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K1 – Zeit zum Verschwinden

Langsam bildet sich in meinem Inneren dieses Gefühl. Eine drängende, erdrückende Wärme füllt mich. Mein Körper wird heiß, sehnt sich nach Freiraum.

 

Vorsichtig greife ich nach dem Arm, der auf mir liegt. Behutsam hebe ich ihn an und lege ihn auf den Körper neben mir, da wo er hingehört. Nun schiebe ich die Bettdecke zur Seite und entschwinde so geräuschlos wie möglich der weichen Matratze.

 

Mit einem leisen Brummen dreht sich der Körper, welche noch in dem Bett liegt. Ein letztes Mal schiele ich zu dem Mann hinüber.

 

Wie hieß er noch mal?, überlege ich kurz, verwerfe aber den Gedanken sofort, da mir meine Klamotten wieder einfallen. Auf leisen Sohlen trete ich an sie heran, hebe sie auf und entschwinde dem Zimmer.

 

Sachte lehne ich die Tür an. Dann gehe ich ins Badezimmer. Mit einem Klicken geht der Lichtschalter an und gelbes Strahlen scheint von der Decke. Meine Sachen lege ich erst einmal auf die Waschmaschine, dann drehe ich meinen Körper, um mich im Spiegel zu erblicken. Mein Gesicht sieht ein wenig Müde aus. Was vielleicht daran liegen kann, dass es vier Uhr nachts ist.

 

Ich drehe den Wasserhahn auf und warmes Wasser ergießt sich mit einem leisen rauschen im Waschbecken. Mit den Händen werfe ich mir ein wenig Flüssigkeit ins Gesicht. Dann gehe ich erst mal auf Toilette. Nachdem dieser Gang erledigt ist, entdecke ich eine Packung Feuchttücher. Diese müssen für eine provisorische Wäsche herhalten. Vor allem für meinen Hintern. An Gleitmittel hat One-Night-Stand jedenfalls nicht gespart.

 

Also reinige ich mich provisorisch, ziehe mir meine Sachen an, richte so gut es geht meine Haare und verlasse das Badezimmer. Aus dem Schlafzimmer höre ich ein leichtes Brummen.

 

„Gehst du schon?“, will der Typ wissen.

„Ja“, flüstere ich und eile, um mir meinen Schuhe anzuziehen.

 

„Hey Jason. Bekomm ich noch deine Nummer?“, steht er nun nackt im Türrahmen.

Verdammt. Wieso weiß der meinen Namen? Und warum weiß ich seinen Namen nicht mehr?“, denke ich langsam panisch.

 

„Sorry, ich denke eher nicht“, schließe ich meine Schnürsenkel.

„Und warum nicht“, runzelt er nun die Stirn.

 

Ich richte mich auf, gehe schnell an ihm an ran und gebe ihm einen Kuss auf die Wange. Hoffentlich ist damit das Thema erledigt.

 

„Man sieht sich“, rufe ich noch und eile aus der Wohnung. Mit einem Klacken fällt die Tür ins Schloss und ich rase die Treppen hinunter. Nach zwei Etagen erreiche ich die Haustür und danach empfängt mich die laue Nacht.

 

Schnell zücke ich mein Smartphone und suche die nächste Haltestelle für die öffentlichen Verkehrsmittel. Da ich heute feiern war, habe ich mein Auto zu Hause gelassen. Immerhin gönnte ich mir den einen oder anderen Cocktail. Naja und in die Wohnung hinter mir, hat mich meine Begleitung gefahren.

 

Das kleine Rädchen auf meinem Display dreht sich, dann pingt ein Fenster auf. Ich scheine glück zu haben. Die nächste Stelle ist fünf Minuten entfernt und der nächste Bus fährt in zehn Minuten.

 

Nach diesem kurzen Weg stehe ich an der Haltestelle. Das schwache Licht der Straßenlaterne spendet ein wenig Licht, aber nicht annähernd genug.

 

Warum fällt mir nicht dieser Name von dem Typen ein? Und warum bin ich überhaupt mit dem nach Hause gegangen?, frage ich mich.

 

Eigentlich war er gar nicht mein Typ. Allein schon, dass er sicher an die zehn Jahre älter als ich scheint. Dann diese dunklen, langen Haare und sein kurzer Vollbart.

 

Brr, bei der Erinnerung schüttelt es mich förmlich.

 

Ein Zischen reißt mich aus den geistigen Bildern. Der Bus ist da und öffnet die Tür. Ich trete ein und gehe an den Busfahrer ran. Das Licht aus dem hinteren Teil scheint nur spärlich auf den Körper des Fahrers. Trotz der dunklen Außenwelt trägt er ein Basecap. Der Sonnenschutz hängt tief in seinem Gesicht. Ich kann seine Augen nicht erkennen, aber seine Mundwinkel zucken ein wenig nach oben, sein Bartschatten umspielt seine Lippen.

 

„Na Junge, noch so spät unterwegs?“, höre ich seine Stimme.

 

„Scheint so“, antworte ich, „einmal bitte.“

 

„1.50“, höre ich den Preis für mein Ticket.

 

Während ich mein Portemonnaie rauskrame und das Geld zusammensuche, ratscht schon der Kartendrucker. Schnell ist das Geschäft über die Bühne gegangen. Dann gehe ich in den leeren Bus und suche mir einen Sitzplatz. Mit einem Zischen schließen sich die Türen und der Wagen setzt sich in Bewegung.

Das Anfahren des Wagens presst mich in den weichen Sitz. Mein Blick schweift aus dem Fenster. An mir ziehen die dunklen Häuserwände vorbei. Mein Kopf wird schwer und durch die Müdigkeit bildet sich allmählich ein Pochen in meinem Schädel.

 

Kopfschmerzen kündigen sich an. Frustriert seufze ich auf und strecke meinen Rücken durch. Vereinzelt höre ich ein paar Wirbel knacken.

 

Danach neige ich meinen Kopf einmal nach rechts, und dann nach links. Auch in meinem Nacken knacken ein paar Wirbel. Bei diesem Vorgehen schiele ich einen kurzen Augenblick in den großen Rückspiegel über der Fahrerkabine.

Der Fahrer scheint meinem Handeln zu folgen. Ich runzle die Stirn und denke, dass er lieber auf den Verkehr achten sollte.

 

Schnell richtet sich sein Blick wieder auf die Straßen. Er scheint sich ertappt zu fühlen. So ein Spinner. Egal.

Die nächste Haltestelle ist meine. Also hebe ich die Hand und drücke den roten Knopf. Das Haltesymbol erscheint mitsamt einem kurzen Signal.

 

Dann stehe ich auf und begebe mich zu den mittleren Türen. Dort greife ich mir eine Haltestange und warte, bis der Bus zum Stehen kommt.

 

Mit einem leisen Zischen öffnen sich die Türen und ich trete hinaus. Das erneute Geräusch kündigt das Schließen der Türen an und mit einem Brummen entschwindet der Bus in die weite Ferne.

 

Ich für meinen Teil ergebe mich der Tatsache, dass mir der Name meines One-Night-Stands nicht mehr einfällt, und gehe die paar Meter zu meiner Wohnung.

 

Nachdem der Schlüssel in das Haustürschloss ratscht, öffne ich schwungvoll die aufgeschlossene Tür. Im Hausflur geht automatisch das Licht an. Träge gehe ich die paar Treppen bis zur ersten Etage hinauf. Auch dort öffnet ein Schlüssel mit einem Ratschen die Tür.

 

Nun betrete ich meine Wohnung. Die Räume werden nur durch ein kleines Zwielicht, welches aus den Fenstern von draußen hinein scheint, erhellt.

 

Im Flur streife ich mir erst mal die Schuhe von den Füßen, dann trabe ich ein paar Schritte weiter, bis ins Schlafzimmer. Sachte schäle ich mich aus meinen Klamotten und lasse sie achtlos auf den Boden fallen. Danach schlüpfe ich unter meine Bettdecke.

 

Sofort fängt die Matratze an, sich zu bewegen. Ein Arm schlingt sich um meine Taille und ein warmer Körper presst sich von hinten an meinem Körper.

 

„Hey, da bist du ja“, höre ich eine warme Stimme heiser an mein Ohr flüstern.

„Ja“, stimme ich ebenso leise zu.

 

„Ist alles gut gelaufen?“

„Ja“, stimme ich wieder zu, „schlaf weiter.“

 

„Hab dich vermisst“, drückt sich der Körper noch etwas fester an mich.

„Ich dich auch“, drücke ich nun fest die Hand, welche an meinem Bauch ruht.

 

„Ich liebe dich, Jason“, spüre ich einen sachten Kuss auf meiner Schläfe.

„Ich liebe dich auch, Vincent“, verschlucke ich mich fast an den Worten, welche sich nur krächzend aus meiner Kehle befreien.

 

Dann schließe ich meine Augen. In Gedanken bete ich, dass damit das Gespräch vorbei ist, und für einen schnellen Schlaf.

K2 – Zeit für neue Bekanntschaften

Gleißendes Sonnenlicht erhellt den Raum. Langsam dämmere ich aus dem nebligen Schlafzustand. Verhalten reibe ich mir über mein Gesicht und öffne dann die Augen.

 

Langsam drehe ich meinen Körper und schau auf die andere Bettseite.

Das Schlafgemach ist leer. Also drehe ich mich auf die andere Seite und schaue auf die Uhr. Die Zeiger zeigen kurz nach 12 Uhr. Zum Glück ist Sonntag.

 

Also stehe ich auf. Mein Blick fällt auf den Boden. Da, wo gestern noch der Haufen meiner Klamotten gelegen hatte, ist nun nichts mehr zu sehen.

 

Ich reibe mir die Stirn, ob ich vielleicht die Sachen doch wo anders hingelegt habe. Aber das ist jetzt erst mal egal. Noch morgentrunken wandle ich ins Badezimmer. Die Waschmaschine rumpelt.

 

Erst setzte ich mich auf die Toilette. Mein Blick fällt auf die schleudernde Wäsche. Das Oberteil und die Hose kommen mir bekannt vor.

 

Da ist der Wäschehaufen von gestern, kombiniere ich.

 

Nachdem ich meine Blase entleert habe, gehe ich daran mir die Zähne zu putzen und danach unter der Dusche mich zu reinigen. Nachdem ich nun alle Reste des Vortags und vor allem der letzten Nacht entfernt habe, werfe ich mir meinen Morgenmantel um und verlasse das Badezimmer.

 

Mein Ziel ist die Küche. Diese betrete ich und da steht er: Vincent. Mein Freund steht am Herd und köchelt vor sich hin.

