust!
Die Insel wartet lang schon auf dich,
Möch’t dich umfangen, denn sie liebt dich.
Lustig wird’s werden, das glaube mir
Und auch die Sterne möchten dich seh‘n.
Sie schicken Träume vom großen Glück.
Bei Tag und Nacht bist du nicht allein
Wir üben mit dir Töne dann ein.
Sag Michaela, wann kommst du an?
Das wir erfüllen unseren Plan!«
Sie hatte wieder einen Text aus >Figaros Hochzeit< umgedichtet. Cherubinos Kanzone aus dem zweiten Akt. Egal wer sie sang, Kyra oder Stella, eine meiner Lieblingsarien. Tante Stella schmunzelte und schüttelte den Kopf. Ich sah es nicht, konnte es mir aber lebhaft vorstellen. Was hätte ich tun sollen? Nein sagen? Das kam nicht infrage. Auf das liebevolle umsorgen der beiden verzichten und die griechische Wärme nicht genießen sollen? Meine Eltern hatten sicher nichts dagegen, da war ich mir sicher. Und meine Wartezeit auf die Antworten der Apotheken und der Fachschulen konnte ich so sinnvoll nutzen. Ich beschloss, mich darauf zu freuen. Wir würden ja nicht nur üben, sondern auch die Insel unsicher machen. Diesmal durfte ich alleine die Inselferien genießen.
»Ich komme!! Heute Abend kommen Mami und Papi zurück. Dann werden wir alles besprechen. Ich ruf dann an oder schicke euch eine Mail, wenn‘s zu spät werden sollte!«
»Alles klar, Kleines, wir freuen uns. Lass uns nicht zulange zappeln«, lachte Tante Stella und legte auf.
Das war die Idee, meine übrige Zeit sinnvoll zu nutzen, anstatt zuhause nur rumzuhängen. Tante Kyra hatte mir ja schon oft ihr Wissen über die klassische Gesangskunst vermittelt. Leider blieben uns immer nur ein paar Stunden, wenn die Damen wieder einmal in Dresden gastierten. Zum Abschied tröstete sie mich immer.
»Kind, ich kann dir nur das beibringen, was ich selber kann. Beim nächsten Mal gibt’s neue Übungen, versprochen! Ich möchte wieder Unterricht nehmen, meine Kenntnisse und Tricks auffrischen und sehn, was es Neues gibt. Irgendwann kann ich dann selbst unterrichten. Aber so weit ist es noch nicht. Nebenbei müssen Stella und ich die Opernbühnen der Welt weiterhin erobern. Vielleicht ruft ja wieder mal die >Met<«, schmunzelte sie und nahm mich in die Arme, hauchte einen Kuss auf meine Stirn.
Tja und das nächste Mal ließ immer länger auf sich warten. Ich las nur auf den Kulturseiten der Tageszeitungen, wo Kyra und Stella gerade die Opernwelt aufmischten. Ansichtskarten flatterten aus London, Edinburgh, Paris, St. Petersburg, Manaos, Sydney und Kapstadt in unseren Briefkasten. Die letzte Karte kam aus Tokio. Jedes Mal träumte ich mich wieder mit auf die Bühne, als Mimi, Tatjana oder Despina, am liebsten mit den beiden zusammen. Würde ich je soweit kommen? Ein wenig Bühnenerfahrung konnte ich ja schon vorweisen. Im Dresdener Opernchor, manchmal zusammen mit Mami, die mir half, wo sie nur konnte. Jetzt war ich 22 und es wurde langsam Zeit, ernsthaft mit der Ausbildung zu beginnen.
Tante Kyra war der Schlüssel dazu. Von ihrer Erfahrung würde ich am meisten profitieren und das auch noch kostenlos. Denn! Gesangsstunden sind teuer. Rund hundert Dollar pro Stunde, wie sie mir mit erhobenem Zeigefinger klarlegte, sei kein Pappenstiel. Und ohne Basis nutzt auch die qualifizierteste Ausbildung nichts. Hurra, diese Grundvoraussetzung, ein schönes Stimmchen, ja das hatte ich. Jetzt musste nur noch eine Stimme daraus werden. Der Gesangsurlaub auf der Insel würde mich auf jeden Fall weiterbringen. Die Familie war einverstanden. Mami und Papi waren ein bisschen traurig, weil sie ja nicht mitfahren konnten. Der Semperoper Spielplan verhinderte dies. Für die beiden konnte der Intendant auf die Schnelle keinen Ersatz finden.
Auf der Insel
Nun, allein auf die Insel zu fliegen, war kein Abenteuer für mich, ich genoss es. Schließlich wurde ich von zwei geliebten Frauenzimmern erwartet, um es mal mit den Worten des Wachtmeisters Paul Werner aus >Minna von Barnhelm< zu sagen. In der Ankunftshalle wartete aber nur Tante Stella auf mich.
»Oh«, staunte ich, sah mich erwartungsvoll um. »Wo ist denn Tante Kyra? Sie wird doch nicht krank sein? «
Tante Stella lächelte beruhigend.
»Nein, sie ist sehr beschäftigt. Wie immer ist es ihr im letzten Moment eingefallen, dass sie ja noch kein Programm für deinen Unterricht hat. Jetzt grübelt sie schon drei Tage darüber. Wenn ich sie etwas frage, brummt sie nur.«
Tante Stella verstaute mein Gepäck im Kofferraum und startete den Wagen. »Los geht’s. Du wirst Hunger haben!«
Nun ja, es war ja auch schon fast Mittag. Unterwegs schwiegen wir. Meine zweite Sehnsuchtsheimat hatte sich kaum verändert. Ich ließ die Landschaft an mir vorüberziehen. Silbrige, lichte Olivenhaine, kleine geduckte Dörfer zwischen verstreuten Felsen. Alles überstrahlt von der hellenischen Sonne, die ich mittlerweile so liebte, wie meine Patentanten. Nur darum flogen sie so oft wie möglich aus dem nassen kalten München nach Süden. Stella hielt mit einem Ruck vor dem Haus. Tante Kyra lehnte lässig am Türrahmen.
»Wo bleibt ihr denn?«, rief sie und breitete die Arme aus. »Ich bin schon seit drei Stunden fertig mit dem Konzept und warte ungeduldig auf meine Schülerin.«
Ich lief zu ihr hinauf und versank für lange Sekunden in ihrer liebevollen Umarmung.
»Willkommen meine erste, liebste Schülerin«, flüsterte sie und blinzelte zu Stella hinunter. Und schob mich ins Haus. Gleich umfing mich, kühle, blaue Dämmerung. Auf der Terrasse warteten ein kühles Getränk und kleine Häppchen. Tante Stellas Spezialität. Sie hatte aus verschiedenen Zutaten leckere Köstlichkeiten gezaubert, aus dem Rezeptbuch ihrer Mutter. An diesem Tage wurde es zu heiß zum Üben. Wir pflegten eine ausgedehnte Siesta. Danach packte ich meine Koffer aus. Spazierte später durchs Haus, um all die vertrauten Orte meiner Kindheit wieder zu entdecken. Ich war schon lange nicht mehr hier gewesen. Während ich durch den Garten schlenderte, überlegte ich mir eine neue Gestaltung. Genau, das war die Idee! Tante Stellas Garten umzugestalten, sollte meine Diplomarbeit werden. Ich lief bis zu den Stufen, die hinunter zum Meer führten. Ob Tante Stella meine Idee gut finden würde? Die Rosen durfte ich nicht anrühren, das hätte mir lebenslanges Besuchsverbot beschert. Sie waren Tante Stellas Heiligtum. Sie bewahrten mit ihren prachtvollen Blüten das Andenken an Alexander. Und die große Liebe zu seiner Stella und zu Kyra.
Alexander war Tante Stellas Ehemann – und in seinem Beruf als Musikdirektor der Bayerischen Staatsoper, ein berühmter Künstler gewesen. Tante Stella erzählte mir oft von dem glücklichen Leben, das sie mit ihm geteilt hatte. Fast jedes Mal endete auch die lustigste Episode damit, dass Tante Stella in Tränen ausbrach. Dann nahm Tante Kyra sie in die Arme und ich ging still hinaus, um beide in ihrem Kummer nicht zu stören. Alexander Narov kam bei einem schrecklichen Verkehrsunfall ums Leben. Er war auf dem Heimweg von DVD Aufnahmen in Hamburg, als auf der A 8 kurz vor München, auf eisglatter Fahrbahn ins Schleudern geriet, und zwischen Lkw und Anhänger eingeklemmt wurde.
Zeichnungen entstanden in meinem Kopf, die ich gleich nachher zu Papier bringen wollte. Doch dazu kam es nicht. Ich landete im Pool. Oh, war das herrlich, einfach nur rumzuhängen im kühlen Wasser. Die Tanten und ich hatten keine Lust gehabt, extra zum Meer hinunter zu stiefeln. Ein Cappuccino und fröhliche Gespräche, war alles, was wir wollten. Schließlich wollten die beiden das Neueste aus dem Dresdener Opernleben erfahren. Ich lauschte begierig den spannenden Geschichten, die Stella und Kyra von ihren Engagements in aller Welt zum Besten gaben. Kein Telefon störte unsere Runde. Langsam schlich sich die blaue Dämmerung von Westen heran.
»Reichlich trockene Luft hier«, stellte Tante Kyra plötzlich augenzwinkernd fest. »Außerdem knurrt mein Magen wieder. «
Tante Stella grinste spöttisch: »Hast du das gehört, Michaela? Meine liebste Süffleuse hat wieder Durst. Sei bitte so lieb und zünde schon mal die Kerzen an.«
Damit verschwanden die beiden im Haus. Ich zündete brav die Kerzen auf dem Tisch an und freute mich an dem zauberhaften Licht, das jetzt die Terrasse ein wenig erhellte, in der Dunkelheit. Das helle Dunkel blieb. Ein Streifen Abendrot im Westen, der auch auf dem Meeresspiegel funkelte, darüber funkelnde Sterne. Die Zikaden begannen ihr Konzert und ich hörte einfach zu, schloss die Augen und fühlte mich wohl und geborgen, auch wenn der warme Zephyros meine Haare zauste. Er trug vom Grill herüber auch den Duft von Souflaki, gefüllten Tomaten und Tsatziki. Da drang Tante Kyras Stimme in mein Ohr. Ich fühlte ihre kühle Hand auf meiner Schulter.
»Aufwachen, Kleines. Jetzt gibt es was zu futtern.«
Sie hielt mir ein Tomatenbrot unter die Nase, mit viiiel Knoblauch.
Ein exzellenter, rubinroter Rosé durfte natürlich nicht fehlen. Der Hauswein der beiden Damen, den Georgios regelmäßig ins Haus lieferte. »Magst du ein Glas?« Ich nickte. Jetzt war ich im Urlaub angekommen. Noch! Denn morgen begann das das private Gesangsstudium bei Tante Kyra. Ihre schmalen Lippen formten sich zu einem zauberhaften Lächeln. Sie prostete mir zu, legte eine Hand auf ihr Dekolleté, verbeugte sich leicht.
»Ich will ja nicht angeben, Michaela. Ich habe inzwischen dazugelernt, was den Gesangsunterricht betrifft. Elisabeth hat mir viel beigebracht, wovon ich einiges vergessen hatte, aber ich hab’s wieder im Kopf. Ich darf mich jetzt Gesangspädagogin nennen. Ich werde deine Stimme zu Höchstleistungen bringen. Natürlich nicht jetzt in den drei Wochen. Wir müssen ja langsam anfangen. Die Grundlagen legen wir zusammen. Stella wird uns gerne dabei helfen. Sie spielt ja besser Klavier, als ich. Wir schaffen das!«
Sie umarmte mich, drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Tante Stella hatte uns nachdenklich zugehört und wedelte jetzt mit dem Zeigefinger vor Tante Kyras Nase rum.
»Nun mal langsam mit der Violin‘, die ist noch neu! Sei nicht so streng mit ihr. Sie ist doch noch jung. Falscher Ehrgeiz bringt nichts. Du weißt doch wie das ist, wenn man die Stimme zu sehr forciert! Ich sage nur, Husten!«
Tante Kyra schaute sie über den Rand ihrer Lesebrille mit großen kornblumenblauen Augen an, in denen es gefährlich funkelte.
