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Prolog

An diesem Nachmittag war es schon ungewöhnlich früh dunkel geworden. Eigentlich herrschte schon den ganzen Tag eine düstere Stimmung, denn es regnete seit Stunden. Die wenigen Menschen, die bei diesem Wetter unterwegs waren, huschten schnell über die Straßen – mit Regenschirmen bewaffnet oder mit Kapuzen über dem Kopf.
Niemand achtete auf die Menschen um sich herum. Alle versuchten, schnell ins Trockene zu kommen.
Nur eine Gestalt störte das hektische Treiben wenig: Lathima Iliana. Sie saß ruhig in der Baumkrone einer alten Linde vor einem hell erleuchteten Fenster und beobachtete angestrengt einen Jungen in seinem Zimmer. Er hatte kurze blonde Haare und mochte vielleicht zehn oder elf Jahre alt sein. Obwohl es in Strömen regnete, waren ihre Kleidung und der Ast, auf dem sie saß, trocken. Wie von Zauberhand hatte sich das dunkelgrüne Laub der Baumkrone dicht zusammengelegt, sodass es fast wie ein Regenschirm aussah.
Der Junge, den Lathima so intensiv beobachtete, lag mit dem Rücken zu ihr auf einem Bett und war völlig in eine Zeitung vertieft.
„Kunstraub in Galerie“ lautete die dicke Überschrift über dem Artikel, der den Jungen offenbar sehr interessierte. Die kleinere Schrift konnte Lathima von ihrem Platz aus nicht erkennen. Sie ließ ihren
Blick durchs Zimmer wandern. Ein Bett, Nachtschränkchen, Kleiderschrank, Schreibtisch. Das Übliche wie in jedem Kinderzimmer.
Aber auf dem Boden und dem Schreibtisch lagen neben Schulmaterialien und Büchern allerhand Kleinigkeiten, Dinge, die Lathima für das, was bevorstand, geeignet fand. Sie holte ein winziges Fernglas aus ihrem Umhang, um die Dinge etwas genauer zu betrachten.
Plötzlich raschelte es in den Ästen über ihr. Kleine Zweige knackten, und einige Blätter und Wassertropfen fielen auf sie herab. Lathima blickte nach oben und sah zwei schwarze Stiefel, die über ihr schwebten.
„Verdammt“, fluchte eine Stimme. „Ich hänge fest.“
Lathima wandte sich wieder dem Jungen zu. Er war immer noch in den Zeitungsartikel vertieft und schien nichts von dem, was um ihn herum passierte, zu bemerken.
„Ach, Belus. Wann merkst du endlich, dass die Erfindungen von Resos nichts taugen? Warum bewegst du dich nicht fort, wie es sich für einen Avontar gehört?“, fragte sie nach oben.
„Und wann wirst du mal offener für neue Erfindungen?“, antwortete die Stimme. Wieder raschelte es im Baum. Dann landete mit einem Plumps eine dunkle Gestalt neben Lathima. Wie Lathima trug sie dunkle Kleidung und eine dunkle Mütze. Um ihren Bauch hatte sie einen Gürtel gebunden, auf dem verschiedene Lichter blinkten.
„Toll, was?“, fragte Belus und deutete auf den Gürtel. „Das ist Resos neueste Erfindung. Ein Gürtel, mit dem man fliegen kann.“
„Irgendwann brichst du dir noch mal den Hals, wenn du weiter Erfindungen für ihn testest“, antwortete Lathima und musterte das Gerät skeptisch.
„Immerhin benutzt er seinen Kopf, um etwas zu erfinden und mischt nicht einfach nur irgendeinen faulen Zauber nach alten Rezepten zusammen“, entgegnete Belus und strich sich herabgefallenes
Laub von Kopf und Armen.
„Durch so einen faulen Zauber kann ich wenigstens im Trockenen sitzen“, bemerkte Lathima schnippisch und sah Belus etwas schadenfroh an. „Dich kann man ja fast auswringen. Und mach endlich das Geblinke aus. Oder willst du, dass der Junge uns entdeckt?“
„Ach, das ist unser Opfer?“, fragte Belus und blickte zum ersten Mal interessiert in das hell erleuchtete Zimmer. Mit fachmännischem Blick musterte er den Jungen, der noch immer Zeitung las, und meinte dann: „Kein besonders schwerer Fall, oder?“
„Nein, ich glaube nicht.“ Lathima sah Belus an und zeigte missbilligend auf den Gürtel, der immer noch blinkte. „Jetzt mach endlich das Ding aus, oder willst du entdeckt werden?“
Seufzend drückte Belus auf einen Knopf – die Lichter erloschen.