 

„Hey, Schlafmütze“, dreht er seinen Kopf ein wenig und begrüßt mich liebevoll.

„Morgen“, lächle ich verschmilzt und gehe auf ihn zu. Wir küssen uns kurz, dann nehme ich am Küchentisch Platz.

„Magst du was essen?“, will Vincent wissen.

 

„Nein danke, ein Kaffee reicht“, antworte ich ihm.

„Ok“, stellt er eine Tasse unter die Kaffeeautomatik und startet den Brühvorgang. Dann nimmt er sich einen Teller, häuft sich etwas von dem Essen auf, was er gemacht hat, und stellt ihn, mitsamt Besteck, auf den Platz mir gegenüber.

In dieser Zeit ist auch das schwarze Glück fertig in das Behältnis gelaufen, sodass Vincent mir mit einem Lächeln die Tasse reicht.

 

Nickend nehme ich die entgegen. Darauf setzt sich Vincent mir gegenüber und beginnt zu essen.

„Und war viel los gestern?“, will Vincent eine Konversation starten.

„Was meinst du?“, runzle ich die Stirn und sehe ihn fragend an.

 

„Auf Arbeit. Bereitschaft. Du. Gestern Nacht“, zeigt er mit seiner Gabel in meine Richtung.

„Ach ja. Sorry. Bin noch nicht richtig wach“, nehme ich einen Schluck Kaffee, „ja war alles ruhig.“

„Da muss sich Vicky aber wirklich langsam was einfallen lassen“, schiebt sich Vincent noch eine Gabel der Gemüsepfanne in den Mund.

 

„Wieso?“, will ich wissen.

„Na ständig fällt sie aus und du musst ihren Bereitschaftsdienst übernehmen“, höre ich ihn ein wenig genervt.

„Ach so, ja. Aber sie hat halt was mit ihren Stimmbändern. Und im Callcenter ist das halt eins deiner wichtigsten Arbeitsmaterialien“, versuche ich Vincent zu beschwichtigen.

 

„Du hast ja recht“, beruhigt sich der Mann mir gegenüber.

„Außerdem hat sie sich ja nicht ausgesucht, so viel auszufallen“, sage ich ihm, denke darauf sofort: oder für meine Lügen herzuhalten.

 

„Schon gut. Du bist einfach zu gut für diese Welt“, isst mein Freund beruhigt weiter und ich trinke besonnen meinen Kaffee aus.

 

 

Keine zwei Stunden später hat mein Freund seine allsonntägliche Routine begonnen. Erst geht er ein wenig spazieren, dann klappert er die Pflichtbesuche ab.

 

Früher habe ich ihn ja noch begleitet, aber das habe ich auch nur ein paar Wochen mitgemacht.

Ich konnte ja damals nicht ahnen, dass er dies jeden Sonntag absolviert. Aber soll er ruhig. Da habe ich meine Ruhe und er seinen Auslauf. Er ist einfach so pflichtbewusst.

 

Jedenfalls habe ich es mir auf der Couch gemütlich gemacht. Mit meinen warmen Socken an den Füßen, einem heißen Tee auf dem Tisch und der Fernbedienung in der Hand.

 

Fade zappe ich mich durch das Fernsehprogramm, aber keine der ständigen Wiederholungen spricht mich an. Weder irgendwelchen Frauen beim Einkaufen, noch kindergerechte Spielfilme, oder gar alte Heimatfilme sagen mir zu.

Was soll‘s, denke ich mir und schalte den Fernseher wieder aus, dann schaue ich halt mal uns World Wide Web.

 

Gedacht, getan greife ich nach dem Laptop, nach kurzem Hochfahren und kleinen Updates öffne ich das Fenster in die elektronische Unendlichkeit.

 

Erst checke ich desinteressiert meine Mails und dann die Facebook-Status meiner Bekannten. Dabei sehe ich nicht wirklich Überraschendes oder Interessantes.

 

Zu guter Letzt logge ich mich noch in meine Lieblingsseite ein. Die blaue Social-Network-Plattform mit der unbedeutenden blauen Erdkugel öffnet sich. Auf PlanetRomeo wird es nie langweilig.

 

Und ich werde nicht enttäuscht. Nicht mal nach drei Minuten, in denen ich online bin, klicke ich mein Chatfenster auf.

Ein normales Hey lässt die Konversation beginnen. Auf einem kleinen Vorschaubild in dem Chatfenster sehe ich schon seine hellen, kurz geschorenen Haare. Nur seine Augen sind nicht wirklich zu erkennen. Das verdanke ich der Unterbelichtung des Bilds. Trotzdem klicke ich auf sein Profil, allein schon der Neugier willen.

 

Nach einem prüfenden Blick auf das Profil des Schreiberlings antworte ich ihm dann auch. Zwar sind seine Bilder eher ästhetisch schwarz/weiß und er präsentiert sich in Posen, wo man mehr Oberkörper als Gesicht sieht, aber allein schon die erotische Ausstrahlung mach mich an. Da mich sein Aussehen anspricht und seine Profiltexte ganz in Ordnung sind, sehe ich keinen Grund, ihm nicht zu antworten.

 

Nur die Angabe, seit wann er angemeldet ist, macht mich stutzig. Eine kleine, umgekippte 8 steht hinter seinem Status.

 

Verwundert schiebe ich es auf einen Programmierfehler der Website. Meine weitere Schreiblust mindert es auf keinen Fall.

 

Nach anfänglichen netten und zaghaften Worten nimmt die Konversation einen eindeutigen Verlauf. Schnell wird klar, der Mann will Sex. Und was für ein Zufall. Ich bin dem nicht abgeneigt.

 

Rasch ist ein Treffen ausgemacht. Da wir nicht zu mir können, und aus nicht wichtigen Gründen zu ihm, verabreden wir uns in einer Kneipe. Ein Bier soll die ganze Sache auflockern. Danach würden wir schon was Passendes finden.

 

Von meiner Seite aus soll das kein Hindernis sein. Es kam auch schon mal vor, dass ich in der freien Natur Sex hatte. Natürlich nicht mit Vincent. Leider ist er in Sachen Sex nicht so weit gefächert.

 

Seufzend logge ich mich aus. Das Date steht. Ich klappe den Laptop zu. Jetzt muss ich mir nur noch eine passende Ausrede für den guten Vincent einfallen lassen.

K3 – Zeit für Erinnerungen

 

Die Haustür schließt sich. Ein kühler Wind umweht mich. Ich drehe mich um und schaue in die gläserne Scheibe. Mein Spiegelbild schaut mich an. Keine Regung in den Gesichtszügen.

 

Meine Erscheinung ist gut genug für das Treffen und schlecht genug, um Vincent nicht misstrauisch zu machen.

Mein Blick gleitet auf der Häuserwand nach oben. In dem Fenster in der ersten Etage brennt Licht.

 

Mein Freund liegt wohl jetzt gerade auf der Couch und schaut sich einen lustigen Animationsfilm an. Er steht auf die Dinger. Dabei nascht er sicherlich wieder eine Tüte Popcorn.

 

Früher habe ich mich noch in seine Arme gekuschelt, ein paar Stücken zuckriger, warmer, geplatzter Maiskörner stibitzt und mit ihm den Abend genossen.

 

Abgrubt drehe ich mich um und entschwinde in den Abend.

 

Auf der Straße ist nicht viel los. Zu wenig. Es ist ruhig. In solchen stillen Momenten kommen die Erinnerungen immer schnell an die Oberfläche.

 

Das Wohnhaus entfernt sich immer mehr. Dabei formt sich eine Frage in meinem Geist, bis sie groß genug ist, dass mein Verstand von ihr eingenommen wird.

 

Wann wurde eigentlich alles so?

 

Vor meinem inneren Auge formen sich die Bilder meiner Erinnerung. Bild für Bild erscheint mir die Geschichte.

 

Ich war Auszubildender in einer IT-Firma. Mein Aufgabengebiet war es, mich um die Software zu kümmern. Fehler ausbessern, Betaversionen Testen, sogar eigene Programme lernte ich, zu programmieren. Die Ausbildung war auch der Weg aus meinem Elternhaus. Endlich konnte ich mir mit meinen Fähigkeiten als Computer-Geek Geld verdienen.

 

Damals in der Schule, mit Brille und Zahnspange war mein Computer mein einziger Freund. Doch während meiner Ausbildungszeit änderte sich alles schlagartig. Die Brille tauschte ich gegen Kontaktlinsen und die Zahnspange entblößte ein weißes Lächeln.

 

Dann traf ich auf einem meiner unzähligen Lehrgänge Torben. Er war freundlich, aufgeschlossen und abends, nachdem wir im Kino waren, ein paar Bier getrunken und eine Pizza gegessen haben, mein erstes Mal.

 

Danach änderte sich alles für mich. Aus der einsamen Raupe wurde ein Schmetterling. Ein Falter, der seine Freiheit genoss. Ich besuchte Clubs, Bars und Discos. Ich trank, tanzte und hatte Sex.

 

Meine Ausbildung ging zu Ende. Die Firma stellte mich ein. Kurz darauf etablierten wir eine Kundenhotline. In dieser hatten wir Programmierer abwechselnd Telefondienst. Natürlich stellten wir auch herkömmliche Callcenter-Mitarbeiter ein, aber ein Fachmann als Ansprechpartner sollte schon vorhanden sein.

 

Irgendwann kam dann auch Vicky zu uns. Sie arbeitete früher für einen Handyanbieter in einem Callcenter in einer anderen Stadt. Doch weil ihre Mutter krank geworden war, kam sie zurück und suchte sich einen Job in der Nähe. Ein Glück für mich.

 

Vicky ist nämlich nicht nur mein wichtigstes Alibi, sie ist auch eine gute Freundin geworden.

 

Ihrer Mutter ging es leider immer Schlechter. Und irgendwann in absehbarer Zeit verstarb sie. Als guter Freund sah ich es als meine Pflicht, ihr beizustehen. Somit begleitete ich sie zu der Beerdigung. Ich hielt mich im Hintergrund. Vicky sollte wissen, dass ich für die da war, aber vorne, bei der Familie, fühlte ich mich fehl.

 

Somit stand ich hinten im Abseits.

 

Kurz, nachdem die Beerdigung begonnen hatte, gesellte sich eine Gestalt in meine Nähe. Ein netter, junger Mann in schwarzen Anzug stellte sich neben mich. Seine kurzen haselnussbraunen Haare und die grünen Augen gefielen mir sofort. In dem schwarzen Anzug sag ausnehmend elegant aus.

 

„Gehören sie zur Familie?“, fragte mich der Jüngling leise.

