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Kapitel 1

Alice:

 

Ich war also endlich angekommen in meinem neuen Leben! Naja, okay, noch nicht ganz und gar – immerhin musste ich noch schauen, wo mein Zimmer war und dieses dann auch noch richtig beziehen – doch der erste und sehr wichtige Schritt, vielleicht sogar der wichtigste von allen, war getan und nun konnte ich damit beginnen, endlich mich selbst zu finden. Zu atmen.

Ich stieg aus meinem kleinen knallgrünen VW Lupo, blieb an der offenen Autotür stehen und schloss die Augen ganz locker. Nur einen winzig kleinen Augenblick wollte ich mich noch an Daheim erinnern, an alles was mit meinen Eltern zu tun hatte, ehe mein neues Leben beginnen würde. Ab jetzt würde alles so anders werden. Meine Eltern waren hunderte Kilometer weit weg und zum ersten Mal fühlte ich mich wirklich frei. Die imaginären, riesigen Steine auf meinen Schultern und der Druck auf meiner Brust wurden schon jetzt um einiges besser und leichter. Ich hatte auf der Fahrt hierher immer wieder Panik bekommen, wollte sogar das ein oder andere Mal einfach umkehren, doch das hätte mir so rein gar nichts gebracht. Außerdem hätte ich mir von Megan – meiner besten und einzigen Freundin – eine Standpauke vom feinsten anhören können!

In diesem Moment war ich auch sehr froh, dass sie ebenfalls hier studieren würde, jedoch erst in einer Woche nachkam. Eine Woche würde ich schon irgendwie überstehen können. Dabei hoffte ich dann auch inständig auf meine beiden Mitbewohnerinnen in der Studentenwohnung. Wären die zum kotzen, würde es eine lange Zeit hier werden.

Meine Mutter hatte mir und Megan angeboten, dass wir auch eine Wohnung zusammen hier beziehen konnten, außerhalb des Campus versteht sich natürlich, doch dagegen hatte ich mich ziemlich gewehrt. Ich wollte das echte Unileben. Mit allem was dazu gehörte. Klar, da wäre ein Wohnheim vermutlich noch besser, aber mein Makel war nicht so leicht zu kaschieren. So hatte ich die zweite Variante, eine Studentenwohnung auf dem Campus, als Schicksal gesehen.

Einen tiefen Atemzug später öffnete ich meine Augen wieder und runzelte etwas irritiert die Stirn, denn hier roch es komisch. Das Motorengeräusch neben mir, nahm ich auch erst jetzt richtig wahr. Ich sah ganz vorsichtig zur Seite und erblickte einen großen Kerl in einer schwarzen Lederjacke, verwaschenen schwarzen Jeans und Helm unterm Arm. Er hatte mir den Rücken zugewandt, daher sah ich sein Gesicht nicht, und lehnte an seinem Motorrad. Auf seiner anderen Seite hielten in diesem Moment auch noch ein zweites Bike und ein schnittiger Sportwagen. Anscheinend waren es seine Freunde, denn nachdem alle ab- oder ausgestiegen waren, schlugen sie miteinander ein. Der Kerl, den ich als erstes bemerkt hatte, drehte sich ein wenig, sodass ich nun sein Profil sehen konnte. Dabei fiel mir als erstes der Ring in seiner rechten Augenbraue auf. Gleich darauf der kleine Ring in seiner Unterlippe auf der gleichen Seite. Je mehr ich ihn musterte, umso wärmer wurde mir.

Seine Haare waren – vermutlich durch den Helm – total verwuschelt und hatten einen sehr dunklen Braunton, der fast schon Schwarz wirkte und in dem sich tatsächlich eine knallrote Strähne gemischt hatte. Es passte zu einen solchen Typen echt super. Lange Wimpern und eine – für einen Mann – sehr schöne gerade Nase konnte ich erkennen. Ein markantes Kinn und ein leichter Bartschatten rundeten das ganze ab. Außerdem...

Gerade wollte ich auch noch heraus finden, welche Augenfarbe zu ihm gehörte, da drehte er sich gänzlich zu mir herum und mir stockte kurz der Atem. Auch mein Puls schnellte ein wenig höher. Von vorne sah er einfach nur atemberaubend aus. Wild und maskulin, stark und auch intelligent. Und er sah mir aus seinen grasgrünen Augen entgegen. Die gepiercte Braue ging nach oben. Fragend und ein wenig verwirrt, sah er mich an.

„Ist was?“, fragte er mich recht unfreundlich. Nicht nur sein Ton, sondern auch seine Stimme, erschreckten mich. Sie war tief und rau, als würde er rauchen und ab und an mal einen trinken. Das gefiel mir ausgesprochen gut. Rasch schüttelte ich den Kopf und spannte mich unwillkürlich an. Jederzeit bereit zur Flucht, wenn es denn sein müsste. Er war muskulös gebaut, jedoch nicht übertrieben, und hatte neben den Piercings auch sichtbare Tattoos am Hals, den Händen und am Ausschnitt seines schwarzen Shirt lugte auch etwas heraus. Ob er wohl noch mehr Piercing und Tattoos hatte? Zu gern hätte ich alles genauer angesehen. Ich wollte auch zu gerne ein Tattoo haben, war bisher aber noch jungfräulich. Jedoch gedachte ich einiges zu ändern. Auch meine jungfräuliche Haut sollte mit Farbe versehen werden. Einen Entwurf dafür trug ich seit fast zwei Jahren bei mir. Immer.

Mir schoss das Blut in die Wangen vor Scham, als ich an gewisse Stellen dachte, an denen er noch ein Piercing oder Tattoo haben könnte. Oh man!

„Dann schau woanders hin!“, knurrte er mich allen Ernstes an. Nun nickte ich ebenso schnell, wie ich kurz zuvor den Kopf geschüttelt hatte. Doch irgendwie konnte ich nicht wegsehen. Ich war einfach zu fasziniert von ihm.

Sein Blick wurde langsam genervt und auch wütend. Warum hatte er ein Problem damit, wenn ein Mädchen ihn ansah? Merkwürdig. War ich ihm vielleicht zu hässlich? Zu Neugierig? Es gab einfach eine Unmenge an verschiedenen Möglichkeiten. Einer seiner Freunde stellte sich zu ihm, sah mich an und lächelte sogar freundlich.

„Hi! Dich habe ich hier noch nie gesehen. Heute erst neu angekommen?“, begrüßte und fragte dieser mich. Endlich konnte ich den Blick von dem heißen Typen lösen und sah den Blonden an. Wieder konnte ich nur nicken. In solchen Momenten wünschte ich mir wirklich nichts mehr, als einfach antworten zu können. Dann würde man mich auch nicht mehr ganz so schräg ansehen. Aber daran wollte ich auch so bald wie möglich arbeiten. Nur hatte das nicht den ersten Platz in meiner Liste der Prioritäten.

„Super! Dann fängt das neue Semester ja bestens an. So eine Schönheit muss man würdigen. Ich bin übrigens Jace. Der Brummbär hier ist Logan. Die drei Idioten hinter uns sind Nate, Cole und Luca. Und mit wem haben wir das Vergnügen?“

Ich starrte ihn an, erschrocken und unfähig ihm meinen Namen zu nennen. Oh nein! Das fing so was von gar nicht gut an. Ich hatte mich erst einmal ein paar Tage einleben wollen und dann schauen, ob ich auch ohne Worte Freunde finden konnte. Nun spürte ich das vertraute Brennen in meinen Augen.

Ehe ich vor diesen ganzen heißen Typen – seine anderen Freunde sahen mittlerweile auch schon zu uns – in Tränen ausbrach, tat ich etwas noch viel dümmeres: Ich schnappte mir innerhalb von Sekunden meine Tasche vom Beifahrersitz, verriegelte den Wagen und ging mit schnellen Schritten einfach weg.

Was sie jetzt von mir denken würden, konnte ich mir ziemlich gut vorstellen. Ich war so ziemlich jede Reaktion gewohnt. In den nun schon vier Jahren, in denen ich kein Wort mehr gesagt hatte, war mir alles Mögliche unter gekommen.

Die meisten hielten mich einfach nur für stumm und hatten Mitleid mit mir. Einige machten sich wegen der Stummheit über mich lustig. Böse lustig. Andere dachten, ich sei eingebildet und mir zu fein, mit ihnen zu reden. Und wieder andere hielten mich einfach nur für einen verdammten Freak.

Keiner von ihnen hatte meine Vergangenheit und bis auf Megan, der ich es erzählt hatte, ehe ich keinen Sinn am Reden mehr sah, wusste keiner davon. Außer natürlich meine absolut fabelhaften Eltern. Sarkasmus lässt grüßen. Aber für diese beiden Menschen galten eh schon ganz eigene Regeln und Gesetze. So kam es mir jedenfalls vor.

Ich flüchtete mich in das große Gebäude, welches ausgeschildert mit Büro und dergleichen war, suchte mir meinen Weg und stand kurz darauf in dem Zimmer für die Anmeldungen, Aufnahmen und allem wichtigen. Nun musste ich die nächste Hürde nehmen. Hierfür hatte ich jedoch etwas in Petto.

Ich zog einen gefalteten Zettel heraus, trat zu der grauhaarigen Dame hinter dem Tisch und als sie aufsah, lächelte ich sie freundlich an. Sie sah mich zwar verwirrt an, nahm dem Zettel aber entgegen. Rasch überflog sie die paar Zeilen.

„Ahh, du bist also Alice. Und du redest also nicht.“ Sie sah nun eher neugierig zu mir hoch. Ich nickte und wurde ein wenig nervös. In ihre Augen trat Mitleid und innerlich seufzte ich frustriert. So gemein manche Sprüche zu mir auch waren, Mitleid mochte ich am wenigsten. Ich hatte es mir selbst ausgesucht nicht mehr zu reden. Allerdings musste das ja niemand wissen.

„Gut, hier hast du alle wichtigen Unterlagen. Eine Liste aller Bücher die du für deine Kurse brauchst, eine Karte des Unigeländes und auch eine Wegbeschreibung zu dem Gebäude mit den Wohnungen, die zum Campus gehören. Da bei Fragen anrufen wohl weg fällt, schreibe ich dir noch meine E-Mailadresse auf. Wenn etwas ist, kannst du dich jederzeit melden.“

Sie schrieb die Mail-Addy auf einen kleinen Post-It Zettel und klebte diesen zwischen die Blätter. Dann holte sie aus einer Schublade des Schreibtisches auch Schlüssel hervor und reichte mir einen Bund mit drei Schlüsseln daran.

„Diese sind für die Haustür, die Wohnungstür und den Briefkasten. Am Briefkasten stehen allerdings nur Nummer daran. Die gesamte Post landet zuerst hier und wird dann verteilt. Hast du alles soweit verstanden?“ Ich nickte ihr erneut zu, nahm mir den ganzen Stapel an Papieren, inklusive Schlüssel, lächelte noch einmal sehr nett und bekam ein Nicken. Dann machte ich mich auch schon auf den Weg zu den Wohngebäuden.

 

Der Weg war leicht zu finden durch die Karte und die zusätzlichen Schilder, die daraufhin hinwiesen. Zwischenzeitlich hatte ich alle Papiere, die ich in diesem Moment nicht benötigte, in meiner Tasche verstaut, sodass ich nun eine Hand frei hatte und die Tür aufschließen konnte. Ich stieg eine Etagen nach oben und suchte nach der Wohnungsnummer dreizehn. Hoffentlich hieß diese Unglückszahl nicht, das ich auch mit der Wohnung Unglück hatte.

Ich zählte bis zehn, steckte den Schlüssel hinein und noch ehe ich ihn auch nur einmal herum gedreht hatte, wurde die Tür nach innen aufgerissen und ich prallte mit jemanden zusammen. Ich war so überrascht, dass ich tatsächlich nach hinten fiel und auf meinem Hintern landete, schmerzhaft. Ich biss die Zähne kurz zusammen und sah dann hoch. Vor mir stand ein Mädchen mit feuerrotem Haar, unzähligen Sommersprossen und wunderschönen blauen Augen. Ihr Blick wechselte innerhalb von Sekunden von überrascht zu bestürzt.

„Oh mein Gott! Das tut mir soooo leid! Komm, ich helf dir hoch.“ Dankbar nahm ich ihre Hand und ließ mir hoch helfen. Kurz rieb ich über mein Hinterteil und nahm auch meine Tasche vom Boden auf. Erst dann sah ich sie wieder an und lächelte. Damit sie sich keine Sorgen machte. Sie trat zur Seite und ließ mich nun in die Wohnung eintreten.

„Es tut mir wirklich furchtbar leid! Ich war die ganze Zeit schon so aufgeregt wie meine Mitbewohnerin ist und da sind bei mir einfach die Pferde durchgegangen als ich den Schlüssel hörte.“

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung und lächelte noch ein wenig mehr. Aus Erfahrung wusste ich genau, wenn man nichts sagte und nur lächelte, freundlich, dann verstanden die Leute, dass man kein Wort sagen würde. So sah es bei meiner Mitbewohnerin auch aus. Zunächst wirkte sie etwas irritiert, dann zeichnete sich Verständnis auf ihrem Gesicht aus.

„Oh, du redest nicht? Das macht nichts. Ich rede so viel, dass es wohl für uns beide reichen wird. Ich hoffe, du kannst dann umso besser zuhören.“ Ich kicherte leise und nickte. Oh ja, ich war super im Zuhören. Ich unterbrach ja auch niemanden, dachte ich spöttisch. Aber ich hörte auch tatsächlich gerne zu. Es war super interessant, was man alles heraushören konnte, wenn man selbst keinen Ton von sich gab. Es gab da auch noch die Sache, dass die Leute einem auch gern Geheimnisse anvertrauten. Natürlich würde ich diese auch nicht verraten, wenn ich sprechen würde. So war es aber noch viel besser. Einige vergaßen jedoch auch, das ich zwar stumm war, aber jederzeit schreiben konnte. Lustig.

„Perfekt! Ich glaube, dann wird das mit uns beiden hier super klappen. Ich bin ein Jahr weiter als du, aber das kann ja nur von Vorteil sein. So kann ich dir alles erklären und du musst niemand vollkommen fremdes fragen. Oh, bevor ich es vergesse, ich bin Emily. Und wir haben noch eine Mitbewohnerin, meine beste Freundin Aileen. Sie kommt jedoch erst in guten drei Wochen. Familiensachen. Wie heißt du?“

Okay, sie hatte echt nicht übertrieben als sie sagte, sie würde viel reden. Fast kam es mir so vor, als kenne sie Satzzeichen wie Punkt und Komma überhaupt nicht. Ich mochte sie!

Ich zog meine Papiere heraus und deutete auf meinen Namen darauf.

„Ohh, Alice ist ein toller Name. Und du siehst auch ein bisschen aus wie Alice im Wunderland. Oh, ich hoffe, das war jetzt keine Beleidigung. Ich meinte nur wegen deinen blonden Haaren und den blauen Augen.“ Nun holte sie endlich mal richtig Luft. Ich grinste. Ja, hier gefiel es mir jetzt schon. Emily war eine tolle Persönlichkeit und ganz sicher würden wir gute Freunde werden. Und mit Megan würde sie sich sicher dann ebenso gut verstehen. Auch Megan war etwas vorlaut und ständig am reden. Passte also ganz gut.

Um ihr zu sagen, dass es okay war – den Vergleich stellte sie nicht als erste an – legte ich ihr eine Hand auf die Schulter. Sie verstand mich wieder sofort und zwinkerte.

„Okay, ich zeig dir mal dein Zimmer. Sie haben alle die gleiche Größe, also kann es keinen Zickenkrieg geben. Leider haben wir nur ein Bad, aber ich denke, das wird gehen. Ich selbst brauche nur Zeit wegen diesen doofen Haaren. Schminken tue ich mich nie übermäßig viel oder lange. Da wirst du eher mit Aileen kämpfen müssen. Wie du sehen kannst, haben wir eine offene Küche und das Wohnzimmer ist groß genug, falls wir auch mal ein wenig Party bei uns machen wollen.“

Ich folgte ihr brav und grinste immer wieder. Emily schaffte es wirklich, jemanden sofort um den Finger zu wickeln. Mit ihrer fröhlichen Art verzauberte sie einen und man hörte sogar ihrem Redeschwall gern zu. Ihre Augen lächelten dabei mit ihrem Mund um die Wette. Sie zeigte mir alles, erklärte mir auch schon ein paar Sachen auf dem Campus und bot mir anschließend an, mit mir gemeinsam meine Sachen aus dem Auto zu holen. Ich war ihr unendlich dankbar dafür, denn ich hatte echt eine Menge Zeug mitgenommen. Um ehrlich zu sein hatte ich nämlich nicht vor, so schnell nach Hause zurück zu kehren. Nicht mal an den Feiertagen.

Es dauerte fast zwei Stunden und mehrere Gänge, bis alles in meinem Zimmer verstaut war. Emily verabschiedete sich kurz, da sie noch etwas zu erledigen hatte und ich nutzte die Zeit um mich einzurichten. Hier würde ich eine Weile bleiben, also wollte ich es auch so haben, wie es mir gefiel. Ganz gleich was meine Mutter dazu sagen würde. Wobei sie vermutlich einen Herzinfarkt bekäme, würde sie die Deko sehen, die ich unterwegs gekauft hatte. Lauter buntes Zeug, was auch überhaupt nicht richtig zusammen passte und daher genau das Richtige für mich war. Als Kind hatte ich bunte Sachen haben wollen, jedoch nie bekommen. Wie denn auch, wenn es nicht zur gesamten Inneneinrichtung des Hauses passte? Aber das war nun Geschichte. Heute begann für mich ein ganz neuer Abschnitt und auf den freute ich mich schon wahnsinnig.