»Ja, ja, ich hab’s kapiert, meine Liebste! Ich werde ganz lieb sein und nicht drängeln. Aber jetzt Schluss mit der Theorie. Morgen geht’s in die Praxis. Genießen wir lieber den schönen Abend!«
»Lasst uns erst mal tafeln«, lachte Tante Stella. »Alles andere kann warten.« Damit war das Thema vom Tisch. Mit der Violin‘ meinte sie meine Stimme, die in der Tat neu war und etwas dünn klang, trotz vieler Übungsstunden in der Musikschule und im Opernchor. Ich vertraute Tante Kyras gesangspädagogischen Fähigkeiten und hoffte auf mehr Fülle und Ausdruckskraft. Es würde uns beiden viel Zeit und Geduld abverlangen. Wir genossen die blaue Nacht, sahen in die Sterne und tranken Rosé. Beide Damen gingen bald zu Bett. Ich blieb noch eine Weile auf der Terrasse und hörte die beiden ab und zu leise kichern. Als der Zephyros stärker wurde, löschte ich die Kerzen und nahm die leeren Flaschen und Gläser mit ins Haus…
Schwetzingen
Michaela blätterte im Programmheft und überlegte dabei, ob sie in den Speisesaal hinuntergehen oder das Essen aufs Zimmer bestellen sollte. Sie schaute immer wieder auf ihre Uhr. Wo Claudia nur blieb? Claudia Wild war ihre Agentin und eigentlich immer pünktlich. Als sie neulich telefonierten, hatte sie eine wichtige Neuigkeit nicht verraten und damit Michaela erst recht neugierig gemacht. Da klopfte es energisch an der Zimmertür. Eine junge Frau mit dunkler Kurzhaarfrisur lugte um die Ecke. »Störe ich?«, fragte sie leise. Michaela blickte lächelnd auf.
Du störst nie, Claudia. Endlich! Du hast mich ja lange zappeln lassen. Hast du wieder mal den Zug verpasst? Sie umarmten sich. Claudia wedelte aufgeregt mit einem Brief vor Michaelas Nase herum.
»Nee, der Typ von der Agentur in Aachen hat ewig nicht angerufen, um mir die Bestätigung zu geben. Ich habe schon ein neues Engagement für dich angeleiert. Hoffentlich nimmst du an! So eine Gelegenheit kommt nie wieder, sage ich dir! Das Stadttheater Aachen sucht dringend eine >Eliza<. Du solltest dich bewerben – oder am besten gleich hinfahren«, sprudelte sie hervor.
»Die >Eliza<?« Michaela war skeptisch. »Ist das wirklich eine Partie für mich? Eignet sich meine Stimme für ein Musical?«
»Na klar, du musst ja nicht opernmäßig aufdrehen«, lachte Claudia, »du warst doch auch ein Jahr in der Musicalklasse oder standet ihr nur auf Oper?«
Michaela drohte ihr mit dem Zeigefinger.
»Keine abfälligen Bemerkungen über die Oper – sonst!«
Claudia ließ sich ihr gegenüber in einen Sessel fallen.
»Nee, war nicht so gemeint«, wehrte sie ab. »Lies mal das Angebot durch. Ist doch eine gute Chance. Ich kann erst verhandeln, wenn du zugestimmt hast.«
Michaela nickte, stand auf und holte ihren Terminkalender vom Schreibtisch, blätterte hin und her.
»Wann ist denn das Casting? Hmm, im September. Da habe ich ein paar Tage frei. Also Claudia, ruf in Aachen an, mach einen Termin aus. Ich bin dabei. Kommst du mit zum Essen und morgen früh mit zur Generalprobe?«
»Deswegen bin ich ja hier«, lachte Claudia. »Ich muss mich doch ab und zu mal wieder von deiner Stimme verzaubern lassen.«
Im Hotelrestaurant setzten sie sich an einen kleinen Tisch am Fenster. Sie genossen das Spargel- Menü und sprachen hauptsächlich über Michaelas neue Pläne. Wichtigstes Thema war das Engagement in Aachen und das Konzert Ende September in Meran, welches Claudia ihr vermittelt hatte. Der Veranstalter hatte ihren Vorschlägen zugestimmt. Danach würde man weitersehen. Vielleicht konnte sie ja mit Claudias Verhandlungsgeschick in Aachen einen Zweijahres -Vertrag ergattern. Ich muss unbedingt Tante Stella anrufen, dachte sie. Sie kann mir sicher ein paar Tipps geben. Sie kannte ja den Betrieb am Stadttheater sehr gut.
Michaela
Aber erst mal musste ich die Generalprobe überstehen. Das verflixte Lampenfieber, das ich von Mami geerbt hatte, hinderte mich daran, das reichhaltige Frühstück zu genießen. Keine Lust auf Rührei mit Speck und Bohnen, sowieso nicht. Hilfe! Ich konnte mich nur zu einem Milchkaffee und Käsebrötchen zwingen. Sonst ging nichts rein – oder gleich wieder raus und das wollte ich nicht riskieren. Tante Kyras gute Ratschläge gegen Lampenfieber schwirrten mir durch den Kopf. >Du schaffst das<, hatte sie mir immer wieder gesagt. Die Partie der >Micaëla< ist ja nicht so groß. Die Kollegen verstanden mich. Ihnen erging es ja nicht anders. Also los, ins Kostüm schlüpfen und ab in die Maske. Toi, Toi, Toi von Claudia, ab auf die Bühne. Die Musik fuhr mir in alle Zellen – und ich war wirklich die Micaëla, die Don José innig liebt, ihn aber doch nicht bekommt, weil er Carmen verfällt. Schüchtern, wie die Rolle es verlangte, schlängelte ich mich durch die Menge auf dem Platz vor der Zigarettenfabrik, um José zu suchen. Carmen hatte José inzwischen eingefangen und verhext. Unsere Carmen, Sylvia Saamio, sang und spielte sie perfekt, mit dunklem Timbre und rassiger Figur. Man nahm ihr diese Rolle sofort ab. Hoffentlich würde das Publikum es auch so sehen. In ihr bekam Tante Kyra eine Konkurrentin, wenn sie sich je begegnen würden.
Privat war Sylvia eine liebenswürdige, etwas schüchterne junge Frau. Sylvia Saamio war Finnin, hatte samische Wurzeln mit einem Touch Bohemien, den sie ihrem Großvater verdankte, wie sie oft lachend zugab. Die männermordende Carmen gab sie nur auf der Bühne. Wir verstanden uns gut, unterhielten uns in Finnisch und Englisch. Das gab immer wieder Anlass zu Lachanfällen. Ich hatte doch die Grammatikregeln nicht mehr alle im Gedächtnis, nach ca. 4 Jahren, seit der Abi-Reise. Wann braucht man in der Oper schon mal Finnisch? In Savonlinna vielleicht? Aber soweit war es noch nicht.
Ach du Schreck! Jetzt ging’s mir wie Mami. Ich fand den Brief für Don José nicht mehr. Mami war dasselbe Missgeschick passiert, ausgerechnet bei der Premiere! Tante Kyra hatte sie aber beruhigen können. So wie sie jetzt auch in meinen Gedanken flüsterte: »Tief Luft holen, Michaela, lass deine Stimme das Denken übernehmen.«
Puh! Und es klappte. Ich schnappte mir einen herumliegenden Zettel und meine Stimme ließ mich nicht im Stich. Später im dritten Akt brachte ich ein paar zu dunkle Töne rein:
»Ich sprach, dass ich furchtlos mich fühle…«, sah wie der Dirigent die Stirn runzelte. Daran müsste ich noch arbeiten, bemerkte er bei der Nachbesprechung. Vielleicht sollte ich doch auf Mezzo umsteigen? Ich werd‘s mir überlegen. Ich bin ja noch in der Ausbildung. Da gab’s noch diverse Möglichkeiten.
Die Carmen -Premiere in Schwetzingen wurde ein Erfolg. Unser ganzes Team wurde von der örtlichen Presse gefeiert. Umjubelt natürlich, Manuel Castellon, der als Don José und echter Spanier aus Sevilla, von weiblichen und männlichen Fans belagert wurde. Sylvia und ich waren nicht so gefragt. Die Herren Fans hielten sich zurück. Aber wir wurden doch einige Autogramme los, vorwiegend bei älteren Damen (kicher).
Mann war ich glücklich. Mein erstes Debüt. Sowas gibt wirklich Auftrieb und würde hoffentlich die nächsten Jahre noch anhalten. Tausend Dank an meine Patentanten, die mein Talent erkannt hatten und mich immer noch fördern. Das Fernsehen sendete eine informative Reportage über das Carmen -Projekt, in der alle zu Wort und Gesang kamen. Bei den Proben standen die Fernsehleute immer ein wenig im Wege und gerieten bei der Hauptprobe in den Trubel der ersten Szenen. Ich hielt den Tonmann für Don José, er stand mit dem Rücken zu mir, ich merkte es aber schnell.
»Nein, ihr seid nicht der, den ich meine, Don José – so wird er genannt.«
Der Tonmann schaute mich ganz verdutzt an, als ich ihn ansang. Er grinste und ich ging weiter. Alle zehn Vorstellungen wurden ein Erfolg. Nach der Dernierenfeier wollte ich rasch ins Hotel. Ich hatte keine Lust mehr auf die vielen Reden und Glückwünsche. Am anderen Tag flüchtete ich nach Hause, zu Mami und Papi. Dort konnte ich mich am besten erholen. Inzwischen hatte Claudia den Termin mit dem Stadttheater klargemacht. Ein paar Tage bis zur Abreise nach Aachen blieben mir noch. Dort wartete ein neues Abenteuer auf mich. Die Welt des Musicals. Tante Stella hatte damit in Aachen erste Erfolge gefeiert. Erst im Chor und dann als Solistin, unter anderem als >Eliza<. Ich hatte aber immer noch so meine Zweifel. Meine komödiantische Seite war nicht gefördert worden, während der Unterrichtsstunden in der Musikhochschule. Der Dozent legte herzlich wenig Humor an den Tag. Er nahm selbst die witzigsten Texte außerordentlich bierernst. Tante Kyra hätte ihre helle Freude an diesem humorlosen Herrn gehabt.
Das forderte unsere Clique, wir waren zu sechst, immer wieder zu Streichen heraus. Leider kann ich mich nicht mehr erinnern, was wir so alles anstellten. Nur, dass wir einige Texte umdichteten und mit bierernster Miene in unseren Vortrag einbrachten. Mitschüler und Zuschauer konnten kaum an sich halten, um nicht laut heraus zu platzen. Nur, unser ernster Professor merkte in den meisten Fällen nichts. Nun, der Gute wurde bald darauf pensioniert und der neue Dozent brachte neue Akzente in den Musicalunterricht.
Da war es aus mit unseren persönlichen Kabarettprogrammen. Tante Kyra war übrigens immer sehr begeistert, wenn sie unsere Texte las. Entdeckte sie doch in den Umtextungen ihre eigene Kreativität von damals wieder. Sie hatte es noch nicht verlernt und forderte immer wieder Regisseure und Souffleusen heraus. Aber nur bei den Proben, wenn es nach ihrem Gefühl gar zu ernst zuging…
Dresden
Thomas hob seine Tochter mitsamt ihrem Gepäck aus der Waggontür und küsste sie auf die Stirn.
»Da ist ja mein kleiner Opernstar. Mami freut sich schon sehr auf dich. Sie hat die ganze Zeit mit dir mitgefiebert. Seit deiner Premiere gab es kaum einen anderen Gesprächsstoff bei uns. Sie ist schon wieder in der Oper. Heute ist die letzte Vorstellung von >Cavalleria Rusticana<. Ab morgen haben wir viel Zeit für uns. Die Ballettcompagnie übernimmt die Unterhaltung und mein Stellvertreterdirigiert. Allerdings muss ich zwischendurch Noten studieren.
»Ach Papi, können wir gleich zu Mami fahren? Ich hab doch so viel zu erzählen.« Thomas warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Hmm, wenn wir uns beeilen, erwischen wir sie am Bühneneingang. Sie weiß ja, dass du kommst und wird auf uns warten.«
Sie mussten sich Geduld üben. Der Straßenverkehr ließ kaum eine Lücke, um aus dem Parkplatz vor dem Bahnhof zu kommen. »Zu Fuß wären wir schneller«, stellte Michaela fest. Thomas schüttelte den Kopf.