Ich schüttelte verneinend den Kopf: „Und sie?“

 

„Ich gehöre zum Bestattungsunternehmen“, erklärte er mir.

„Oh“, entkam es mir.

 

„Jedenfalls mein Beileid“, wünschte mir der Anzugträger.

„Danke“, nickte ich ihm zu und reichte ihm die Hand, „ich heiße Jason.“

 

Er nahm meine Hand in seine, wobei mir sogleich ein Stromstoß durch den Körper fuhr: „Mein Name ist Vincent. Sehr erfreut.“

 

Exakt zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, welche Absichten Vincent hatte. Aber egal welche, es war nicht der richtige Zeitpunkt um es herauszufinden.

 

Eine Woche später begleitete ich Vicky dann zum Bestattungsunternehmen. Vicky wollte die Rechnung begleichen. Ihr Vater fühlte sich noch nicht in der Lage, dies zu tun.

 

Und wie der Zufall es wollte, wartete dort Vincent. Und nach einer kurzen Geldübergabe wollten wir gerade das Haus verlassen, da hielt mich Vicky auf.

 

„Der steht auf dich“, flüsterte sie mir.

„Ja. Ich kann ihn ja schlecht nach einem Date fragen. Er hat vor einer Woche deine Mum beerdigt“, kam ich ihn entgegen.

 

„Mensch Jason. So traurig die ganze Sache auch ist, das Leben geht weiter“, legte sie mir ihre Hand auf die Schulter und drückte sanft zu.

 

Dank dieser Ermutigung ging ich zurück, fragte Vincent nach einem Date und er sagte lächelnd ja. Tja, und eins führte aufs Andere.

 

Als wir dann beide wussten, dass unsere Beziehung den Status Ernst hatte, legten wir in beiderseitigem Einverständnis fest, dass wir monogam sein möchten.

 

Eigentlich war sogar ich die treibende Kraft auf diese Vereinbarung. Ich wollte Vincent nicht teilen. Er war mein Freund.

Leider konnte mir keiner sagen, dass ich es sein sollte, der diese Abmachung brechen sollte.

 

Es dauerte vielleicht ein Jahr, da wurde mich langweilig. Ich kann es nicht anders sagen. Es begann schleichend.

Vincent und ich gingen aus. In einem nahen Club war die vierteljährliche Homoparty. Wir tranken, wir tanzten, wir knutschten rum. Doch mehr wollte Vincent nicht im Club machen. Doch mich reizte etwas. Also verabschiedete sich Vincent gegen zwei, doch ich bleib noch.

 

Kaum war ich allein, kamen die Typen. Sie brachten Drinks, sie versprachen Abenteuer und gaben mir am Ende ihre Telefonnummer.

 

Das erste Mal habe ich sie noch alle abgewehrt. Das zweite Mal dachte ich, ein wenig Flirten wär OK. Das dritte Mal schnappte ich mir dann einen und verschwand mit ihm im Darkroom. Es war so berauschend.

 

Die Dunkelheit, die alles verhüllt. Der Geruch von schmutzigem, heißem Sex. Der Geschmack eines anderen Mannes auf meiner Zunge. Berührungen von fremden Händen auf meiner Haut. Tiefes Stöhnen aus heiseren Kehlen. Dieses verbotene Spiel. Meine Sinne waren erfüllt purer Lust. Mein Puls raste, mein Schwanz pochte, mein Hintern juckte es förmlich nach einem harten Stück tropfendem Fleisch.

 

Meine Gedanken waren vernebelt und so nahm ich mir, was ich brauchte. Meine Geilheit lechzte so nach Aufmerksamkeit, dass es mir gleich zwei besorgen mussten.

 

Ich mein, bis dato konnte ich mich nicht beschweren. Ich hatte guten Sex mit Vincent. Er ging auf mich ein, versuchte es mir recht zu machen. Streichelte mich, verwöhnte mich. Positionstechnisch wechselten wir uns ab. Mal war er der Top, mal der Bottom.

 

Doch diesen Abend wollte ich nur eins: Benutzt werden. Harter, dreckiger Sex. Diesen hatte ich von Vincent nie bekommen. Und da holte ich ihn mir.

 

Von Vincent holte ich mir etwas anderes. Mit Pulsrasen ging ich nach Hause. Bedacht auf jede Kleinigkeit mich nicht zu verraten. Zu viel Angst hatte ich vor der Reaktion. Kein Auge habe ich die Nacht zu bekommen. Vor Aufregung war nichts mehr möglich. Dieser Kick des Erwischtwerdens ließ Adrenalin fließen.

 

Vincent bekam davon nichts mit, aber unterbewusst verpasste er mir, allein mit der Möglichkeit, einen unfassbaren Rausch.

 

Am nächsten Morgen sagte ich ihm auch das erst mal, dass ich ihn liebte. Wie Paradox war das denn? Aber ich fühlte es. Das erste Mal.

 

Es war so irrational. Ich fühlte mich Vincent näher denn je, nachdem ich ihm den Grund geliefert hatte, mir ferner denn je zu werden. Zum Glück wusste er nichts davon.

 

Bis heute kann ich es geheim halten. Wie jetzt, wo ich nur noch ein paar Schritte von der Kneipe entfernt bin. Nicht mehr weit von meinem nächsten Fehltritt.

K4 – Zeit zum Treffen

 

Die Schatten fallen tief, der Abend ist noch jung. Ein angenehmes Zwielicht fällt vom Himmel. Nicht mehr lang und es ist komplett Nacht. Die Laternen werfen bereits künstliches Licht auf den Asphalt.

 

Ich gehe um die Ecke und dort sehe ich ihn stehen. An die Wand gelehnt. Lässig steht er da. Dunkle Schuhe, blaue Jeans und eine ebenso blaue Jeansjacke. Den Kopf dreht er suchend in alle Richtungen. Seine kurzen dunkelblonden Haare passen akkurat zu seinem Aussehen. Die passenden Bartstoppeln lassen ihn rau wirken. Wo sein Blick hin schweift, kann ich nicht erkenne. Er trägt eine Brille mit dunklen Gläsern.

 

Rasch bewege ich mich in seine Richtung. Die Ausstrahlung des Mannes ist wirklich anziehend. Wie die Motte zum Licht steuere ich direkt auf diesen Kerl zu. Wenn er das verspricht, was er ausstrahlt, wird diese Nacht eine unvergleichliche.

 

„Hey, ich hoffe du wartest nicht zu lange“, lege ich meine Hand auf meinen Hinterkopf und entschuldige mich verlegen.

 

Ein amüsiertes Schnaufen kommt von dem heißen Mann. Dann kommt er näher und drückt mich kurz.

 

„Jetzt bist du ja da“, brummt es mit tiefer Stimme, die mir eine wohlige Gänsehaut auf dem Körper beschert.

„Ich bin übrigens Jason“, stelle ich mich vor.

 

„Nenn mich Ty“, zucken die Mundwinkel meines Gegenübers kurz nach oben.

„Freut mich“, lächle ich ihn an.

 

„Also Jason, wollen wir reingehen das Bier trinken, oder …“, will Ty anfangen zu sprechen.

 

„Oder!“, rufe ich aus. Das Kribbeln im ganzen Körper besteht immer noch, welches einsetzte als Ty und ich uns kurz berührt haben. Ob er es auch spürt? Was ist das?

 

Egal, aber wenn dieses Empfinden noch intensiviert werden sollte, dann besser jetzt als gleich.

Ty’s Augenbraue zuckt kurz nach oben, dann schnauft er noch einmal belustig und deutet darauf mit seinem Kopf die Straße runter.

 

„Dann komm mal mit“, deutet er mir an.

Wir setzten uns in Bewegung und gehen ein Stück. In seiner Gegenwart scheine ich keine Ruhe entwickeln zu können. Ein Gespräch muss her.

 

„Wie alt bist du eigentlich?“, will ich wissen.

„So alt, wie ich mich fühle“, kommt eine kurze und knappe Absage zu diesem Thema. Na gut, wenn er es nicht sagen will, soll mir recht sein.

 

Also versuche ich es mit einem Kompliment: „Deine Fotos sehen richtig gut aus. Hast du die professionell schießen lassen?“

 

„Danke. Ich finde Schwarz/Weiß irgendwie …zeitlos“, lacht Ty nun wohlig auf. Den Witz habe ich nicht verstanden, aber die belustigten Geräusche, welche tief aus seiner Kehle drängen, lassen mich erschaudern.

 

„Wo gehen wir eigentlich hin?“, möchte ich als Nächstes wissen. Denn die immerhin kenne ich Ty nicht wirklich, und die Neugier überrollt mich plötzlich.

 

„Habe uns was organisiert“, kommt es knapp.

„Bist nicht so der Redner, mhm?“, frage nun ich, was mehr als belustigende Aussage gemeint war.

 

„Wir werden noch genug Zeit zum Reden haben“, gibt Ty trocken zurück. Schon wieder so eine kryptische Antwort. Er kann vom Glück sagen, dass er meine Libido auf seiner Seite hat.

 

Die weiteren fünf Minuten Fußweg verlaufen äußerst wortkarg, auch von meiner Seite aus. Dann plötzlich stoppt diese fleischgewordene Versuchung auf zwei Beinen.

 

„Hier“, kommentiert Ty kurz und knapp das erreichen unseres Zielortes.

Verdutzt hebt sich meine Augenbraue.

 

„Hier?“, frage ich verwundert über das, was ich vor mir sehe. Wir stehen vor einem Kiosk. Die Rollläden sind unten. Durch das Glasfenster in der Tür strahlt kein Licht. An einem Schild sehe ich, dass er vor einer Stunde geschlossen hatte.

 

Ty nickt auf meine Frage hin, zieht einen goldenen Schlüssel heraus und antwortet: „Betrachte kein Buch nach seinem Umschlag.“

 

Was soll ich nur davon halten? Und was soll dieser goldene Schlüssel?

 

Innerlich sehe ich mich schon bäuchlings auf einem kalten, staubigen Tresen liegen. Eingeklemmt zwischen Kasse und Süßigkeitenregal. Ty’s Kopf stößt an ein Zigarettengitter und mein Gesicht hängt zwischen einem Zeitschriftenaufsteller. Noch unbequemer und unerotischer geht’s wohl kaum noch. Meine Erregung flaut ab.

 

„Ty, hör zu…“, versuche ich schon meinen verzeihenden Ton aus dem Brustkorb zu pressen.

Doch da steckt der Schlüssel schon im Schlüsselloch und ein Ratschen kündigt das Öffnen des Schlosses an.

Dann geht die Tür auf. Ty scheint meinen Anflug von Unsicherheit gekonnt zu ignorieren.