 

Als erstes riss ich das Fenster auf und atmete erneut tief durch. Dieses mal gab es wirklich die frische Luft, die ich mir gewünscht hatte. Aber genau dieser Punkt brachte mich auch wieder zu vorhin. Logan. So hatte dieser Jace den anderen vorgestellt. Der Name passte zu ihm und seinem Auftreten. Ja, er sah definitiv wie ein Logan aus. Wenn man einem Namen denn auch einen Aussehen zuschreiben konnte. Und Jace passte auch perfekt zu seinem Freund, der wie ein typischer Sunnyboy aussah.

Ich sah direkt Logans Augen vor mir, seinen wilden Blick. Erst jetzt sah ich darin auch etwas ganz anderes. Etwas verletzliches. Vorhin war es mir nicht aufgefallen, weil ich so gebannt war, doch jetzt in meiner Erinnerung, sah ich es deutlich. Zu gerne wünschte ich mir zu wissen, was ihm solchen Kummer bereitete... Nein! Halt, Stop! Das war überhaupt nicht mein Problem und würde es auch niemals werden. Wenn Gott mir beistehen sollte, würde ich diesen Kerl niemals wieder sehen. Vermutlich hatte ich jedoch kein Glück und würde ihn schon bald wieder über den Weg laufen. Der Campus war zwar groß, aber nicht ein anderes Land. Es war nicht ausgeschlossen, dass ich einen oder alle aus der Gruppe mal wieder sah.

Seufzend machte ich mich daran den ersten Karton auszupacken und alles in die Schränke und Regale einzuordnen. Auf dem Schreibtisch stellte ich ein Bild von mir und Megan, bunte Lichterketten kamen über das Bett, ebenso wie ein paar weitere Schnappschüsse von mir und meiner besten Freundin. Ich hörte zwischendurch, wie die Tür aufging und Emily in die Wohnung zurück kam. Sie ließ mich erst mal in Ruhe. Klar, sie wusste ja, was ich gerade tat.

Ich stellte gerade das letzte Buch ins Regal, als sie klopfte. Rasch ging ich zur Tür und öffnete diese dann.

„Hey, hast du vielleicht Lust gleich heute mit auf eine kleine Party zu kommen? Keine Sorge, ist hier im Haus, also kein weiter Weg nach Hause. Max veranstaltet sie immer an dem Wochenende bevor ein neues Semester stattfindet. Als Einstieg sozusagen. Und ich schwöre, seine Party´s sind echt legendär!“, grinste sie.

Eine Party? Ich war seit dieser einen Sache nicht mehr auf einer Party gewesen und das war jetzt ganze vier Jahre her. Ich hatte Angst, aber auch wieder nicht. Was sollte mir hier immerhin passieren? Außer das ich vielleicht ein wenig zu viel trank und mich übergab, war doch nichts weiter dabei. Des Weiteren wollte ich ehrlich nicht als Spaßbremse dastehen, sondern lieber weiter mit Emily Zeit verbringen. Daher nickte nun, was sie anscheinend sehr freute. Also war es tatsächlich die richtige Entscheidung gewesen. Perfekt!

„Oh, das wird super werden. So kannst du auch schon ein paar Leute kennen lernen. Und ich weiß, es werden noch ein paar Erstsemestler dort sein. Du bist nicht die einzige.“ Das beruhigte mich tatsächlich. Wenn alle schon länger hier waren, hieß das auch, sie kannten sich über kurz oder lang. Wäre nicht so angenehm für mich.

„Wir haben auch noch viel Zeit. Auch, um etwas zu essen. Lust auf was bestimmtes?“ Ich grinste sie an. Anscheinend dachte sie nicht wirklich daran, das ich auf solche Fragen eigentlich nur mit Kopfschütteln antworten konnte. Bei Ja müsste ich nämlich noch dazu sagen, was ich denn wollen würde. Doch dann kam mir eine Idee. Ich ging zur Küche, zum Kühlschrank um genau zu sein, und nahm den Flyer von einem Chinarestaurant. Emily strahlte.

„Ohhh, ich liebe asiatisches Essen. Sehr gute Wahl. Und ich hab auch eine Idee. Ich werde Flyer von allen Lieferanten hier in der Nähe besorgen. Dann kannst du mir immer direkt zeigen, was du gerne haben magst. So ersparen wir uns das Rätselraten und auch eine Menge Zeit.“

Ich nickte zu dieser Idee, denn sie war wirklich gut. Eigentlich hätte es mir selbst einfallen sollen oder können, doch ich hatte gar nicht an so etwas in der Art gedacht. Ich zeigte Emily auf dem Flyer, was ich gerne hätte, sie bestellte und als das Essen kam – sie war gerade unter der Dusche – nahm ich es schnell entgegen, bezahlte und verschloss die Tür wieder, ehe der Lieferjunge etwas sagen würde, worauf ich hätte antworten müssen.

Als Em dann fertig war, aßen wir ganz in Ruhe. Nun ja, sofern man es als Ruhe bezeichnen konnte, denn wieder kannte sie keinerlei Satzzeichen. Damit brachte sie mich ständig zum Grinsen, kichern und lachen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie es mit Absicht tat, dass sie mich gern zum lachen brachte. Jedes Mal funkelten ihre Augen dann übermütig und strahlten pure Freude aus. Und das freute dann wiederum auch mich, also ließ ich ihr den Spaß.

So verging die Zeit sehr eilig. Ich machte mich auch fertig, mit Ems Hilfe und war mal wieder Dankbar. Sie legte mir mehr Make-Up auf, als ich es mir selbst getraut hätte, aber in meinem Alter hatte ich keinerlei Erfahrung mit derlei Dingen. Und sie übertrieb es auch nicht damit.

Als sie ihre Arbeit – wie sie es nannte – beendet hatte, erkannte ich mich kaum wieder. Ich sah mindestens zwei, drei Jahre älter aus, nicht jedoch zu schlampig. Es gefiel mir sehr. Von meiner Seite aus konnte sie das – sofern wir noch öfter auf eine Party gehen würden – gerne jedes Mal übernehmen. Es hatte auch einfach nur Spaß gemacht hier zu sitzen und sie ans Werk zu lassen. Selbstredend hatte sie auch jetzt nicht geschwiegen, sondern mich mit Geschichten von ihr und dieser Aileen unterhalten. Ich hatte das leichte Gefühl, Aileen und ich könnten uns ebenso gut verstehen. Besser wäre es auf jeden Fall, da wir ja hier zusammen leben würden bis zum Abschluss.

Das zeigte ich ihr dann mit einer kleinen Umarmung, die sie lachend erwiderte und zwinkerte.

„Wer weiß, vielleicht ist auf der Party heute ja dein Mister Right dabei.“

So etwas bezweifelte ich zwar, aber aus der Vergangenheit hatte ich gelernt, für alles offen zu sein. Immerhin wusste man absolut nie, was einen im nächsten Moment erwartete. Das ich aber ausgerechnet heute den richtigen finden würde, daran glaubte ich nun wirklich absolut nicht. Dennoch ließ ich Emily gerne diesen Gedanken. Sie schien eh ziemlich romantisch veranlagt zu sein und es schadete mir ja auch nicht, wenn sie Recht behalten würde.

Mit gestrafften Schultern und einem Lächeln, folgte ich ihr dann auch schon aus unserer Wohnung und ein Stockwerk weiter hoch.

Ich war wirklich sehr gespannt!

Kapitel 2

Logan:

 

„Hey, die Kleine war ja mal echt schräg. Hat dich angestarrt, als würde sie dich gleich mit Haut und Haaren vernaschen wollen!“ Jace lachte ausgelassen und auch Cole, Nate und Luca grinsten amüsiert. Ich fand es gar nicht so lustig. Ganz und gar nicht. Ich war einfach nur genervt. Das hatte nicht mal was mit dem Mädchen zu tun, sie war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Und ich konnte es nicht leiden, wenn man mich einfach nur anstarrte und keinen Ton herausbrachte. Vielleicht war sie sich ja zu fein gewesen, um mir, oder auch Jace, zu antworten. Der Wagen und auch ihre Kleidung hatten regelrecht nach Geld geschrien. Solche Leute konnte ich am wenigsten leiden. Wenn sie sich für was Besseres hielten, weil Papi und Mami alles bezahlten.

Ebenso auch ihre ganze Erscheinung. Mit der Kleidung fing es an. Das Kostüm hatte ausgesehen als würde es mehr kosten, wie ich in einem Monat verdiente. Dann diese perfekten – ganz sicher gefärbten – blonden Wellen, die ihr bis zum Arsch gereicht hatten. Sie hatte nicht viel Make Up getragen, benötigte es allerdings auch nicht. Ihre Haut war blass, die Augen hatten riesig gewirkt und das Blau war kristallklar gewesen.

Ja okay, ich musste ehrlich zugeben, sie war verdammt heiß! Aber ansonsten war es das auch schon. Menschen die nach Geld aussahen, benahmen sich meistens auch danach. Nate und Luca waren bisher die einzigen Ausnahmen, die ich persönlich kannte. Und ich kannte eine ganze Menge Leute. Alleine mein Job nach der Uni brachte es mit sich.

„Ich glaube nicht, dass das ihre Gedanken waren, Jace. Eher sah sie aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Sie hat die Piercings und Tattoos für meinen Geschmack einen Moment zu lange angestarrt“, brummte ich schlecht gelaunt und lief neben ihm zum Büro. Auch sie hatte diesen Weg eben eingeschlagen. Hoffentlich war sie schon weg wenn wir ankommen würden. Hatte echt keine Lust, ihr noch einmal zu begegnen und hoffte inständig, sie auch sonst nie wieder zu sehen.

„Oh, glaub mir, die Kleine war scharf auf dich. Und dein Körperschmuck hat es nur noch mehr angeheizt. Merk dir meine Worte sehr gut, mein Freund. Wir können sogar eine Wette drauf abschließen.“

So sicher war er sich? Jace wettete nur dann, wenn er sich absolut sicher war zu gewinnen. Mhh. Nein, mir war nicht nach einer Wette, ob er gewann oder verlor war mir ebenfalls egal. Ich wollte im Moment nur die Prüfungen gut überstehen, meinen Job machen und mich um Dale und Mom kümmern können. Mehr brauchte ich gar nicht. Wenn ich Druck abbauen musste, ging ich mit den Jungs in eine Bar oder einen Club und nahm mir eine willige Frau mit ins Bett für einen ausgiebigen Fick. Mehr war nicht drin. Mehr bedeutete nämlich Zeit zu investieren. Und wenn ich eines nicht hatte dann war es Zeit. Ich musste den Jungs schon oft genug absagen wegen Dale und Mom.

„Vergiss es. Beim letzten Mal hat es mich eine ganze Woche gekostet, in der ich für dich Laufbursche spielen musste. Nie wieder! Wie schaffst du es überhaupt, deine Klamotten so dreckig zu bekommen?“

Ohne Witz, seine Sachen waren ein einziger Dreckhaufen gewesen. Vom Geruch mal ganz abgesehen. Das würde ich niemals wieder riskieren. Eher gefror die Hölle.

„Okay, okay, schon verstanden. Aber denk trotzdem an meine Worte: Sie wird dir noch viel Spaß hier bringen.“ Ich nickte ihm zu und lächelte leicht. Wir kamen beim Büro an, gingen direkt hinein und begrüßten die alte Morris. Die Dame war schon ewig hier angestellt, wie wir wussten, und wir verstanden uns gut mit ihr. Das war einer der Gründe, warum wir ihr die Schlüssel für unsere Wohnung gegeben hatten. Wir hätten diese auch mitnehmen oder unseren Eltern geben können, doch so war es viel leichter. Niemand musste dann jetzt suchen.

„Hallo meine hübschen Jungs!“, strahlte sie uns an. Jeder von uns schüttelte ihr kurz die Hand. Etwa eine halbe Stunde lang plauderten wir über die Ferien, sowohl unsere als auch ihre, bekamen die Schlüssel und gingen dann zu den Wohnungen. Da es immer nur für drei Personen war, wohnten wir fünf Jungs leider nicht zusammen. Ich war eh selten dort, da ich meist im Studio oder daheim war. Und dennoch war ich froh, wenigstens Jace bei mir mit zu haben. Er kannte meine inneren Dämonen und wusste sie immer sehr gut zu vertreiben. Außerdem machte er mich nie dumm an, wenn ich einen Fehler machte. Ja, er las mir kräftig die Leviten, aber ansonsten gab es nichts.

In der Bude angekommen, rissen wir alle Fenster auf. Auch im Zimmer von Brayn, der morgen ankommen würde. Er hatte kein Problem damit, da er ja wusste, wie die Wohnung roch, wenn man einige Zeit nicht gelüftet hatte und dann in eine Luft rannte, die wie eine Mauer stand.

Mein Zimmer war unberührt – wie sollte es auch anders sein – und ich schmiss meine Reisetasche einfach nur aufs Bett. Konnte ich morgen auch noch ausräumen. Auf den Weg hierher hatten wir von der Party bei Max gehört, zu der wir natürlich hingehen würden, wie jedes Mal am Anfang des Semesters. Irgendwie war es zu einer Art von Tradition geworden. Zum einen, um sich endlich wieder zu sehen, zum anderen wurden auch viele Erstis eingeladen und man konnte diese „beschnuppern“. Wenn man wollte. Bisher hatte es mir bei dieser Gelegenheit nie an einem schnellen Fick gefehlt. Auf diesen hoffte ich auch heute Abend.

Nachdem wir uns noch schnell was zu essen besorgt hatten – Getränke für den Abend selbstredend inklusive – machten wir uns alle so nach und nach fertig. Zwischenzeitlich kamen Nate, Cole und Luca auch schon zu uns. Wie die drei es schafften, so schnell fertig zu sein, war mir ein Rätsel. Ja, okay, ich gab es zu: für einen Kerl brauchte ich echt lange im Bad. Konnte dieses Mal aber an meinem neuen Tattoo liegen. Es war an einer etwas eher ungünstigen Stelle und brauchte natürlich besondere Pflege. Hoffentlich würde das dann heute Nacht auch überhaupt was werden.

Nach der Dusche trug ich die pflegende Salbe auf und zog mich an. Haare würde ich jetzt nicht machen, war mir zu viel Aufwand. Und dieser frisch-gefickt-Look stand auch Kerlen ganz gut und zog die Weiber an.

Um uns so richtig in Stimmung zu bringen – wobei ich diese nicht wirklich so verspürte wie sonst - tranken wir schon jetzt ein paar Biere. Das Gute daran war, wenn man des öfteren was trank, man vertrug auch eine Menge. Dennoch war ich ehrlich erleichtert, dass die heutige Party hier im Haus stattfinden würde. Keiner von uns musste dann noch laufen, denn fahren würde keiner von uns. Selbst bei nur einen Schluck Bier, ließen wir alles fahrbare lieber stehen. Nicht mal ein Fahrrad rührten wir dann an. Wir wollten einfach keinen Unfall riskieren in denen jemand zu Schaden kam. Egal ob wir oder jemand fremdes. Fahren unter Alkoholeinfluss war verachtenswert. Ich hatte keinerlei Verständnis für solche Menschen.

 

Wir fünf waren mit die ersten bei Max, bisher noch keine Weiber dabei und wir stießen auf das neue Semester mit ihm an. Auf geile Party´s, geile Weiber, geile Tage der Jugend. Eigentlich so ziemlich immer der gleiche Trott. Etwas vertrautes eben. Davon brauchte jeder hier etwas.

Nach und nach wurde die Wohnung voller. Übrigens die einzig Große! Hier hatten sechs Leute Platz, woher auch die Idee kam, die Einstiegsparty hier laufen zu lassen. Ich hatte gerade mein viertes Bier geöffnet, da ging die Tür schon wieder auf und Emily kam herein. Und mit ihr... Heilige Scheiße!

Wenn ich die Kleine vorhin beim Auto schon heiß fand – wenn auch unpassend für mich – sah sie nun einfach wie der fleischgewordene Traum eines jeden Mannes aus. Dabei war es nicht mal so sehr ihr Aussehen an sich. Eher die Ausstrahlung. Es war eine Mischung aus Unschuld und sexy Vamp. Sie schien sich nicht einmal klar darüber zu sein, wie scharf sie war. Oder sie wusste es ganz genau und war eine überaus gute Schauspielerin, konnte natürlich auch sein.

Sie trug ein enganliegendes rotes Kleid, das bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte, dazu passende Highheels und ihr Haar war so hochgesteckt, dass es in jedem Mann sofort den Wunsch weckte, hinein zu greifen und den Knoten zu lösen, damit es ihr in langen Wellen über den Rücken floss. Mist. Ich ließ sie keinen Augenblick aus den Augen, was Jace wieder so blöd grinsen ließ.