»Willst du Mamis Siebensachen und die Blumen aus der Garderobe bis nach Hause schleppen?«
Am Bühneneingang wartete niemand. Der Pförtner schickte sie hinauf zur Garderobe. Es wird noch gefeiert, feixte er. Vater und Tochter drängelten sich durch die Chorleute und klopften an die offene Tür. Ein fröhliches >Herein< ertönte. Sektkorken knallten. »Immer herein mit euch«, lachte Christina. »geduldige Schafe gehen viele in einen Stall.«
Man konnte die kleine Person fast übersehen, in all dem Gewimmel aus Gratulanten und Blumensträußen. Die Freunde verzogen sich nach und nach. Sie wollten die Wiedersehensfreude der Familie nicht stören. Der Intendant zwinkerte im Hinausgehen Michaela zu:
»Freut mich, so eine berühmte Sängerin in unserem Haus zu sehen.«
Sie dankte ihm lachend für das Kompliment, dachte aber im Stillen.
»Berühmt? So weit ist es noch lange nicht, aber schön wär‘s ja!«
Es war aber doch fast Mitternacht, als die Familie Seiler-Schubert zuhause ankam. Sie schlichen sich leise ins Haus, um die Großeltern nicht zu wecken. Gegen zehn Uhr am anderen Morgen wurden Christina Und Thomas vom Kaffeeduft geweckt, der aus der Küche herüberwehte. Michaela hatte den Kaffeetisch schon gedeckt und liebevoll geschmückt. Sie schenkte allen Kaffee ein und berichtete von ihren Plänen.
»Hmm, wie hab‘ ich das vermisst. Gibt’s nich‘ in Schwetzingen.« Sie biss herzhaft in ihr Schmalzbrot. »Ich möchte gerne wieder mal zu Onkel Kurt fahren. Mal sehen, was unsere Pferdchen machen. Sicher springen auch wieder Fohlen umher.« Christina nickte.
»Dein Onkel hat schon nach dir gefragt, letzte Woche. Er hat sich bei mir beschwert, weil du dich gar nicht mehr auf dem Gestüt sehen lässt.« »Ja«, seufzte Michaela, rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee.
»Mit Bille war ich fast jede Woche draußen. Aber seit sie nicht mehr hier ist, habe ich gar keine Lust mehr auf das Landleben. Bevor ich nach Aachen fahre, möchte ich aber noch mal hin. Vielleicht noch diese Woche. Wir sollten das schöne Herbstwetter nutzen.« Thomas ließ die Zeitung sinken.
»Gute Idee, meine Kleine. Ich kann leider nicht mitfahren. Ich muss die Wiederaufnahme von >Orpheus und Eurydike< vorbereiten.« Michaela riss die Augen auf.
»Wiederaufnahme? Etwa mit Tante Kyra und Tante Stella?«
»Ja«, schmunzelte Christina und verriet so das kleine Geheimnis. »Kyra hat vor ein paar Tagen ihr Kommen zugesagt. Stella kommt später, sie ist noch in London. Wir wollten es dir eigentlich nicht verraten.«
Michaela
Ich freute mich riesig auf meine Patentanten. Sie brachten immer wieder Leben in unsere Bude. Wenn sie in Dresden gastierten, wohnten sie zwei Häuser weiter in einer gemütlichen Pension, oben unter dem Dach. Viel Zeit verbrachten sie aber bei uns. Es gab ja immer etwas zu besprechen. Ob nun über die Oper oder über Gott und die Welt. Tante Kyra testete immer ihre neuesten Einfälle an uns, wie sie eine jeweilige Rolle zu gestalten vorhatte. Wir waren ein dankbares, aber auch kritisches Publikum. Doch letzten Endes fanden wir alles toll, was die beiden so ausheckten. Selbst Papi konnte dem Charme der beiden selten widerstehen. Mami freute sich schon auf die Proben und die Aufführungen. Also war das Trio Infernale der Oper wieder vereint. So wie damals in München bei der >Zauberflöte<. Schade, dass die Synopsis von >Orpheus und Eurydike< nicht so lustig ist. Aber traurige oder düstere Opernlibretti waren für die drei Damen noch nie ein Grund gewesen, bei den Proben todernst zu agieren, außer natürlich bei den Vorstellungen – und selbst da blieb der Humor nicht außen vor. Tante Kyra erzählte gern von ihren Streichen bei ihrem Debüt an der >Met<, als sie mit Tante Stella die Rolle getauscht hatte. Publikum und Dirigent bemerkten es erst im letzten Bild der Derniere. Ich war gespannt, was sie sich diesmal ausgedacht hatten…
Zur gleichen Zeit auf der Insel
Die Dämmerung schlich von Westen her über den Horizont. Die Häuser des Dorfes, drüben auf dem Felsen schienen in Flammen zu stehen. Ein leichter Wind kam auf, spielte mit den silbernen Blättern des alten Olivenbaumes.
»Ich liebe diese blaue Stunde, bevor die Zikaden ihr Konzert beginnen«, flüsterte Kyra und küsste Stella zärtlich, die sich gerade über sie beugte. »Schau nach oben«, lachte Stella. »Die ersten Sterne tauchen auf. Es wird Zeit für das Abendessen.« Sie stand auf, zündete die Kerzen in den Windlichtern an.
»Ich hole inzwischen den Wein, dann können wir die blaue Stunde noch mehr genießen. In den nächsten Wochen warten andere Zeiten auf uns.«
»Ja«, sinnierte Kyra. »Die traurige Geschichte von Tod und großer Liebe, die selbst den Tod besiegen kann. Ich freue mich trotzdem darauf. Christina wird den Amor singen. Vielleicht ist Michaela mit im Chor? Thomas dirigiert. Die Familie ist komplett.«
Stella stimmte ihr zu und füllte die Gläser, nahm Kyras Hand.
»Irgendwann heißt die Semperoper dann Seiler-Schubert Oper. Wäre doch mal was Neues! Ich überlege gerade, was ich vergessen hab‘ einzupacken. Na, dass stellt sich spätestens morgen Abend heraus. Liegen die Vertragspapiere noch auf dem Schreibtisch?«
Kyra blinzelte und trank ihr Glas in einem Zug aus.
»Die sind schon in meiner Notentasche und die Flugtickets. Übrigens ein Direktflug nach Dresden, ohne lästiges Umsteigen. Richte dich schon mal auf circa vier Stunden ein. Georgios bringt uns zum Flughafen?« Sie sah Stella fragend an.
»Klar, er weiß Bescheid und wird wie immer pünktlich sein.«
Der Wind wehte stärker, die Kerzen auf dem Tisch begannen zu flackern. Drei Sternschnuppen zogen über den Himmel. Immer mehr zischten hinterher und tauchten in die Wellen.
»Schnell, wünschen wir uns was«, rief Stella. Kyra kicherte.
»Der Wein ist ziemlich stark. Ich sehe schon ganze Schwärme von fallenden Sternen. Werden unsere Sterne auch einmal so fallen und im Nichts verschwinden?« Stella erschrak.
»Nein, meine Liebste. Das sind nicht unsere Sterne Alto und Mezzo. Das sind die Perseiden. Der gute alte Perseus verteidigt sich. Wer weiß was er wieder angestellt hat. Andromeda liest ihm die Leviten.«
So saßen sie eine Weile und sahen in die Sterne. Langsam wurde es kühl auf der Terrasse. Die Kerzen waren längst heruntergebrannt. Die Zikaden schwiegen. Stella zog Kyra vom Liegestuhl hoch, in ihre Arme.
»Komm lass uns schlafen gehen. Morgen müssen wir früh raus. Du weißt, das Flugzeug wartet nicht auf uns Diven. Vor allem nicht auf eine bestimmte Diva, die immer herumtrödelt!«
Kyra kicherte und gab Stella einen stürmischen Kuss.
»Kenne ich die Dame? Geh‘ schon mal vor. Ich räum‘ noch schnell alles auf, damit Eleni morgen nicht hinter uns herräumen muss.«
»Mach nicht zu lange, mein Kätzchen. Ich warte sehnsüchtig auf dich!«
Stella eilte die Treppe hinauf. Wenig später schlüpfte Kyra zu ihr unter die Decke, erschreckte sie mit eiskalten Füßen. Sie kuschelten eine Weile, bis Kyras Füße endlich warm waren. Die Nacht war kurz. Stella wachte langsam auf. Ihre Hand suchte Kyra, streichelte deren eleganten Rücken. Kyra murmelte etwas und drehte sich weg. Doch lange hielt sie es nicht aus und wandte sich Stella wieder zu, die gerade aufstehen wollte. Mit schläfrig verliebtem Blick sah sie zu Stella auf.
»Bleib doch«, flüsterte sie heiser, »ich will dich hier und jetzt!«
Stella sah das funkelnde Begehren in den kornblumenblauen Augen, ließ sich zurückfallen und küsste sie leidenschaftlich. Im Taumel des gemeinsamen Glücksmomentes vergaßen sie wieder einmal die Zeit. Ein gemütliches Frühstück dauert gewöhnlich länger, aber Georgios stand plötzlich vor der Tür. Schnell die Koffer eingeladen und ab zum Flughafen. Im Flugzeug widmeten sich die Damen dann ausgiebig dem zweiten Frühstück. Danach zog Stella ein spannendes Buch aus der Tasche und lehnte sich bequem zurück. Kyra studierte ihre Orpheus-Partie. Dabei fielen ihr immer wieder die Augen zu. Sie blinzelte vergebens dagegen an, gab der Versuchung bald nach und schlief an Stellas Schulter ein. Gut, dass Stella neben ihr saß und nicht in London probte. Die quäkende Stimme aus dem Lautsprecher riss beide aus ihren Gedanken.
»Wir werden in Kürze Dresden erreichen. Bitte stellen sie ihre Sitzlehnen aufrecht und schnallen sie sich an.«
Die Maschine begann den Sinkflug. Rechts sah man schon das silberne Band der Elbe durch die Wolken blinken. Ausnahmsweise mal eine pünktliche Landung – und auch die Koffer ließen nicht lange auf sich warten. Stella und Kyra wurden von der Menge, die dem Ausgang zustrebte, mitgezogen. Sie erwarteten ein Empfangskomitee, hielten aber vergebens Ausschau danach. Niemand wartete hinter der Glasscheibe auf sie. Ein wenig ratlos standen sie in der Ankunftshalle an der Coffee-Bar. Niemand kam jubelnd auf sie zugestürmt, um sie freudig zu begrüßen.
»Dann warten wir halt, bis die Leute sich verlaufen haben«, murrte Kyra enttäuscht und nippte an ihrem Kaffee. »Huch, verflixt heiß!« Stella nickte. Auch sie blies vorsichtshalber in ihren Kaffeebecher. Ihr Blick blieb auf den Schlagzeilen der ausgehängten Tageszeitungen hängen. Sie schüttelte den Kopf.
»In Dresden gibt’s auch nicht viel Neues. Ich werde den Taxifahrer interviewen. Die wissen immer die neuesten Klatschgeschichten.«
In diesem Moment klingelte Kyras Handy aufdringlich.
Neue Nachricht! Neue Nachricht!
>Guuden Tach, ihr Lieben! Seid ihr gut gelandet? Wir können euch leider nicht abholen. Die Familie hat Gesamtprobe. Wir sehen uns heute Abend. Die Schlüssel liegen wie immer bei Helga und Franz. Sie erwarten euch zum Mittagessen! LG Christina, Thomas und Michaela.<
Kyra schob das Handy zurück in die Tasche und trank ihren Kaffee aus. Sie hakte sich bei Stella ein, die ihren Kaffee fast verschüttet hätte. »Also dann los, schnappen wir uns ein Taxi.«
Stella zögerte. »Mooment, Süße, lass mich doch erst meinen Kaffee austrinken. Soo eilig wird’s ja nun nicht sein! Die erste Probe ist doch erst in drei Tagen. Direktor Lanz erwartet uns auch nicht eher. Da können wir vorher noch einen gemütlichen Einkaufsbummel machen, wenn ich weiß, was ich nicht eingepackt habe. Danach gehen wir ins Operncafé zum Essen. Kyra nahm Stella in die Arme und drückte sie kurz.
»Ohne dich, meine Liebste, käme ich nie zum Essen und würde verhungern. Essen und Trinken hält eben Leib und Seele zusammen.«
Das Taxi hielt vor der Villa Seiler-Schubert. Kyra drückte dem Fahrer einen Geldschein in die Hand und schnappte sich das Gepäck. Sie wandte sich zu Stella um.
»Wie sollten durch den Garten gehen. Die beiden werden schon warten.« Helga und Franz begrüßten sie herzlich.