„Der merkt doch eh nichts. Scheint ein kleiner Bücherwurm zu sein. Außerdem sind Menschen doch wirklich nicht besonders aufmerksam. Wir könnten vor dem Fenster herumtanzen, und sie würden es nicht merken.“
„Dann wünsche ich dir noch viel Spaß beim Herumtanzen“, sagte Lathima und stand auf. „Aber wenn du erwischt wirst, kannst du der alten Marpessa alleine erklären, warum du entdeckt wurdest.
Ich werde jetzt melden, was ich herausgefunden habe.“
Sie blinzelte zweimal und verschwand in einer Rauchwolke.
Das ist aber auch nicht gerade unauffällig, dachte Belus.


2. Der Kunstraub

„Kunstraub in Galerie“ lautete die fett gedruckte Überschrift über dem Zeitungsartikel, den Adrian gespannt las. Obwohl es erst nachmittags war, herrschte draußen düsteres Dämmerlicht. Es regnete
seit Stunden in Strömen, sodass Adrian nach dem Mittagessen beschlossen hatte, lieber zu lesen, als sich mit seinen Freunden zu treffen.
Seine Mutter und sein Vater mussten beide bis abends arbeiten, deshalb war er alleine zu Hause. Früher hatte ihm das Angst gemacht, vor allem wenn es im Winter früh dunkel wurde. Doch inzwischen hatte er sich daran gewöhnt und war sogar manchmal richtig froh alleine zu sein. Dann konnten seine Eltern ihn wenigstens nicht dazu nötigen, nach draußen zu gehen.
„Frische Luft ist gesund!“ und „Du kannst doch nicht immer den ganzen Tag im Haus hocken!“ lauteten ihre Lieblingssprüche. Selbst strömender Regen wie heute konnte sie kaum von ihrer Meinung abbringen. „Du bist doch nicht aus Zucker“, war ihre übliche Antwort auf Adrians Proteste.
Zum Glück konnten seine Eltern ihn heute nicht mit solchen Aussprüchen nerven. Seit er beim Frühstück den Artikel über den Einbruch im Museum gesehen hatte, konnte er es gar nicht mehr abwarten, von der Schule endlich wieder nach Hause zu kommen. Am Morgen hatte seine Zeit nicht mehr ausgereicht, die Zeitung zu lesen, doch jetzt war es endlich soweit. Aufgeregt begann er zu lesen.
„Am Abend des gestrigen Tages wurde in der Galerie eines privaten Kunstsammlers in der Stadt Köln eingebrochen. Wie die Polizei meldete, handelte es sich bei dem Einbrecher wahrscheinlich
um einen Einzeltäter. Wie der Täter in die Galerie gelangte und wie er es schaffte, die Sicherheitsvorkehrungen auszuschalten, ist noch unklar. Sicher ist zum jetzigen Zeitpunkt nur, dass ein Bild gestohlen wurde. Der Inhaber der Galerie ist schockiert. Vor drei Wochen hatte er sich entschlossen, seine Galerie für die Besichtigung durch Schulklassen und Kunststudenten zu öffnen. Dieses Angebot wurde bisher schon zahlreich genutzt.“
Plötzlich wurde Adrian durch ein schrilles Klingeln unterbrochen. Er zuckte zusammen, bemerkte aber sofort, dass ihn nur das Telefon so erschreckt hatte. Rasch sprang er auf und lief ins Wohnzimmer.
Kaum hatte er den Hörer abgenommen, da hörte er schon die Stimme seines besten Freundes: „Weißt du schon das Neueste?“
„Hallo, Thomas“, begrüßte Adrian ihn erst einmal.