 

Mein Blick fällt in das Innere. Aber es ist dunkel wie die Nacht. Eine komplette Schwärze scheint aus der Räumlichkeit zu drängen. Ich erkenne nichts, einfach gar nichts. Alles schwarz.

 

Eine innere Unruhe baut sich in mir auf. Was geht hier nur vor? Doch bevor ich überhaupt nur über die Frage nachdenken kann, spüre ich Ty’s Hand auf meinem Rücken. Sanft aber bestimmt dirigiert sie mich in das Innere des Kiosks. Ein elektrischer Schlag geht durch meinen Körper und entriegelt jegliche Sperren meiner Bedenken. Wie automatisch bewegen sich meine Beine durch den Eingang.

 

Eh ich mich versehe, stehe ich in einem dunklen Raum. In mir keimt die Hoffnung, dass sich meine Augen nur an die Dunkelheit gewöhnen müssten, dann würde ich schon etwas erkennen. Aber fehl gedacht.

 

Ty tritt nach mir hinein und schließt die Tür. Nun ist nichts mehr zu sehen. Kalte Schwärze umhüllt mich wie ein Umhang. Nur mein und Ty’s Atem ist zu hören.

 

„Mach die Augen zu“, flüstert mir Ty mit leiser Stimme an mein Ohr.

„Wär wohl auch kein Unterschied als jetzt“, witzle ich herum.

 

„Tue es einfach“, bestimmt Ty’s Stimme nun deutlich fester die Wichtigkeit seiner Aussage.

 

„Na von mir aus“, schließe ich tatsächlich die Augen. Nicht das Ty es kontrollieren könnte. Dabei überlege ich kurz. Jeder andere würde sich in solch einer Situation ausrasten. Keiner wär sich erst in so einer Situation gelandet. Also warum ich? Vielleicht liegt es daran, dass ich trotz der unheimlichen Stimmung ein seltsames Vertrauen zu diesem Fremden habe.

 

Ein Schnipsen holt mich aus meinen Gedanken. Das schwarz hinter meinen geschlossenen Lidern wird rot. Ich kombiniere: Das Licht ging an.

 

Nur merkwürdig, dass es auch schlagartig wärmer geworden ist. Und aus irgendeiner Ecke schallt ein leises Rauschen. Als ob Wasser fließt.

 

„Toto, wir sind wohl nicht mehr in Kansas“, spaße ich, um meine leichte Nervosität zu überspielen.

„Mach die Augen auf, und schau selber“, sagt Ty nun in normalen Umgangston.

 

Schlagartig öffne ich die Augen, doch was ich dann erblicke, lässt mich erbeben. Ja gar aufschrecken.

 

„Das ist unmöglich“, flüstere ich und komme aus dem Staunen nicht mehr raus.

K5 – Zeit der Erklärung

 

Es ist kaum in Worte zu fassen. Unglaube macht sich in meinem Kopf breit. Wach ich oder träum ich?

„Sprachlos, was?“, vernehme ich Ty’s Stimme, welche ein wenig Stolz hervorklingt.

Ergeben nicke ich.

 

Was eben noch ein dunkler Kiosk war, ist nun eine hell erleuchtete Turnhalle. Die Wände sind hölzern verkleidet und auch unter meinen Füßen knattert der laminierte Boden. Mein Blick schweift durch die Halle. Nirgends ist ein Fenster zu sehen und auch keine Tür erspäht mein Blick. An der Decke hängen metallene Lampen, die durch ein Gitter geschützt werden.

 

Schlagartig fühle ich mich wieder in die siebte Klasse versetzt. Fehlt nur noch, dass mein damaliger Sportlehrer Herr Bötter das Kommando für den 15 Minuten Dauerlauf erteilt.

 

Kaum habe ich das Bild von meinem ehemaligen Sportlehrer verdrängt, höre ich Schritte auf dem nachgiebigen Holzboden hinter mir. Mit strammen Zug kommen sie auf mich zu und dann höre ich die kraftvolle Stimme rufen: „Jason Zimmer. Bereit zu schwitzen?“

 

Erschrocken drehe ich mich um, da kommt auch schon das Bild von Herr Bötter direkt auf mich zugelaufen. Aber noch mitten im Gang verblasst seine Erscheinung. Bevor er mich erreichen kann, ist er auch schon im Nichts verschwunden.

 

„Was war das denn?“, richte ich mich nun geschockt an Ty.

 

„Ich glaube, das war dein ehemaliger Sportlehrer. Genau genommen am 63 Tag, als du in der siebten Klasse gewesen bist, die dritte Schulstunde, 2 Minuten und 53 Sekunden nach dem Klingelzeichen“, erläutert mir Ty ganz sachlich. Nun nimmt er endlich seine Sonnenbrille ab, während er die Worte spricht.

 

Seine Iriden sind weiß. So was habe ich ja noch nie gesehen. Es ist faszinierend, ungewöhnlich und mystisch zugleich. Jedenfalls ziehen sie mich sofort in ihren Bann.

 

„Natürlich“, gebe ich ihm recht. Da ich mir mittlerweile eingestehe, dass ich schlafe, oder einen Unfall hatte und nun im Koma liege, oder ganz einfach verrückt werde.

 

„Das ist kein Traum, und verrückt bist du auch nicht“, verkündet mir Ty nun wie aus Stichwort.

„Genau“, rufe ich aus, „und dass du genau weißt, was ich denke und was in mir vorgeht haben dir die kleinen Schlossgespenster aus dem Märchenwald verraten.“

 

„Nein, das ist ein wenig komplizierter“, runzelt Ty nun seine Stirn.

 

„Was auch immer“, wende ich mich nun ab und gehe an die Wand. Unter meinen Füßen knarren die Holzdielen. An der Wand angekommen taste ich die Holzfassade ab. Irgendwo muss es doch einen Ausgang geben. Das ist mein Traum, und ich fände es traumhaft, nun einen Ausgang aus dieser dämlichen Sportfalle zu bekommen.

 

Frustriert gehe ich die Wand entlang. Hier und da klopfe ich mal dagegen. Mal kratze ich ein wenig in die Fugen. Ab und an drücke ich mal fest dagegen. Aber nichts.

 

Nachdem ich schon die fünfte Runde im Kreis gegangen bin und keine Chance auf Freiheit sich ergeben hat, richte ich mich nun wütend wieder Ty zu, welcher weiterhin in der Mitte steht und dem Schauspiel seine Aufmerksamkeit gewidmet hat.

 

„Lass mich raus du billiger Freddy Krueger Verschnitt“, schreie ich ihn an und eile auf ihn zu.

„Das geht noch nicht“, höre ich schon wieder diesen neutralen Ton. Dieser schürt aber nur meine Aggression.

 

„Ach nein?“, blaffe ich zurück, erreiche mit festen Fuß Ty’s Gestalt und will nach seinem Kragen greifen, doch meine Hand wandert ins Leere. Ty’s Körper verblasst wie ein Trugbild.

 

„Nein“, höre ich ihn nun hinter mir.

„Und warum nicht?“, ignoriere ich das eben geschehene Phänomen und drehe ich um.

„Hör zu. Ich mache dir einen Vorschlag…“, beginnt Ty.

 

„Da bin ich aber mal gespannt“, wird er sofort von mir unterbrochen.

„…wir unterhalten uns kurz und dann kannst lass ich dich hier raus“, redet er unbeirrt weiter.

„Wenn das der einzige Weg aus dieser Hölle ist, dann von mir aus“, seufze ich und ziehe die Schultern hoch.

Ty dreht mir den Rücken zu und entfernt sich ein Stück.

 

„Ich habe dieses Gespräch schon öfter in Gedanken geführt, als alle Sekundenzeiger der Welt ihr Ziffernblatt umrundeten“, säuselt er während des Gehens.

 

„Komm zum Punkt“, presse ich hervor.

„Wie ironisch“, lacht Ty auf.

 

Dem bringe ich nichts entgegen. Hetzten scheint bei dem Typen sowieso sinnlos zu sein, also lasse ich ihn einfach machen. Vielleicht bringt mein Schweigen ihn dazu, endlich mit seiner Erzählung anzufangen.

Kurz schaut Ty noch einmal nachdenklich nach oben, dann dreht er sich um.

 

„Was würdest du sagen“, beginnt er endlich, „wenn ich dir sagen würde, dass ich die Zeit bin.“

Überrascht und verwirrt schüttle ich den Kopf: „Ich würde sagen, du hast sie nicht mehr alle, suche dir einen Hirnklempner und lass dir ‚ne Packung hübsche Pille verschreiben.“

 

Unbeirrt erzählt Ty weiter: „Und trotzdem ist es so. Ich bin die Manifestierung der Zeit. Ihr Bewusstsein.“

 

„Klar, oh Oberherrscher von Raum und Zeit. Vergebt mir meine Zweifel“, triefe ich meinen Sarkasmus aus jeder Pore.

„Nur die Zeit“, werde ich von Ty unterbrochen, „und ich herrsche nicht darüber, ich bin die Zeit. Nur weil du ein Mensch bist, herrschst du ja nicht gleich über die Menschen.“

 

„Natürlich“, nicke ich Verständnis zeigend, „ich spiele dein Spiel jetzt mal für einen kurzen Augenblick mit. Was habe ich mit der ganzen Sache zu tun?“

 

Erneut lacht Ty auf, als ob ich gerade den besten Witz auf Erden gebracht hätte.

„Eine ganze Menge“, fängt er sich wieder, „pass auf, ich erkläre es dir. Stell dir ein Blatt Papier vor. Auf dieses Blatt Papier legst du ein Lineal.“

 

„Und das Lineal ist die Zeit, also du“, unterbreche ich Ty.

„Nein“, seufzt er auf und erzählt weiter, „nun nimmst du einen Bleistift und beginnst am Anfang des Lineals einen Strich zu ziehen. Die Linie stellt die Zeit dar, also mich.“

 

„Mhm“, ich nicke, „und ich?“

„Die Zeit ist ein Fluss…“, will Ty weitererzählen.

 

„Eben war sie noch eine Linie“, werfe ich ein.

 

„Ist sie auch. Der Bleistift zieht konstant die Linie weiter. Wie ein Fluss. Doch eigentlich ist die Zeit nur eine Aneinanderreihung von Momenten, von Augenblicken. Stunde folgt auf Stunde, Minute folgt auf Minute, Sekunde folgt auf Sekunde, Millisekunde auf Millisekunde, und so weiter. Und diese Aneinanderreihung von Augenblicken ergibt den Zeitfluss.“, nun kommt Ty wieder auf mich zu, „Und du lieber Jason, du bist der Moment. Der Augenblick. Ich bin das Große und Ganze, doch ohne die endlosen Kleinigkeiten ein Nichts.“

 

Mir schwirrt der Schädel von dieser Erklärung.