»Fein, dass ihr schon da seid. Wir können gleich essen. Oder wollt ihr euch erst frisch machen?«
»Nicht nötig«, lachte Stella, »wir sind noch frisch. Im Flugzeug haben wir den Schlaf nachgeholt.«
Nach dem guten Mittagessen (Semmelknödel mit Pilzen) gingen die Freundinnen hinüber in ihre Wohnung. Die Koffer blieben mitsamt den Schuhen in der Diele. Schmusestunde war angesagt.
Stella
Vier Stunden Flug lagen endlich hinter uns. Michaelas Großeltern empfingen uns mit einem leckeren Mittagessen. Erst dann durften wir uns in unsere Wohnung, zwei Häuser weiter unter dem Dach, zurückziehen. Kyra öffnete gleich alle Fenster, >Frische Luft im Puff<, war einer ihrer Sprüche. Wir waren ja auch schon lange nicht mehr hier gewesen. Unser Mief von vor drei Monaten hing noch in den Räumen. Kyra blätterte in einem Stapel alter Zeitungen.
»Die sollten wir abbestellen. Wir kommen ja kaum noch zum Lesen. Post gibt’s diesmal keine, also auch keine Rechnungen und Neuigkeiten.«
»Doch, die gibt es«, lachte ich und schlang meine Arme um sie, küsste sie auf den Scheitel. »Du solltest wieder mal deine Haare tönen, meine Liebste, Das Grau kommt schon wieder durch.« Sie fuhr herum, blitze mich an.
»Danke gleichfalls«, frotzelte sie, »bei dir ist das kommende Seniorenblond auch nicht mehr zu übersehen. Aber das hindert mich nicht daran, dich jetzt und auf der Stelle zu vernaschen!«
»Wir wollten doch erst die Koffer auspacken. Ich …«, protestierte ich.
Es half mir nichts. Sie zog mich zu sich herunter und ihre Hände entfachten in mir das Feuer der Leidenschaft. Es hätte noch stundenlang so weitergehen können. Die Türklingel holte uns aus der Seligkeit. Wir machten uns in Windeseile salonfähig und ich öffnete. Michaela stand vor der Tür. Sie strahlte.
»Ich soll euch abholen Mami richtet schon das Abendessen.«
Kyra kam dazu und dann verschwand Michaela in unserer Umarmung und hielt es eine Weile aus. Kyra löste die innige Runde schließlich auf, ging ins Schlafzimmer, um die Mitbringsel für die Familie aus dem Koffer zu kramen.
Christina fiel uns um den Hals. Aber wir waren auf die stürmische Begrüßung vorbereitet. Aus dem Wohnzimmer drang fröhliches Gebell. Dann sauste ein süßer Schäferhundwelpe zwischen unsere Beine. Die schwarzgoldene Fellkugel war ein knappes, halbes Hundejahr alt, mit weichem Fell und Babyknickohren. Er schaute uns treuherzig an, in der Hoffnung, auf den Arm genommen zu werden. Was ich natürlich sofort tat. »Oh«, lachte Kyra und knuddelte mich und den Hund, »da habe ich wohl Konkurrenz bekommen?«
»Richtig«, stellte ich grinsend fest, »so schaust du auch immer, wenn du mich verführen willst. Tja, und ich fall immer wieder darauf rein. Ich kann einfach nichts dagegen tun.«
»Das Hundchen und ich sind uns einig, siehst du«, freute sich Kyra, als die nasse Hundezunge über ihr Gesicht fuhr. »Wie heißt der kleine Kerl eigentlich?«, fragte sie und nahm ihn auf den Arm. Michaela feixte.
»Sie! Heißt Natascha vom Goldhof. Wir rufen sie Tascha.«
Kyra strahlte. »Wie mein zweiter Vorname, der dritte ist Lara.« Ich schniefte.
»Damit kann ich leider nicht dienen. Ich habe nur zwei Vornamen, Stella Dorothea. Der zweite ist für mich Programm, weil den Cherubino, meine Lieblingspartie, zum ersten Mal eine Sängerin namens Dorothea Bussani gesungen hat. Bei der Uraufführung 1786 unter der Stabführung des Maestro Mozart höchstpersönlich.« Kyra schmunzelte.
»Das habe ich nicht gewusst. Ich erfahre immer wieder was Neues über dich!«
Der Abend verging schnell unter gemütlichem Geplauder, nach einem köstlichen Abendessen. Tascha verschlief ihn träumend und leise schnarchend in Kyras Schoß. Da hätte ich eigentlich eifersüchtig sein sollen, aber kann man auf ein Hundebaby böse sein? Ich nicht! Wir hätten es am liebsten mitgenommen in unsere Wohnung. Ging aber nicht. Tascha gehörte zu Michaela und war immer ein Grund für uns, oft lange Spaziergänge zu unternehmen, wenn es die Proben und die Vorstellungstermine zuließen. Bevor wir nach Hause gingen, gab Christina uns noch die Probenpläne in die Hand.
»Die könnt ihr mit euren Terminen abgleichen«, meinte sie, »aber denkt daran, ich brauche euch an einem Tag zum Shopping.« Wir versprachen es ihr gerne. Thomas grinste:
»Ich muss doch hoffentlich nicht mitgehen?« Christina lachte.
»Nee, ich nehme nur deinen Geldbeutel mit.«
Die kommenden Tage waren ausgefüllt mit Sprach- und Stellproben und den ersten musikalischen Terminen. Kyra hielt sich zurück. Sie brachte selten einen ihrer üblichen Probescherze. Wollte sie es sich mit Christina und Thomas nicht verderben? Die Synopsis von >Orpheus und Eurydike< lädt ja nicht zur unbedingten Fröhlichkeit ein. Warum war meine Kleine nicht so gut drauf? Sie wirkte oft sehr erschöpft und müde. Sie würde mir doch nicht wieder krank werden? Das war meine größte Angst in diesen Wochen. Vor der Generalprobe hatten wir ein paar Tage frei…
Besuch in Moritzburg
Christina füllte die Kaffeetassen und verteilte die Eierschecke auf die Teller.
»Wie wäre es, wenn wir morgen wieder mal zu Onkel Kurt fahren?«
Michaela fragte es zwischen zwei Bissen.
»Tante Kyra, Tante Stella, ihr wollt bestimmt die Fohlen sehen, die vor zwei Wochen geboren wurden?«
Die Angesprochenen nickten eifrig.
»Nicht nur die Fohlen«, freute sich Stella. Kyra prustete.
»Ja, sie möchte auch Kurt wiedersehen.« Sie machte eine theatralische Pause. »Ihre neue Liebe! Wer weiß was da noch alles draus wird!«, prophezeite sie.
Stella stellte die Kaffeetasse klirrend auf die Untertasse zurück, schluckte und schwieg. Leichter Zorn stieg in ihr hoch. Musste Kyra wieder einmal lästern? Oder war das ein Anflug von Eifersucht bei ihr? Dabei wusste Kyra doch genau, dass sich zwischen Stella und Kurt noch nie etwas abgespielt hatte, was Kyra zornig machen müsste. Nun, Kurt schwärmte für Stella, das war unübersehbar. Doch sie hatte bisher seinem Drängen nie auch nur den geringsten Grund geliefert oder ihm Hoffnung gemacht. Stella mochte Kurt aber das war auch alles – und sie mochte Pferde und das Ambiente des Gestüts. Einzig und allein die Aussicht mit Kyra gemeinsam auszureiten, vom Sattel aus, die Umgebung zu erkunden und dabei den Opernalltag für ein paar Stunden auszublenden. Das allein war der Grund, warum es Stella immer nach Moritzburg zog. So wie vor ein paar Jahren in der Ukraine, als sie Kyras Sommerferienheimat besuchten. Bisher hatten sie noch keine heimeligen Plätze im Moritzburger Wald entdeckt, wo sie nach einem wilden Ritt in der Sonne liegen konnten und sich amüsieren.
Kurt war charmant, höflich und wohlerzogen und auch so fröhlich und unbeschwert, wie seine jüngere Schwester Christina. Zumindest sah er Alexander ein wenig ähnlich. Graue Strähnen durchzogen sein dichtes Haar. Figurmäßig war er klein geraten, aber drahtig, also typisch Jockeyfigur. Die Pferde dankten es ihm sicherlich, dass er sie nicht mit viel Gewicht belastete. Mit seinen Pferden ging er genau so liebevoll um, wie mit den Menschen in seiner Umgebung. Stella genoss seine Nähe, wenn sie auf dem Gestüt war. War er auch musikalisch? Sie wusste es nicht. jedenfalls hatte er keine Chancen bei ihr.
Stella gehörte zu Kyra und sie mochte deren Zorn auf keinen Fall herausfordern, wie damals in dieser unseligen Nacht. Sie hatte diese schrecklichen Minuten nie vergessen, sondern tief in ihrem Inneren vergraben. Selten kam die Erinnerung daran wieder. Sie ließ es Kyra nie spüren, liebte sie dann umso leidenschaftlicher, bis beide sich im Glückstaumel verloren.
Michaela
Ein richtig schönes, wenn auch nicht langes Wochenende stand in Aussicht. Vier Mädels machten sich auf den Weg nach Moritzburg, drei davon begeisterte Reiterinnen. Mami mochte Pferde auch, aber nur aus sicherer Position. Ich konnte sie nicht davon überzeugen, dass das Glück auf dem Rücken der Pferde lag. Sie kutschierte lieber und hielt die Zügel fest in ihren zierlichen Händen, so wie in der Familie. Papi konnte leider nicht mitfahren. Er musste seine Notizen für die Gesprächsrunde in der nächsten Woche zusammenstellen. Die Planung für die nächste Spielzeit begann und er war froh, den Pferden nicht zu nahe kommen zu müssen. Reiten war auch nicht sein Ding. Vorne beißen sie, hinten schlagen sie aus und der Mitte sind sie zu hoch, war seine Ausrede, nicht mit nach Moritzburg zu fahren.
»Mami gib Gas, fahr dem Regen davon!«, rief ich, aber es half nichts. Der Regen fuhr mit und auch in Moritzburg plätscherte er fröhlich weiter.
»Oh Mann, dann können wir nicht zu den Fohlen auf die Weide.«
Onkel Kurt kam gerade aus dem Stall, als wir mit Schwung durchs Hoftor fuhren. Er begrüßte Tante Kyra und Tante Stella mit einem eleganten Handkuss – und Mami und mich drückte er an sich.
»Herzlich willkommen. Habt ihr das Sauwetter mitgebracht?«, schmunzelte er. Mami stupste ihn in die Seite, »nun übertreib‘ mal nich‘, es nieselt doch nur.« Onkel Kurt war zuversichtlich. »Das hört gleich wieder auf. Bringt euer Gepäck nach oben und kommt zum Kaffee. Danach können wir in den Stall gehen.«
Er nahm mich beiseite und flüsterte: »Denk dir doch schon mal Namen für die Kleinen aus. Ich habe noch keine gefunden, die passen könnten. Du hast doch immer so gute Ideen.«
»Ok, geht klar«, rief ich und rannte die Treppe hinauf in mein altes Zimmer.
Hmm, die Reitklamotten würden wir heute nicht mehr brauchen. Denn der Regen folgte nicht Onkel Kurts Befehl. Es pladderte weiter. Auf nasser Weide zu traben und sich das Wasser in den Kragenlaufen zu lassen, war kein Vergnügen, weder für Mensch noch Pferd. Morgen war auch noch ein Tag. So blieb’s bei der fröhlichen Kaffeerunde und lockeren Plaudereien. Wir hatten uns lange nicht gesehen. Onkel Kurt flirtete unauffällig, so dachte er, mit Tante Stella. Aber die reagierte kaum, ließ seine Blicke an sich abgleiten. Trotzdem wurde Kyra zusehends nervös.
»Können wir jetzt in den Stall gehen, bevor es dunkel ist?«, fragte sie leise, mit einem Blick auf Stella. Onkel Kurt verbeugte sich galant, nahm Tante Kyras Arm.
»Wenn die Damen mir folgen würden.«
Mein Cousin Klaus lehnte lang und schlaksig am Stalltor, tippte auf seinem Smartphon herum.