„Wenn du sie flachlegen willst, solltest du sie ansprechen, Idiot.“ Er boxte mich gegen den Arm und ich sah ihn verärgert an. Ja, ich wollte Sex, aber nicht mit ihr. Oder doch, schon, auch mit ihr, aber... Himmel, warum war heute alles so beschissen kompliziert?! Luca grinste ebenso.

„Wenn du sie nicht ansprichst, kann ich ja mein Glück versuchen. Euch beide hat sie ja schon einfach stehen lassen. Vielleicht hab ich ja mehr Glück“, erklärte er. Ich zuckte mit den Schultern. Sollte er es ruhig versuchen. Ich wünschte im alles Gute dabei. Mein Gefühl vermittelte mir, dass er ebenso wenig Erfolg haben würde wie Jace. Ich selbst hatte es ja noch gar nicht probiert.

„Und dann ich! Du wirst eh auch keine Chance haben“, meinte nun Nate großkotzig. Echt, wenn ich die Jungs nicht so lange kennen und ihnen blind vertrauen würde, würde ich sie einfach scheiße finden. Gut, dass ich gar nicht so viel anders war. Nur mit leerer Brieftasche. Ebenso wie Cole. Irgendwie schweißte uns beide das noch näher zusammen. Manchmal war er schon recht schweigsam, aber egal was geschah, man konnte sich auf ihn verlassen!

Ich schüttelte über diesen Haufen von Idioten den Kopf, musste aber kurz grinsen. Bis ich wieder zu der Kleinen sah und tatsächlich ihrem Blick begegnete. Sie sah zu mir, direkt mich an. Selbst auf diese Entfernung hin konnte ich die Neugierde und Unsicherheit erkennen. Jetzt strahlte sie wieder mehr Unschuld als Vamp aus. Emily folgte ihrem Blick, grinste, nahm sie an der Hand und kam auf uns zu. Em wurde überschwänglich von uns begrüßt. Selbst ich nahm sie kurz in dem Arm.

„Ich freu mich so, euch zu sehen! Sagt, wie geht es euch? Was habt ihr in den Ferien so gemacht? Gearbeitet? Geflirtet? Gelernt?“ Wie immer quasselte die kleine rothaarige Frau vor mir drauf los als gäbe es kein Morgen mehr. Nach und nach erzählten Cole, Nate, Luca und Jace wie es ihnen ergangen war. Cole natürlich nicht viel. Und ich sagte auch erst mal nichts. Meine Aufmerksamkeit war eh auf die Neue gerichtet. Sie stand nur halb hinter Emily herum, hatte die Hände vor sich verschränkt und blickte mehr oder weniger auf den Boden. Kein Wort kam über ihre Lippen. In mir regte sich wieder diese leichte Wut über ihr Verhalten. Wie konnte man nur so...

„Bist du dir zu fein um mit uns zu reden oder was ist dein Problem, dass du da nur so stumm herumstehst?“, richtete ich einfach so das Wort an sie. Ihr Kopf ruckte hoch und sie sah mich erschrocken an. Wow, so waren ihre Augen noch schöner. Aber... Keine Ahnung warum ich das getan hatte, es erschien mir richtig zu sein. Meine Freunde – inklusive Em – verstummten und sahen mich ehrlich erschrocken an. Sie kannten mich doch nun schon eine Weile. Mit den Jungs war ich immerhin aufgewachsen.

„Logan, hör auf“, ermahnte Jace mich und legte mir eine Hand auf die Schulter.

„Nein, ich will es wissen. Beim Parkplatz war sie auch schon so unfreundlich gewesen. Solche Menschen kann ich nicht leiden!“ Sie zuckte zusammen. Im nächsten Moment konnte ich deutlich erkennen, wie sie sich innerlich zurück zog und eine Mauer errichtete. Woher ich das wusste? Nun, ich machte es ganz genauso. Kam mir jemand zu nahe oder dergleichen, machte ich dicht. Emily erlangte ihre Fassung als erste wieder und räusperte sich.

„Das ist Alice, meine neue Mitbewohnerin. Und stell dir vor, du Arschloch, sie ist tatsächlich stumm!“, blaffte sie mich an. Sofort taten mir meine Worte leid, aber woher sollte man das auch auf den ersten Blick wissen? Gab es nicht irgendeine Regelung, ein Zeichen zur Erkennung? Ich seufzte schwer, genervt.

„Und wie weißt du dann davon, wenn sie dir nichts gesagt hat?“

„Na wie wohl? Es gibt etwas, das nennt sich Zettel und Stift. Zudem erkennt man es ziemlich gut, wenn sie nicht antwortet, du ihr aber Fragen stellst, die sie mit Nicken und Kopf Schütteln beantworten kann.“

Okay, okay, eins zu null für die Teufelsbraut – wie wir Em liebevoll getauft hatten in den ersten Tagen.

Ich zuckte mit den Schultern und brummte nur ein – okay – vor mich her. Genüsslich trank ich einen großen Schluck von meinem Bier und kümmerte mich nicht weiter um das Thema. So schien es jedenfalls.

Alice. Ein schöner Name. Und sie war also stumm. Das erklärte ihren Abgang zwar, aber da sie ja Em ihren Namen mitteilen konnte, hätte sie es auch bei uns tun können. Naja, vielleicht war sie doch zu erschrocken von meinem Aussehen. Ich konnte es nachvollziehen, wenn es mir auch nicht sonderlich schmeichelte. Die Tattoos und die Piercings wirkten bei manchen natürlich gleich so, als sei ich ein Verbrecher. Mir war es eigentlich recht herzlich egal, nur Mom machte sich deswegen immer wieder Sorgen.

Ich sah mich etwas im Raum um, checkte die ganzen Weiber ab und entdeckte schließlich Bonnie, eine Blondine, mit der ich vor einigen Monaten mal was hatte. Zielsicher steuerte ich sie an und wie es zu erwarten war, war sie äußerst erfreut mich zu sehen.

„Logan! Oh wie schön dich zu sehen.“

„Kann ich nur zurück geben, Babe“, grinste ich sie an. Sofort schmolz sie dahin und auch ihr Gesprächspartner, ein Kerl aus dem Schwimmteam, war vergessen. Wütend stampfte er davon, während ich Bonnie ein paar Komplimente über ihr Aussehen machte. Genau die gleichen, wie vor Monaten. Dieses Mädchen war total hohl, aber super im Bett. Genau das, was ich jetzt brauchte um abzuschalten. Nach wenigen Minuten verzogen wir uns in die Küche, holten jeder ein neues Bier aus dem Kühlschrank und unterhielten uns hier drin weiter. Wobei sie den Part des Redners übernahm und ich den Kopf kurzzeitig ausschaltete.

Plötzlich brach sie ab und sah zur Tür. Ich folgte ihrem Blick und sah Alice im Türrahmen stehen. Sie wirkte unsicher ob sie in den Raum kommen konnte. Mensch, sie war nicht nur stumm, sondern auch noch schüchtern, wie es mir jetzt schien. Und das sie dabei überaus niedlich aussah, trotz der sexy Klamotten, machte es nicht besser.

„Ich beiße nicht“, meinte ich leichthin und schlang einen Arm um Bonnies Taille. Total begeistert schmiegte diese sich an mich und sah hoch in mein Gesicht. Irgendwie fand ich das jetzt nicht mehr so toll wie noch wenige Minuten zuvor. Alice biss sich auf die Unterlippe, nickte ganz leicht und trat zum Kühlschrank. Zielsicher nahm sie sich ein Bier heraus, öffnete es mit einem Feuerzeug vom Tisch und nahm einen kräftigen Schluck. Wow! Für eine Frau machte sie das alles sehr selbstverständlich.

Bonnie begann meinen Hals zu küssen, doch ich war ganz auf das Mädchen am Tisch beschäftigt. Sie setzte die Flasche ab, wischte sich über den Mund und sah mich wieder an. Und zum ersten Mal zeigte sie mir ihr Lächeln. Es war wie ein Schlag in den Magen und ich ließ Bonnie augenblicklich los.

Was zum Teufel...?

„Hey, was ist denn los, Logan?“, murrte Bonnie und schlang ihre Arme um meinen Nacken. So wie Alice mich heute auf den Parkplatz angestarrt hatte, so starrte ich nun meinerseits sie an. Sie sah zu Bonnie und zog eine Augenbraue hoch. Die gleiche Seite, in der ich mein Piercing trug, und die ich heute auch so ihr gegenüber gezeigt hatte. Ihre Stirn runzelte sich nachdenklich, ehe sie kaum merklich den Kopf schüttelte.

Das war total crazy!

Sie sagte kein einziges Wort, gab nicht mal einen Laut von sich und doch wusste ich mit absoluter Sicherheit, was sie mir gerade sagen wollte. Verdammt!

„Logan, jetzt reicht es mir aber! Wenn du keinen Bock hast, dann sag es einfach. Dann kann ich mich auch wieder mit Dylan unterhalten!“ So langsam nervte mich ihre Stimme gewaltig. Jetzt hätte ich mir gewünscht, dass sie anstatt Alice stumm wäre. Auf jeden Fall wäre es dann hier sehr viel angenehmer und entspannter. Ich sah Bonnie an, seufzte schwer und trat einen Schritt beiseite, damit sie verstand, dass sie gehen sollte. Gott sei Dank tat sie das tatsächlich. Auch wenn sie dabei ziemlich heftig und sehr undamenhaft fluchte. Mehr als einmal.

Ich atmete erleichtert aus, wurde aber selbst dabei dann unterbrochen. Von Alice. Sie kicherte.

„Was ist?“, fragte ich gereizt. Der ganze Tag war bisher nicht so verlaufen wie ich es wollte oder wünschte. Und nun auch noch das! Alice schüttelte wieder den Kopf und tippte sich dann auch gegen die Schläfe, um mir zu sagen, dass ich wohl erst nachdenken sollte.

„Bitte?! Woher willst du denn bitteschön wissen, was ich mache oder denke?“ Es wurde immer verrückter. Jetzt sprach ich auch schon so mit ihr, als würde sie auch Worte mit mir wechseln. Noch verstörender war jedoch mein Wunsch, ihre Stimme zu hören. Sicher klang sie schön. Ein wenig rau, verführerisch und sanft. Anders konnte es gar nicht sein. Ich war mir da verdammt sicher. Ihr Aussehen und ihre Art – sofern ich das jetzt schon beurteilen konnte – ließen darauf schließen.

Nun zuckte sie mit den Schultern und nahm noch einen großen Schluck aus der Flasche in ihrer Hand. Ich fuhr mir durch die Haare und seufzte schwer. Nein, ich musste unbedingt damit aufhören. Wollte damit aufhören. Ich sah sie noch einen Moment an, sie erwidert den Blick ernst, dann ging ich einfach an ihr vorbei aus der Küche. Ihren Blick in meinem Rücken konnte ich richtig fühlen. Heiß lief es mir über den Rücken.

 

„Wirklich verrückt“, murmelte ich noch immer, als ich wieder bei meinen Freunden stand. Ich war ehrlich verwirrt. Über mich selbst.

„Was hast du denn mit Bonnie angestellt? Die kam stinksauer aus der Küche, in die du dich mit ihr geflüchtet hast.“ Nate sah mich neugierig an, doch ich schüttelte nur den Kopf.

„Sie ist nur sauer, weil ich sie nicht will.“ Nicht mehr wollte, traf es wohl eher. Okay, eigentlich hatte ich sie tatsächlich kein zweites Mal haben wollen. Ich hatte noch nie ein Mädchen zwei Mal in meinem Bett. Jedenfalls nicht, seid Dad abgehauen war. Diese Mädchen und Frauen dienten mir seitdem nur noch als Ablenkung und so sollte es auch bleiben.

Meine Freunde nickten mir verstehend zu. Ich kam nicht ohnehin, mich umzusehen und nach einer bestimmten Person Ausschau zu halten. Und als ich sie dann tatsächlich entdeckte, ließ ich sie nicht mehr aus den Augen. Den gesamten Abend über nicht. Daher entging mir auch nicht der Moment, als sie anfing zu wanken und übertrieben zu grinsen. Sie war betrunken. Nun gut, das ging mich überhaupt nichts an. Wirklich nicht. Dennoch störte es mich ungemein.

„Jungs? Ich komm gleich wieder.“

Mit diesen Worten ließ ich die vier stehen, ging zielstrebig zu Alice und Emily und hielt Alice genau in dem Moment fest, als sie etwas zur Seite kippte. Sie sah erschrocken auf meine Hand und dann weiter hinauf in mein Gesicht. Sofort setzte das Grinsen wieder ein.

„Oh, Logan, gut. Kannst du mir einen Gefallen tun und Alice zu uns in die Wohnung bringen?“, fragte mich Emily. Etwas irritiert sah ich sie an und zog eine Augenbraue nach oben. Seit wann bat sie mich um solche Dinge? Auf ihre Freundinnen Acht zu geben war nicht gerade etwas, dass man mir unbedingt anvertrauen sollte. Zumindest dann nicht, wenn sie so heiß wie Alice waren.

„Warum sollte ich das tun?“, kam von mir. Em seufzte schwer, schüttelte den Kopf.

„Ach, vergiss es. Man, wieso frage ich dich eigentlich?“ Sie versuchte meine Hand von Alice zu lösen. Vermutlich um sich selbst um ihre neue Freundin und Mitbewohnerin zu kümmern.

„Sorry, Em, das war fies. Klar bring ich sie runter. Amüsier du dich ruhig weiter.“ Grinsend sah ich zu ihrem Gesprächspartner, mit dem sie eben in ein angeregtes Gespräch vertieft war. Ich kannte sie gut genug um zu wissen, dass sie etwas von dem Kerl wollte. Und sei es nur eine Bettgeschichte. Da ich selbst heute keine Lust mehr auf Sex hatte – das hatte Alice mir in der Küche gründlich vermiest -, wollte ich wenigstens noch einer Freundin helfen auf ihre Kosten zu kommen.

Zögerlich sah sie erst mich, dann Alice und schließlich wieder mich an. Dabei biss sie sich auf die Unterlippe und wirkte nun nicht mehr so sicher, ob sie mir wirklich Alice anvertrauen sollte.

„Aber nicht... naja... du weißt schon“, murmelte sie. Ich seufzte erneut.

„Em, ich verspreche dir, ich werde die Kleine nicht anrühren. Nicht im sexuellen Sinne.“ Dabei machte ich ein Pfadfinder-Ehrenwort. Sie musste ja nicht wissen, dass ich nie einen solchen Verein besucht hatte. Würde ich auch nie im Leben. Das war was für Loser. Oder für Leute, die das nötige Kleingeld für die Beiträge hatten.

„Na schön. Falls was sein sollte, ruf mich an. Ich habe mein Handy auf laut und werde immer mal wieder rauf schauen“, behaarte sie. Ich bezweifelte jedoch, dass sie auch nur ein einziges Mal schauen würde. Vermutlich erst morgen, nach einer langen, heißen Nacht mit dem Kerl neben ihr. Irgendwann um die Mittagszeit rum, wenn der Kerl hielt, was sein glühender Blick versprach.

„Versprochen, Süße.“ Ich zwinkerte ihr grinsend zu, gab ihr einen Kuss auf die Wange und schnappte mir dann Alice´ Hand. Sie sah erneut auf die Stelle an der wir uns berührten und auch wieder in mein Gesicht. Ein träges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und widerstandslos folgte sie mir aus der Partywohnung.

Ich brachte sie nach unten, bis zur Wohnung von Em und ihr und ließ sie aufschließen. So sah zunächst der Plan aus. Die Ausführung gelang leider nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sie hatte anscheinend noch mehr getrunken, als ich vermutete und schaffte es einfach nicht, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Seufzend nahm ich ihr diesen aus der Hand, schloss selbst auf, schob sie sanft hinein und schloss die Tür von innen.

„Dann wollen wir dich mal ins Bett bringen.“ Eine echte Schande, dass ich selbst nicht darin liegen würde. Mit ihr zusammen und nackt. Ich musste nur kurz darüber nachdenken und schon kehrte die Lust mit voller Wucht zurück. Hatte ich eben noch daran gedacht, dass ich heute keinen Bock mehr hatte, so wurde ich nun eines Besseren belehrt. Allerdings machte mir mein Schwanz auch deutlich, mit wem er dieses Vergnügen haben wollte. Beim Gedanken an Alice wurde er härter, als ich mir Bonnie vorstellte, passierte genau das Gegenteil. Ja, eindeutig war er heute besonders wählerisch.

Plötzlich kicherte Alice und steuerte auf eine Tür zu – ihr Zimmer vermutlich. Ich folgte ihr auf dem Fuße damit sie auch keinen Unfall hatte. Sicher, wenn auch sehr wackelig, ging sie bis zum Bett und ließ sich einfach mit dem Rücken darauf fallen. Ihr Kleid bot mir dabei einen schönen Einblick darunter, da der Rock davon hoch rutschte, und ich schluckte trocknen.

„Ich glaube, du solltest die Schuhe noch ausziehen. Und das Kleid auch lieber. Sieht nicht sonderlich bequem aus.“ Sie sah mich mit einem undefinierbaren Blick an, setzte sich auf und streckte die Arme nach oben. Sollte ich ihr das Kleid etwa ausziehen?! Oh Fuck! Das konnte nur in einem Desaster enden. Als ich mich nicht bewegte, zog sie eine Augenbraue hoch und sah mich fragend an. Langsam mussten ihr doch schon die Arme weh tun, doch sie bewegte sich nicht weiter.