„In die Galerie wurde eingebrochen“, unterbrach ihn Thomas sofort wieder, ohne auf die Begrüßung zu achten. „Ist das nicht ein Knaller? Wir waren doch gestern auch da.“
„Ach, das meinst du. Ja, ich habe gerade den Bericht in der Zeitung gelesen.“
„Ist das nicht toll?“, fragte Thomas begeistert. „Vielleicht haben wir den Einbrecher ja sogar gesehen, stell dir das mal vor.“
„Ich frage mich, was er überhaupt dort wollte“, sagte Adrian nachdenklich. „Ein wertvolles Bild kann er ja nicht gestohlen haben, das hätte sonst auch in der Zeitung gestanden.“
„Ja, das ist doch seltsam. Da bricht jemand in eine Galerie ein und nimmt etwas mit, was ihm noch nicht mal viel Geld einbringen kann, wenn es nicht viel wert ist.“
Adrian hörte im Hintergrund eine Stimme, die „Thooomas“ rief.
„Meine Mutter ruft mich. Ich muss ihr beim Spülen helfen. Wir können morgen in der Schule weiterreden. Diese Sache ist doch sehr sonderbar.“
Nachdenklich ging Adrian zurück in sein Zimmer. Er griff nach der Zeitung und überflog den Artikel noch einmal. Thomas hatte recht. Dieser Einbruch war seltsam. Warum brach jemand in eine Galerie ein und nahm dann nichts Wertvolles mit? Es gab in der Galerie ja einige sehr wertvolle Dinge, auch sehr wertvolle Bilder.
Das war ungewöhnlich. Und wenn der Dieb ein bestimmtes Bild haben wollte, warum war er dann erst jetzt eingebrochen?
Gestern erst war Adrian mit seiner Klasse in der Galerie gewesen. In dieser Woche fand nämlich eine Projektwoche statt, und seine Klasse hatte sich für das Thema „Leben in Köln – Gestern und
Heute“ entschieden. Von Geistern, Hexenverbrennungen und geheimnisvollen Vorfällen im Kölner Dom hatte Frau Müller, seine Klassenlehrerin, erzählt. Aber dann war schließlich alles doch ganz
anders geworden.
Statt etwas über interessante Ereignisse zu erfahren, musste die Gruppe von einem Museum zum nächsten laufen. Und als ob das nicht schon schlimm genug war, mussten sie dort auch noch jedes
Mal langweiligen Vorträgen von gelangweilt aussehenden Mitarbeitern lauschen.
Immerhin wusste Adrian von dem Besuch im Kunstmuseum, dass über jedes Bild, das das Museum erwarb oder das gespendet oder geliehen wurde, alles genau registriert wird: der Künstler, Besitzer,
Entstehungsjahr, Größe, Material, Darstellung, Kunstrichtung. In der Galerie war es etwas anders und ganz interessant gewesen.
Sie befand sich in einer alten Villa, ein schönes großes Haus mit vielen hohen Zimmern, in denen die Decken verziert waren. Auch die Fassade war mit schönen Ornamenten verschnörkelt. Es gab auch einen großen Garten mit alten Bäumen und vielen Blumen. Der Besitzer der Galerie hatte die Klasse persönlich herumgeführt und bei manchen Bildern und Gegenständen spannende Geschichten erzählt, wie er an die Gegenstände gekommen war. Es gab auch einige Sachen, die schon lange im Besitz der Familie waren und immer weiter vererbt wurden. Beschreibungen über Epochen, Stilrichtungen und Material gab es hier nicht an den Bildern.
Dass gerade jetzt ein Gemälde aus der Galerie gestohlen wurde, war doch eigenartig. Der Täter konnte es erst bei einer Besichtigung entdeckt haben, also innerhalb der letzten drei Wochen. Vielleicht hatte das Bild für den Dieb einen ganz besonderen Wert? Hatte es ihm vielleicht sogar früher einmal gehört? Irgendetwas stimmte da nicht. Es wäre bestimmt spannend, der Sache nachzuspüren.
Adrian lächelte. Noch zwei Tage Schule, dann begannen die Ferien.


3. Ein sonderbarer Gast

In der Nacht wurde Adrian plötzlich wach. Um ihn herum war noch alles dunkel. Durch die Vorhänge drangen einige Lichtstrahlen der Laterne vor seinem Fenster ins Zimmer, aber sie reichten nicht aus, um etwas zu erkennen.
Adrian blieb ruhig liegen und lauschte. Irgendetwas hatte ihn geweckt, aber er wusste nicht, was es war. Er wollte sich gerade auf die Seite drehen und versuchen, wieder einzuschlafen, als er ein leises Geräusch hörte. Es klang, als schlich jemand leise herum.