»Hallo allerseits. Bin gerade fertig mit der Stallarbeit, muss aber gleich in die Stadt. Kommst du mit Cousinchen?«
Ich winkte ab. »Nee, keine Lust. Ich möchte die Fohlen sehen.«
Vorsichtig schoben wir das Stalltor wieder auf, wollten Mütter und Kinder nicht erschrecken. Die Stuten äugten aufmerksam zu uns herüber. Drei langbeinige Fohlen wandten ihre Köpfe, musterten uns neugierig. Als sie Onkel Kurt erkannten staksten sie auf uns zu. Ein kleiner Fuchs, ein kleiner Goldbrauner und ein fast schwarzes Fohlen mit großen Samtaugen, welches direkt auf Tante Kyra zusteuerte. Deren Augen leuchteten auf und sie wischte sich schnell ein paar Tränen weg.
»Meine Nachtkönigin!«, flüsterte sie. »Genauso hast du als Baby ausgesehen.« Sie kraulte das Tier liebevoll hinter den Ohren. Ha, da hatte ich schon den ersten Namen gefunden. Das Fohlen war weiblichen Geschlechts. Tante Kyra hatte es genau erkannt.
Der rotbraune Fuchs war tatsächlich ein >er<. Leporello soll er heißen, beschloss ich. Das kleinste Fohlen, mit weichem dunkelbraunem Fell, welches sich zitternd an seine Mutter drängte, taufte ich auf den Namen Zerlina.
»Donnerwetter«, freute sich Onkel Kurt, »das ging aber schnell. Jetzt werden meine Pferdchen zu Opernstars. Nur gut, dass sie nicht singen können.«
Seine Feststellung wurde von den drei Pferdchen sofort widerlegt. Sie wieherten fröhlich und aufgeregt und gaben mir Recht. Die Pferdemütter nickten zustimmend. Tante Kyra hatte nur Augen für ihre Nachtkönigin. Tante Stella schmuste mit Zerlina und ich streichelte Leporello. Aber dann mussten wir uns doch von dem Idyll trennen. Die drei tappten zurück zu ihren Müttern, ließen sich ins Stroh plumpsen und schliefen einfach ein. Sie hatten genug von der Aufregung.
An diesem Abend drehte sich das Gespräch nur um die Fohlen. Natürlich übernahmen wir die Patenschaft. Onkel Kurt holte das Stammbuch der Stuten und trug die Namen der Fohlen gleich ein. Am Samstagnachmittag stieg das Tauffest. Tante Kyra gab aus dem Stand heraus ein russisches Pferdelied zum Bestem. Onkel Wanja hatte es ihr oft genug vorgesungen. Wir stimmten alle fröhlich ein. Sekt gab’s für alle, aber nicht für die Pferdchen, die hell wiehernd über die Weide tobten. Zwischendurch holten sie sich immer eine Möhre oder einen Apfel. Besonders die kleine Nachtkönigin wich nicht mehr von Tante Kyras Seite. Zu einem Ausflug ins Gelände sind wir nicht mehr gekommen. Unsere reitsportliche Betätigung fand nur im Fohlenstall statt.
In den folgenden Wochen bestimmten die Probentermine den Alltag der drei Damen. Das Trio Infernale agierte diesmal in >Orpheus und Eurydike<. Jeden zweiten Tag trafen sie sich um zehn Uhr in der Oper. Und am späten Nachmittag erschienen sie abgekämpft zum Essen.
Mein Engagement in Aachen begann erst in vier Wochen. So hatte ich Zeit, um Oma im Haushalt zu helfen und für das leibliche Wohl der Sängerinnen zu sorgen. Sie kamen oft auch erst gegen Abend müde und erschöpft nach Hause. Wir aßen dann gemeinsam und besprachen die Ereignisse des Tages. Stella und Kyra zogen sich bald zurück. Manchmal blieben sie nicht mal zum Essen, weil Kyra sich nicht wohl fühlte und Stella sie nicht alleine lassen wollte.
Meine Großeltern verreisten am Tag nach der Premiere. Sie hatten den Urlaub schon lange gebucht. Die Donaukreuzfahrt von Passau bis ans Schwarze Meer war unser Familiengeschenk zur Goldenen Hochzeit der beiden Lieben. Nun hing der ganze Haushalt an mir. Auch war ich nun Herrin über den Garten und die Hühner. Tascha half mir eifrig dabei. Wenn sie immer wieder mal mit ihrem tollpatschigen Temperament alles durcheinanderbrachte. Eines Tages verwechselte sie eine Henne mit ihrem Spielzeug und biss ein wenig zu fest zu. Mein Schrei half dem Huhn nicht mehr. So landete es im Topf. Eine wunderbar stärkende Suppe wurde daraus. Ich verriet Tascha aber nicht. Oma wollte diese Henne sowieso nach ihrer Rückkehr verarbeiten. Tascha hatte den Zeitpunkt nur vorverlegt, damit die Henne nicht noch älter und zäher wurde.
Ja, die Proben waren recht anstrengend, zumal kurz vor der Generalprobe. Tante Kyra brummte und ließ sich müde in den Sessel fallen.
»Dieser Regisseur wiederholt alles gleich fünfmal, wie der gute Johannes Hallmaier. Das nervt! « Mami und Tante Stella lachten.
»Der ist nun mal so pingelig. Er will halt seine, für ihn richtigen Einfälle unbedingt durchsetzen.«
Tante Kyras Augen blitzten. Sie sprang auf.
»Über die Kostümfrage muss ich mit dem nochmal ein Wörtchen reden! Nach seinen Einfällen können wir gleich nackig spielen und singen. Da sparen wir viel Zeit beim Umziehen!« Tante Stella grinste: »Mir gefällt’s.«
Mami ließ fast den Löffel fallen.
»Aber Stella, wir sind doch hier nicht beim…film. Ihr wisst was ich meine?« Oma schüttelte den Kopf und Opa schmunzelte. Er stellte sich wohl gerade eine solche Szene vor und blinzelte zu Tante Kyra hinüber, die sich gespielt empörte.
»Zum Glück sind keine Kindervorstellungen vorgesehen.«
Bei der Generalprobe war ich natürlich im Zuschauerraum und alles lief glatt. Nur der Höllenhund spielte nicht mit, hielt sich nicht an die Regieanweisung. Da wollte ich schon Tascha auf die Bühne schicken, aber die war ja noch viel zu klein. Man hätte sie auf der großen Leinwand gar nicht gesehen und Feuer spucken konnte sie ja auch nicht. Sie arbeitete an diesem Tag mit Opa im Garten. Opa steckte Blumenzwiebeln in die Erde, Tascha buddelte sie wieder aus. Opa war nicht begeistert von ihrer Hilfe und jagte sie ins Haus. Sie legte sich beleidigt in ihr Körbchen und würdigte Opa keines Blickes, als er zum Kaffeetrinken ins Haus kam. Aber die beiden versöhnten sich und Tascha durfte wieder mit in den Garten. Kurz darauf hörte ich Oma schimpfen, die Bettwäsche zum Bleichen auf der Wiese ausbreitete. Oh Schreck! Tascha hatte sich ein frisch gewaschenes Kopfkissen geschnappt und rannte damit zur Elbe hinunter. Aber sie verwickelte sich darin und purzelte hin. Oma lief hinterher, erwischte sie, und sperrte den Hund samt Kopfkissen ins Haus.
»Hoffentlich wird dieser kleine Wildfang bald müde sonst werde ich hier nicht fertig mit der Wäsche«, lachte sie. Als Oma später ins Haus ging, um das Abendessen vorzubereiten, schlief Tascha wie ein unschuldiges Kind und träumte wohl, sie sei der Höllenhund, weil sie ab und zu leise knurrte. Sie hörte nicht, dass wir mittlerweile ins Haus gekommen waren. Als Tante Kyra sie leise rief, hob sie den Kopf und blinzelte, stand langsam auf und tappte zu ihr hin. Während des Abendessens bekam Tascha ihren gut gefüllten Futternapf, den sie ganz schnell leerte. Damit sie wieder zu Tante Kyra konnte. Ja, wenn Kyra da war, dann waren wir abgemeldet. Beide kuschelten am liebsten auf dem Sofa, waren ein Herz und eine Seele. Nun, ich war nicht eifersüchtig. Schließlich liebte ich beide, Tante Kyra und meinen Hund. Tante Stella tröstete mich lächelnd:
»Nun weißt du, was ich empfinde, wenn ich die beiden zusammen sehe.«
Premiere Premiere
Mami schwirrte nervös durchs Haus, sang immer leise vor sich hin oder murmelte.
»Lampenfieber, das Wort gibt es in meinem Wortschatz nicht.«
Oma und ich gaben es bald auf, sie zu beruhigen. Es hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Tascha ging dem Trubel aus dem Weg und tappte in den Garten. Nachmittags legte sich Mami in den Liegestuhl und versuchte zu Lesen, um sich abzulenken.
Tascha leistete ihr Gesellschaft. Sie döste unter dem Liegestuhl. Plötzlich spitzte sie die Ohren. Was war das? Sie hatte Schritte gehört und diese Schritte kannte sie genau. Ja, da kamen Kyra und Stella auch schon um die Hausecke. Tascha sprang auf und lief den beiden freudig bellend entgegen. Da blieb auch Christina nichts anderes übrig, als aufzustehen.
»Kann man in diesem gastlichen Garten einen Kaffee bekommen? Uns ist er nämlich ausgegangen«, erkundigte sich Tante Stella. »Ja, wir brauchen ihn dringend«, setzte Tante Kyra hinzu, »bevor es losgeht mit dem Theater. Er beruhigt zwar nicht, aber er stärkt uns. Tee würde nicht viel nutzen.«
Tante Kyra setzte sich auf die Gartenbank, und mit einem Satz saß Tascha neben ihr und legte den Kopf in Tante Kyras Schoß. Tante Stella und Mami gingen ins Haus, um Kaffee und Kuchen zu holen. Bald war die Familie vollzählig versammelt. Tante Stella wollte mit zu Kyra auf die Bank, hatte aber keine Chance. Tascha rückte keinen Zentimeter zur Seite, sondern sah Stella nur mit einem Auge von unten herauf an, als wollte sie sagen:
»Ich war zuerst hier, das ist meine Kyra.«
Fröhliches Futtern, fröhliches Plaudern, bis Papi auf die Uhr schaute und aufsprang.
»Ich muss los, die Ouvertüre noch mal durchspielen. Wollt ihr schon mitfahren?«, fragte er zu den Damen gewandt. Alle drei nickten.
Die Großeltern riefen noch Toi, Toi, Toi hinterher, als Papi den Wagen startete. Tascha trollte sich ins Haus. Sie durfte ja nicht mitfahren. Ich räumte die Kaffeetafel ab und brachte die Gartenmöbel in den Schuppen. Dunkle Wolken drohten am Himmel und leises Donnergrollen ließ sich auch schon hören. Ich erledigte meine Fanpost und fuhr erst zur Premierenfeier in die Oper. Im Chor wurde ich ja erst zur dritten Vorstellung gebraucht…
Ein Opernabend
Durchs Haus wirbelten schon die Töne und überall Gemurmel. Thomas verabschiedete sich von den Damen und eilte in den Orchestergraben. Der Konzertmeister erwartete ihn schon und überfiel ihn mit wichtigen musikalischen Fragen, die sie beide gleich klären konnten. Das Gewitter beendete die Extraprobe, ließ nur den Regen leise rauschen. Die Musiker stimmten ihre Instrumente neu. Thomas ging in seine Garderobe und zog sich um. Den Hemdkragen ließ er offen, band die Frackfliege nur lose um. Er konnte nicht atmen, wenn die Kleidung zu eng an seinem Körper klebte. Ein Glas Sekt stand bereit. Schnell hinunter damit, bevor das Getränk warm wurde. Die Techniker waren eben fertig geworden mit dem Umbau. Noch war der Vorhang zu und es herrschte endlich wohltuende Ruhe auf der dunklen Bühne. Stella und Kyra hielten sich fest umschlungen. Sie wagten nur zu flüstern.