„Vielleicht hilft die das weiter“, erzählt Ty weiter, „du kennst doch alle großen Konstanten des Seins, oder?“

„Sorry, da war ich sicher gerade Kreide holen in der Schule“, ziehe ich die Schultern nach oben.

 

Ty seufzt auf: „Naja das, was immer da ist, was überall gleich und gültig ist. Es besteht alles aus zwei Komponenten, die im Gleichgewicht herrschen. Der Anfang und das Ende, Unendlichkeit und das Nichts, Zufall und Schicksal. Und so besteht auch die Zeit aus zwei Teilen. Du bist der Moment und ich bin dauernd. Verstehst du?“

 

Auf eine verrückte Art und Weise irgendwie schon“, verwundere ich mich gerade selbst, „und was erwartest du nun von mir?“

„Das du deine Aufgabe annimmst und als Teil der Zeit deinen Platz einnimmst“, strahlt Ty nun seltsame Erwartung aus.

 

„Ich? Als Teil der Zeit? Warum ich?“, frage ich verwundert.

„Da musst du Schicksal und Zufall fragen“, erklärt er mir.

 

„Natürlich“, verdrehe ich die Augen.

„Keine Sorge. Du wirst schon nicht überfordert mit deiner Aufgabe. Du bekommst eine Art Gewöhnungswoche“, erklärt mir Ty weiterhin.

„Und was soll das nun wieder heißen?“, seufze ich auf.

 

„Das heißt, du bekommst für eine Woche einen kleinen Teil deiner Kräfte und kannst dich daran gewöhnen. Nur kannst du sie nur anwenden, wenn ich in der Nähe bin. Also werde ich immer in deiner Nähe sein und still alles Beobachten, was du tust. Wir sind in jeder Hinsicht abhängig voneinander. Außerdem kannst du dein Leben noch ein wenig regeln.“

 

„Und was sind das für Kräfte? Kann ich auch meinen alten Sportlehrer erscheinen lassen?“, witzle ich in gewohnter Natur.

 

„Nein, du kannst besondere Momente sehen, und erkennen, welche Auswirkungen sie auf andere Momente haben. Das ist eins der Dinge, die du und nur du allein kannst.“

 

„Und das bringt mir was?“, will ich wissen.

„Die Zeit wird’s zeigen“, lacht Ty wieder auf.

 

„Du liebst diese Sprüche, oder?“, fällt mir nun eine Leichtigkeit in Ty’s Art auf, die so unbeschwert und anziehend wirkt.

 

„Und wie“, lacht Ty weiterhin, „also dann. Eine Woche.“

 

„Warte…“, rufe ich, doch da gehen die Lichter an der Decke aus. Es wird rabenschwarz. Alles um mich herum verschwimmt, und plötzlich entfernt sich Ty’s Lachen. Alles verschwimmt und meine Sinne geben nach.

 

Mir wird ganz anders und eh ich mich versehen wird auch in mir alles dunkel.

K6 – Zeit des Erwachens

 

Mein Mund ist ganz trocken, meine Zunge fühl sich belegt an. In meinem Nacken spüre ich so einen unangenehmen Druck. Ich fülle meine Lungen mit Luft und stoße sie mit einem knurren wieder aus. Dann öffne ich die Augen.

 

Ich bin in meinem Schlafzimmer. Also war das alles nur ein ganz schlechter Traum. Egal was ich gestern zu mir genommen habe, aber ich beschließe es auf ewig aus meinem Leben zu verbannen. Dabei fällt mir bei bestem Willen wirklich nicht ein, was ich gestern so gegessen habe. Nur diese Begegnung mit jenem Ty und dann auch noch diese absurde Situation kommen mir in den Sinn.

 

Um meine Gedanken ganz schnell zu verdrängen, presse ich die Augen noch ein wenig fester zusammen, dann öffne ich sie. Das helle Licht verursacht zuerst einen unangenehmen Schmerz in meinen Augäpfeln. Doch schnell gewöhne ich mich daran.

 

Nachdem mir die Erkenntnis kommt, in meinem Schlafzimmer zu sein, richte ich mich langsam auf. Die Wirbel in meinem Rücken beginnen zu knacken. Ich drehe meinen Kopf nach rechts und dann nach links. Auch in meinem Nacken kommt ein lautes Knackgeräusch. Der Druck ist verschwunden, aber die Befürchtung über Nacht 100 Jahre gealtert zu sein, schleicht sich in meinen Verstand.

 

Ach was, schlage ich den Gedanken nach einem kontrollierenden Blick in den Spiegel beiseite.

„Oh gut, du bist wach“, höre ich Erleichterung aus der Stimme meines Freundes, der gerade das Schlafzimmer betritt.

„Ja warum denn auch nicht?“, frage ich zurück, während ich mich aus dem Bett erhebe.

 

„Schon einen Blick auf die Uhr geworfen?“, fragt er mich verwundert zurück.

„Noch nicht“, gebe ich ihm erst mal einen Kuss und gehe Richtung Bad.

 

„Es ist halb fünf nachmittags“, folgt Vincent mir.

„Da hatte ich wohl mal wieder Schlaf nötig“, lache ich in meinen Morgen-, ähh, Nachmittagstoilette.

„Scheint so“, umschließen mich warme Arme, während ich mir die Zahnbürste durch den Mund gehe lasse.

 

„Ich bin ja nun wach“, spucke ich den Schaum aus.

„Mhh“, brummt es selig an meinem Rücken.

„Was ist?“, frage ich.

 

„Du riechst noch so schön nach verschlafen“, flüstert Vincent und gibt mir einen Kuss in den Nacken.

„Vinc“, flüstere ich, doch da streichen seine zarten Hände schon meinen Bauch abwärts.

 

„Ja?“, fragt er ganz unschuldig, während sie unter den Bund meiner Shorts schlüpfen. Die nachmittägliche Morgenlatte ist noch nicht abgeklungen, und Vincents rechte Hand nutzt dies sogleich aus, indem sie sie fest umschließt. Die linke Hand wandert vorsichtig zu meinen Hoden und beginnt sie genüsslich zu kneten.

 

„Oh Gott“, stöhne ich auf. Ob Traum oder nicht, zum Zug bin ich gestern jedenfalls nicht gekommen. Also lasse ich Vincent mit vergnügen gewähren.

 

Ich streife mir die lästigen Shorts hinunter und befreie sogleich meinen pochenden Schwanz. Dann stützte ich mich am Waschbecken ab und lasse Vincent seine Dinge vollrichten.

 

Und das macht er gerade richtig gut. Der warme Körper an meinem Rücken, die pumpende Bewegung an meiner Härte und das leichte Ziehen an meinen Hoden bringen mich schnell auf Touren. Mit einem Wimmern baut sich die bekannte Spannung in meinem Unterleib auf. Und mit einem kräftigen Stöhnen pulsiert auch schon mein heißes Sperma aus meiner Eichel hinaus. Leicht zitternd ergebe ich mich dem Orgasmus und drücke mich tief in Vincents Umarmung. Dieser schließt mich noch einmal kräftig in seine Arme.

 

Kurz verweilen wir in dieser Pose, doch dann ruft die Realität. Vincent dreht mich sacht um und gibt mir noch einen Kuss. Dann spült er sich die Hände und befreit das Waschbecken von meinen Eiweißresten.

 

Ich steige derweil unter die Dusche und brause mich sauber. Wenn ich mich nicht irre, muss ich heute noch zur Spätschicht.

 

Und ich irre mich nicht. Denn nachdem ich aus der Dusche trete, mich angezogen habe und einen Blick auf meinen Schichtplan werfe, wird mir klar, dass ich genau richtig aufgewacht bin.

 

Eine schnelle Verabschiedung von Vincent und eine Busfahrt später bin ich auch schon auf der Arbeit angekommen. Vicky begrüßt mich sogleich mit einer Tasse frisch gebrühten Kaffee für mich in ihrer Hand.

 

„Danke“, nehme ich ihr das Getränk ab und rieche sogleich den köstlichen Kaffeegeruch ein.

 

Vicky gibt mir ein aufrichtiges Lächeln und geht langsam zu ihrem Platz. Ich nehme einen kräftigen Schluck aus der Tasse und folge ihr. Am Nebentisch setze ich mich und fahre den Computer nach oben. Nach ein paar Klicks ist das System startbereit und ich nehme mir mein bereitgelegtes Headset. Dieses setze ich mir auf den Kopf und schalte es sogleich an. Vicky ist auch bereit und mit einem Nicken signalisieren wir uns, dass es losgehen kann. Mit einem Drücken auf der Telefonanlage ist die Leitung scharf.

 

Und schon beginnt Vicky’s Telefon zu klingeln. Rasch nimmt sie das Gespräch an, und versucht mit Tat und Kraft auf die Probleme der Kunden einzugehen und ihnen zu helfen.

 

Ich wiederum öffne auf meinen PC einen Ordner. Wenn ich im Telefondienst freie Kapazitäten habe, programmiere ich gerne ein wenig herum. Nichts Offizielles, eher zum Spaß.

 

Das Telefon neben mir bleibt ruhig, doch Vicky’s Apparat scheint nicht stillstehen zu wollen. Kaum hat sie ein Gespräch beendet, klirrt das Ringen des Hörers auf.

 

Nach 10 Minuten kontrolliere ich mein Telefon. Es scheint alles in Ordnung. Mit einem entschuldigenden Schulterzucken schaue ich zu Vicky. Diese quittiert es mir ebenso mit einem Schulterzucken und wendet sich ihrem nächsten Anrufer zu.

 

Ich schaue wieder auf meinen Editor und überlege, ob ich der nächsten Variable ein Integer oder ein Double vorsetze. Jaja, das sind halt die wichtigen Fragen eines Programmierers. Also überlege ich ob die weiteren Berechnungen mit oder ohne einer Kommazahl vom Computer getätigt werden. Wenn es keine Kommazahl ist, dann brauche ich Integer vor der Variable. Ist es eine Kommazahl, dann double.

 

Plötzlich werde ich von meinem Telefon aus den Gedanken gerissen. Endlich ein Anrufer. Dann wollen wir mal.

Ich drücke den Knopf zur Gesprächsannahme und rattere wie automatisch den Begrüßungsspruch unserer Firma herunter. Zum Schluss frage ich dann so höflich, wie ich kann: „Wie kann ich ihnen behilflich sein?“

 

„Ähm, ja. Guten Abend“, meldet sich eine weibliche Stimme blechern durch den Telefonhörer.