Plötzlich gab es einen lauten Rums, und klirrend fiel etwas zu Boden.
„Verdammt!“, hörte er eine weibliche Stimme fluchen. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Es war jemand in seinem Zimmer.
Zitternd tastete Adrian nach dem Lichtschalter seiner Nachttischlampe. Seine Finger berührten die Zeitung, in der er am Mittag gelesen hatte, zwei Bücher, eine Flasche Wasser und fanden schließlich
den Lichtschalter. Schnell drückte er auf den Knopf. Schlagartig wurde es hell im Zimmer.
Im ersten Moment kniff Adrian die Augen zusammen, sie gewöhnten sich jedoch sehr schnell an das grelle Licht. Prüfend blickte er sich im Zimmer um, konnte aber zunächst nichts Außergewöhnliches sehen.
Der Schreibtisch und sein Schrank standen an der gleichen Stelle wie immer. Seine Kleidung lag so auf dem Stuhl, wie er sie vor dem Zu-Bett-Gehen hingelegt hatte. Plötzlich bemerkte Adrian den gläsernen Brieföffner in Form eines Dolchs, den seine Mutter ihm geschenkt hatte, als sie in den Ferien zusammen in Italien gewesen waren. Normalerweise stand dieser aufrecht in einem Metallbecher auf dem Schreibtisch, doch jetzt lag er auf dem Boden davor, und der Becher lag etwas entfernt daneben. Das hatte also das Geräusch verursacht.
Sein Herz begann schneller zu schlagen, und Angst stieg in ihm auf. Es war jemand in seinem Zimmer. Vielleicht war die Person gefährlich und wollte ihm etwas antun? Sollte er sich schlafend stellen und so tun, als hätte er nichts bemerkt?
Nein, dafür war es jetzt zu spät. Er hatte schließlich das Licht angemacht und damit gezeigt, dass er wach war. Sollte er seine Eltern rufen? Ob sie ihn hören würden? Vorsichtig stieg er aus dem Bett und ging einen Schritt auf seinen Schreibtisch zu. Seine Beine zitterten und wollten seinem Willen
nicht ganz gehorchen. Adrian atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Dann bückte er sich und sah unter den Tisch. Doch mit dem, was er nun sah, hatte er nicht gerechnet.
Unter dem Tisch saß zusammengekauert eine dunkle Gestalt, die ihn aus großen Augen anblickte.
Überrascht betrachtete Adrian das dunkle Wesen. Bedrohlich wirkte es nicht, und er wurde wieder ruhiger. Er sah ein rundliches Gesicht, das aussah, als wäre es mit dunkelbrauner Creme eingerieben
worden, einen schwarzen Pullover, eine schwarze Hose, schwarze Turnschuhe und eine schwarze Mütze. Offenbar wollte hier jemand in der Dunkelheit der Nacht nicht auffallen.
Das Wesen hatte sich noch nicht bewegt. Es sah ihn nur aus großen, dunklen Augen eher interessiert als ängstlich an und hatte scheinbar nicht damit gerechnet, ihm so plötzlich direkt zu begegnen.
Doch dann kam es langsam unter dem Tisch hervor, und Adrian sah, dass es ein Mädchen war. Es war kleiner als er selbst, das Alter ließ sich mit der Farbe im Gesicht kaum einschätzen. Das
Mädchen machte nicht den Eindruck, als habe es vor ihm Angst oder wollte ihm etwas tun.
Das wunderte Adrian am meisten. Dieses Mädchen war in der Nacht bei ihm eingebrochen, und er hatte es sogar dabei erwischt – und dennoch zeigte es nicht das geringste Gefühl von Furcht oder
Panik.
Ihm selbst drohte von dem Mädchen offensichtlich auch keine Gefahr, doch warum war es hier?
Plötzlich klopfte es an der Tür. Adrian fuhr herum.
„Adrian, bist du wach?“, hörte er die Stimme seiner Mutter leise fragen. Schnell schob er das Mädchen hinter die Tür und legte den Finger an die Lippen. Sie schaute ihn fragend an, nickte dann aber.
Anscheinend hatte sie verstanden, dass sie keinen Ton von sich geben sollte.