»Stella mein Stern, was soll ich nur tun. Ich habe so ein komisches Gefühl im Moment, dass heute Abend etwas schief geht.«
»Ach mein Kätzchen, kein Grund zur Sorge. Du singst die Eurydike doch nicht zum ersten Mal. Denk doch mal an die Met. Da hattest du noch mehr Bammel und alles ging gut. Sogar unser Rollentausch bei der letzten Vorstellung. Du wirst wie immer elegant sterben und ich werde elegant verzweifeln.«
»Ok, bringen wir die Dresdener zum Heulen. Aber jetzt lass uns erst nach Christina sehen. Unser Amor hat sicher wieder Lampenfieber. Aber erst sollten wir uns umziehen.«
Sie sah auf die Uhr. »Los, sonst haben wir keine Zeit mehr für uns.«
Sie schlüpften in ihre Kostüme, was aber nicht ohne gegenseitige Zärtlichkeiten vor sich ging, und mit einem innigen Kuss endete. Die Schminkaktion war gleich beendet. Noch blieb Zeit, um Christina in der Garderobe nebenan zu besuchen und ihr Mut zuzusprechen. Und wieder schaffte es Kyra ihrem >Küken< das Lampenfieber zu nehmen. Die Ouvertüre klang aus dem Lautsprecher, wurde von der Stimme des Inspizienten übertönt. »Bitte die Damen auf die Bühne.«
Stella tappte bei kleinem Licht leise auf ihren Platz, die Lyra im Arm. Christina klettert in den Korb, in dem sie von oben zu Orpheus herniederschweben würde, erst dann musste sie singen. Kyra wartete im Hintergrund der Bühne auf ihren Auftritt. Sie mochte nicht erst aus dem Grab aufstehen, sondern lieber aus dem Dunkel der Hinterbühne ins helle Licht der elysäischen Felder schreiten, geführt von den seligen Geistern. Widerstrebend hatte der Regisseur zugestimmt. Es passt ihm sowieso nicht in den Kram, dass Kyra seinen Anweisungen manchmal Widerstand entgegensetzte – und auch, dass musste er sich eingestehen, gute Regieeinfälle hatte.
Michaela stand mit verschränkten Armen nachdenklich vor ihrem Kleiderschrank. Was sollte sie heute Abend anziehen? Eine Premierenfeier ist schließlich nicht irgendein Fest, sondern ein Ereignis, das angemessene Kleidung verlangt. Sie holte ein Kleid heraus und hängte es entschlossen wieder hinein. Das ist etwas zu hell, dann das Bunte, nein auch nicht. Sie entschied sich nach längerem Überlegen wieder mal für das >Kleine Schwarze<. Dazu die Pumps mit dem niedrigen Absatz. So fühlte sie sich sicherer auf dem Parkett. Die richtigen Schuhe sind wichtig, wie Elīna zu sagen pflegt, um immer fest und sicher auf den Brettern zu stehen, die für alle Künstler die Welt bedeuten. Wo war nur der bunte Schal, den ihr die Patentanten zum Geburtstag geschenkt hatten? Er würde das >Kleine Schwarze< optisch auflockern. Sie trug es eigentlich selten, schlüpfte lieber in eine ihrer Abendroben, die sie für Konzerte bevorzugte. Doch heute war nach dem offiziellen Teil Schwofen angesagt. Da war ein langes Kleid mit Schleppe nur hinderlich. Es wäre an der Zeit, wieder mal auf eine Modenschau zu gehen und eine neue Abendrobe zu erstehen. Vielleicht hatte Claudia eine Idee. Ein Blick in den Spiegel erinnerte sie ans Make-Up, das sie auf keinen Fall vergessen durfte. Schnell noch die Haare bürsten, so lange bis ihr langsam rötlich werdende Haarpracht seidig glänzend auf die Schultern fiel. Ein dezentes Parfüm, fertig. Das Taxi konnte kommen.
»Donnerwetter«, lachte Opa, als er Michaela die Treppe herunterkommen sah. »Ganz Diva, du stiehlst den anderen die Schau!« Oma umarmte sie. »Viel Spaß, meine Kleine und grüß mir die drei Damen. Wir halten mit Tascha die Stellung, aber bestimmt sind wir schon im Bett, wenn ihr heimkommt.«
Michaela
»Tascha, du kannst nicht mitkommen. Auf dem Fest sind zu viele Leute und es ist laut. Da hättest du nur Angst. Bleib‘ lieber hier und pass auf Oma und Opa auf. Wir kommen ja bald nach Hause.«
Sie schaute mich traurig an, tappte aber brav in ihr Körbchen. Die Briefe konnte ich beim Bühneneingang in den Postkasten werfen. Im Taxi machte ich es mir bequem.
»Zur Semperoper, zum Bühneneingang bitte«, antwortete ich auf die Frage des Fahrers. Der schaute mich erstaunt an. »Da kommen sie aber ein wenig zu spät. Die Vorstellung ist gleich zu Ende«. »Ich weiß, ich will ja auch zur Premierenfeier.« Ich sah auf die Uhr. »Gerade geht der Vorhang zu und die Blumensträuße fliegen auf die Bühne, also komme ich gerade rechtzeitig. Ich muss erst in drei Tagen wieder singen.«
Der Fahrer schlängelte sich geschickt durch den Stadtverkehr und auf der Augustusbrücke gab’s den üblichen Stau. Papi wartete beim Pförtner.
»Hast dir ja Zeit gelassen«, lachte er, »die Damen warten schon.« Aus Mamis Garderobe klang fröhliches Gelächter.
»…wäre ich doch beinahe über die Lyra gestolpert, konnte mich gerade noch fangen. Hinfallen und den Tod zum falschen Zeitpunkt spielen, bevor sich Orpheus umsah. Kein gutes Timing«, kicherte Tante Kyra. »Du hattest es ja auch so eilig, mir nachzulaufen«, gab Tante Stella zurück.
Tante Kyra stand auf und küsste sie flüchtig.
»Ich will dich nicht verlieren und bin halt nicht gern länger in der Unterwelt als nötig ist, mein geliebter Orpheus.«
Sie wandte sich mir zu, umarmte mich. Ein kritischer Blick traf mich.
»Lass dich anschauen. Na, ich glaube, ich muss dich noch ein wenig verhübschen. »Setz dich«, befahl sie. Tante Kyras Schminkkunst konnte sich sehen lassen. Ich erkannte mich selbst beinahe nicht, fand mich aber auf den zweiten Blick ganz annehmbar. Mami schlüpfte in ihre Schuhe. »Wir sollten uns auf den Weg machen, sonst ist unser Tisch besetzt.«
Unterwegs trafen wir Papi, der noch mit dem Konzertmeister über eine Änderung verhandelt hatte. Flotte Musik empfing uns und gleich eroberten wir die Tanzfläche. Papi und Tante Kyra in ihrer roten Robe, der Dirigent und Tante Stella im eleganten blauen Hosenanzug, wirbelten schon über die Tanzfläche. Mami angelte sich den Konzertmeister – und ich? Kein Verlass mehr auf Papi. Dabei hatte er mir doch gestern Abend noch den ersten Tanz versprochen. Zum Glück standen noch genügend Männer einsam im Saal herum. Tatsächlich, das steuerte einer auf mich zu. Er schenkte mir ein strahlendes Lächeln und nahm meine Hand. »Schenk mir den ersten Tanz, Michaela, bevor die langweiligen Reden anfangen.« Glück gehabt! Klaus, ein Chorkollege, tanzte wie ein junger Gott. Als wir an Papi vorbeischwebten, streckte ich ihm die Zunge raus. Ätsch! Aber Papi lachte nur. Er konnte ja ante Kyras Führung nicht entkommen. Die Kapelle spielte ausgezeichnet. Kein Wunder, die drei Damen und vier Herren waren ja Mitglieder des Opernorchesters. Sie hatten die Tanzmusik als Hobby beibehalten und sich auf Premierenfeiern und andere Festlichkeiten spezialisiert. Tanzmusik vom Feinsten. Wer genau hinhörte, konnte ab und zu auch populäre Opernhits aus dem Spiel heraushören. Doch soweit war es noch nicht. der offizielle Teil begann. Tante Kyra ließ sich seufzend auf einen Stuhl fallen.
»Gott sei Dank, die Tanzpause. Auch wenn sie wie üblich langweilig werden wird. Ein Getränk wird uns das Zuhören versüßen. Prost!«, lachte sie. Tante Stella schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Oh Kyra, das ist wieder mal typisch. Sicher, wir kennen alle dieses Ritual. Ist ja auch in jedem Opernhaus das Gleiche. Genauso wie du jedes Mal lästern musst!«
Tante Kyra hob kurz die Augenbrauen, lehnte sich zurück und warf ihrer Liebsten eine Kusshand zu. »Psst, es geht los!«
Mami kicherte in sich hinein. Papi tat ganz erstaunt, als hätte er nichts gehört. Klaus und ich sahen uns nur an und nickten. Der Intendant begann seine Rede. Wir waren alle darauf gefasst, dass er sozusagen bei der Entstehungsgeschichte von >Orpheus und Eurydike< beginnen würde, doch er fasste sich kurz. Er dankte allen Mitwirkenden und Kollegen auf, hinter und unter der Bühne und wünschte für alle folgenden Vorstellungen gutes Gelingen. Dann bat er zum Büfett und wünschte viel Vergnügen. Die Nacht würde also nicht so lange werden.
»Los, stürmen wir das Büfett«, drängte Mami, »Amor hat Hunger. Wenn mein Lampenfieber weg ist, kriege ich immer Riesenappetit!«
Sie blinzelte Tante Kyra zu, die verstehend lächelte. Sie hatte es ja wieder einmal in letzter Minute geschafft meiner Mami das Lampenfieber zu nehmen. Mami sah bezaubernd aus, im dunkelgrünen Abendkleid, bestickt mit zartrosa und cremefarbenen Blüten. Ich sah es Papi an, wie stolz er auf seine Frau war. Endlich holte er mich zum Tanz. Neben den aufgedonnerten Premierengästen kam ich mir ziemlich verloren vor. So elegant war ich nicht gekleidet. Also auf in die nächste Modenschau. Aber den Gedanken verwarf ich gleich wieder. Wenn ich gezielt zum Einkaufen ging, was Kleidung betraf, hatte ich selten Glück und fand nichts Passendes. Mir half immer der Zufall, sozusagen im Vorübergehen, auf ein Kleidungsstück zu stoßen, das mir auf Anhieb gefiel.
Das gute alte >Kleine Schwarze< hatte bisher immer gute Dienste geleistet. Übertrieben oder dem Festanlass nicht entsprechend gekleidet zu sein, hasste ich. Ich hörte mit halbem Ohr hin, wie Kyra und Stella über das Kleidungsdefilee lästerten und sah genauer hin. Und kicherte auch. Ja, diese schlanke, fast dürre Person, mit wilder Haarfrisur, trug ein feuerrotes enganliegendes Schlitzkleid und dazu schwarze Netzstrümpfe mit Löchern in verschiedenen Größen. Ob dieser Stil jetzt in war?
Uff, die Tanzpause hatten wir uns verdient. Auch Papi war ein bisschen aus der Puste. Nun durfte er endlich seinen Kragen öffnen und die enge Frackjacke ablegen. Schon nahte der nächste Tänzer. Donnerwetter, der Herr Intendant bat mich um den nächsten Tanz. Ein paar flotte Runden hatte er ja schon mit Mami getanzt. Ich zögerte ein wenig. Gerade spielte die Kapelle eine langsame Serie. Da fürchtete ich mich immer vor den Männern, weil sie manchmal die Situation ausnutzten und immer enger tanzten. Dann fühlte ich mich bedrängt. Natürlich gefällt es mir auch, eng zu tanzen, je nachdem wer der gute Tänzer ist. Tante Stella stupste mich: »Na los«, flüsterte sie, »der beißt doch nicht.«
Mami nickte mir aufmunternd zu. Sie hatte die Tanzkünste des Herrn Lanz schon kennen gelernt. Beim Stehblues begann er mich mit Fragen zu bombardieren. Ich erzählte ihm aber nicht alles. Zum Abschluss unserer Unterhaltung noch drei schnelle Tänze, bevor er mich wieder an unserem Tisch ablieferte. Da waren wir schon vertraut miteinander, natürlich immer noch beim >Sie<, wie sich das so gehört. Höflich verabschiedete er sich mit Handkuss. Vier Augenpaare waren auf mich gerichtet. Ich leerte erst Mal ein Glas Wasser und dann berichtete ich.
»Stellt euch vor, er hat mich gefragt, ob ich die >Rosina< in der nächsten Inszenierung übernehmen möchte! Ja, die Rosina, sagte ich noch mal, weil Mami mich so ungläubig ansah. Ich war ganz kribbelig. Ich kann ja nicht beides singen. Die Eliza in Aachen und die Rosina hier. Das geht schon zeitlich nicht. Schade, dass ich ihm absagen musste.« Mami tröstete mich.