Ich fuhr mir wieder durch die Haare, trat näher und half ihr dann tatsächlich mit dem Kleid. Dann folgten die Schuhe, weswegen ich mich halb vor sie kniete. Durch ihre Größe und die Höhe des Bettes, befand sich mein Gesicht fast direkt auf Höhe ihrer reizvollen Brüste, die nur in schwarzer Spitze steckten. Der Tag heute wurde echt nicht besser, denn ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass ich heute nicht mit ihr schlafen würde. Und das nicht nur, weil ich es Em versprochen hatte.

Sie gab einen Laut von sich, den man leicht als Wimmern interpretieren konnte. Neugierig sah ich ihr ins Gesicht. Sie hatte den Blick fest auf mich gerichtet und biss sich auf die Unterlippe. Dann öffnete sie den Mund, schloss ihn jedoch fast sofort wieder. Anscheinend hätte sie jetzt gerne was gesagt und ich wüsste zu gerne, was es gewesen wäre. Irgendwie war ich mir ziemlich sicher, dass es etwas mit mir zu tun hatte. Woher ich diese Sicherheit war, konnte ich nicht benennen, nur, dass ich es einfach wusste. So sicher wie meinen Namen.

„Du solltest versuchen, jetzt wirklich zu schlafen, Alice. Es ist spät und du hast ein wenig zu viel getrunken.“ Wieder öffnete sie den Mund und seufzte dann. Nickend legte sie sich hin. Ich breitete die Decke über ihr aus, wobei sie die Augen bereits schloss, sah sie noch einen Moment an und schüttelte nun selbst den Kopf. An der Tür zu ihrem Zimmer sah ich noch mal zu ihr.

„Schlaf gut“, sagte ich leise, löschte das Licht, verließ das Zimmer und schloss ihre Tür.

Erst als ich die Wohnung schon verlassen hatte, atmete ich tief durch.

Das würde definitiv eine interessante Zeit werden. Fragte sich nur, was dabei heraus kam...

 

Kapitel 3

  Alice:

 

Blinzelnd öffnete ich die Augen und war kurzzeitig verwirrt. Erst nach ein paar Sekunden fiel mir ein wo ich mich befand und seufzte schwer. Am liebsten wollte ich liegen bleiben und mich unter meiner warmen Decke verstecken. Alles tun, damit ich weder Em noch einen der anderen jemals wieder ansehen musste. Ich erinnerte mich nämlich sofort an alles von gestern. Am meisten war das in der Küche mit Logan hängen geblieben. Wie er und dieses Mädchen rumgemacht hatten und wie er sie dann loswerden wollte, sobald ich dazu kam.

Hatte ich zuerst noch gedacht, er wäre wie die meisten Kerle – ständig eine andere am Start – so änderte sich meine Meinung dazu sofort, nachdem sie abgerauscht war. Jedoch konnte ich selbst nicht sagen, ob ich es positiv oder negativ fand. Zuerst hatte es ja den Anschein gehabt, dass er sie ansprach um sie für die Nacht ins Bett zu bekommen. Dann sah es eher so aus, als wolle er sie so schnell es ging wieder loswerden. Der Kerl war echt ein riesiges Rätsel!

Stöhnend setzte ich mich auf. Gott sei Dank hatte ich nur einen leichten Kater doch zur Vorsicht würde ich eine Tablette nehmen. Langsam schwang ich die Beine aus dem Bett, stand auf und nahm mir frische Sachen heraus. Eine Dusche würde mich schon viel wacher bekommen und dann konnte ich auch in den Tag starten. Auf dem Weg ins Bad begegnete ich Em, die mich angrinste.

„Guten Morgen, Süße“, begrüßte sie mich und hielt eine Tasse nach oben. Der Duft von frischem Kaffee stieg mir in die Nase und meine Mundwinkel hoben sich zu einem frechen Grinsen. Ich zeigte ihr den Daumen hoch und deutete zum Bad. Sie nickte und stellte die Tasse hin. Ehe ich die Badtür schloss, sah ich noch, wie sie Kaffee eingoss und Milch und Zucker dazu stellte, so wie einen Löffel neben die Tasse legte. Oh ja, Em würde eine gute Freundin werden!

Meine Dusche dauerte nicht lange, der Rest im Bad ebenso wenig. Ich schlang mir ein Handtuch um die Haare, zog mich an und ging dann zu Em. Ich setzte mich zu ihr, goss etwas Milch in meine Tasse, Zucker dazu und rührte ein wenig um. Natürlich tat ich – für den Geschmack meiner Mutter – viel zu viel Zucker in die Tasse. Aber sie war nicht hier und ich mochte es so viel lieber.

„Eine Naschkatze also“, grinste Em. Ich nickte und grinste ebenso. Es tat wirklich gut, nicht dafür getadelt zu werden. Oder zu hören, wie viele Kalorien das sind und wie wenig ich dafür den Rest des Tages essen durfte. Diese Zeiten waren vorbei. Nun ja, zumindest die nächsten Jahre, während ich hier war. Da ließ ich mir nichts mehr vorschreiben. Von nun an lebte ich mein Leben so, wie ich es wollte und für richtig hielt. Und wenn es hieß, dass ich etwas an Gewicht zulegte, nun, dann sei es eben so. Mir machte das nichts aus. Ich fand eh, ein paar mehr Rundungen würden mir guttun.

„Und hast du gut geschlafen?“, fragte sie. Erneut nickte ich und trank erst einmal einen großen Schluck. Durch die Milch war der Kaffee soweit abgekühlt, dass ich mir meine Zunge nicht mehr verbrannte. Gott sei Dank. Das war mir echt schon viel zu oft passiert! Sollte ich mir vielleicht auch mal angewöhnen: warten bis etwas weit genug abgekühlt ist. Nun, ich hatte ja genug Zeit dafür.

Em rutschte etwas unruhig auf ihrem Hocker herum, was ihr meine volle Aufmerksamkeit sicherte. Irgendwas lag ihr anscheinend auf der Seele. Etwas, was offensichtlich mit mir zu tun hatte. Die Frage war ja nur, was?! Ich war schon immer so neugierig gewesen. Eine Sache, die in der Vergangenheit für mein Schicksal verantwortlich war...

„Alice... ähm... ich... also...“ Sie seufzte schwer.

„Hat Logan sich gut um dich gekümmert? Oder wurde er irgendwie... naja... aufdringlich oder so?“

Ich lachte leise, schüttelte den Kopf und schaute sie ehrlich an. Meine Art ihr zu sagen, dass alles in Ordnung war und er sich wie ein Gentleman benommen hatte. Sie atmete sichtlich erleichtert aus.

„Gut. Ich hätte ihm nur ungern einen Tritt in die Eier verpasst. Weißt du, er ist echt ein feiner Kerl, aber durch sein Zuhause ist er manchmal recht, nun ja, angespannt. Ja, das ist das richtige Wort. Und wenn er angespannt ist, kann er ab und an mal auch ungemütlich werden und übers Ziel hinaus schießen.“

Konnte ich ziemlich gut nachvollziehen. Allerdings war nun meine Neugierde geweckt. Was ging bei ihm daheim ab? War es etwas Schlimmes? Trauriges? Gefährliches? Ich wüsste es zu gern. Ob ich es zugab oder nicht, aber der Kerl interessierte mich. Seine Art war einfach... Ja, es weckte meine Neugierde so sehr. In einem Moment wirkte er unnahbar und kalt, oder auch ein wenig wie ein Player. Dann wieder war er der beste Freund, den man sich wünschen konnte. Und wieder in einem anderen Moment wirkte er regelrecht gehetzt. Und das konnte ich nach nicht einmal vierundzwanzig Stunden Bekanntschaft schon über ihn sagen. Alleine diese Tatsache zeigte deutlich, wie interessant er war. Für mich. Obwohl ich es mir nicht leisten konnte. Oder auch nicht wollte. Ich hatte selbst so viel vor mir und konnte mich unmöglich auch noch um jemand anderes kümmern. Aber ich wollte es so gern...

Ich legte Emily eine Hand auf den Arm und lächelte. Sie erwiderte diese Geste sofort.

Wir frühstückten noch ganz in Ruhe – sie hatte frische Brötchen besorgt – und ich erfuhr noch so einiges über sie selbst und auch über Aileen. Wenn diese dann ankam, konnte ich vermutlich ihre ganze Lebensgeschichte wieder geben. Und auch den restlichen Tag verbrachten wir gemeinsam.

Emily führte mich über den Campus, zeigte mir schon mal ein paar Plätze, falls ich mal für mich sein wollte und erklärte mir, in welchem Gebäude welche Kurse stattfanden. Überrascht hatte ich festgestellt, dass wir sogar drei Kurse zusammen haben würden, da sie diese neu gewählt hatte. Ich freute mich ehrlich darüber nicht ganz alleine dort zu sein. Das würde den Anfang viel einfacher gestalten. Außerdem musste ich auch noch die Zettel für die Lehrkräfte fertig machen, auf denen stand, dass ich nicht sprach.

Das Lustige daran: bisher hatte mich noch niemand gefragt, warum ich nicht sprach. Erwachsene nahmen einfach so an, dass ich von Geburt an stumm war und ich würde sie auf keinen Fall aufklären. Immerhin hatte mein Vater damals entschieden, dass ich …

Ich verdrängte ganz schnell die Gedanken an diesen Mann und versuchte mich wieder auf Emily zu konzentrieren. Das war nicht nur spannender als dieser Mann es je sein könnte, ich konnte auch frei lachen. Etwas, was mir Zuhause schon lange nicht mehr vergönnt gewesen war.

Und so verging mein restliches Wochenende recht schnell. Emily und ich hatten gut zueinander gefunden und auch schon einen Plan für den ersten Unitag gemacht. Mein erster Kurs war gleich mit ihr zusammen. Also würden wir auch zusammen hingehen und es, wie sie es nannte, hinter uns bringen. Das Mittagessen nahmen wir dann ebenfalls natürlich in der Mensa ein und auch wieder hierher zurück gehen... alles zusammen. Emily benahm sich ein wenig wie eine Mutter, die den ersten Schultag ihres Kindes begleitete. Ich fand diese Einstellung einfach nur total süß! Und ich mochte sie dafür nur noch mehr.

 

Als am Montag der Wecker klingelte, fühlte ich mich allerdings wie gerädert. Ich strampelte die Decke weg von mir, stand auf und verrichtete alles im Bad. Von Em war noch nichts zu sehen. Konnte daran liegen, dass ich ein Frühaufsteher war und morgens gerne ein wenig mehr Zeit für mich hatte.

Ich kochte Kaffee für uns beide, deckte den Tisch für ein schnelles Frühstück – denn das war die wichtigste Mahlzeit des Tages – und packte meine Tasche fertig.

Ja, alle Zettel waren drin, Block und Stifte ebenfalls, sowie mein Portemonnaie und der Plan meiner Kurse. Alles perfekt. Zumindest hoffte ich das. Vermutlich vergaß ich dennoch irgendwas.

Emily gesellte sich etwa eine Stunde später zu mir, bekam allerdings kaum einen Bissen herunter. Ihr Magen sei es nicht gewohnt, erklärte sie mir, was ich natürlich hinnahm wie es eben war. Ich war die Letzte, die anderen etwas vorschreiben würde.

Wir hatten gerade das Gebäude verlassen, als die Tür hinter uns auch schon wieder aufging und die Jungs heraus kamen. Ganz vorne Logan und Jace. Alle begrüßten mich und Emily sehr freundlich, nur der Brummbär mied mich absichtlich. Sofern in meinen Erinnerungen wirklich noch alles vorhanden war – und dessen war ich mir sicher – hatte ich nichts getan, was ihn gegen mich aufgebracht haben könnte. Daher blieb mein Blick auch unwillkürlich auf ihm liegen.

„Nein, du hast mir nichts getan!“, knurrte er. Ich zuckte zusammen und starrte ihn entgeistert an. Schon gestern in der Küche hatte ich das komische Gefühl gehabt, dass er genau wusste, was ich sagen würde, würde ich sprechen. Sein Blick wanderte nun endlich auch zu mir, unsere Augen trafen sich.

„Schon lustig. Ich hab das Gefühl, ich könnte deine Worte direkt in meinem Kopf hören. Dabei weiß ich nicht einmal, wie deine Stimme klingt. Aber deine Augen und deine Gestik... sie verraten dich nur zu deutlich.“ Nun machte er mir ein wenig Angst. Ich hatte ja auch das Gefühl, er verstand mich ohne Worte. Und so etwas hatte ich bis dato noch nie erlebt. Auch nicht, dass es überhaupt jemanden interessierte.

Um mir nichts anmerken zu lassen, zuckte ich nur mit den Schultern, beschleunigte meinen Gang und holte zu Em auf. Kurz sah ich über meine Schulter zu Logan. Oh man, das musste ich unbedingt lassen. Er ging mir unter die Haut. Wegen den Andeutungen von Em noch viel mehr.

Er sah mich auch an, lächelte ganz leicht und schüttelte den Kopf. Nun verstand ich ihn auch ohne Worte. Oh weih! Das konnte gar nicht gut enden.

Ich drehte das Gesicht schnell wieder nach vorne. Verdammt!

Wir kamen an und verabschiedeten uns von den anderen. Schnell waren wir beim Kurs und suchten uns einen Platz, weiter hinten. Aber nicht zu weit, denn dort nahmen Lehrkräfte immer gern die Schüler ran. Weil sie wussten, die mit dem wenigen Bock saßen extra hinten. Zu blöd, dass sie auch noch nicht geschnallt hatten, dass die Lehrer es genau wussten.

Em und ich holten Block und Stifte heraus. Heute ging es erst einmal nur darum, was in dem Semester kommen würde, was für Materialien wir benötigen würden und was uns ganz allgemein erwartete. Außerdem gab es eine kleine Vorstellungsrunde. Bei dieser wurde mir etwas mulmig, doch durch Emily ging sogar das ziemlich glatt. Sie erklärte, dass ich nicht sprach und stellte mich in ein paar einfachen Sätzen vor, ehe sie sich selbst ebenfalls vorstellte.

In meinem zweiten Kurs war es, ohne Emily, schon wesentlich schwieriger, schaffte ich aber auch. Dennoch war ich unendlich erleichtert, als es endlich Zeit wurde fürs Mittagessen. Meine neue Freundin wartete am Eingang bereits auf mich.

„Ich rate dir: iss niemals Fisch hier! Auch vom Pudding, egal wie gut er aussieht, solltest du die Finger lassen. Am besten hältst du dich an Nudeln oder Reis mit irgendwas dazu. Ist zwar alles ziemlich verkocht, aber nun ja... Der Hunger treibt es rein, der Ekel runter, wie man so schön sagt.“ Wir kicherten beide. Mir verging es dann jedoch wieder, nachdem wir unser Essen hatten und uns einen Tisch suchten. Natürlich steuerte Em gleich den Tisch der Jungs an. An dem auch überraschend viele Mädels waren. Eine saß sogar bei Jace auf dem Schoß. Eine andere stand neben Logan und unterhielt sich mit ihm. Da Emily sich neben Jace setzte, blieb nur noch der Platz neben Logan frei.

Ich setzte mich, ohne ihn großartig zu beachten, seufzte ganz leise und wollte dann essen. Ich war mir seinem Blick nur zu bewusst. Es brannte regelrecht auf meiner Haut. Und in meiner Brust, die sich auch ein wenig enger anfühlte, als dieses Mädchen dann sprach.

„Oh, Logan, ehe ich es vergesse. Sag deiner Mutter doch bitte ein ganz liebes Danke von mir. Ihr Tipp war echt goldrichtig! Ich wäre nie im Leben darauf gekommen.“ Er nickte, ließ mich dabei nicht aus den Augen und brachte mich ganz schön aus dem Gleichgewicht damit.

„Mach ich gern. Sie freut sich sicher, dass sie dir damit helfen konnte“, antwortete er ihr höflich. Sie lachte leise und strich ihm über den Arm. Nun sah ich doch wieder richtig zu ihm. Eigentlich hatte ich es gar nicht vor, es geschah ganz automatisch. Er wandte nun selbst den Blick von mir ab und setzte ein Lächeln auf. Es war nicht echt, wie ich sofort bemerkte, was mich wiederum die Stirn runzeln ließ. Was war nur mit ihm los?

Ich zuckte mit den Schultern und aß einen Bissen. Oh Gott, wie widerlich! Ich schluckte das Zeug schnell runter und verschluckte mich auch prompt. Noch ehe ich selbst nach meinem Trinken greifen konnte, tauchte vor meinem Gesicht eine offene Wasserflasche auf. Ich achtete überhaupt nicht darauf, von wem sie kam, griff danach und trank einen großen Schluck.

„Besser?“, fragte Logan. Aha, es war also seine Flasche. So schnell wie sie aufgetaucht war, schien er schon damit zu rechnen. Merkwürdig. Noch merkwürdiger fand ich allerdings, wie wenig es mir ausmachte, dass seine Lippen vorher an der Öffnung lagen. Ja, tatsächlich gefiel mir diese Tatsache sogar.