Rasch ging Adrian zurück zu seinem Bett und setzte sich auf die Kante.
„Was ist denn?“, fragte er betont verschlafen.
Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, und seine Mutter schaute herein. „Warum ist denn hier mitten in der Nacht das Licht an? Du solltest jetzt schlafen, damit du morgen für den Schulausflug fit bist.“
Adrian tat, als müsse er gähnen und hielt sich die Hand vor den Mund.
„Ich wollte sowieso jetzt weiterschlafen“, sagte er. „Ich bin eben aufgewacht, weil ich Durst hatte. Ich wollte etwas trinken und habe dabei aus Versehen die Wasserflasche umgestoßen.“
Seine Mutter blickte auf den Nachttisch und nickte.
„Das war also das Geräusch, das ich gehört habe. Ich dachte schon, es sei etwas passiert. Aber jetzt versuch wieder zu schlafen. Gute Nacht.“
Leise schloss sie die Tür.
Adrian atmete erleichtert auf und erhob sich. Lässig straffte das Mädchen die Schultern und kam auf ihn zu.
„Danke, dass du mich nicht verraten hast“, sagte es und reichte ihm die Hand. „Ich bin Monacéra. Aber nenn mich lieber Mona, das ist kürzer. Und du bist Adrian?“
Er nickte sprachlos. Die Furchtlosigkeit und Selbstsicherheit, die das Mädchen an den Tag legte, überraschten ihn doch sehr. Woher wusste sie seinen Namen, hatte sie ihn etwa ausspioniert? Er fand sie langsam etwas unverschämt.
„Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber ich bin bei meiner Aufgabe gegen den Schreibtisch gestoßen“, fuhr Mona fort und sah ihn entschuldigend an. „So etwas passiert mir immer wieder. Ich bin halt etwas ungeschickt, wenn ich Stress habe, aber zum
Glück ist dieses Mal ja nichts kaputtgegangen.“
Dieses Mal?, fragte sich Adrian. Jetzt wusste er, warum sie kein bisschen ängstlich wirkte: Sie brach also öfter nachts bei fremden Leuten ein und erledigte dort irgendetwas.
„Was meinst du mit Aufgabe? Und dieses Mal?“, fragte er.
„Naja, eigentlich war es meine Abschlussprüfung“, erwiderte Mona und ließ den Blick durch sein Zimmer schweifen. Schließlich blieb er an einem der beiden Bücherregale an der Wand hängen.
Lächelnd trat das Mädchen näher, stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm eins der Bücher heraus.
„Die Schatzinsel“ stand in großen Buchstaben auf dem Einband.
Hatte sie wirklich blaue Fingernägel, und schaute da wirklich unter der Mütze eine Locke blaues Haar heraus? Adrian beobachtete sie erstaunt.
„Hast du das gelesen?“ Sie drehte sich wieder zu Adrian um. „Ich liebe Piratengeschichten. Mit einem Schiff über das Meer fahren stelle ich mir einfach nur toll vor. Bei uns gibt es ja kein Wasser. Das heißt, Wasser haben wir schon zum Trinken und Waschen, und einen Fluss gibt es auch bei uns, aber keine großen Seen oder Meere.“
„Bei euch?“, fragte Adrian ratlos. Dieses Mädchen, wenn es wirklich eines war, verwirrte ihn immer mehr. Wie konnte es bei ihr keine Gewässer geben? Der Rhein war doch nicht weit entfernt, und in vielen Parks, die er kannte, gab es auch kleine Seen oder Teiche.
„Also jetzt mal stopp! Wie bist Du hier hereingekommen, und was wolltest du hier? Woher weißt du meinen Namen?“
Verschmitzt lächelte Mona ihn an und stellte das Buch zurück in das Regal. Adrian beobachtete sie genau. Dann trat sie auf den Schreibtisch zu und setzte sich auf die Tischplatte.
„Naja, da du mich erwischt hast, bin ich dir wohl ein paar Antworten schuldig“, sagte sie und schlug entspannt die Beine übereinander.
„Außerdem hast du ja eben schon bewiesen, dass man dir vertrauen kann und du nichts verrätst. Aber man kann ja nie wissen.“
Sie griff an ihren Hals und zog ein kleines Amulett, das an einem Lederband hing, hervor. „Du musst mir schwören, dass du mich niemals verrätst.“
Sie reichte Adrian das kleine Schmuckstück.