»Jetzt konzentriere dich erst Mal auf deine Eliza. Das ist auch keine leichte Rolle. Da hast du auch viel Text. »Ja, ich weiß«, seufzte ich, »Wie soll ich das nur schaffen? Claudia meldet sich auch nicht Sie wollte nochmal die Termine klarmachen.« Papi stand auf, verbeugte sich galant vor mir.
»Junge Frau darf ich um den nächsten Tanz bitten? Ich brauche ein wenig neuen Schwung.« Und schon wirbelten wir zu den Klängen aus MFL durch den Saal. Ich bin zwar nicht abergläubisch – sollte das ein gutes Omen sein?
>Ich hätt‘ getanzt heut Nacht, die ganze Nacht heut Nacht, so gern und noch viel mehr…<
Die ganze Nacht dauerte das Fest für uns dann doch nicht. So gegen zwei Uhr waren wir dann endlich zu Hause. Alle waren froh, in die Federn zu kommen.
>Stille, stille, sachte, leise, lasst uns der Gefahr entgehen. Still wir schleichen auf den Zehen uns durch jene Türe fort…<
Wir waren so leise, dass selbst Tascha uns nicht kommen hörte. Ich schlief schnell ein und träumte, musikalisch natürlich. Es war aber auch zu komisch. Eliza sang Rosinas Arien und Rosina spielte das arme Blumenmädchen. Ja, irgendwie sind die beiden sich ja ähnlich. Sie wissen was sie wollen und setzen sich durch. Herr Lanz versuchte jede auf seine Seite zu ziehen. Ich weiß nicht, ob es ihm gelang…
Der Monat verging wie im Flug. Michaela nahm Gesangsunterricht bei Kyra, außer an den Aufführungstagen von Orpheus und Eurydike. Dann hatte auch Stella keine Zeit zum Unterrichten. Tascha war immer dabei. Sie lag unter dem Flügel und hörte aufmerksam zu. Bei zu hohen und zu schrillen Tönen trabte sie eiligst hinaus, was immer ein heimliches Lächeln auf Kyras Gesicht zauberte und eine kleine Rüge für Michaela bedeutete. Nach einer Weile kam Tascha dann zurück. Manchmal brachte sie ihre Leine mit. Das war die Aufforderung, jetzt endlich spazieren zu gehen, der die Damen nur allzu gerne folgten.
Michaela schlug langsam die Augen auf und blinzelte ins diffuse Morgenlicht. Sie setzte sich auf, schwang die Füße aus dem Bett und spürte warmes und weiches Fell unter den Fußsohlen. »Hey, guten Morgen Tascha. Bist du schon lange hier?« Tascha schaute sie mit großen Augen an und sagte nur »Wuff!«
Michaela knuddelte den Hund und tappte ins Bad. Sie sang leise vor sich hin. Das war ihr Ritual jeden Morgen, vor allem unter der Dusche. Tascha sauste die Treppe hinunter und Michaela hinterher. Kaffeeduft wehte herauf. Die Familie war schon am Tisch versammelt. Christina schmunzelte.
»Hat Tascha dich endlich wach bekommen? Sie kam schon zweimal ganz verzweifelt zurück, weil sie es nicht geschafft hat, dich zu wecken.« Thomas brummelte hinter seiner Zeitung.
»Na komm, setz dich. Stella hat vorhin angerufen. Sie kommt gleich rüber. Sie will dir noch etwas mitgeben.« Und schon klingelte es an der Haustür.
»Habt ihr noch einen Tee für mich?«, fragte Tante Stella. »Kyra packt gerade die Koffer. Sie kommt gleich nach.« Sie drückte Michaela einen Zettel in die Hand.
»Hier ist die Adresse von einer kleinen gemütlichen Pension in Aachen, wo ich damals gewohnt habe. Von Zu Hause täglich hin und her zu fahren, war mir zu umständlich, wegen der Probentermine. Ein Auto hatte ich ja noch nicht. Sieh zu, dass du das Zimmer unter dem Dach bekommst. Am besten rufst du gleichmal an. Beruf dich auf mich und sage liebe Grüße an Frau Schmitz. Damit du nicht in einem teuren Hotel wohnen musst, wenn du den Zweijahresvertrag tatsächlich bekommst. Ich bin mir da ganz sicher!«
Sie hielt einen Augenblick inne, wandte sich zum Gehen.
»Ich geh‘ dann mal wieder, damit Kyra nicht verzweifelt an ihrer Kofferlogistik.«
Da öffnete Kyra das Gartentürchen, freudig begrüßt von Tascha.
»Hallo ihr Lieben, Tschuldigung, dass ich erst jetzt komme. Das blöde Kofferpacken und das Telefon haben mich aufgehalten. Man sollte beides abschaffen«, lachte sie und nahm Michaela in den Arm. »Wir wünschen dir alles, alles Gute für deine MFL. Leider können wir nicht bei der Premiere dabei sein. Du weißt, unsere Termine! Salzburg hat eben angefragt. Außerdem wird es Zeit, wieder einmal auf unsere Insel zu fahren, wenn wir jetzt gerade Freizeit haben. Also Kindchen, wir werden immer an dich denken. Wann ist denn die Premiere?«
»Keine Ahnung. Erst mal muss ich die Proben bewältigen. Danke für die guten Wünsche. Ihr seid doch die beiden liebsten und besten Patentanten, die ich habe!«
Michaela schluckte und versank in Kyras und Stellas Umarmung. Tascha drängelte sich dazwischen. Sie wollte auch Streicheleinheiten. Sicher spürte sie, dass Kyra, Stella und Michaela bald für einige Wochen aus ihrem Leben verschwinden würden. In den ersten Tagen beachtete sie dann den Futternapf nicht, zog sich in sich selbst zurück. Selbst die Spaziergänge mit Opa konnten sie nicht aufmuntern. Sie blieb lieber im Garten. Sogar Omas Blumenbeete waren in dieser Zeit vor ihr sicher. Doch nach ein paar Tagen verschwand die Traurigkeit und der Übermut kehrte zurück. Nachbars Katzen wurden wieder auf den Baum gejagt und allerlei Unsinn angestellt. Am Wochenende würde Michaela ja wiederkommen. Das wusste sie.
Kyra und Stella flogen am folgenden Abend nach München, um ein paar Tage zu Hause zu genießen. Bevor sie auf ihre Insel flogen. Die letzten fünf Aufführungen von >Orpheus und Eurydike< waren um zwei Wochen verschoben worden. Die Ballettwoche stand auf dem Spielplan. Christina freute sich über die freien Tage. Jetzt konnte sie endlich im Garten arbeiten und ihre Eltern entlasten. Die beiden waren ja nicht mehr so fit und genossen die blühende Gartenlandschaft lieber vom Liegestuhl aus. Die Betreuung der Hühnerschar ließ sich Helga aber nicht nehmen und auch Franz hatte in seiner Werkstatt immer etwas zu kramen.
Auf nach Aachen
Mann war das ein Gedränge auf dem Bahnsteig. Gerade so, als wollte halb Dresden nach Aachen fahren. Tante Kyra und Tante Stella waren schon seit einer Stunde unterwegs nach München. Vor lauter tränenreichem Abschied von mir, hätten sie bald das Einsteigen vergessen. Wir trennten uns erst, als der Schaffner ein lautes energisches Signal zur Abfahrt des Zuges gab. Wir winkten, bis der Zug in einer Kurve verschwand und die flatternden Taschentücher nicht mehr zu sehen waren. Ach, die beiden fehlten mir jetzt schon. Vielleicht konnte ich in zwei Wochen wieder in Dresden sein oder vielleicht zur letzten Vorstellung von >Orpheus und Eurydike<. Na, mal sehen.
Wo Claudia nur blieb. Sie hatte doch die Fahrkarten dabei. Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt nach Aachen. Meinen Koffer hatte Papi schon im Abteil verstaut. Von Mami gab es nochmal gute Ratschläge für die Proben und die strenge Auflage, morgen Abend zuhause anzurufen. OH, wie ich diese Abschiede auf Bahnhöfen hasse. Es war doch nicht für immer, so hoffte ich jedenfalls. Eine letzte Umarmung und Einsteigen! Endlich! Claudia tauchte auf. Meine unentbehrliche Agentin. Sie stellte ihren Koffer im Abteil ab. Dann lehnten wir uns aus dem Fenster. Mami fiel wieder ein guter Ratschlag ein.
»Kind hast du auch deinen Schal dabei und die Halsbonbons? Jetzt wird es abends schon recht kühl. Schone deine Stimme, bis du die richtige Tonlage findest.« Papi meinte nur lächelnd:
»Lass dich vom Dirigenten nicht ärgern. Du singst besser als er.«
»Klar Papi, das weiß ich doch. Die Stimme hab‘ ich ja von euch beiden bekommen.«
Ein lauter Pfiff schrillte in unsere Ohren. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, schob sich aus der hellerleuchteten Bahnhofshalle in die Nacht hinaus. Mami und Papi wurden immer kleiner. In der Kurve verschwanden sie ganz aus meinem Blickfeld. Ich schob das Fenster hoch und ging ins Abteil zurück.
»Danke, dass du ein Schlafwagenabteil gebucht hast«, gähnte ich. Claudia kicherte.
»Da hab‘ ich das letzte Abteil erwischt. Die sind doch bequemer als die Liegewagenabteile. Wir müssen morgen ausgeschlafen sein.« Sie nahm meine Hände, sah mich mit großen Augen an. »Du musst morgen ausgeschlafen sein. Am Nachmittag ist schon das erste Treffen mit dem MD. Der wird dich mit Fragen löchern. Ich bin dabei. Du weißt, ich bin ein Verhandlungsgenie.« Und wenn Tante Kyra dabei wäre, würde der MD uns alle Wünsche erfüllen, dachte ich und gähnte wieder.
»Die Fahrkarten bitte!« Der Schaffner erschreckte uns, hatte aber höflich gefragt. »Danke, meine Damen.« Und weg war er wieder. Sollten wir noch in den Speisewagen gehen? Nee, für ein üppiges Abendessen war es eh‘ schon zu spät. Claudia kramte in ihrer riesigen Handtasche, die ihr als Büro auf Reisen diente, und förderte ein Fläschchen Piccolo zutage – und Butterbrote.
»Hier, der Schlaftrunk reicht für uns wei. Austrinken und ins Bett«, befahl sie. Komfortabler hätten wir in einem 5 Sterne-Hotel nicht übernachten können. Das leise Rollen der Räder wiegte uns in den Schlaf. Wenig störte unseren zehnstündigen Schlummer. Doch ich erwachte immer wieder kurz von einem Gedanken. Eignete sich meine ausgebildete Opernstimme überhaupt, um in einem Musical zu singen? Musste ich meine Technik grundlegend ändern? Vor der Rolle hatte ich keine Angst. Ich musste mir nur überlegen, wie ich sie anlegen sollte, meine eigene Interpretation finden.
Schnelle Lichter huschten am Fenster vorbei, immer langsamer, bis der Zug mit einem Ruck hielt. Gedämpfte Bahnhofsgeräusche drangen herein. Vorsichtig schob ich den Vorhang zur Seite und spähte hinaus. Gedränge auf dem Bahnsteig! Reisende eilten dem Ausgang zu. Waren wir etwas schon am Ziel? Nee, ich entdeckte das Bahnhofsschild. Aha, Colonia Claudia Ara Agrippina, kurz Köln. Aber aufstehen mussten wir doch. Jetzt war es ja nicht mehr weit bis Aachen. Ich weckte Claudia, die aber damit nicht einverstanden war, sich aber dann doch aus der Bettdecke wühlte. Eine knappe Stunde Fahrt noch bis Aachen. Zu kurz, um noch ein ordentliches Frühstück zu genießen. Wir zogen uns an und packten die Reistasche. Im Zugbistro holte ich zwei heiße Tees. Der Zug fuhr zum Glück langsam, Baustelle, keine Gefahr das heiße Getränk zu verschütten – und das war verdammt heiß! Ein Bahnhof zog am Fenster vorbei. Das war doch gerade…ja, Tante Stellas Heimatstadt. Schade, dass der Zug hielt. Ich hätte gern einen schnellen Stadtbummel gemacht. Na, vielleicht ergab sich ja mal die Gelegenheit, an einem Probe- oder spielfreien Tag einen Besuch zu machen.