„Guten Abend“, grüße ich freundlich zurück.

 

„Ja also mein Computer ist irgendwie kaputt gegangen. Ich habe gerade ihre Photo-Filter-Builder XSX Software installiert, das hat auch alles funktioniert. Aber nach dem Starten ist mein Bildschirm eingefroren und nichts mehr reagiert“, erklärt mir die junge Frau.

 

„Wissen sie, welche Version sie installiert haben?“, will ich wissen.

„Oh, einen Moment bitte“, kommt zurück. Dann ist kurz Ruhe.

 

Gelangweilt nehme ich meinen Stift zur Hand und kritzle ein wenig auf meinem Notizblock herum, der vor mir liegt.

Dann lege ich den Stift beiseite und schließe kurz die Augen.

 

Plötzlich funkt in mir irgendetwas auf. Kleine Blitze scheinen durch meinen Kopf zu schnellen. Feine Windungen in meinem Verstand zucken.

 

„Ähm, nein. Tut mir leid“, meldet sich die Frau zurück.

Ich seufze auf: „Halten sie die Tasten „Steuerung“ und „Alt“ gedrückt und drücken sie zusätzlich F10 und F12.“

Ein leises Brummen des Computers dringt durch den Hörer, dann ein erleichterter Aufschrei: „Danke, er geht wieder. Woher wussten sie das?“

 

„Wo sie fünf Jahre alt waren, sind ihre Eltern mit ihnen umgezogen. In der neuen Stadt gab es eine Kunsthochschule. Sie waren 19, als sich ihre Eltern trennten, daher beschlossen sie für ihre Mutter da zu sein und gingen an die Hochschule zum Studium. Durch einen guten Abschluss erhielten sie eine gute Stelle in der Gegend. Vor zwei Wochen nahm ihre Firma einen Praktikanten, der sie um den Gefallen bat, die Software zu testen. Aus Testzwecken gab er ihnen einen USB-Stick mit der Software darauf. Leider war auf dem Stick ein Virus, den ihr System zwar erkannte und eliminiert, aber hatte einen Schaden in der Fotosoftware gemacht. Diesen haben sie soeben behoben“, rattere ich gelangweilt hinunter.

 

Tuuut, tuuuut, tuuuut…

 

Mit den Schultern zuckend lege ich auf. Dann schaue ich zu Vicky. Ihr Blick wirkt, als ob sie einen Geist sehen würde.

„Was war das?“, fragt sie.

 

„Was?“, will ich wissen.

 

Aber eine Antwort bleibt sie mir schuldig, da ihr Telefon klingelt und ich mich wieder an mein Programm setzte. Der weitere Arbeitsverlauf bleibt eher ruhig für mich. Vor allem, da Vicky für ihre Verhältnisse ausnehmend still ist.

K7 – Zeit des Sehens

 

Mittlerweile ist es Abend geworden. Ein dunkler Wolkendickicht ist am Himmelzelt ausgebreitet. Draußen prasseln Regentropfen vom Himmel nieder. Ein starker Wind peitscht die nassen Wasserkugeln gegen die Bäume, Wände und Menschen.

 

Erschöpft und durchnässt komme ich vor meiner Haustür an. Dieses ständige Arbeiten am Bildschirm fordert auch ihren Tribut. Meine Augen brennen, mein Kopf schmerzt und mein Nacken drückt voller Verspannung.

 

Müde drehe ich den Schlüssel und trete in den Hausflur. Erst entledige ich mich der nassen Kluft und danach Tapse ich sogleich in das Badezimmer. Die lächelnde Begrüßung von Vincent ignoriere ich bestimmt. Ich bin nass, mir ist kalt und aus einem unerfindlichen Grund bin ich wahrlich kraftlos.

 

Woher kommt das bloß?, frage ich mich nach einem Blick in den Spiegel. Meine Haut ist blass und die Augenringe erschrecken mich schon ein wenig.

 

Nach einer warmen Dusche wird das schon wieder, rede ich mir ein. Meine Finger wandern zum Wasserhahn und stellen das warme Wasser an. Mit einem leisen rauschen wandert was warme Nass die Roher hinauf, bis sich die dampfende Flüssigkeit aus der Brause ergießt. Gleich darauf beschlagen auch schon alle Spiegelscheiben.

 

Ich trete unter die wohltuende Brause und lasse mich in einen warmen Kokon einhüllen.

Nach viel zu kurzer Zeit verlasse ich den Wall der Wärme und trete aus der Dusche.

Kurz erschrecke ich auf, denn Vincent steht vor mit und breitet ein Handtuch aus.

 

Wann ist der denn reingekommen?, frage ich mich. Trotzdem nehme ich dankend das Handtuch entgegen und rubble mich trocken.

„Ist alles in Ordnung?“, fragt mich Vincent nach kurzem Zögern.

 

„Mhh“, gebe ich von mir und ziehe mir eine Unterhose an, „nur müde.“

„Ok“, höre ich seine Stimme, während ich mich an ihm vorbeischleiche.

 

„Ich geh ins Bett“, murmle ich ihm noch nach und verschwinde im Schlafzimmer.

Sogleich falle ich in die Federn, schließe die Augen und bin weg.

 

 

Am nächsten Tag werde ich wach. Die Uhr hat sich nicht gemeldet. Habe ich überhaupt den Wecker gestellt? Und wo ist eigentlich Vincent? Wie spät ist es eigentlich?

 

Fragen über Fragen. Doch noch bin ich nicht mal richtig munter. Also erst einmal die Augen öffnen. Vorsichtig wage ich den Blick in die Realität.

 

Erschrocken fahre ich hoch. ICH HABE VERSCHLAFEN! Eilig stolpere ich aus dem Bett. In der ganzen Wohnung ist es verdammt ruhig. Zu ruhig. Aber ich darüber kann ich mir gerade keine Gedanken machen. Geschwind verschwinde ich im Badezimmer. Nach einer schnellen Katzenwäsche stehe ich nass und nackt im Waschraum.

 

Keine frischen Klamotten liegen bereit. Verwirrt laufe ich nun zum Kleiderschrank und werfe mich halbnass in irgendwelche Sachen.

 

Dann schnappe ich mir meine Tasche und eile hinaus. Auf dem Weg war keine Spur von Vincent.

Wo ist der nur?, frage ich mich nun ernsthaft. Aber der wird schon wieder auftauchen. Also renne ich zum Bus. Wenn ich der Uhr trauen kann, könnte ich noch pünktlich auf Arbeit sein.

 

Geschwind erreiche ich die Haltestelle. Gerade möchte eine ältere Frau im Rollstuhl in den hinteren Teil des Busses einsteigen. Gekonnt quetsche ich mich an ihr vorbei. Dabei streife ich ausversehen ihre Schulter. Schon fängt es in meinem Kopf an zu zucken. In meinem Gehirn blitzt es auf.

 

Vereinzelt kommen Bilder vor mein inneres Auge. Wie eine Diashow zeigen sich die verschiedenen Momente.

 

Erst ein kleines Mädchen, welches das erste Mal an einem Schulrennen teilnimmt. Sie gewinnt. Dann eine Jugendliche, welche ihre erste Lauftrophäe in den Händen hält. Sofort schwenken die Momente auf die Hände einer jungen Frau, welche ein Sportstipendium in den Händen hält. Dieselbe Frau, welche ihr Sportstudium erfolgreich absolviert. Eine erfolgreiche Läuferin. Dann ein grausiger Sturz beim Hürdenlauf. Eine unbehandelte Verstauchung. Eine komplizierte Operation. Eine fehlgeschlagene Rekonstruktion. Und als Letztes eine weinende Frau Ende 40, welche ihr erstes Mal in diesem Rollstuhl sitzt.

 

Ich stolpere in den Bus hinein. Mir schwirrt der Kopf, vor meinen Augen blitzen kleine weiße Punkte. Schnell atmend greife ich an eine Haltestange und drehe mich um. Die ältere Frau rollt weiter unbeirrt in den Bus, aber mit einem leicht verärgerten Gesichtsausdruck in meiner Richtung.

 

„‘Tschuldigung“, murmle ich und eile zum Busfahrer, um mir ein Ticket zu holen.

 

Rasch ist eine Karte gelöhnt und ich nehme Platz. Angespannt reibe ich mir über die Stirn. Versuche die Bilder aus meinem Kopf zu bekommen. Aber es geht nicht. Die traurige Geschichte der Frau bleibt in meinem Geist.

 

Drei Stationen weiter rollt die Frau in ihrem Rollstuhl wieder aus dem Bus. Leider dauert dieser Vorgang länger als erwünscht. Selbst als ein anderer Fahrgast ihr helfen möchte, lehnt sie es kategorisch ab. Anscheinend scheint ihr Stolz ungebrochen. Was mich im Inneren erfreut.

 

Was mich weniger entzückt, ist die Tatsache, dass ich unweigerlich zu spät auf Arbeit bin. Vicky sitzt bereits am Hörer und beantwortet fleißig Anfragen. Mein Chef nimmt, mit einem akzeptierenden Schulterzucken, meine Entschuldigung zur Kenntnis. Somit stürze ich mich an die Arbeit, heute besonders fleißig.

 

 

„Hey Jason. Darf ich dich mal was fragen?“, flüstert mir Vicky in unserer Pause entgegen.

„Klar, was gibt’s?“, frage ich verwundert über ihre Zurückhaltung zurück.

 

„Was war denn das gestern?“, schaut sie neugierig zu mir.

Natürlich weiß ich, was sie meint. Diese Erinnerungsfetzen meiner Anruferin. Wie soll ich mich da nur rauswinden? Vielleicht mit der Wahrheit. Ich mein, sie wird mir eh nicht glauben. Aber was soll’s.

 

„Ich hab da diese Fähigkeit bekommen“, flüstere nun ich.

„Fähigkeit?“, schaut sie verdutzt aus der Wäsche.

 

„Ja. Ich kann wichtige Momente oder eine Kette aus Ereignissen von anderen Menschen sehen“, höre ich gerade wieder, wie total bescheuert das klingt.

„NATÜRLICH“, höre ich den erwarteten Sarkasmus aus ihrer Stimme.

„Du musst mir nicht glauben“, gebe ich ihr zu verstehen.

 

„Gut, denn das mache ich auch nicht, mein Lieber“, setzt Vicky wieder das Headset auf, „irgendwann bekomm ich es schon raus.“

 

„Ganz sicher“, lache ich in mich hinein und richte ebenfalls die Kopfhörer mit Sprechanlage wieder auf meinen Kopf.

 

 

Der Feierabend kommt und mein Kopf ist Matsch. Mir dröhnt der Schädel. Meine Laune ist im Keller und mein Konzentrationsvermögen ist dahin.