Zweifelnd betrachtete er es. Doch dann siegte seine Neugier, und er nahm es in die Hand.
Das Amulett war aus einem bläulich schillernden Metall und zeigte einen Löwen und einen Drachen, die miteinander zu kämpfen schienen. Nachdenklich wog Adrian es in der Hand und schaute dann das seltsame Mädchen an. Das war ja eine komische Sache, aber er war doch sehr neugierig.
„Und jetzt schwöre, dass du nichts von dem verraten wirst, was ich dir jetzt erzähle.“
„Ich schwöre, dass ich nichts verraten werde.“
Plötzlich durchfuhr ein flammender Schmerz seine Hand. Adrian zuckte zusammen und hätte fast das Amulett fallen lassen, als das brennende Gefühl auch schon wieder nachließ.
Mona beobachtete ihn aufmerksam und nickte dann. „Dein Versprechen ist nun an den Löwen gebunden. Jetzt kann ich dir alles erzählen. Aber gib mir erst das Amulett zurück.“
Froh, es wieder los zu sein, reichte ihr Adrian das Schmuckstück. Er betrachtete seine Hand. Doch obwohl es sich angefühlt hatte, als hätte sich das Amulett in seine Haut gebrannt, waren keine Spuren zurückgeblieben. Seine Hand war unversehrt.
Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf sein Bett fallen und sah diese seltsame Mona erwartungsvoll an.
„Na, dann erzähl mal, ich bin gespannt. Du bist irgendwie etwas seltsam. Hast du wirklich blaue Haare?“
Mona lehnte sich entspannt zurück und holte tief Luft.
„Ich bin kein Mensch.“ Sie machte eine kurze Pause und musterte Adrian.
Vermutlich erwartete sie irgendeine geschockte Reaktion von ihm, dachte sich Adrian. Doch nach dem, was er bis jetzt erlebt hatte, wunderte ihn gar nichts mehr.
„Ich bin eine Avontarin“, fuhr Mona schließlich fort. „Wir Avontaren haben alle blaue Haare und blaue Fingernägel und Fußnägel“, sagte sie und nahm die Mütze ab. Eine Flut blauer Locken fiel auf ihre Schultern. „Wir sind etwas klein, aber sonst sehen wir wie Menschen aus. Wir leben in einer Welt unter der Erde und sollen eigentlich keinen Kontakt zu Menschen haben. Wir kommen nur manchmal nach oben, wie zum Beispiel jetzt zu den Prüfungen.“
„Zu Prüfungen?“, fragte Adrian nach. „Was denn für Prüfungen?“
„Meine Abschlussprüfung zum Beispiel“, erwiderte Mona. „Wie du gehe ich noch zur Schule und muss immer nach einem Schuljahr eine Abschlussprüfung bestehen. Jedes Jahr müssen wir etwas anderes erledigen, und wer die Prüfung nicht besteht, muss das ganze
Jahr wiederholen.“
Adrian nickte mitfühlend. „Bei uns ist es so ähnlich. Es gibt Zeugnisse am Ende des Jahres, und wer keine guten Noten hat, kommt nicht in die nächste Klasse.“
„Bei uns entscheidet darüber nur die Prüfung“, erklärte Mona und zuckte mit den Schultern. „Aber wie du selber mitbekommen hast, bin ich ziemlich ungeschickt, wenn ich aufgeregt bin. Meine Lehrerin weiß das und gibt mir zum Glück immer halbwegs einfache Aufgaben.“
Adrian verstand immer noch nicht.
„Aber was solltest du in meinem Zimmer machen?“, fragte er.
„Etwas stehlen? Und wie bist du eigentlich hereingekommen?“
Das Mädchen zog die Augenbrauen hoch und blickte ihn missbilligend an.
„Avontaren stehlen nicht! Ich sollte ein paar deiner komischen Sachen zeichnen und beschreiben und mir überlegen, wozu sie wohl gut sind, was Menschen damit tun.“
Adrian verkniff sich ein Lachen. „Und das solltest du hier mitten in der Nacht im Dunkeln machen?“
„Wir sollen bei unserer Aufgabe natürlich nicht gesehen werden. Außerdem können wir Avontaren in der Dunkelheit fast genauso gut sehen wie im Hellen“, sagte Mona und lehnte sich etwas vor.
