"Mira!"
Die helle Stimme ihres Bruders lässt sie aufsehen.
"Wir wollen Mittag essen."
Sie nickt und steht auf.
Mit einem leisen Lachen hüpft ihr Bruder vor ihr her. Ihre Schwester kommt ihnen entgegen. "Wann kommt Mama wieder?", fragt sie und ihre Stimme ist sehr leise, damit ihr Bruder sie nicht hören konnte.
"Bald." Das antwortete sie nun schon seit eineinhalb Wochen.
Aber was sollte sie auch anderes sagen? Ihre Schwester war gerade zehn, ihr Bruder fünf. Wie sollte sie ihnen erklären, dass ihre Mutter nicht mehr wiederkam, dass sie tot war? Für so etwas waren sie noch zu jung.
Ihre Schwester sah so unendlich traurig aus. Ihre kleine Hand klammerte sie an ihre. Mit der anderen griff sie nach der des Jungen.
Mira lächelte. Sie würden sie nicht bekommen.
"Ach, kommst du auch mal wieder?" Diese gehässige Stimme tönte ihr jedes Mal entgegen, wenn sie in die Schule kam.
"Was willst du hier?" War ja klar gewesen. Nicht nur sie sondern auch ihre Möchtegernfreunde.
"Geh wieder und spiel Kindermädchen. Das kannst du besser."
"Halt die Fresse! Hast du etwa eine Mutter die gestorben ist? Musst du jedes Mal lügen und sagen Mami kommt gleich wieder?
", schreit sie in ihrer Verzweiflung.
"Nein, aber meine Mutter hat auch nicht gesoffen."
Das war zu viel. Die angestaute Wut von zwei Jahren musste sich Luft machen. Ihre Faust landete in dem grinsenden Gesicht. Sie hatte nicht gedacht, dass sie stark genug gewesen wäre, die Getroffene fiel hinten über.
Als sie sich von dem Schlag wieder erholt hatte, stand sie auf und spuckte vor ihr auf den Boden.
"Jetzt kommst du ins Heim genauso wie die andern. Und so jemanden wie dich will keiner haben. Du wirst da versauern, während die anderen ein schönes Leben haben werden. An dich denkt doch nicht mal eine Ratte!", fauchte sie mir entgegen. Ihre Freunde nickten zustimmend.
Sie fing an zu weinen.
"Mira, ich will nicht!"
"Maya ganz ruhig. Wir kommen dich besuchen. Es wird sich nichts ändern! Geh mit ihnen. Da wird es dir besser gehen!"
"Nein, ich will nicht von dir weg!"
"Geh Maya. Du kannst nicht hier bleiben."
Obwohl sie immer wieder schreit und gleichzeitig weint, wird sie von der Frau mitgezogen. Alex weint auch, sogar ihre Augen fangen an zu brennen, als sie versucht die Tränen zurück zu halten.
Verzweifelt reißt die Kleine sich von ihrer zukünftigen Pflegemutter los und will wieder zu ihr über die Straße. Sie konnte das Auto nicht sehen, ebenso wenig konnte der Fahrer sie sehen. Es kam von rechts und war silber. Nach der sogenannten Schrecksekunde hupt er noch und versucht zu bremsen. Zu spät.
Ihre Verletzungen brachten sie noch an der Unfallstelle um. Alex' Schrei und ihr Blick haften ihr immer noch im Gedächtnis, ebenso ihr Blut an ihren Fingern.
"Mira, geht es Mama und Maya gut?"
Die kleinen runden Kinderaugen sehen so unschuldig aus. Trotz allem.
"Ja, sehr gut bestimmt. Und sie passen auf uns auf von da oben."
"Hat es wehgetan?", fragt er plötzlich und sie zuckt bei der Frage zusammen.
Wie sollte er das verstehen? Er war zu jung für so etwas, gerade erst sechs geworden. Sie wollte nicht der Grund dafür sein, dass er so etwas erfuhr.
"Nein."
"Dann will ich auch dahin!" Er riss sich los.
Ihr blieb nicht einmal die Zeit zu reagieren. "Alex!"
Alles schien verlangsamt zu werden. Er hatte noch Zeit sich einmal umzudrehen, bevor er auf der Straße stand und sie anzulächeln. "Komm mit!", wollte er mir wohl sagen.
Dieses Mal kam das Auto von der linken Seite und war dunkelblau. Der Fahrer rief den Krankenwagen und versuchte erste Hilfe zu leisten. Aber es nützte nichts. Er hat gelitten. Wenn er schon hatte sterben müssen, hätte er nicht so leiden sollen. Sie hatte ihm doch gesagt es würde nicht wehtun. Damit hatte sie ihn angelogen und diese Lüge lastete noch viel mehr auf ihr, als alles andere. Nur das Gefühl, dass nun das Blut beider Geschwister an ihren Fingern hing, war noch schlimmer.
Jetzt stand sie auf der Brücke und ließ sich den Wind ins Gesicht peitschen. Das Wasser toste unter ihr hinweg. Niemand beachtete ihre dürre Gestalt, niemand interessierte, dass gleich jemand sterben würde.
Gab es einen Gott?
Gab es ein Paradies?
Nein. Es gab nur die Hölle. Die Hölle auf Erden. Und die des Lebens. Ohne Regung trat sie mit dem Fuß ins Leere. Kein Schrei, nur ein Platschen war zu hören.
Nichts hinterließ sie hier.
Es lief weiter. Die Hölle lief weiter.
Tag der Veröffentlichung: 26.04.2009
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Widmung:
Für meine lieben Freunde, die immer wieder versuchen mich zu trösten.