Ich nickte ihm zu, verschloss die Flasche und reiche sie ihm dankbar zurück. Er stellte sie achtlos neben sein Tablett und sah mich wieder an. Das auch Jace und die anderen uns beobachteten, nahm ich nur am Rande wahr. Viel zu sehr war ich mir Logans Nähe bewusst. Ich kannte ihn erst seit Freitag und hatte schon jetzt den Gedanken, dass das hier anders war, als es hätte sein sollen.

„Du solltest dir das Zeug nicht rein quälen, wenn es so eklig ist. Versuch nächstes Mal nur ein Sandwich. Die sind recht genießbar.“ Wieder nickte ich. Maaaan, zu gern hätte ich jetzt tatsächlich mit ihm gesprochen. Und das erschreckte mich ungemein. Ich hatte in den letzten vier Jahren nur ein einziges Mal reden wollen, mit Megan, als es ihr so schlecht ging und sie dringend jemand zum Reden gebraucht hätte der sie verstand. Sie war es allerdings auch gewesen, die mich selbst davon abgehalten hatte.

 

>>Nein, Alice, brich dein Schweigen nicht. Noch nicht. Wenn du wieder redest, soll es etwas Wichtiges sein. Etwas, wo du selbst das Gefühl hast, du MUSST jetzt reden. Nicht vorher. Versprich es mir!<<

 

Natürlich hatte ich es ihr versprochen. Was hätte ich auch anderes tun sollen? Immerhin war sie meine einzige richtige und dazu noch beste Freundin. Ich hätte ihr fast alles versprochen, nur um sie wieder lächeln zu sehen. Und das hatte sie nach dem Versprechen getan. Sie hatte mich angelächelt, mich auf die Wange geküsst und wir hatten uns stundenlang umarmt.

Und nun verspürte ich den leichten Wunsch, mit Logan zu reden. Allerdings erschien mir dieser Zeitpunkt hier noch nicht als richtig. Megan hatte gesagt ich würde es fühlen, wenn es soweit war. Ich glaubte noch immer, dass sie damit Recht hatte. Ja, ich würde es fühlen. Und dann würde es alles wieder verändern. So wie diese Sache mich verändert hatte. Ebenso wie mein Vater.

Ich versuchte dennoch etwas von dem Obstsalat, den man tatsächlich essen konnte, und hörte dabei den anderen zu. Sie redeten über alles Mögliche. Die ersten Kurse, die Lehrkräfte, Mädels, Jungs. Selbst das Wetter ließen sie nicht aus. Mir taten ein wenig die Ohren weh, doch es fühlte sich auch wirklich gut an. Ein Teil dieser kleinen Gruppe zu sein. Auch wenn die Mädels, bis auf Emily, sehr nervig waren. Zumal sie ständig um die Gunst der Männer buhlten.

Ehrlich, wenn einer der Jungs interessiert war, würde er es sicher deutlich zeigen. So wie Logan an dem Püppchen, die seiner Mutter dankte. Wofür auch immer. Obwohl er mich immer wieder mal ansah, zeigte er deutliches Interesse an dem Gespräch mit ihr, strich ihr sogar einmal kurz über den Arm.

Ich seufzte ganz leise, nahm mein Tablett in die Hand und brachte es weg. Mir war der Appetit vergangen, auch wenn ich noch immer Hunger hatte. Das Essen hier bekam man einfach nur schwer runter. Vermutlich musste ich mich noch daran gewöhnen. Die anderen schafften es ja auch irgendwie nicht zu verhungern. Und nicht alle sahen so aus, als würden sie das Geld locker sitzen haben.

Ich sah noch einmal kurz zum Tisch, zu Emily, aber sie war so in ein Gespräch mit Jace vertieft, dass ich sie nicht noch mal stören wollte. So verließ ich die Mensa und schlenderte noch etwas herum. Der Rundgang mit Em gestern war schön gewesen, nur manche Dinge konnte man nur selbst heraus finden.

An einer Tafel mit vielen Flyern blieb ich stehen und las mir einiges durch. Eine externe Theatergruppe, Backkurs, Party´s. Eigentlich war das so ziemlich alles. Ich wollte schon weiter gehen, da fiel mir ein kleiner Flyer in einer der Ecken auf. Ich beugte mich dorthin. Es war ein Werbeflyer von einem Tattoostudio, gar nicht weit vom Campus entfernt. Irgendwas in mir begann zu kribbeln.

Ich erinnerte mich sofort an die Zeichnung auf meinem Schreibtisch und eine Idee formte sich in meinem Kopf. Vielleicht wäre doch jetzt schon der richtige Zeitpunkt dafür. Es könnte ja Schicksal sein, das ich den Zettel hier gesehen hatte. Ich nahm es hin, wie es war, machte mir den Flyer ab und stopfte ihn in meine Handtasche. Kurz darauf musste ich zum nächsten Kurs, begleitet von einem kleinen Lächeln.

 

Die erste Woche verlief recht ruhig. Am Freitag kam Megan endlich auch an. Nachdem sie ihr Zimmer – leider in einer der anderen Wohnungen – bezogen hatte, machte ich sie mit Emily bekannt und wir drei saßen die halbe Nacht zusammen. Emily war natürlich begeistert davon, mehr über mich durch Megan zu erfahren. Immerhin kannten wir uns seit wir beide fünf waren. Bei der ein oder anderen Geschichte wurde ich total rot. Selbstredend ließ Megan diese eine Sache aus. Ich musste ihr nicht mal dankbar dafür sein, da es für sie einfach nur selbstverständlich war nicht darüber zu reden.

Die zweite und dritte Woche verliefen gleichermaßen anstrengend wie auch schön. Nachdem auch Aileen ankam, war bei uns eine ganze Menge mehr los als zuvor. Sie brachte noch mal frischen Wind in die Wohnung. Logan hatte ich eher weniger in dieser Zeit gesehen, nur ab und an mal in der Mensa, doch da hatte er mir keine Beachtung geschenkt. Nicht mal die kleinste. Ich nahm es ihm nicht übel, war aber dennoch ziemlich enttäuscht. Dieses Gefühl der Verbundenheit, dass wir uns ohne Worte verstanden... es fehlte mir ungemein. Mehr als es sollte. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, denn Megan war sehr aufmerksam, nachdem Emily ihr von Logan erzählt hatte. Und darüber, dass sie glaubte, da könnte was zwischen uns sein. Ich hatte darüber zwar nur gelacht, doch meine beste Freundin kannte mich viel zu gut.

Bisher war ich auf keiner weiteren Party gewesen. Im Gegensatz zu Emily und Megan. Aileen ging an diesen Freitag ebenfalls mit den beiden mit. Ich blieb allein in der Wohnung und las ein wenig in einem neuen Buch, das Megan mir mitgebracht hatte. Mir fehlte die Lust auf laute Musik, Alkohol und Männer.

Grade holte ich mir einen neuen Tee dazu, als es an der Wohnungstür klopfte. Ich stellte die dampfende Tasse ab und öffnete die Tür. Mein Herz begann wilder zu klopfen. Logan.

„Hey, ist Emily hier?“, fragte er mich. Er wirkte gehetzt. Ich schüttelte den Kopf

„Weißt du, wo sie ist?“ Wieder ein Kopfschütteln.

„Scheiße!“, fluchte er und stützte sich am Türrahmen ab. Was war denn los? Warum wollte er so dringend mit Emily reden? Ich sah ihn fragend an, in der Hoffnung, er würde es mir sagen.

„Ich brauche ihr Auto. Mein Bike springt nicht an und ich muss dringend zu meiner Mutter“, erklärte er mir dann auch tatsächlich. So wie er aussah und sich benahm, war es wirklich wichtig. Ich biss mir kurz auf die Unterlippe und zögerte noch einen Moment. Sollte ich...

Ich bedeutete ihm rein zu kommen und zu warten. Nun war er es, der mich fragend ansah. Ich lächelte ihn einfach nur an, verschwand in meinem Zimmer und wurde mir erst dann bewusst, dass ich schon meine Schlafsachen anhatte! Eine knappe Schlafhotpants, ein enges Top und meine Hasenpantoffeln. Die Dinger waren süß, weich und bequem. Allerdings nichts, womit man einen Kerl beeindrucken oder verführen konnte.

Oh Gott! Was dachte ich da eigentlich? Ich wollte doch überhaupt niemanden verführen. Weder Logan noch einen anderen Mann. Soweit war ich nicht. Wenn ich das überhaupt je sein würde. Rasch schlüpfte ich in den erstbesten Rock – musste natürlich ein kurzer sein – und zog mir eine Strickjacke drüber. Ich schnappte mir noch meine kleine Handtasche und den Autoschlüssel und ging ins Wohnzimmer zurück. Logan stand tatsächlich noch da und sah mir entgegen. Sein Blick glitt einmal komplett über meinen kaum verhüllten Körper. Darüber würde ich mir später Gedanken machen!

An der Tür zog ich mir einfache Ballerina´s über, nahm Logan einfach an der Hand, ganz egal was er dazu sagen würde, und verließ mit ihm zusammen die Wohnung. Seine Hand fühlte sich genau richtig in meiner an. So, als wären sie füreinander bestimmt. Ein süßer Gedanke. Und noch etwas, worüber ich später genauer nachdenken konnte.

Beim Auto angekommen, bedeutete ich ihm einzusteigen. Ich nahm auf dem Fahrersitz platz, startete den Motor und wartete darauf, dass Logan ebenfalls einstieg und mir sagen würde, wo wir hin mussten. Doch er zögerte und sah mich stumm an. Ich zog eine Augenbraue hoch. Eben schien es noch sehr wichtig zu sein und schnell gehen müssen. Hatte ich das vielleicht falsch gedeutet?

Mit einem schweren Seufzer ließ er sich auf den Platz neben mir sinken, schloss die Autotür und gab mir dann eine Adresse.

„Warum tust du das?“, fragte er nachdem wir den Campus verlassen hatten. Wie konnte ich ihm eine Antwort geben? Es war keine Ja oder Nein Frage gewesen, also fiel Nicken und Kopfschütteln weg. Das musste ihm doch aber auch selbst klar sein. Oder er hatte es einfach vergessen. Es blieb natürlich auch noch die Möglichkeit, dass er es bewusst gesagt hatte damit ich gar nicht antworten konnte. Oh man, der Kerl machte mich echt fertig.

„Ich meine, in den den letzten Wochen habe ich dich ignoriert. Bewusst.“ Seine Worte ließen mich aufhorchen. Bewusst ignoriert? Warum hatte er das getan? Nein, ich wurde wirklich nicht schlau aus ihm. Damit er sich vielleicht erklärte, warf ich ihn an einer roten Ampel einen langen Blick zu. Er seufzte schwer, doch ehe er mehr sagen konnte, erklang sein Handy. Ohne zu warten ging er dran.

„Mom, bitte, bleib ganz ruhig, ich bin gleich da. Ja... Ja, natürlich. Ich beeile mich schon. Ist der Krankenwagen schon da?... Gut. Bis gleich!“ Huch! Was war denn nur bei ihm los? Wer brauchte einen Krankenwagen und warum? Ging es seiner Mutter nicht gut? Ich wollte es so gerne wissen.

„W...“ Erschrocken presste ich die Lippen zusammen. Die Ampel glitt auf grün und ich gab Gas.

Beinahe hätte ich ihn tatsächlich laut gefragt, was los war. Ich war so knapp dran gewesen. Auch Logan hatte es bemerkt und warf mir einen unergründlichen Blick aus seinen wunderschönen Augen zu.

„Bist du von Geburt an schon stumm?“ Ich schüttelte den Kopf und hielt das Lenkrad fester als eigentlich nötig. Wie konnte ich nur so dumm sein und mein Schweigen brechen? Ja, na gut, ich hatte es noch nicht ganz getan, aber so nah dran... Es machte mir Angst, dass Logan dafür verantwortlich war. Und das ich den Wunsch zu sprechen bei ihm immer öfter bekam. Mal ganz abgesehen von meinem klopfenden Herzen. Wenn ich nicht noch viel besser Acht gab, mich vielleicht auch besser von ihm fern hielt, würde ich ganz sicher früher oder später der Versuchung erliegen.

„Also hast du dich bewusst dazu entschlossen, nicht mehr zu sprechen.“ Es war keine Frage, dennoch nickte ich dazu. Das traf es ziemlich genau. Und ich hoffte, es aufrechterhalten zu können.

„Verstehe. Ich denke mal, es ist etwas geschehen. Etwas, für dich, schreckliches. Hab schon mal was darüber gehört. Dass bei manchen Geschehnissen, Menschen nicht mehr sprechen wollen. Aus den verschiedensten Gründen schweigen sie seitdem. Vergewaltigungen, Morde, Zeuge bei Morden, Entführungen... Solche Dinge eben. Dir ist auch so eine Sache passiert und du schweigst darüber.“

Ich zuckte heftig zusammen und bremste sofort ab. In mir regte sich eine unergründliche Wut. Ich wusste selbst nicht mal, woher das kam. Ich sah ihn an. Ganz direkt.

„Hey, ich wollte dir nicht zu nahe kommen oder so. Ich habe mich nur gefragt...“ Was hatte er sich gefragt?! Was?! Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt, damit er weiter sprach. Oder ihn geküsst, damit er schwieg.

Über diesen letzten Gedanken erschrak ich mich selbst und die Wut verpuffte sofort. Ihn küssen? Wo kam das denn her? Okay, ja, ich fand ihn überaus attraktiv, mein Herz schlug bei seinem Anblick schneller, aber er hatte sehr deutlich gemacht, dass dieses Interesse nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Das akzeptierte ich voll und ganz. Aber dann sollte er auch aufhören über solche Dinge zu sprechen, denn damit beschwor er das Bild meines Vaters herauf.

Ehe er noch was sagen konnte, gab ich erneut Gas und machte nun die Musik an, damit er auf keinen Fall auf die Idee kam noch mehr zu reden. Als er doch dazu ansetzte, drehte ich die Musik lauter. Das müsste sogar dem dümmsten Menschen zeigen, dass das Gespräch an dieser Stelle beendet war.

Nach knappen fünfzehn Minuten erreichten wir unser Ziel. Schon am Anfang der Straße war der Krankenwagen mit seinem Blaulicht zu sehen und so musste ich nicht mal mehr auf das Navi achten, um die richtige Hausnummer zu wissen. Ich stand noch nicht mal richtig, da sprang Logan schon aus dem Wagen und rannte hin. Und ich blieb mit vielen Gedanken einfach sitzen und sah dem blinkenden Blaulicht zu.

 

>>>Du wirst niemals mit Jemanden sprechen, Alice. Haben wir uns verstanden?“

Ich starrte meinen Vater an und knirschte mit den Zähnen.

Und warum nicht? Weil dann deine heile und perfekte kleine Welt nicht mehr perfekt ist? Los, sag schon! Was erwartest du von mir? Das ich es totschweige?“

Die Ohrfeige hatte ich nicht kommen sehen, daher traf sie mich auch noch härter. Nicht nur körperlich.

Ja, Alice! Du hast darüber zu schweigen. Ich will niemals mehr ein Wort darüber von dir hören. Vergiss das Ganze einfach wieder. Das wirst du ja wohl schaffen. Geh shoppen oder auf eine Party.“

Sollte das wirklich mein Vater sein? Es war nicht das erste Mal, dass ich ihn für keinen guten Vater hielt, aber jetzt... Wie konnte er etwas so Grausames von mir verlangen? Ich musste darüber sprechen. Mit einem Psychologen. Dringend. Aber genau das versagte er mir. Er ließ mir nicht die Hilfe zukommen, die ich so dringend brauchte.

Ein Schluchzen stahl sich aus meiner Kehle, heiße Tränen aus meinen Augen.

Ich verachte dich, Vater. Und ich werde schweigen. Für immer. Aber sei dir über eines bewusst: In den zwei Wochen dort... Da ist deine Tochter gestorben. Und du alleine bist dafür verantwortlich. Niemand sonst. Ich hasse dich!“

Dies waren die letzten Worte, die ich sprach. Ich wusste nicht mal, ob ich je wieder etwas sagen wollen würde... <<<

 

 

Kapitel 4

  Logan:

 

Der Umschwung ihrer Stimmung war mir natürlich nicht entgangen. Wie hätte es das auch? Auch wenn sie keinen Ton sagte, ich verstand sie so gut, als würde sie mir die ganze Zeit über Geschichten erzählen. Irgendwie ein wenig unheimlich, aber darüber konnte ich mir jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Es gab so viel Wichtigeres im Moment. Und dennoch...

Ich war mir mehr als nur einfach sicher, dass ich vollkommen richtig lag. Okay, ja, sie hatte ja zugestimmt, dass sie bewusst schwieg. Nur den genauen Grund kannte ich nicht. Und das wiederum gefiel mir nicht. Ich wusste gerne über die ganzen Dinge um mich herum Bescheid und bereitete mich dann dementsprechend auf die jeweilige Situation vor. In diesem Fall konnte ich es nicht.