Hauptbahnhof Aachen. Der kühle Morgen machte uns endgültig wach. Der freundliche Taxifahrer empfahl uns ein Café in der Nähe des Doms. Dort frühstückten wir erst Mal ausgiebig. Die Pension, die Tante Stella mir empfohlen hatte, war gleich um die Ecke. Nee, nicht die Pension Schöller. Der Familienbetrieb hieß Schmitz, ein häufiger Name in dieser Stadt.
Frau Franziska hieß uns herzlich willkommen. Sie bot mir gleich die kleine Dachwohnung an, noch bevor ich ihr die Grüße von Tante Stella ausrichten konnte. Danach war ich noch herzlicher willkommen. Vor Frau Franziskas Redefluss hatte mich Tante Stella nicht gewarnt, der kaum zu stoppen war. Sie wollte alles genau wissen, wie es Stella wohl gehe, ob sie gesund war und sicher wieder verheiratet sei. Den Bericht von der Hochzeit umging ich geflissentlich. Es gab ja nichts darüber zu berichten. Allzu Privates von Stella und Kyra wollte ich nicht preisgeben. Frau Franziskas wichtigste Fragen bezogen sich ja nur auf Stellas Gesangserfolge. Die konnte ich ihr bestätigen und erwähnte die Auftritte in München, Salzburg und an der Met. Frau Franziskas Augen wurden immer größer. Anfangs meinte sie, ich wäre wohl die liebe Tochter von Tante Stella und hätte ihre wunderbare Altstimme geerbt. Bis ich sie aufklärte, ich sei nur die Patentochter und singe Sopran. Da war sie ein wenig enttäuscht. Claudia hörte unserer Unterhaltung gespannt zu und lächelte verstehend. Sie fand keine Gelegenheit, auch mal ein Wort einzuwerfen.
»Hach«, seufzte Frau Franziska, »jetzt habe ich sie lange genug aufgehalten. Vielleicht reden wir heute Abend weiter, wenn sie Lust dazu haben. Sie wollen sicher zum Mittagessen gehen. Meine Kartoffeln sind auch schon fertig.«
Damit eilte sie die knarrende Holztreppe hinunter und verschwand in ihrer Küche. Wir atmeten auf. Das hatte sie richtig erkannt. Wir wollten zum Mittagessen gehen, aber daraus wurde nichts. Wir machten uns auf den Weg ins Theater, per Taxi. Mit knurrendem Magen solche Verhandlungen anzugehen, war zwar kein guter Start, aber ich wollte pünktlich sein. Claudia hatte ja im Vorfeld schon einige Punkte geregelt. Also würden wir Tante Kyras Verhandlungsgeschick nicht benötigen. Ein wenig flau war mir schon im Magen, als wir am Bühneneingang klingelten. Der Portier bedeutet uns, noch einen Augenblick zu warten. Kurz darauf schoss ein gesetzter Herr mit grauen Schläfen und rotem, flatterndem Schal um die Ecke. Er klemmte den Stapel Notenblätter unter den Arm und reichte uns die Hand.
»Herzlich willkommen in unserem Haus. Am besten gehen wir in mein Büro. Sie hören es sicher, hier wird fleißig gearbeitet. M F L erfordert eine Menge Vorbereitungen. Aber das muss ich ihnen ja nicht erklären.«
In der Tat, es klopfte und sägte auf dem Weg ins Büro. Im ersten Stock klangen dann die Übungstöne eines Bassbaritons durch die Gänge.
»Der Herrgott schuf den Männerarm wie Eisen,
dass er im Schweiß schafft, ohne Rast und Ruh‘.
Der Herrgott schuf den Männerarm wie Eisen – doch…«
»Das ist unser Doolittle«, schmunzelte der MD und öffnete die Tür seines Büros.
»Bitte nehmen sie doch Platz. Hier lässt es sich besser verhandeln. Kaffee?« Er stellte drei Tassen auf den Tisch.
»Meine Sekretärin kommt erst in einer Stunde, aber ich bringe auch einen trinkbaren Cappuccino zustande, sagt sie. Ah, eh‘ ich es vergesse! Mein
Name ist Bertrand, Henry Bertrand.« Er sagte es mit einem feinen Lächeln und einem kaum merklichen Akzent. Wie ich später herausfand, stammte er aus dem Süden der Grande Nation, aus Aix en Provence. Ich lehnte mich zurück, nippte am heißen Getränk, um mich zu beruhigen. Claudia begann gleich zu verhandeln. Der MD machte sich fleißig Notizen, Claudia ebenfalls. Mir ging wieder die Frage durch den Kopf, ob meine Opernstimme – auch musicaltauglich sei. Darum hörte ich auch nicht richtig zu, hörte nur Stichwörter, wie Probenzeiten, Aufführungstermine, usw. Zu meinem Glück fand ich immer die richtigen Worte, wenn es um wichtige Fragen ging. Nach gut zwei Stunden waren wir uns einig und alle Schwierigkeiten beseitigt. Dann plauderten wir noch ein wenig über das Theater und die Oper im Besonderen. Allerdings musste ich zugeben, dass ich im Musicalbereich noch keinerlei Erfahrung hatte. Außer den wenigen Stunden im Rahmen meiner Studienzeit an der Musikhochschule. Da ich in der Opernklasse war, bekam ich vom Musical und Operettenfach sehr wenig mit. Erfuhr höchstens von den Mitschülern, was dort so studiert wurde. Der MD tröstete mich. Der Regisseur würde mich schon einführen in die hohe Kunst des Musicals und auf seine Unterstützung könne ich rechnen. Er habe schließlich die musikalische Leitung des Hauses.
»Eines im Voraus«, lachte er. »Unterschätzen sie bitte das Musical nicht. jedes Werk hat seine besonderen musikalischen und technischen Merkmale, nicht anders, als in der Oper. Ich werde bei den Proben näher darauf eingehen. Ich danke ihnen, meine Damen für die angenehme Verhandlung. Der Vertrag wird ihnen in den nächsten Tagen zugehen. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit. Also… bis zur ersten Probe.«
Damit entließ er uns in den Nachmittag. Zum Glück war Wochenende. Die Proben begannen erst am Montag. Noch ein wenig Zeit, meine Freiheit zu genießen. »Was geht ab«, fragte Claudia und hängte sich bei mir ein. Ich schaute sie schräg von der Seite an und meinte ganz unschuldig:
»Hast du denn immer noch keinen Hunger? Ich denke wir sollten endlich was essen und dann ein wenig feiern. Tante Stella hat mir eine Bar genannt, die genau richtig für uns wäre. Vorausgesetzt, es gibt sie noch! Ich glaube sie hat da auch an spielfreien Abenden gesungen.« Claudia zog ihre Stirn in Falten.
»Lass uns erst in die Pension gehen. Ich möchte mich umziehen.«
»Ach was, wenn uns Frau Franziska erwischt, dann kommen wir heute nicht mehr zu unserem Vergnügen«, protestierte ich und musterte sie kurz.
»Du siehst gut aus. Wir haben morgen noch genug Zeit, uns aufzuhübschen. Morgen ist Shoppingtag!«
»Also gut«, brummelte Claudia. »Stürzen wir uns ins Vergnügen.«
In dem plüschigen Hotelrestaurant ließen wir es uns gutgehen.
Wir brauchten eine ordentliche Unterlage, weil wir doch in dieser angesagten Bar noch feiern wollten und beileibe nicht nur Wasser trinken. Menüstart mit Champagner. Ich entdeckte Hähnchenfilet auf Curryfrüchten auf der Karte und konnte nicht widerstehen – und zum Nachtisch Schokoladeneis mit Eierlikör. Mehr brauchte ich nicht zum Glücklichsein an diesem Abend. Die Musik gehörte auch dazu und die kam am Montag. Diese Energiereserven brauchte ich, denn Proben können anstrengend sein und mitunter auch nervig. Claudia hatte nur eine kleine Portion vertilgt, aber sie seufzte:
»Puh, lass uns zum Tanzen gehen und die Kalorien wieder abarbeiten; sonst bleibe ich für alle Zeiten hier sitzen. Zahlen bitte!«, rief sie dem Ober zu. Ich protestierte.
»Nein, nein ich zahle. Du bist eingeladen. Schließlich hast du mir das Engagement verschafft und ich danke dir für dein gutes Verhandlungsgeschick.«
Aachen
Am Mittag des folgenden Tages kamen die Damen vom anstrengenden Shopping zurück und stolperten die Treppe hinauf. Michaela zog die Schuhe aus, ließ sich in den Sessel fallen und streckte die Beine aus. Claudia fiel gleich aufs Bett.
»Ich brauch’ erst Mal eine Mütze voll Schlaf«, murmelte sie.
»Ja, Geld ausgeben ist doch ziemlich anstrengend. Wir sollten das Üben, dann geht’s leichter! Was meinst du?«
Claudia antwortete nicht. Sie war eingeschlafen. Michaela saß eine Weile nachdenklich da. Ich sollte mal in den Briefkasten schauen, dachte sie und stand auf. Tatsächlich, der Briefträger hatte einen großen weißen Umschlag gebracht. Absender Stadttheater Aachen. Michaelas Herz klopfte schneller und sie öffnete voll Spannung den Umschlag.
»Hurra«, jubelte sie, »ich habe den Zweijahresvertrag. Halt, da ist das Begleitschreiben.«
…und lesen Sie bitte den Vertrag genau durch und bringen sie ihn am Dienstag zur ersten Probe mit.
»Claudia was sagst du dazu?«
»Ich gratuliere dir herzlich«, lachte Claudia, die gerade aus dem Bad kam, und umarmte Michaela. Sie lasen den Text gemeinsam durch und Michaela unterschrieb mit bangem Herzen, aber glücklich.
»Claudia, wie hast du das nur gemacht. So gute Bedingungen für mich auszuhandeln? Ich hab doch nicht viel dazu gesagt!«
»Nee, allerdings«, erinnerte sich Claudia. »Du hast immer nur genickt, wenn ich dich etwas fragte. Du warst wohl mit deinen Gedanken woanders? Ich hab mir von deiner Tante Kyra ein paar Tipps geholt und im Vorfeld schon einiges regeln können. Sie ist wirklich ein Genie in Sachen Opernvertrag. Schließlich möchte ich ja von deiner Kunst profitieren.«
Jetzt meldete sich Michaelas Handy. Dringender Anruf aus Dresden. Michaela hörte sich geduldig Mamis Gardinenpredigt an, weil sie an dem gewissen Abend nicht zuhause angerufen hatte und berichtete freudig, dass sie einen Zweijahresvertrag erhalten hatte und in zwei Tagen die erste Probe war. Christina beendete das Gespräch schließlich mit Grüßen von der ganzen Familie und den besten Wünschen für die nächsten Tage. »…und wir freuen uns auf das Wochenende, wenn du kommst!« Ein >Wuff< von Tascha beendete das Gespräch. Claudia grinste.
»Mütter können halt nicht anders. Ich bin ja auch noch da und werde auf dich aufpassen. Ich gehe noch mit in die Probe, aber am Abend muss ich dann endgültig zurückfahren. Das Büro erledigt sich ja leider nicht von selbst. Was hältst du jetzt von einem kleinen Bummel, mit abschließendem Café- Besuch?«
Michaela nickte zustimmend. »Heute Abend möchte ich dann ins Kino und noch nicht an die Arbeit denken. Ist vielleicht die letzte Gelegenheit für ein paar Wochen.«
Michaela
Träumte ich vom Winter oder war es wirklich so kalt. Ich versuchte vergeblich die Bettdecke hoch zu ziehen. Sie war nicht mehr da. »Aufstehen, du Schlafmütze«, lachte Claudia frech. Sie hatte mir die Decke weggezogen. Im Nu war die Kissenschlacht im Gange und ich endgültig wach. Zeit für ein ordentliches Frühstück blieb uns noch. Ich glaube, ich hatte auch ein wenig Lampenfieber. Wie sagte Tante Kyra immer: >Augen zu und durch<. Na so schlimm wird die >Leseprobe nicht werden.
Der Regieassistent stellte mich den Kollegen vor. Peter Kampmann, der den >Higgins< gab, James Belgrave, als >Oberst Pickering<, und Günter Müller als >Doolittle<. Nach meiner Einschätzung auf den ersten Blick, liebe Kollegen, die sich mir höflich lächelnd vorstellten. Ich freute mich, sie kennen zulernen, und auf eine gute
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Tag der Veröffentlichung: 08.02.2020
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Für die geliebte Mezzonistin