 

Dieser Zustand ist weniger meiner Arbeit zu verdanken, sondern der Tatsache, dass ich von den meisten meiner Anrufer irgendwelche Bilder empfangen habe. Am Anfang war es ja noch zu verkraften, aber mit der Flut an Informationen konnte ich irgendwann nicht mehr umgehen. Ich bin halt kein Hochleistungsrechner.

 

Wenn ich wirklich die Aufgabe als „Partner der Zeit“ annehmen soll, wie soll das bloß gehen. Außerdem habe ich ein Leben, einen Freund und einen Job. Wie stellt sich Ty das nur vor? Oder habe ich einfach nur falsche Vorstellungen. Habe ich überhaupt Vorstellungen?

 

Das wird mir alles zu viel.

 

Erschöpft verabschiede ich mich von Vicky und trete nach draußen. Natürlich schüttet es wieder, wie aus Eimern und ich habe keinen Regenschirm mit. Was will mir das Universum nur mitteilen? Eventuell, dass es mich hasst?

 

Frustriert, verärgert, ja gar wütend mache ich mich auf den Heimweg. Heute will ich nur noch unter die Dusche, auf die Couch und dann ins Bett. Was Ordentliches zu Essen wär auch ganz gut. Hoffentlich hat Vincent was gekocht. Da fällt mir ein: hoffentlich ist Vincent wieder zu Hause.

 

Nach einer Busfahrt, die doch schneller als erwartet, verlief, erreiche ich mein Zuhause. Der Regen hat gefühlt noch ein paar Stärken zugenommen. Die Welt scheint regelrecht unterzugehen.

 

Ich schließe meine Tür auf und trete in den Flur. Nachdem ich meine Jacke aufgehängt und meine Tasche abgelegt habe, durchforste ich die Wohnung.

 

„Vincent?“, rufe ich fragend.

Aber keine Antwort.

 

Erst schaue ich in die Küche, dann ins Bad, dann ins Schlafzimmer, aber kein Vincent. Danach gehe ich ins Wohnzimmer. Auf dem gläsernen Wohnzimmertisch liegt ein gelber Zettel. Verwundert schaue ich darauf und erkenne Vincents Handschrift. Ich nehme ihn auf und fange an zu lesen: Jason, ich weiß alles. Bin für den Rest der Woche bei meinen Eltern. Wenn ich wiederkomme, bist du raus aus der Wohnung und raus aus meinem Leben!

 

Seufzend lasse ich den Zettel fallen und sinke auf die Couch.

Das musste ja irgendwann mal passieren, klage ich innerlich.

 

Kraft zur Gegenwehr oder Ähnliches habe ich aktuell auch nicht. Vielleicht ist es auch besser so. Ganz bestimmt sogar. Es war einfach nicht fair Vincent gegenüber.

 

Also werde ich mich hüten, irgendwelche Versuche zu starten, um ihn wieder zu holen. Es ist das Beste.

Aber der fairnesshalber schreibe ich ihm eine Nachricht. Nachdem ich meine Lettern auf einen Block geschrieben habe und ihn auf Vincents Nachricht gelegt habe, sinke ich erneut auf die Couch.

 

Mit einem Klick auf die Fernbedienung schalte ich den Fernseher an. Aber nur weiße und schwarze Punkte, kombiniert mit Rausche sind zu sehen.

 

Da tut der Sturm ganze Arbeit.

 

Frustriert stoße ich ein Stöhnen aus und schalte die Flimmerkiste wieder auf Stand-by.

K8 – Zeit der Ruhe

 

>>Dinnnnnnnnng … Donnnnnnnnng<<… reißt mich die Türklingel aus dem schwarzen Dunkel meines Schlafes. Ich liege immer noch auf der Couch.

 

Ich muss wohl eingeschlafen sein, denke ich mir, wie lange habe ich geschlafen?

Nur ein Stündchen stelle ich mit einem Blick auf die Uhr fest. Draußen tobt immer noch der Sturm.

>>Dinnnnnnnnng … Donnnnnnnnng<<… schellt es erneut von der Haustür.

 

Wer ist das denn?, frage ich verwundert.

Vincent? Nein, der hätte einen Schlüssel.

 

Vicky? Nein, die kündigt sich an, wenn sie kommt.

Verwundert schlurfe ich zur Haustür und öffne sie.

 

Da erscheint ein müde aussehender Ty auf meiner Fußmatte. Wahrlich sieht er verdammt ausgelaugt aus. Seine Haut wirkt blass, unter seinen Augen sind dunkle Ringe, seine Schultern hängen tief und ein müdes Lächeln umspielt seine Lippen.

 

„Hi Jason“, höre ich die kraftlose Stimme von Ty. Ich bin verwundert. Als ich ihn kennengelernt habe, war er doch förmlich ein Energiebündel. Was ist aus diesem gut aussehenden Mann geworden?

 

„Hi Ty, du siehst scheiße aus“, schieße ich sogleich heraus.

„Danke, es freut mich auch dich zu sehen“, antwortet er und zwingt sich zu einem Lächeln.

„Komm rein“, mache ich eine einladende Geste.

 

Ty nimmt an und kommt rein. Im Flur streift er sich die Schuhe und die Jacke ab und geht zielsicher ins Wohnzimmer.

War er hier schon mal?, frage ich mich.

 

Da fällt mir auf, dass Ty trocken wie die Wüste ist. Draußen schüttet es aus Eimern. Selbst mit Schirm müsste er nass bis auf die Knochen sein. Wundernd folge ich ihm in die Stube.

 

Dort angekommen sitzt Ty auf dem Sofa, entspannt in eine Ecke gesunken. Ein matter Blick richtet sich auf, als ich das Zimmer betrete.

 

„Möchtest du was trinken?“, frage ich höflichkeitshalber.

„Nein, danke“, erwidert Ty mir leise.

 

Ich nehme es zur Kenntnis und setzte mich ebenfalls auf die Couch. Aber in die andere Ecke.

Mein Blick klebt auf Ty. Seine Augen sind halb geschlossen und sehen zu mir.

 

Wir sehen uns an, schweigend. Mir gehen 1000 Gedanken durch den Kopf, aber keinen kann ich fassen. Genauso viele Fragen komme auf, aber keine kann ich aussprechen. Nicht weniger Gefühle bilden sich in meinem Körper, aber keins kann ich beschreiben.

 

Was ist nur los mit mir? Aber was noch wichtiger ist, was ist nur los mit Ty? So müde, so kraftlos, so abgehetzt. Warum schläft er nicht etwas, wenn er so entkräftet ist? Warum gönnt er sich nicht – oh Gott, mir fallen die Schuppen von den Augen – einen Moment der Ruhe?

 

Unwillkürlich gebe ich mir eine geistige Ohrfeige.

WEIL ER ES NICHT KANN!, beantworte ich mir alle Fragen.

 

Eine kalte Gänsehaut überzieht meinen Körper. Der Groschen ist gefallen. Ty stößt daraufhin einen lachenden Stoß Luft aus der Nase.

 

Er weiß, dass der Groschen gefallen ist.

 

Ty ist die Zeit. Der Zeitfluss. Er läuft seit Anbeginn der Dinge. Und mit jeder Sekunde wurde er weiter an den Rand des Schlappseins ran getrieben. Ohne Pause, ohne Ruhe, nur am Machen. Er hatte nie auch nur eine Sekunde Stillstand. Seit was weiß ich wie vielen Jahren ist er am Sein, nie einen Moment der Erholung. Und nun muss er auch noch seine Kraft teilen, damit ich mich an diese dämliche Verantwortung gewöhnen kann. Und ich Egoist denke nur daran, was es für Konsequenzen für mich gibt. Dabei ist da dieser wundervolle Mann, der kurz vor einem Zusammenbruch steht, aber nicht zusammenbrechen kann.

 

Verdammt.

 

Schlagartig richte ich mich auf, rücke näher an Ty und greife seine Hand. Dann ziehe ich den schwachen Körper näher an mich und schmiege seinen Rücken an meine Brust. Dann schlinge ich meine Arme um den kraftlosen Körper. Ty lässt es geschehen. Er könnte sich in seinem Zustand eh nicht wehren. Zusammen sinken wir wieder auf das Polster. Ich halte ihn ganz fest.

 

„Schschsch“, flüstere ich, während ich ein Schluchzen unterdrücke. Sanft streiche ich durch Tys Haare. Ich spüre, wie Ty ruhiger wird. Zusammen sinken wir in den Stillstand. Langsam wird alles langsamer.

 

Mit einem Lächeln auf den Lippen schließen sich Ty’s Augen, dann sinkt sein Kopf an meinen Hals und nun ist es ruhig.

Alles ist still. Nur die leisen Geräusche unserer Atmung sind zu hören. Nicht mal der Regen gibt noch Laute von sich. Mein Blick schweift zum Fenster. Die Tropfen stehen in der Luft. Als ob sie schweben würden. Keine Wasserperle rührt sich. Auch der Wind scheint verstummt zu sein.

 

Ich schaue zur Uhr. Die Zahlen verweilen starr. Weder die Sekundenanzeige noch die Minutenzahlen wechseln ihre Nummer.

 

Nichts macht Anstalten sich zu bewegen. Und dem werde ich nicht entgegenwirken. Im Gegenteil. Es wurde wirklich Zeit für die Ruhe. Ruhe für die Welt, aber vor allem Ruhe für Ty.

 

„Ich bin bereit“, flüstere ich an Ty’s Schläfe und schließe ebenfalls die Augen.

K9 – Zeit der Entscheidung

Gähnend werde ich wach. Noch nicht wirklich im Hier und Jetzt angekommen, wagen sich aber die Erinnerungen zurück. Zusätzlich zum herben Duft und dem angenehm warmen Körper, welche sich an mich presst, realisiere ich, wie fantastisch ich mich fühle.

 

Des Weiteren bemerke ich, dass sich meine schmerzende Morgenlatte an Ty’s Hintern drückt. Wie peinlich.

Ty seufzt zufrieden Luft aus: „Danke.“

 

„Wie lang haben wir geschlafen?“, frage ich leise. Ty überlegt kurz. Diese Zeit nutze ich, indem ich wieder anfange ihm durch die Haare zu streichen.

 

„Etwa 200 Jahre“, kommt von ihm als Antwort.

„WAS???“, reiße ich die Augen auf und fahre erschrocken hoch.

 

„Ja, 197 Jahre und 6 Monate“, richtet sich Ty nun ebenfalls auf. Sofort merkt er, warum ich so geschockt bin. Da kehrt sein schelmisches Lächeln zurück.