Mir war bewusst, es musste etwas wirklich Schlimmes sein. Immerhin wachte man nicht einfach eines Morgens auf und dachte sich – ach, reden wir mal nicht mehr. Auch wenn ich es jetzt gar nicht wollte, oder brauchte, mein Gehirn arbeitete ohne Unterlass um das Rätsel um Alice zu lösen. Ich wollte sie nicht drängen. Als sie das Radio anstellte, wusste ich den Wink zu verstehen. Ende des Gesprächs. Wirkungsvoller hätte sie es mir gar nicht sagen können. Hier zeigte sich mal wieder: „Taten sagten mehr als tausend Worte.“

Wenige Augenblicke später bogen wir auf die Straße ein in der meine Mom und mein Bruder wohnten und ich sah als erstes das blinkende Blaulicht. Bei diesem Anblick wurde mir sofort schlecht. Alle Gedanken an Alice waren einfach weg und mein Kopf war einen Moment richtig leer.

Sie hatte den Wagen noch nicht mal ganz gestoppt, da schnallte ich mich ab und sprang heraus. Ich brauchte nur ein paar Schritte um bei meiner Mutter zu sein und zu sehen, wie mein kleiner Bruder auf einer Trage lag und in den Krankenwagen geschoben wurde. Sein Kopf war notdürftig bandagiert und er war total blass. Auch sein rechter Arm war in einen Verband gewickelt. Allerdings mit einer Schiene dazu. Das konnte ich deutlich erkennen. Meine Blut gefror als ich meine Mutter in den Arm nahm und sie an meiner Brust laut schluchzte. Mein Herz zerriss beinahe. Es war ja nicht das erste Mal und würde vermutlich auch nicht das letzte Mal bleiben.

„Schh, alles wird gut, Mom. Mach dir keine Sorge, er schafft das. So wie immer. Er ist ein starker Junge. Du kennst ihn doch. Dale haut so schnell nichts um.“ Sie nickte nur ganz schwach. Einer der Sanitäter drehte sich zu uns und fragte, ob wir mitkommen wollten. Wollten wir. Natürlich taten wir es. Ohne zu zögern stiegen wir beide zu meinem Bruder und fuhren mit ihm zum nächsten Krankenhaus. Dann hieß es einfach nur warten während er untersucht wurde.

Ich brachte meiner Mutter, und mir selbst, einen Kaffee und einen Schokoriegel aus dem Automaten uns gegenüber. Sie trank und aß ganz brav, sagte jedoch kein Wort. Das war auch gar nicht nötig. Wir saßen nebeneinander, hielten uns an der Hand und jeder betete still für sich alleine.

Es war schon fast drei Uhr, als endlich mal ein Arzt zu uns kam. Er führte uns zu Dale und erklärte unterwegs, dass mein kleiner Bruder einen gebrochenen Arm und eine schwere Gehirnerschütterung hätte. Den Arm hatten sie operieren müssen. Beim Kopf hieß es warten wie es sich die Nacht über entwickeln würde. Aber er sei auf den Weg der Besserung. Na immerhin etwas. Besser als wieder solche Sachen gesagt zu bekommen, wie schon mal vor zwei Jahren. Das war die reinste Hölle gewesen.

Ich atmete zutiefst erleichtert aus, schluckte dann aber verkrampft nachdem wir das Zimmer betreten hatten. So viele scheiß Maschinen und Schläuche! Ich hatte von diesem Anblick echt die Nase voll. Ich wollte es nicht mehr sehen. Meinen Bruder nicht mehr so erleben.

Wir setzten uns zu ihm ans Bett, wieder schweigend, und warteten einfach nur ab.

„Logan.“ Ich sah auf, in die sorgenvollen Augen meiner Mutter.

„Du solltest zurück und versuchen, etwas zu schlafen. Falls sich was bei Dale ändert, rufe ich dich sofort wieder an.“ Ich schüttelte den Kopf und wollte gar nichts davon hören. Wie konnte sie denken, dass ich sie jetzt alleine ließ? Nein, das konnte sie vergessen. Nicht mit mir. Ich machte mir doch so schon genug Sorgen um meinen kleinen Bruder. In fast jeder wachen Minute meines Alltags.

„Komm schon. Dale würde auch wollen, dass du ausgeruht bist. Und nein, denke gar nicht daran, mir zu widersprechen. Du magst ja erwachsen sein, aber du bist auch noch mein Sohn. Also los.“

Oh man, dagegen kam ich wohl schlecht an. Ich rieb mir den verspannten Nacken.

„Ja, vielleicht hast du Recht. Ich hab heute im Laden noch drei Kunden. Da sollte ich tatsächlich noch eine Mütze Schlaf haben.“ Sie nickte lächelnd.

„Na, siehst du. Aber wie kommst du eigentlich zurück? Wer hat dich denn zu uns gefahren?“

Alice!

Ich hatte sie vollkommen vergessen! Oh Scheiße! Ich musste sie ganz dringend anrufen. Es waren mittlerweile fast fünf Stunden vergangen. Ich hatte sie einfach in der Einfahrt stehen lassen. Hatte ihr nichts erklärt oder mich verabschiedet. Bedankt natürlich auch nicht. Ich war echt ein vollkommenes Arschloch!

„Okay, Mom, ruf an sobald sich was tut. Wenn nichts kommt, rufe ich dich nachher an. Und versuch auch noch etwas zu ruhen hier. Lass dir was zu essen bringen.“ Sie lächelte nachsichtig.

„Mach ich, versprochen. Bis nachher dann.“

Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und marschierte dann aus dem Krankenhaus um Empfang zu haben. Den gab es im Krankenhaus nur an wenigen Orten. Diese waren mir zwar bekannt, doch zunehmend brauchte ich auch noch frische Luft jetzt. Hier drin war es irgendwie erstickend und selbst mein Shirt, dass einen weiten Kragen hatte, fühlte sich an, als würde es mir am Hals die Luft wegdrücken.

 

Ich trat gerade aus der Eingangstür des Krankenhauses, nahm mein Handy zur Hand und wollte nun einen der Jungs anrufen – damit sie mich abholen kamen - da sah ich Jemanden auf der Bank gegenüber sitzen, mit dem ich ganz sicher nicht gerechnet hätte.

„Alice?“ Sie hatte bis eben in die Sterne geschaut, senkte nun aber den Kopf und sah mich an. Sie sah total müde und erschöpft aus, lächelte aber sofort und kam auf mich zu.

„Hast du etwa die ganze Zeit gewartet?“ Es musste zwar so sein, aber mein Hirn verarbeitete diese Information nur sehr träge. Auch die Frage, warum sie hier war brachte ich nicht heraus. Sie nickte leicht. Ihre Miene wurde besorgt, als sie kurz zum Eingang sah.

„Es... es geht ihm gut soweit“, erklärte ich, ohne das sie mich fragen musste. Ich wusste einfach, dass sie es wissen wollte. Und ich schuldete ihr wirklich eine Erklärung. Aber dazu war ich noch nicht bereit. Ich wollte nicht über meinen Bruder reden. Nicht jetzt. Viel zu sehr war ich nun wieder von der jungen Frau vor mir gefangen.

Sie hatte tatsächlich – nachdem ich sie einfach hatte stehen lassen – auf mich gewartet. Nein, mehr noch. Sie war zum Krankenhaus gekommen, weil sie wusste, ich musste irgendwie auch wieder zurück. Und das, nachdem ich kurz zuvor eine Wunde bei ihr eingerissen hatte. Auch dessen war ich mir sicher. Ich war ihr viel zu nah getreten.

Sie atmete erleichtert aus und fuhr sich durch die Haare. Anscheinend hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, was geschehen war und wie es Dale ging. Sie kannte seinen Namen nicht, kannte ihn nicht und dennoch hatte sie sich um ihn gesorgt. Ich wusste überhaupt nicht mehr, was ich denken sollte.

Aus einem Impuls heraus, streckte ich einen Arm zu ihr aus, schlang ihn um ihre Taille und zog sie fest an mich. Sie keuchte erschrocken auf, schob mich aber nicht weg. Als ich meinen Kopf neigte und in ihrem duftendem Haar vergrub, strich sie federleicht über meine Arme und dann den Rücken. Um mich zu trösten.

Mein Hirn schaltete wieder in den Leerlauf, drehte sich, hielt an, rotierte erneut. Mir wurde sogar davon schwindelig, dass sich nur meine Gedanken so im Kreis drehten. Es wurde mir einfach alles zu viel. Die ganzen Sorgen, Uni, Arbeit, Mom, Dale. Ich wusste nicht wie ich weiterhin mit allem klarkommen sollte oder konnte. Meine Freunde waren für mich da, wussten auch genau, was bei mir so alles abging, aber niemanden von ihnen ließ ich direkt rein in meinen Kopf. Ich wollte sie damit einfach nicht belasten. War ja schon schlimm genug, dass sie mir mehr als einmal den Arsch gerettet hatten, wenn ich mal wieder übers Ziel hinaus geschossen war.

Und nun stand ich hier mit Alice, mitten in der Nacht vor einem Krankenhaus, in dem mein Bruder mal wieder eingeliefert wurde. Dabei war das letzte Mal noch gar nicht so lange her. Und Gott sei Dank war es da auch nichts allzu Schlimmes gewesen. Heute sah es anders aus und ich war Alice wirklich dankbar, dass sie hier war. Warum auch immer sie das tat. Es war mir im Moment egal. Wichtig war einzig und allein, dass sie es war. Ich zog ihren Duft tief in mich ein. Vermutlich würde ich ihn nie wieder vergessen. Eigentlich wollte ich es auch gar nicht.

So standen wir noch einige Minuten herum – ich mit dem Gesicht in ihrer blonden Mähne – und hielten uns einfach nur im Arm. Schon seltsam. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein Mädchen einfach nur umarmt hatte. Meine Mutter bildete natürlich die Ausnahme. Es gefiel mir. Viel zu sehr. Wenn es nach mir ginge, hätten wir ewig hier bleiben können, doch so langsam wurde es immer später. Oder früh, je nachdem, wie man den Maßstab setzte.

Ich löste mich langsam von Alice, wobei sie ihre Hand an meinem Arm behielt. Sie sah mir forschend ins Gesicht.

„Ja, es geht mir wieder besser“, beantwortete ich ihre stumme Frage. Sie lächelte sofort wieder etwas, leider etwas zu verhalten für meinen Geschmack. Auch wenn ich versucht hatte sie zu ignorieren, mein Blick war immer wieder wie magisch zu ihr gewandert. Sie hatte es nicht mal mitbekommen, dass ich sie ständig beobachtete. Wann immer ich sie zufällig sah.

„Wir sollten besser versuchen, noch etwas Schlaf zu bekommen.“ Auch wenn heute Samstag war, ich musste noch zur Arbeit in wenigen Stunden. Und Alice konnte auch eine Mütze voll Schlaf vertragen.

„Lass mich fahren. Keine Sorge, deinem Auto wird nichts passieren. Du siehst nur hundemüde aus, Süße.“ Sie hob kurz eine Schulter. Ich sollte daraus wohl keine große Sache machen. Für mich war es das aber. Dieses Mädchen hatte mir heute Nacht etwas geschenkt. Etwas Besonderes. Nämlich ihr Vertrauen, nachdem ich mich doch ziemlich unmöglich benommen hatte.

Alice zog den Schlüssel aus ihrer Handtasche und reichte ihn mir. Gemeinsam gingen wir zu ihrem Wagen. Ich musste mich ein wenig zusammen reißen, um nicht ihre Hand zu nehmen. Die Berührung eben hatte gut getan, ich wollte mehr davon aber das ging nun wirklich nicht. Sie hatte schon genug Ballast mit sich herum zu tragen. Da konnte sie unmöglich meinen Mist auch noch gebrauchen. Jedoch gab ich mich kurz der Vorstellung hin.

 

Die Fahrt verlief sehr ruhig, selbst das Radio blieb aus, und ich hatte auch keine Ahnung, was ich hätte sagen können. Im Moment ging mir selbst einfach viel zu viel durch den Kopf. Nicht nur das mit meinem Bruder, auch die Frau an meiner Seite befand sich jetzt permanent in meinem Kopf, was merkwürdig nach dieser kurzen Zeit war. Zumal ich ja schon extra versucht hatte, ihr aus dem Weg zu gehen, beziehungsweise sie sogar zu meiden.

Beim Campus angekommen gingen wir langsam zum Wohnhaus und stiegen die Treppen hinauf. Ihr war es vielleicht gar nicht aufgefallen, aber wir waren sogar direkte Nachbarn. Daher sah sie mich auch so verwirrt an, als ich vor der Tür stehen blieb die direkt neben ihrer lag. Ich erwiderte ihren Blick ganz sanft.

„Ja, wir sind Nachbarn“, schmunzelte ich. Endlich lächelte sie wieder – wenn auch nur ganz leicht und etwas unsicher - und tat dann etwas, was ich überhaupt nicht von Frauen gewohnt war. Sie zeigte mir den Daumen hoch und zwinkerte dabei. Mein Herz klopfte ganz kurz viel zu schnell.

„Danke, Alice. Für alles heute Nacht.“ Ich sah sie dabei ernst an. Sie sollte wissen, dass es mir etwas bedeutete. Nicht jeder hätte das getan, was für sie anscheinend selbstverständlich war. Das hinfahren zu meiner Familie ja noch, war kein so weiter Weg, aber dass sie dann auch zum Krankenhaus gekommen war und sogar gewartet hatte... DAS würde wirklich nicht jeder tun. Erst recht nicht, wenn man davor versuchte, ihn immer zu ignorieren.

Sie nickte mir erneut zu. Und wieder konnte ich den Drang nicht widerstehen und zog sie in eine sanfte Umarmung. Ihre Hände kamen auf meinen Armen zum liegen und ihre Finger strichen sanft daran entlang. Viel zu schnell ließ ich sie wieder los. Sie lächelte nun etwas verhalten, aber darüber machte ich mir jetzt keine Gedanken. Ich nickte ihr nun zu, schloss meine Tür auf und verschwand nach drinnen. Da ich alleine war, hörte ich die Tür von nebenan auch auf und dann gleich zugehen.

Normalerweise hätte ich ja warten müssen, bis sie in ihrer Wohnung verschwunden wäre, doch das hätte ich gar nicht gekonnt. Sie in meinen Armen... das war beim zweiten Mal noch viel besser als beim ersten Mal. Ich seufzte schwer und fuhr mir durch die Haare.

„Logan?“ Ich zuckte leicht zusammen und sah zu Jace, der total verschlafen in seiner Zimmertür stand. Ich ging ihm entgegen, schweigend. Naja. Gut, ich redete eh nie wirklich viel. Nicht immer jedenfalls.

„Wo warst du denn? Du bist so plötzlich verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Wir haben uns Sorgen gemacht. War was mit deiner Mom oder Dale?“ Meine Freunde kannten Teile der ganzen Wahrheit, aber nicht alles. Sie wussten nicht über alles, was Dale betraf, Bescheid.

„Ja, Dale hatte einen Unfall. Er liegt im Krankenhaus. Mom ist bei ihm. Sie hat mich zum Schlafen weggeschickt“, murmelte ich abwesend. An Schlaf war absolut nicht zu denken, konnte ich schon jetzt vergessen. Ich brauchte es nicht mal zu versuchen. Dennoch legte ich mich kurz darauf auf mein Bett und starrte an die Decke. Ich war ehrlich froh, dass Jace nicht weiter nach fragte, wusste aber dafür auch sehr genau, dass es später anders aussah. Für den jetzigen Zeitpunkt war er einfach viel zu müde. So wie ich es auch sein sollte aber nicht war.

Ich drehte mich immer wieder von einer Seite zur nächsten. Ob Alice wohl schlafen konnte? Bestimmt. Sie schien mir der Typ zu sein, den nichts so schnell aus der Ruhe brachte. Ich musste dabei leicht lächeln. Sie hatte die Umarmungen einfach so hingenommen, mich getröstet. Ich konnte es noch immer nicht so ganz fassen, beschwerte mich aber auch nicht.

Verdammt! Ich dachte schon wieder an sie. Das musste unbedingt aufhören. Vielleicht sollte ich mir heute Abend doch mal wieder eine zum ficken suchen. Es konnte auf jeden Fall nicht schaden, es auf einen Versuch ankommen zu lassen, denn Fakt war: Alice konnte und durfte ich nicht anrühren, egal wie sehr mein Schwanz – leider auch etwas anderes in mir – auf sie reagierte. Alice war in vieler Hinsicht für mich tabu. Aber ich konnte ihr ja vielleicht ein Freund sein. Nicht ganz so sehr Arschloch. Als kleines Dankeschön für heute Nacht, denn sie hatte mir wortwörtlich den Arsch gerettet.

Mit diesem Gedanken im Kopf, schlief ich dann tatsächlich irgendwann mal endlich ein. Aber es war kein besonders ruhiger oder erholsamer Schlaf. Ich wälzte mich nur hin und her. Die Bilder in meinem Kopf verstummten nicht. Das taten sie nie. Tag oder Nacht, Sonne oder Regen, es war ihnen egal...

 

 

 

Alice:

 

 

Ich betrat die Wohnung mit schnell klopfendem Herzen. Was, in drei Teufels Namen, war da eigentlich gerade genau passiert? Lautlos schlich ich mich in mein Zimmer – falls doch noch jemand ganz bestimmtes wach war und mich ausquetschen würde – und setzte mich im Dunkeln aufs Bett.

Im Geiste spielte ich die letzten Stunden noch mal nach. Angefangen mit Logan der an meine Tür geklopft hatte, über das Gespräch im Auto und schließlich, wie ich dem Krankenwagen nachsah. Ich hatte nur etwa drei Sekunden gezögert und war dem Wagen dann rasch gefolgt.