„Unsere Vorfahren waren Verwandte von den Heinzelmännchen von Köln. Deshalb sind wir auch so klein und ...“
Adrian hielt sich schnell die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. Trotzdem konnte er ein leises Kichern nicht unterdrücken.
„Was gibt es denn da zu lachen?“, fragte das Mädchen und kniff die Augen zusammen.
„Naja, jeder weiß doch, dass die Heinzelmännchen nur ein Märchen sind, das man kleinen Kinder erzählt. Ich glaube, du willst mich auf den Arm nehmen!“
Mona verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn wütend an: „Ach ja? Bin ich also auch ein Märchen, und eigentlich gibt es mich gar nicht?“
„So habe ich das gar nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, dass ...“
Mona winkte ab.
„Ist schon in Ordnung. Ich verstehe das. Heinzelmännchen können sich gut verstecken, und Menschen glauben halt nur das, was sie sehen.“
„Es ist ja auch schwierig an etwas zu glauben, das man nicht sieht“, bemerkte Adrian und wechselte schnell das Thema, um Mona nicht weiter zu verärgern.
„Also weiter, wie bist du hier hereingekommen? Das Fenster war doch zu? Und woher weißt du meinen Namen?“, fragte Adrian und sah sie gespannt an.
Jetzt lachte Mona. „Dein Name steht doch auf deinen Heften, die da rumliegen. Und auch wenn du es nicht glaubst, ich bin durchs Fenster reingekommen. Ich kann dir aber nicht erklären, wie wir
Avontaren das machen. Ich darf ja eigentlich überhaupt nicht mit dir reden.“
„Gut, und was ist mit der Prüfung?“
„In der Prüfung muss jeder Avontar aus meiner Klasse in diesem Jahr in das Zimmer eines Menschenkindes gehen. Alle Sachen, die uns unbekannt sind, müssen wir genau beschreiben und zeichnen“, erklärte sie. „Das ist deshalb so schwierig, weil wir ja auch aufpassen müssen, nicht erwischt zu werden. In den letzten beiden Jahren war das anders. Einmal mussten wir ein Essen in der Schulküche kochen mit Zutaten, die wir bei Menschen auf einem Markt besorgen mussten. Und im Jahr davor sollte die ganze Klasse im Stadtpark ein Blumenbeet anlegen.“ Sie blickte frustriert nach unten. „Allerdings habe ich es da auch geschafft die Prüfung zu versauen.“
„Wieso? Was ist denn passiert?“, fragte Adrian neugierig.
„Als wir das Beet anlegen sollten, wurde ich von einem Hund gebissen, und als ich das Essen kochen musste, ist aus Versehen fast die ganze Küche abgebrannt.“
Wieder musste Adrian sich beherrschen nicht laut loszulachen.
Wie konnte es jemand schaffen, aus Versehen eine Küche abzubrennen?
Mona musste wirklich ziemlich ungeschickt sein. Da hatte er ja noch Glück gehabt, dass sie bei ihm nur den Becher umgeworfen hatte.
„Meine Lehrerin hat mir schon extra eine leichte Aufgabe gestellt, aber wie es aussieht, habe ich schon wieder versagt.“ Traurig ließ sie den Kopf hängen. „Bis jetzt habe ich die Prüfungen immer beim zweiten Mal doch noch bestanden, wir dürfen sie nämlich wiederholen. Aber diesmal ist das schon die Wiederholung, und jetzt hast du mich erwischt, und es ist schon so spät. Wie soll ich da noch drei Sachen zeichnen und beschreiben?“ Sie begann zu schluchzen und sah plötzlich gar nicht mehr so selbstsicher aus wie vorher.
Adrian stand auf und ging zu ihr. Tröstend legte er den Arm um ihre Schulter und schaute sie aufmunternd an.
„Wir werden das schon schaffen“, sagte er.

Impressum

Texte: Das Avontarenland - Vermächtnis der Kobolde 132 Seiten mit Illustrationen von Dennis Lohausen 13,5 cm x 20,5 cm gebunden ISBN 978-3-933839-26-8 erschienen bei DAT WOR ET
Tag der Veröffentlichung: 04.04.2011

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