 

Ich kann gar nicht glauben, dass ich das vermisst habe.

„Keine Sorge“, deutet er auf das Fenster, „die Zeit ist angehalten.“

 

Ich schaue hinaus. Und Tatsache. Die Regentropfen stehen noch immer still. Keinen Zentimeter scheinen sie sich verstellt zu haben. Ebenfalls zeigt die Uhr noch immer die Zeit an, welche auch vor unserem „Schläfchen“ darauf zu sehen war.

 

Erleichtert fällt mir ein Stein vom Herzen.

„Und jetzt…“, lacht Ty auf, „wird es Zeit wieder ein bisschen Fahrt aufzunehmen.“

 

Kaum, nachdem er das gesagt hat, fällt er auf mich nieder. Presst seine Lippen auf meine und drückt mich angenehm mit seinem Gewicht in die Polsterung. Überrascht keuche ich auf. Da stupst schon Ty’s Zunge an meine Lippen. Willig öffne ich meinen Mund. Stöhnend erkunden sich unsere Zungen und umkreisen sich, necken sich und reizen einander. Pure Leidenschaft wird in mir geweckt.

 

Meine Hände wandern Ty’s Rücken hinunter, ich presse ihn noch ein wenig fester an mich heran. Ihm entkommt ein wohliges Brummen. Immer mehr lasse ich mich in die geborgene und aufreizende Wärme dieses Mannes ziehen. Ich spüre, dass es ihm nicht anders ergeht.

 

Ich schließe meine Augen und versuche diesen Kuss endlos zu genießen. Dabei wird mir bewusst, dass wir wirklich endlos so verweilen könnten. Ein kleines Lächeln bildet sich auf meinem Mund, während mein Gehirn mit diesem sehr verlockenden Gedanken spielt.

 

Plötzlich lässt Ty von mir ab. Ich öffne die Augen. Sofort fehlt mir die Nähe zu meinem blonden Gegenstück. Seine Augen scheinen wachsam zu werden. Die schwarzen Pupillen werden kleiner, was seine weiße Regenbogenhaut noch größer erscheinen nicht.

 

„Es ist noch zu früh“, flüstert Ty. Dabei wirkt er aber abwesend. Als ob er es nicht zu mir, sondern zu irgendjemand anderem zu sagen scheint.

 

„Was ist zu früh?“, will ich wissen.

„Verdammt“, flucht er noch.

 

Darauf beginnt sich das Zimmer zu drehen und zu verschwimmen. Ehe ich mich versehen kann, ist um uns beiden nur ein schwarzes Nichts. Selbst das Sofa verblasst, und wie schwerelos richten sich unsere Körper auf. Dann beginnt die Schwerkraft wieder zu wirken und wir treten auf einen Boden. Doch auch dieser ist dunkel und nicht zu sehen. Keine Kontur oder gar ein Punkt lässt sich in den unendlichen Weiten dieser dunklen Sphäre erahnen.

 

Doch dann auf einmal manifestiert sich ein grauer Ring um uns herum. Plötzlich stehen wir in einer Arena, welche aufgebaut ist, wie ich es von diesen Stierkämpfen kenne. Auf den Plätzen werden schemenhaft Gestalten erkennbar. Immer weiter erscheinen sie aus der Verschleierung, bis ich sie erkennen kann.

 

Männer und Frauen. In den unterschiedlichsten Alter, unterschiedlichsten Hautfarben, unterschiedlichsten Kleidungen. Aber alle haben sie etwas gemeinsam. Sie halten sich an der Hand, treten paarweise auf. Und ihre Augen. Schneeweiße Iriden, wie die von Ty.

„Wer sind die?“, flüstere ich zu diesem rüber.

 

„Sie sind wie ich, wie du bald sein wirst. Es sind die anderen Konstanten des Seins“, gibt er mir zu verstehen.

„Die anderen?“, schlucke ich hart meine Angst hinunter.

 

„Ja“, nickt er und deutet auf ein Frauenpärchen, „Das sind Zufall und Schicksal.“

Es sind zwei wunderschöne Frauen. Die eine mit schulterlangen blonden Haaren, in einem türkiesen Sommerkleid. Die andere hat eine braune Kurzhaarfrisur und trägt eine gelbe Bluse.

 

„Oder dort“, Ty deutet auf ein älteres Rentnerpaar, „das sind Unendlichkeit und Nichts.“

Sie hat ein warmes Lächeln und eine weiße Dauerwelle, während er seine paar grauen Haare auf dem Kopf zurecht kämt und ihr irgendwas ins Ohr flüstert.

 

„Diese beiden“, Ty dreht uns um und deutet am Rand auf ein junges Paar Teenager, „sind Anfang und Ende. Sie regeln auch das mit dem Leben und Tod.“

 

Niemand könnte auf die Idee kommen, dass dieses Mädchen, welche nicht mal 18 Jahre erscheint und ihr jugendlicher Freund solch eine Macht besitzen.

 

„Und gleich darüber“, Ty zeigt auf zwei Männer, welche nah beisammenstehen, „das sind Anziehen und Abstoßen.“

Der Rechte sieht mit seinem Cowboyhut aus, als ob er gerade von einer Texasranch kommt. Der Linke schmiegt sich an seine Seite und schaut so glücklich aus.

 

Ich lasse meinen Blick weiter durch die Arena schweifen. Plötzlich fällt mir ein Mann auf. Er trägt ein Basecap, wo der Schirm ihm ins Gesicht hängt. Als mein Blick ihn trifft, richtet er sich auf. Seine weißen Augen durchbohren mich.

 

„Der kommt mir bekannt vor“, flüstert ich Ty entgegen und deute auf dem Mann. Da fällt mir auf, dass er als Einziger allein sitzt.

 

„Oh, das ist Einsamkeit, ihn beneidet wirklich keiner. Der Tribut für seine Aufgabe ist das ewige Alleine sein. Es ist ein Scheißjob, aber einer muss ihn machen. Leider wurde er dadurch sehr verbittert“, erklärt mir Ty.

 

Da fällt mir auch ein, woher ich ihn kenne. Er war der Busfahrer, während der Nacht, wo ich mich von diesem Typen geschlichen habe.

 

Er wusste also genau, wer ich war. Aber wütend kann ich nicht sein. Da ich nun von seinem Schicksal weiß, empfinde ich nur pure Trauer für diesen Mann.

 

„Was ist denn das Gegenteil von Einsamkeit?“, frage ich Ty.

„Geselligkeit. Aber wenn Einsamkeit einen Partner bekommt, währe er nicht mehr allein. Nicht einmal Ordnung und Chaos haben eine Antwort auf seine missliche Lage“, flüstert mir Ty entgegen.

„Mhm“, murmle ich.

 

Gerne würde ich weiter über den schwarzen Peter nachdenken, dem diesem armen Mann zugesteckt wurde, aber das wird mir verwehrt.

 

Wie aus dem Nichts ertönt ein lautes Brummen über uns, welches zu einer hallenden tiefen Stimme wird: „Willkommen Zeit.“ Begleitet wird diese tiefe, dunkle Stimme von einem hohen, hellen Echo, welche nahegelegen die Worte wiederholt.

„Danke“, ruft Ty der gesichtslosen Stimme zurück.

 

Ich habe keine Ahnung, was hier abgeht, was das soll und was ich zu tun habe. Von so etwas hat mir Ty nie etwas gesagt. Angst und Panik steigen in mir auf. Der Wunsch nach Flucht bildet sich in meinem Inneren. Aber wohin nur. Wir sind mitten in dieser Arena und ich finde keine Möglichkeit zum Wegrennen.

 

„Ist er bereit?“, fragt die tiefe Stimme, gefolgt von ihrem hellen Echo.

Da dreht Ty seinen Kopf zu mir und sieht mich an. So viele Emotionen wie jetzt habe ich noch nie in seinem Gesicht lesen können. Aber vor allem Angst spiegelt sich in seinem Gesicht wieder.

 

Aber ich will nicht, dass er Angst hat. Er soll glücklich sein. Er soll verdammt noch mal mit mir glücklich sein. Und ich möchte, nein ich will, oder besser gesagt, ich werde mit ihm glücklich sein.

 

An Ty’s Gesicht vorbei sehe ich auf die Tribüne. In der letzten Reihe erkenne ich zwei weitere schemenhafte Gestalten. Mein Blick fixiert sich und da erkenne ich sie: Es sind Wir!

 

Ty und ich sitzen auf diesen Plätzen. Hand in Hand und vor allem scheinen wir glücklich. Mein Blick verfängt sich in dem Blick des anderen Jasons. Seine Augen sind weiß, er lächelt mich an und nickt mir zu. Dann verschwinden die beiden in einem weißen Lichtblitz.

 

Mehr brauche ich nicht zu wissen. Diese kleine Zukunftsaussicht hat genügt. Alle Ängste weichen in mir und machen Platz für Zuversicht und Glück.

 

Erneut richte ich meinen Blick zu Ty und richte meine Aussage aber an die gruselige Stimme. Mit voller kraft, tiefster Überzeugung und absoluter Zuversicht antworte ich ihr: „Das bin ich.“

 

„So sei es“, höre ich entfernt die Antwort, denn Ty zieht mich sofort an sich heran und küsst mich, so verzweifelt schön, wie er nur kann. Vor meinen Augen blitzt es kurz weiß auf. Ich lasse von Ty ab.

 

„Sieh nur“, flüstert er mir, wischt kurz mit seiner Hand in der Luft und lässt einen kleinen Spiegel erscheinen. Ich schaue hinein und sehe meine Iriden. Sie sind weiß. Und augenblicklich erschließt sich mir alles.

 

Meine Aufgabe, mein Leben, mein Ty, in Ewigkeit vereint.

 

 

ENDE

Nachwort des Autors

Kurz und Knapp: ich melde mich zurück :)

 

Handlung, Personen, Orte, etc. sind fiktiv und daher frei erfunden.

Eventuelle Übereinstimmungen sind daher rein zufällig.

Das Coverbild habe ich aus der IOS-App "Hintergrundbilder"

 

Im echten Leben gelten 3 Dinge immer:

 

Leben und leben lassen!

 

Handelt verantwortungsbewusst!

 

Seid offen und tolerant zueinander!

 

Danke für's lesen

Impressum

Texte: Meins
Bildmaterialien: IOS-App "Hintergrundbilder"
Lektorat: unlektoriert
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Werk widme ich meinem ersten offizellen Twitter-Follower: Sternchen alias Sternlein 77. Lass dir die Zeit ruhig etwas länger werden ;) Sie ist kostbar und man hat in der Regel zu wenig davon.

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