Zuerst hatte ich mir noch eingeredet, ich wollte nur sicher gehen, dass Logan wieder zurück zur Wohnung kam, doch eigentlich war ich tierisch besorgt um die Person, die eingeliefert werden würde. Ich wusste nicht genau, wer er war oder was passiert war, aber ich wusste mit absoluter Sicherheit, er bedeutete Logan eine ganze Menge. Ebenso wusste ich, Logan würde einen Freund brauchen. Oder zumindest jemand, mit dem er reden konnte, wenn er es denn wollte. Mein Gefühl hatte mir allerdings sehr deutlich mitgeteilt, dass er es wollte. Selbst dann, wenn er es sich nicht eingestehen konnte.

Ich hatte in einer Seitenstraße abgewartet, bis die Person im Krankenwagen, samt Logan und seiner Mutter, in der Notaufnahme verschwunden waren. Erst dann war ich näher gefahren, hatte einen Parkplatz gesucht und mich kurze Zeit darauf auf die kleine, grüne Bank vor dem Haupteingang gesetzt. Mir war überhaupt nicht bewusst, wie lange ich dort saß. Immer wieder glitten meine Gedanken zu dem Mann, dem ich geholfen hatte. Ich wurde aus ihm einfach nicht schlau. Es war zum verrückt werden. Allen voran die Tatsache, dass ich über ihn alles wissen wollte.

Sein Geständnis, dass er mich bewusst ignorierte hatte, stach ein wenig in meiner Brust. Ich atmete tief durch und sah in den Himmel hinauf. Ich konnte einige Sterne erkennen da wir eine Wolkenlose Nacht hatten. Die Zeit schritt nur so voran. Zwischendurch hatte ich doch mal auf die Uhr gesehen, mich etwas erschrocken und wieder tief durchgeatmet. Ich sollte in meinem Bett sein und lesen. Oder lernen. Vielleicht sogar beides miteinander verbunden. Stattdessen hatte ich dort gehockt und auf Logans Rückkehr gewartet. Oder auf irgendein Zeichen, was nun wirklich los war. Eigentlich total idiotisch. Ich kannte diese Leute, Logan ausgeschlossen, ja überhaupt nicht und dennoch ließ es mich nicht los.

Und dann kam Logan raus, mit hängenden Schultern und er sah total niedergeschlagen aus. Unsere Blicke trafen sich und genau in dem Moment, als er mich total verwirrt und ungläubig ansah, da passierte etwas mit mir, was ich so gar nicht verstand. Seine Umarmung ließ mein Herz so viel höher schlagen.

Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren, war fast schon gelähmt, und doch fühlte es sich viel zu gut an. Megan war in den letzten Jahren die Einzige gewesen, von der ich Herzlichkeit bekommen hatte. Meine Eltern interessierte so etwas – in ihren Augen – Unwichtiges nicht. Und selbst wenn, ich hätte es von den beiden überhaupt nicht gewollt. Von Logan hätte ich so etwas gar nicht erst erwartet, er überraschte mich immer mal wieder. Obwohl wir uns jetzt erst gute drei Wochen kannten, fühlte ich irgendeine Verbundenheit. Das war total verrückt! Wie konnte man sich mit jemanden verbunden fühlen, den man kaum bis gar nicht kannte? Es gab nur diese drei Wochen und in denen hatten wir nun wirklich nicht so etwas wie Kontakt oder dergleichen. Ich wusste nicht, was ich denken oder tun sollte. Alles verwirrte mich, seit ich hier angekommen war. Ich wusste nur, es war richtig gewesen, zum Krankenhaus zu fahren und auf ihn zu warten. So absolut richtig. Spätestens sein Danke zeigte mir wie richtig meine Entscheidung gewesen war.

Schwer seufzend ließ ich mich nach hinten fallen und starrte ihm Dunkeln an die Decke. Die Straßenlaterne warf den Schatten von ein paar Ästen daran und ich musste irgendwie lächeln. Diese Nacht war wirklich surreal und meine Gedanken, vor allem aber mein Herz, fuhr Achterbahn. So richtig die Sache mit dem Krankenhaus auch war, so falsch waren diese anfänglichen Gefühle für Logan. Mir war bewusst, es war keine Liebe oder so ein Blödsinn – daran glaubte ich nämlich schon lange nicht mehr – aber etwas war da. Wollte ich es genauer herausfinden? Ja und nein. Mir war etwas mulmig zumute wenn ich daran dachte, dass ich vielleicht Zeit mit Logan verbringen würde oder könnte. Sein Geständnis mit dem Ignorieren hatte mir doch eh schon total zugesetzt.

Seufzend stand ich wieder auf, ging langsam und leise ins Bad und machte nur eine kurze Katzenwäsche, duschen konnte ich nach dem Schlafen gehen, ehe ich mich ausgezogen ins Bett legte. Obwohl ich eigentlich gedacht hätte, nicht schlafen zu können wegen dem Chaos im Kopf, schlief ich dennoch rasch ein.

 

Als ich einige Stunden später die Augen wieder aufschlug, war ich leicht verwirrt. Ich fühlte mich noch immer total müde und ein Blick auf´s Handy zeigte mir auch, dass ich gerade einmal fünf Stunden geschlafen hatte. Ich war mir so sicher gewesen, nicht vor dem Mittag aufzuwachen. Doch dann hörte ich den Grund, vor meiner Zimmertür. Oder so gut wie, da das Wohnzimmer ja auch dort war.

„Komm schon, schönste und tollste Frau der Welt, lass mich zu ihr. Sie ist eine echte Heldin!“ Jace! Das war eindeutig seine Stimme. Aber was wollte er um diese Uhrzeit hier? Und wer war eine Heldin? Ich verstand die Welt nicht mehr, zuckte mit den Schultern und atmete kurz, aber tief, durch. Egal. Ich würde es schon früh genug herausfinden, wenn ich in einigen Stunden aufstand. Hey, immerhin war Samstag und die meisten würden wegen irgendeiner Party gestern, sicherlich auch lange im Traumland verweilen.

Ich drehte mich mit dem Rücken zur Tür, schloss die Augen und wollte einfach nur noch weiterschlafen. Ich brauchte noch mindestens gute drei bis vier Stunden, sonst war kaum was mit mir anzufangen. So sah mein Plan jedenfalls aus. Jace schien da allerdings vollkommen andere Pläne zu haben, denn erneut hörte ich lauten Radau vor meiner Tür, aufgebrachte Stimmen und sogar ein sattes Schnauben von Emily. Im nächsten Moment wurde meine Zimmertür aufgerissen und aus einem Reflex schrie ich erschrocken auf, nur um mich im Bett aufzusetzen. Dabei vergaß ich vollkommen, dass ich gestern Nacht nur mit Slip geschlafen hatte. Hieß nun also, Jace hatte eine gute Aussicht auf meine Brüste. Meine nackten Brüste.

Er sah von meinem Gesicht abwärts und schnappte nach Luft. Und sei das nicht genug Peinlichkeit, kam in diesem Moment auch noch Logan hinter ihm zum Vorschein.

„Jace, lass sie in...“ Seine Worte erstarben, als auch er mich ansah. Ich sah wie sein Adamsapfel hüpfte beim Schlucken und ebenso wie bei Jace, sein Blick Richtung Süden wanderte. Dieser Blick verursachte mir eine Gänsehaut. Und dann erst dämmerte mir, was die beiden so anglotzten. Ich sah an mir herab und wollte augenblicklich im Erdboden versinken. Beschämt zog ich meine Decke über die Brüste und klammerte mich an den warmen, weichen Stoff. Erdboden, bitte tu dich auf und verschling mich!

„Was auch immer ihr genau um diese Uhrzeit hier wollt, lasst das arme Mädchen doch erst einmal ein wenig wach werden und sich was anziehen.“ Danke, Aileen!, dachte ich nur und schloss die Augen. Etwa drei Sekunden später hörte ich meine Zimmertür zugehen. Erleichtert nahm ich die Decke weg und öffnete dabei die Augen. Sofort zuckte ich zusammen. Nein, natürlich war ich nicht alleine im Zimmer. Wie sollte es auch anders sein. Aber blamieren konnte ich mich jetzt eh nicht noch mehr. Denn hey, soeben hatten mich zwei fast gänzlich unbekannte junge Männer abgecheckt und meine Brüste begutachtet.

Logan´s Blick, wie er mit vor der Brust verschränkten Armen an meiner Zimmertür stand, ging mir durch und durch. Ich wollte auf keinen Fall, dass er sah, wie verunsichert ich war. Also gab ich mich total lässig, widerstand dem Drang, meine Brüste zu bedecken und ging zum Kleiderschrank. Dabei erwiderte ich seinen Blick herausfordernd. Wenn er schon hier drinnen stand, sollte er mir besser sofort sagen, warum das so war.

„Warum hast du nur diesen winzigen Stofffetzen an? Nein, warte, ich will es eigentlich gar nicht wissen. Die Hasen an deinen Füßen gestern Abend reichen schon.“ Ohne es zu wollen, kicherte ich einfach drauf los. Logan sah mich richtig verwundert an und zog eine Augenbraue hoch, doch auch um seine Mundwinkel zuckte es. In diesem Moment machte es mir fast gar nichts aus, fast vollständig nackt vor ihm herumzulaufen. Seit gestern Abend hatte sich etwas verändert. Egal was es war, es ging von beiden Seiten aus, nicht nur von mir.

„So, das findest du also lustig?“ Ich nickte sofort und zog mir rasch einen BH und ein Top an. Ein knielanger Rock folgte sofort. Er seufzte leise und ließ die Arme sinken. Ich bewunderte kurz das Spiel seiner Armmuskeln dabei.

„Tut mir leid, wegen Jace grade. Ich habe ihm erzählt, dass du so freundlich warst und mich zu meiner Mutter gebracht hast. Und auch, dass du auf mich gewartet hast. Er liebt meinen kleinen Bruder mindestens so sehr wie ich und deswegen...na ja... Ich denke, du wirst dich dran gewöhnen müssen, dass du für ihn jetzt so eine Art Heldin bist.“ Hatte ich kein Problem mit, denn ich hatte Logan echt gern geholfen. Und nun wusste ich auch endlich, wer aus seiner Familie ins Krankenhaus musste. Er hatte zwar gesagt, es würde IHM gut gehen, aber nicht erklärt, wer er denn war. Nun war ich noch glücklicher, dass es seinem Bruder den Umständen entsprechend gut ging. Nun ja, wenn es denn stimmte. Seine Miene hatte nämlich nichts als Sorge ausgedrückt. Mhh...

Ich runzelte die Stirn als ich ihn ansah. Er wirkte genauso müde wie ich mich fühlte und immer noch total bedrückt. Aus einem Impuls heraus, ging ich dichter zu ihm, legte eine Hand auf seinen Arm und drückte diese Stelle ganz kurz. Um ihm zu zeigen, dass ich da war. Natürlich wusste ich absolut nicht, ob es ihm half oder eher nervte. Das konnte nur er alleine entscheiden, doch das Aufblitzen in seinen Augen, war Antwort genug. Es gefiel ihm definitiv. Gut. Das erleichterte mich ungemein.

„Wie kommt es nur, das eine einzige Berührung von dir sich so anfühlt, als würden die Sorgen verblassen?“, fragte er mich ruhig. In seinen Augen tobte allerdings ein Sturm. Ich zuckte nur mit den Schultern und ließ seinen Arm wieder los. Leider. Ich konnte ihm keine Antwort auf seine Frage geben, selbst dann nicht, wenn ich sprechen würde. Weil es darauf keine Antwort geben konnte von mir. Nur er alleine war dazu in der Lage. Wenn er es also nicht wusste, wer dann?

Ach Mist, es machte keinen Sinn, ich musste es mir eingestehen. Logan war eine echte Versuchung und ehrlich, ich konnte wirklich schwer widerstehen, musste es jedoch. Ich hatte keine Zeit für so etwas – wusste nicht mal, ob ich es wollte – und er machte auch nicht den Eindruck, als würde er so etwas kompliziertes wirklich gebrauchen. Er brach den Blickkontakt auch als erster gänzlich ab, räusperte sich und fuhr sich durch die Haare.

„Du solltest dir echt mehr anziehen zur Nacht. Wie man sieht, kann man nie wissen, wer nicht so alles ungefragt ins Zimmer kommt. Also, nicht das der Anblick nicht schön gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Also, ich meine... Oh man, das kommt echt falsch rüber. Tut mir leid, Alice.“

Obwohl er sichtlich beschämt war, konnte ich nur daran denken, wie er meinen Namen gesagt hatte. Hatte er ihn überhaupt schon mal benutzt? In diesem Moment konnte ich mich nicht daran erinnern. So ein Mist! Ich nickte, lächelte brav, und zwinkerte auch noch. Ich wollte ihm die Befangenheit nehmen. Warum auch immer.

„Okay, gut, dann...also... Ich geh dann mal besser. Vermutlich werde ich mir von Jace eh gleich was anhören dürfen, weil ich im Zimmer geblieben bin und ihn rausgeschmissen habe.“ Nun grinste er leicht und brachte mich mit seinen Worten wieder zum kichern. Seit ich hier war, war ich eh oft guter Laune und es fühlte sich toll an. Ich hoffte nur, es würde weiterhin so bleiben. Und, dass Logan und ich vielleicht wirklich Freunde wurden. Das könnte mir echt gut gefallen.

Mit einem Zwinkern seinerseits, verließ er mein Zimmer und ließ mich mal wieder mit ständig wechselnden Gedanken und Gefühlen zurück. Oh Weih!

 

Kapitel 5

  Logan:

 

 

 

Ich atmete tief durch, ganz tief, und lehnte mich von außen gegen ihre Zimmertür. Heiliger Bimbam! Wenn ich bisher noch geglaubt habe, ich könnte versuchen sie nur als Freundin zu sehen, so wurde ich nun eines Besseren belehrt. Der Anblick ihrer Brüste hatte sich sofort auf meine Libido ausgewirkt. Oh Shit! Jace kam grinsend auf mich zu, legte einen Arm um meine Schultern und zog mich von ihrer Tür weg. Sein Grinsen war dreckig und durchtrieben, so wie ich ihn kannte.

„Ich muss schon sagen, geile Titten.“ Bei dem Wort zuckte ich minimal zusammen. Ich knurrte ihn an und schüttelte seinen Arm ab. Wieso hatte er es auch sehen müssen? Und das auch noch vor mir?! Okay, das war unsinnig. Ich verspürte Eifersucht, die nicht angebracht war. Dennoch war sie da und ließ sich nicht einfach so verscheuchen.

„Hör auf, darüber zu sprechen. Und glotz sie nicht mehr so an. Lass die Finger von ihr.“

Er hob die Hände und sah mich verwundert an.

„Hey, ganz ruhig, Brauner. Ich werde dein Mädchen schon nicht anrühren. Die Mädels von meinen Freunden sind tabu, das weißt du doch ganz genau. Ich würde dir nie ein Mädchen wegschnappen. Auch wenn sie so tolle Brüste hat wie Alice.“ Ich erstarrte. Was hatte er gesagt? Mein Mädchen? Und was sollte der restliche Unsinn? Ich verstand es wirklich nicht, aber ich wollte nicht, das er über ihre Brüste sprach. Nicht mal, das er sie versehentlich zu Gesicht bekam.

„Sie ist nicht MEIN Mädchen, Jace. Ich hab überhaupt keine Zeit für so ein Unsinn wie eine feste Freundin.“ Er grinste frech.

„Dass du keine Zeit hast, heißt nicht, dass sie dir nicht gefällt, Lo, und das tut sie auf jeden Fall. Ich hab auch keine Ahnung, was da zwischen euch ist, aber wenn man euch zusammen sieht, muss man einfach nur kotzen, so niedlich seid ihr.“ Nun musste ich doch lachen.

„Du spinnst, mein Freund. Hat dir das schon mal jemand gesagt? Hast du nichts wichtigeres zu tun? Es wundert mich eh, das du nicht als Schnapsleiche in deinem Bett liegst.“ Das wunderte mich tatsächlich. Vor allem ärgerte es mich wirklich nur deswegen, weil er ihre Brüste deswegen zu Gesicht bekommen hatte. Shit! Ich steckte echt in der Klemme.

„Um ehrlich zu sein, ich hab das schon ziemlich oft zu hören bekommen. Und nein, ich hab nichts wichtigeres zu tun, als schöne Frauen und schöne Brüste anzusehen!“ Lachend wich er meiner Faust aus, mit der ich ihm gegen die Brust boxen wollte. Scheiß Kerl! Scheiß bester Freund! Ich grinste leicht, wobei ich mich neben Em auf die Couch sinken ließ. Jace tigerte im Raum umher, grinste wie ein Honigkuchenpferd und sah mich immer mal wieder an. Meistens begleitet von einem Kopfschütteln. Ich hätte echt zu gerne gewusst, was in diesem Moment in seinen Kopf vor sich ging.

„Hey, jetzt bleib doch mal ruhig stehen oder schwinge deinen heißen Arsch auf den Sessel.“ Emily´s Stimme, vor allen Dingen der Ton darin, ließ mich erneut schmunzeln.

