Warum er? Eine Frage, die er sich oft hätte stellen können. Doch er tat es nicht. So wie sein gesamtes Leben. Er glaubte weder an Gott, noch an das Schicksal. Manche Menschen traf es eben. So wie ihn. Zufall. Nichts weiter. Die Diagnose Multiple Sklerose hatte man vor zwei Jahren bei ihm gestellt und er trug sie mit Fassung. Die Ärzte sprachen von mangelnder Krankheitseinsicht. Er sah das anders, hatte von Menschen gehört, die ihr Leben lang nur einen Schub bekamen und alt wurden. Er würde keiner von ihnen werden.
Unter den Rädern seines elektrischen Rollstuhls knackten die Äste einer Kastanie und die holprige Fahrt tat ihm im Rücken weh, wenn er über die heruntergefallenen Früchte fuhr. Es war nicht lange her, da hatte er noch jeden Herbst mit seinem Bruder Kastanien gesammelt. Eimerweise hatten die beiden sie nach Hause gebracht und jeder, der wollte – und auch der nicht wollte – bekam lustige, knubbelige braune Figuren geschenkt. Das würde es nie mehr geben.
Simon war 18 und sein Leben neigte sich dem Ende. Seit drei Monaten war er nun an den Rollstuhl gefesselt und die Ärzte konnten ihm mit ihren Medikamenten gestohlen bleiben. Bisher hatte er alles geschluckt, was sie ihm vorgesetzt hatten. Cortison, um die Schmerzen zu lindern, wenn er erneut einen Schub bekam, der doch eigentlich durch das Beta-Interferon verhindert werden sollte. Nichts hatte als das gebracht.
Er hielt vor der Brüstung an der Klippe an und schaute hinaus aufs Meer. Möwen tummelten sich in der Abendsonne und flogen flach über dem Wasserspiegel.
Einmal so frei sein, dachte Simon und schloss die Augen. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, wenn er Flügel hätte und diese einfach nur ausbreiten musste, um all dem zu entfliehen, was ihm das Herz brach. Sein eigener Tod bedeutete ihm wenig, doch die Tränen seiner Mutter zu sehen, die sie vor ihm versuchte zu verstecken, ließen ihn durch die Hölle gehen. Seine kleiner Bruder Maik nahm ihm die Luft zum atmen, wenn er jeden Tag die Frage stellte, wann Simon denn endlich wieder mit ihm spielen konnte. Bisher hatte noch niemand die Worte und den Mut gefunden ihm zu erklären, was wirklich mit seinem großen Bruder vor sich ging.
Simon fühlte, wie die Müdigkeit wieder in ihm aufstieg. Am Anfang seiner Krankheit hatte er noch versucht dagegen anzukämpfen, und sein Leben normal weiterlaufen zu lassen. Inzwischen hatte er eingesehen, dass er diese Ruhezeiten brauchte und gab sie seinem Körper.
Es war bereits dunkel, als Simon wieder aufwachte. Wahrscheinlich lief seine Mutter wieder Pfade in den Teppich vor Sorgen und drehte durch, wenn sie versucht ihn auf dem Handy zu erreichen, das er ausgeschaltete hatte. Kam er an diesen Ort, dann wollte er Ruhe haben, sich an schönere Zeiten erinnern und in seinen Erinnerungen daran versinken. Sein Vater war oft mit ihm Segeln gewesen und hier oben unter der Kastanie hatte er das erste mal die Polarlichter gesehen. Simon wünschte sich, das Farbenspiel vor seinem Tod noch einmal beobachten zu können.
Es raschelte über ihm. Er schaut nach oben in dem Gedanken einen Vogel zu sehen, doch er erstarrte, als seine müden Augen etwas Anderes erblickten. Etwas, dass ihm eigentlich Angst machen sollte.
„Guten Abend.“ Das Wesen spannte seine großen ledrigen Flügel aus und glitt zu ihm auf die Erde. Lautlos landete es zu seinen Füßen.
„Was bist du?“ Simons Verstand wusste, dass dies der Moment sein sollte, in dem er in Panik verfallen müsste. Aber stattdessen war es die Neugier, die seine Gefühle dominierte.
„Du bist traurig ...“, sagte das Wesen und sah ihn aus schwarzen Augen mitfühlend an. Die Stimme erinnerte ihn an ein junges Mädchen, und wenn sie sich aufrichtete, wäre sie ihm gerademal bis zur Brust gegangen, wenn er stand.
„Nicht um mich“, antwortete er.
Sie nickte. „Ich weiß.“
Was auch immer sie war. Sie zog seine Aufmerksamkeit magisch an und nahm ihm jede Angst und Unsicherheit, die er ihr gegenüber empfinden müsste. Ihre großen Flügel waren mit ihren Armen verbunden und sie besaß nur drei Finger, die anderen beiden waren Ausläufer ihrer Schwingen.
Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf und streichelte durch sein Haar. „Du möchtest nicht, dass sie leiden und hasst dich dafür, nichts dagegen tun zu können.“
„Woher weißt du das?“
Das Wesen kicherte. „Ich beobachte dich schon lange. Du hast eine wunderschöne Seele. Sie leuchtet besonders hell.“
Sie ließ von ihm ab und wandte ihm dem Rücken zu. Ihr Körper war zierlich und wirkte als könne er den kleinsten Windstoß nicht überleben. Ihre Rippen standen so deutlich hervor, dass er jeden Atemzug von ihr genau sehen konnte. „Simon, was würdest du sagen, wenn ich dir ewigen Frieden schenken könnte?“
„Den finde ich auch allein“, murmelte er.
„Nein, den meine ich nicht“, antwortete sie sanft und schüttelte den Kopf. „Schenk mir deine Seele und ich werde dafür sorgen, dass du in einer Welt leben wirst, in der es für dich keine Trauer gibt, keine Dunkelheit.“
„Und meine Familie? Mir soll es gut gehen und sie? Nein, das will ich nicht.“
Sie drehte sich lächelnd zu ihm um. „Dies wäre ein Teil unseres Abkommens. Ich würde dafür sorgen, dass sie dich vergessen.“
Simon schluckte. Wäre das besser? Er starb und sie würden ihn einfach aus ihrem Gedächtnis streichen? Ausradieren? Als hätte es ihn nie gegeben?
Sie würde nicht um mich trauern müssen. Sie könnten ein glückliches Leben führen. Ohne Schmerz und die quälende Erinnerung an mich. Gibt es da eigentlich etwas zu überlegen?
„Du würdest dein Leben in einer Welt fortsetzen, wie sie gewesen wäre ohne deine Krankheit. Alles was du willst steht dir offen.“
Ihre Worte klangen verlockend und doch setzten sich Zweifel in seinem Kopf fest. „Es wäre aber nur eine Illusion, nicht wahr?“
„Du bist schlau.“ Sie strich sich durch das schwarze Haar. „Die Menschen greifen sonst einfach zu. Es ist keine Illusion wie du sie kennst. Dein physischer Körper würde sterben, aber deine Seele wandert in eine andere Welt. Du wirst deine Erinnerung an mich und an all das, was in den letzten zwei Jahren passierte, verlieren.“
„Und das einzige, was du dafür willst ist meine Seele?“
„Ja, aber du merkst nichts davon. Jede Seele ist so wertvoll, dass ich ihr niemals etwas Böses tun könnte.“
Noch vor wenigen Monaten hätte er sich selbst einen Schwächling genannt, einem solchen Angebot zuzustimmen und vor den Problemen einfach fortzulaufen. Doch jetzt, wo er dem Tode so nah war, griff er zu. Nicht für sich, zumindest nicht hauptsächlich. Für seine Familie. Sie sollten ihn lieber vergessen, das war für ihn leichter zu ertragen als zu wissen, dass sie noch ewig unter seinem Tod litten und ihn dahinsiechen sehen mussten.
„In Ordnung, gib mir dein Wort und meine Seele wird dir gehören“, sagte er voller Entschlossenheit. Sie hob ihre Hand und schwor. Er musste sich darauf verlassen, dass sie es ernst meinte.
Das Wesen legte ihre Stirn auf seine und sofort durchzog ihn eine wohlige Wärme. Seine Beine fingen an zu kribbeln. Er fühlte Kraft in seinen Körper strömen, so wie er sie mit 16 gehabt hatte.
„Gute Nacht Simon. Deine Träume werden dich tragen.“
*
„Hallo! Ich bin wieder zu Hause!“ Er warf seine Sporttasche in die Ecke und rannte in die Küche. Seine Mutter stand am Herd und sah ihn erleichtert an. „Gerade noch rechtzeitig, sonst wären sie wieder schwarz geworden.“
Sie nahm die Pfanne von der Kochplatte und stellte sie auf den Tisch. „Jedes Mal, wenn du Fußball spielst, muss ich sehen, dass mir das Essen nicht anbrennt. Kannst du nicht einmal so schnell nach Hause kommen wie du Tore schießt?“
Simons kleiner Bruder lachte. „Nö, damit kann er ja keine Mädchen beeindrucken.“
„Halt den Mund, sonst machen wir diesen Herbst keine Kastanien Figuren.“
„Du bist so gemein!“, maulte der Kleine und die Mutter lachte auf. „Nicht streiten, essen. Sonst wird’s kalt.“
*
„Deine Seele ist wirklich wunderschön Simon.“
Davina drehte das kunstvoll geschliffenen Glas in ihren dünnen Fingern. „Ja, wirklich außergewöhnlich.“
So vorsichtig wie möglich ging sie über den steinernen Fußboden und stellte das Glas in das Regal aus weißem Mamor. „Ich hatte recht“, freute sie sich. „Deine Seele strahlt heller als alle Anderen.“ In den Farben des Polarlichtes schimmerte sie durch das Glas und stellte alle anderen Seelen in ihren Behältern in den Schatten.
*
„Sag mal Mama, fehlt nicht irgendetwas?“
Simons Eltern schauten Maik fragend an.
„Was denn?“, wollte sein Vater wissen und lud sich eine Portion Kartoffelbrei auf den Teller.
Der Kleine zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Ist egal.“
Die Mutter schüttelte den Kopf. „Du hast immer Fantasien...“
Texte: Yvonne Wacker
Tag der Veröffentlichung: 12.09.2012
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