„Heißen Arsch? Du findest, ich hab echt nen heißen Arsch?!“ Das war so klar gewesen! Natürlich hörte Jace nur das, was er hören wollte. Gut, würde mir nicht anders ergehen. Wenn es ein bestimmtes Mädchen zu mir sagen würde auf jeden Fall.

„Nein. Ich hab nicht gesagt, das du einen heißen Arsch hast. Ich meinte damit, dass dein Arsch vom vielem Laufen schon ganz heiß gelaufen sein muss“, grinste Emily frech. Jace klappte der Mund auf. Es passierte leider viel zu selten, dass mein bester Freund sprachlos war. Darum genoss ich diese Momente auch jedes Mal aufs Neue. Emily brummte zufrieden. Ihr erging es vermutlich wie mir. Erst ein Kichern ließ uns alle aufhorchen. Jace klappte den Mund wieder zu und drehte sich zur Quelle des Geräusches.

Alice stand in der Tür und grinste. Das war tatsächlich ein sehr schöner Anblick, ihr Lächeln.

„Liebste Alice!“, begann Jace ganz ohne Vorwarnung, ging zu ihr und legte ihr einfach so einen Arm um die schmalen Schultern. Irgendwie spannte ich mich ein wenig an, auch wenn ich gar kein Recht dazu hatte. Leider schien Alice nichts dagegen zu haben und ließ ihn machen. Okay, sie sah neugierig aus. Sie wollte ganz eindeutig wissen, was der Kerl jetzt schon wieder im Schilde führte nach der Sache von eben. Sie zog eine Augenbraue hoch. Jace grinste nur noch frecher.

„Du musst mir unbedingt beistehen, wo du doch eh schon eine Heldin bist. Und Helden helfen immer, wenn jemand sie braucht. Und glaub mir, ich brauche dich im Moment sehr.“ Em und ich verdrehten fast Zeitgleich die Augen. Warum musste dieser Kerl wegen jeder Kleinigkeit so sehr übertreiben? Kaum zum aushalten.

„Jace, ich schwöre dir, wenn du Alice nicht augenblicklich in Ruhe lässt, darfst du einen ganzen Monat nicht zu uns rüber kommen. Und dazu kommt noch, dass du auch keine Cupcakes von mir in dieser Zeit bekommst.“ Wenn ich meinem Kumpel nur ein wenig gleichen würde, würde ich genau jetzt, Emily zu einer Heldin ernennen, denn erneut verfiel Jace in Sprachlosigkeit. Ein Zustand, an den ich mich durchaus gewöhnen könnte.

„Du bist absolut grausam, Emily Ashton“, knurrte Jace beleidigt. Mir wurde das Ganze hier nun doch etwas zu bunt, ebenfalls zu laut, und ich war unglaublich dankbar, als genau in dem Moment mein Handy klingelte. Ich sah das Bild meiner Mutter auf dem Display und nahm sofort ab.

„Hey, wie geht es Dale?“, fragte ich ohne Umschweife. An ihrer Stimme, bei der Antwort, hörte ich ein Lächeln heraus. Das war schon mal sehr gut.

„Er ist aufgewacht und beklagt sich schon wieder über die Langeweile im Bett und das er nichts außer einer Suppe zu essen bekommt. Du kennst doch deinen Bruder.“ Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Es war mehr als nur Erleichterung, die ich in diesem Moment verspürte. Es war, als würde man mir einen riesigen Stein von der Brust nehmen. Jedes Mal wenn Dale einen Unfall hatte, war in meinem Unterbewusstsein, dass es sein letzter gewesen sein könnte. Und dieses Gefühl wirklich jedes Mal zu haben, war mehr als nur Scheiße! Umso glücklicher war ich dann auch immer, wenn es noch mal gut ausging.

Ich öffnete die Augen wieder, weil mich jemand am Arm berührte. Mein Blick traf auf Alice. Mit besorgten Augen sah sie zu mir hoch, doch mein einziger Gedanke war, dass ich ihre Lippen zu gern gekostet hätte. Mist!

„Ja, Mom, das stimmt auch wieder. Ich komm gleich ins Krankenhaus. Sag Dale, er muss noch kurz warten. Vielleicht bringe ich ihm auch noch was zum naschen mit, mal schauen.“

„Ist gut, Schatz. Und fahr vorsichtig, bitte.“

„Natürlich.“ Ich verabschiedete mich und lächelte Alice ganz leicht an.

„Es geht ihm gut, er ist wach“, informierte ich sie. Nun war sie es, welche die Augen schloss und erleichtert ausatmete. Sofort überrollte mich eine Welle der Zärtlichkeit für diese junge Frau. Sie zeigte so offen, welche Sorgen sie sich um meinem Bruder gemacht hatte, obwohl sie ihn gar nicht kannte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie immer so war und das erwärmte mein Herz noch ein Stück weit mehr.

Ich konnte gar nicht anders, als ihr kurz über die Wange zu streichen. Sie zuckte ganz leicht zusammen, hielt aber ansonsten absolut still. Als würde sie noch abwarten, was ich vorhatte und dann erst entscheiden, wie sie sich schlussendlich verhalten sollte. Süß. Also irgendwie jedenfalls.

„Ich danke dir wirklich für gestern.“ Wieder schenkte sie mir ein kleines Lächeln und zuckte mit den Schultern. Ja, für sie schien es normal zu sein, zu helfen, wenn jemand Hilfe benötigte. Diesen Charakterzug hatten nicht viele Menschen. Meine Freunde besaßen ihn alle, weswegen sie auch meine Freunde waren und nicht nur Bekannte. Dennoch wussten selbst sie nicht alles von mir. Das tat niemand und so sollte es auch bleiben. Mein Leben war einfach sehr kompliziert. Kein Wunder also, dass ich auch keine feste Freundin hatte und auch nicht die Absicht verfolgte, so schnell eine zu haben. Sie müsste ständig an zweiter Stelle stehen und keine Frau machte so etwas lange mit. Für mich war es so: wenn mein Bruder mich brauchte, war ich zur Stelle. Ganz gleich in welcher Situation ich mich gerade befand. Und ja, es war durchaus auch schon vorgekommen, dass ich mitten beim Sex plötzlich weg war.

Sie nahm meine Hand, die von ihrer Wange, in ihre kleinen Hände und drückte sie kurz. Oh man, diese Frau war ein Engel und Teufel zugleich. Es war echt leicht, sie gern zu haben. Das konnte ich mir nicht erlauben, wollte es nicht. Ich war ihr ehrlich dankbar, wirklich, aber zu mehr durfte und wollte ich es nicht kommen lassen.

Brüsk entzog ich ihr meine Hand, was zu einem verwirrten Ausdruck in ihren schönen Augen sorgte. Klar, dieses Verhalten verstand sie jetzt nicht, nachdem ich nur wenige Sekunden zuvor selbst über ihre Wange gestrichen hatte.

„Sorry, wir sind nicht alleine und diese beiden Aasgeier dort drüben, würden alles, was wir tun, gegen uns verwenden.“ Alice sah zu Jace und Em herüber, die uns tatsächlich beobachteten, als würden sie auf pikante Dinge warten. Pech für sie, das würden wir ihnen sicher nicht liefern.

Wieder zuckte Alice mit den Schultern, sah mich noch einmal nachdenklich an, ehe sie zu Emily herüber ging und dieser einfach die Kaffeetasse aus der Hand nahm. Em wollte protestieren, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Dann seufzte sie und ließ Alice tatsächlich davonkommen. Mhhh.

 

Eine knappe halbe Stunde später fand ich mich im Krankenhaus wieder und ging zielstrebig ins Zimmer meines Bruders. Er sah mir lächelnd entgegen, wohingegen ich zuerst Mom begrüßte. Sie wirkte total übernächtigt und Sorge erfasste mich. Dale begrüßte ich nur kurz, da ich meine Mutter dazu bringen wollte, nach hause zu fahren.

„Nimm dir ein Taxi und fahr nach hause, Mom. Du brauchst dringend Schlaf.“

„Das sage ich ihr auch schon seit einer Stunde“, schnaubte mein kleiner Bruder. Zumindest dahingehend waren wir uns also absolut einig. Für mich war es schon so manches Mal echt anstrengend, ständig wegen Dale auf dem Sprung zu sein, doch sie traf es jedes Mal noch um ein vielfaches härter.

„Ach, macht euch keine Sorgen, ich bin fit wie ein Turnschuh.“ Der Vergleich ließ mich zwar schmunzeln, doch die dunklen Ringe unter den Augen meiner Mutter, taten mir im Herzen weh. Ich versuchte es zu verdrängen, doch in diesen Moment traf mich die Schuld mit einer solchen Wucht, dass ich daran zu ersticken drohte. Egal wie viel Zeit verging, diese Last wurde ich nicht los. Niemals. Und damit hatte ich zu leben gelernt. Ich richtete sogar alles danach aus, egal um was es sich handelte.

Ich setzte mich auf den zweiten freien Stuhl und lehnte mich zurück. Dass er wach war, war die beste Nachricht der ganzen Woche. Dass er überhaupt hier war, die schlechteste. Ich sah Dale an, der mit meiner Mutter plauderte, ehe diese sich tatsächlich dazu entschloss, nach Hause zu fahren um ein wenig zu schlafen. Als sie das Zimmer verließ, sah ich ihr total besorgt hinterher und starrte auch noch ein paar Minuten später die geschlossene Tür an. So ging es absolut nicht weiter. Ich musste dringend eine andere Lösung finden. Mehr bei den beiden sein, auch wenn meine Mutter und Dale darauf drängten, dass ich beim Campus lebte, um das normale Unileben genießen zu können. Neben dem Studium und der Sorge um Dale, ging ich auch noch vier Tage die Woche Nachmittags arbeiten. Davon hatten die beiden allerdings keine Ahnung und zu meinem Glück, hatte ich meinen Arbeitsplatz noch nie verlassen müssen für einen Notfall. Würde vermutlich nicht besonders gut kommen und die Kunden würden dafür sicher auch wenig Verständnis haben.

„Logan, du kannst auch wieder fahren. Mir geht es echt gut soweit und ich werde hier bestens betreut“, holte Dale mich aus meinen Gedanken heraus. Ich sah ihn nachdenklich an und fuhr mir dann kurz durch die Haare, die eh schon total unordentlich waren.

„Ja, das weiß ich, aber...“

„Nein! Nicht schon wieder das, großer Bruder! Diese Unterhaltung haben wir definitiv oft genug geführt und ich bin es Leid, dieses Thema immer wieder durch zu kauen“, unterbrach er mich unwirsch. Ich schmunzelte fast bei seinem Tonfall. Aber nur fast.

„Aber es ist nun mal eine Tatsache, dass...“

„Ja, mag sein, aber ändern können wir doch eh nichts. Es ist falsch, sich immer nur Vorwürfe zu machen. Und wir sind beide Schuld, nicht nur du, Logan. Ich hatte es auch gewollt, dich sogar gedrängt dazu.“

Ich fuhr mir durch die Haare und übers Gesicht. Es stimmte, was er sagte, doch das machte es noch lange nicht besser oder wieder gut. Ich hatte einen viel zu großen Anteil daran. Unwillkürlich musste ich an Alice denken, keine Ahnung warum genau, und an ihre Reaktion, als ich meine Vermutungen angestellt hatte. Ich war da ganz sicher auf einen wunden Punkt gestoßen, den sie nicht offenbaren wollte. Dennoch war ich mir sicher, ihre Stummheit, von der sie ja selbst zugestimmt hatte, es so gewollt zu haben, rührte von diesem Erlebnis, das ich angerissen hatte. Und verdammt, ich wollte es wissen! Nur warum? Ich verstand es selbst nicht, aber es war so.

„Okay, okay, du hast gewonnen. Ich werde es eine Weile nicht ansprechen. Das heißt aber nicht, dass ich es vergessen werde, Dale. Das wird niemals geschehen.“

„Glaubst du denn, ich werde es jemals vergessen? Jedes Mal wenn so etwas wie gestern geschieht, hab ich es wieder vor Augen und verdamme mich selbst dafür. Du hast nichts weiter gemacht, als mich vor noch schlimmeren zu bewahren, Logan. DAS solltest du immer im Kopf behalten und nichts anderes.“

Ich seufzte schwer und sah meinen kleinen Bruder nachdenklich an. Mit seinen Siebzehn Jahren war er so manches Mal schon viel zu erwachsen und dann wieder ein kleines Kind. Manchmal wusste ich ja auch nicht so genau, wie ich mich verhalten sollte. Zumindest erging es mir in bestimmten Situationen so.

„Ich versuch es, Kumpel.“ Mehr brachte ich nicht heraus, denn es stimmte auch. So lange schon versuchte ich es, ohne wirklichen Erfolg damit zu haben. Dennoch gab ich nicht auf. Das konnte ich wegen Mom und Dale auch überhaupt nicht. Dabei wussten beide nichts mal, wie viel ich wirklich zur Gutmachung tat. Dann würde mir nämlich zwei Mal der Kopf abgerissen werden und eigentlich mochte ich ihn ganz gerne dort, wo er sich jetzt befand.

„Und jetzt zisch ab, du Glucke. Ich will meine Ruhe haben. Außer natürlich, du kommst mit ein paar heißen Freundinnen zurück, die mich verwöhnen wollen, ich armer Kerl.“ Er machte eine weinerliche Miene, was mir ein ungewolltes Lachen entlockte.

„Das wird so schnell nicht passieren, Kumpel, vergiss es ganz schnell wieder. Die Frauen, die ich kenne als Freundinnen, sind viel zu alt für dich. Obwohl du vielleicht ja auch gerne wie ein kleines Baby behandelt werden willst.“

„Erfahrung ist doch was gutes, großer Bruder. Und ein paar süße Umarmungen, von großen Brüsten am besten, hat doch noch niemanden geschadet“, grinste er aalglatt. Oh man!

„In deinem nächsten Leben vielleicht, Dale“, zwinkerte ich und stand auf. Wenn er seine Ruhe haben wollte, sollte er diese auch bekommen. Ich würde ganz einfach später wieder her kommen. Eigentlich ja fast schon perfekt, dass wir Wochenende hatten.

„Wir werden sehen, wenn du endlich mal mit einer festen Freundin ankommst.“ Ich hielt inne und sah ihn mit hoch gezogener Augenbraue an.

„Ich? Feste Freundin? Wovon träumst du denn Nachts?“ Als ob ich mir derlei Nichtigkeiten erlauben könnte, selbst wenn ich wollte.

„Ach weißt du, Logan, du bist auch nicht mehr der Jüngste. Es wird doch Zeit mal sesshaft zu werden.“

Ich wollte ihn gerade fragen, welche Drogen er nahm, da begann er auch schon zu lachen. Dieses Schlitzohr.

„Oh Gott, deine Miene grade. Das war echt zu gut.“ Wäre er nicht mein kleiner Bruder, hätte ich ihn vermutlich genau in diesem Moment erwürgt. Und es hätte mir nicht leid getan. So schüttelte ich nur den Kopf, ging zur Tür und zeigte ihm den Mittelfinger, da er noch immer lachte.

 

 

Alice:

 

 

Ich wusste an diesem Tag nicht wirklich was mit mir anzufangen. Lernen fand ich einfach zu langweilig, telefonieren mit Megan war nicht drin und auf meine Nachricht – dass die beiden Kerle meine Brüste gesehen hatten – hatte sie bisher nicht geantwortet. Vielleicht schlief sie ja auch noch. Würde ich ihr durchaus zutrauen. Unwillkürlich glitten meine Gedanken zu Logan hin. Und seinem Bruder. Zu hören, das es diesem so weit gut ging, freute mich mehr, als es normal wäre, da ich ihn überhaupt nicht kannte. Das war jedoch ganz und gar unwichtig für mich. Ich fragte mich, was genau passiert war und wieso. Und ob es Logan im Moment gut ging.

Seufzend stand ich von meinem Bett auf, auf das ich mich aus Langeweile heraus hingelegt und an die Decke gestarrt hatte. Schien mir eine sinnvolle Beschäftigung zu sein. Irgendwie jedenfalls.

Sobald ich saß, fiel mein Blick, wie magisch angezogen, auf den Schreibtisch. Auf den Blätterstapel darauf um genau zu sein. Ganz oben lag die Zeichnung für mein Tattoo. Mhh, eigentlich hatte ich jetzt genug Zeit um mich in der Stadt mal ein wenig umzusehen und vielleicht sogar einen guten Laden dafür zu finden. Ich wollte die Mädels nicht fragen. Noch sollte es mein kleines Geheimnis bleiben. Erst einmal wollte ich es dann ein wenig abheilen lassen. Auch, damit es schlicht und ergreifend besser aussah. Das Motiv war mir einfach zu wichtig, zu bedeutend. Wenn ich es zeigte, sollte die Bedeutung dahinter auch zur vollen Entfaltung kommen.

Mit einem Lächeln auf dem Gesicht und entsprechend guter Laune, nahm ich das Blatt auf, verstaute es ordentlich in meiner eigentlich viel zu großen Handtasche – ein „kleines“ Abschiedsgeschenk meiner Mutter – und machte mich auf den Weg. Obwohl ich mich in dieser Gegend null auskannte, wollte ich alleine aufbrechen und die Stadt unsicher machen, wie Megan wohl gesagt hätte. Recht hatte sie damit allemal.

Ich war etwa eine Stunde unterwegs – und hatte ehrlich eine Menge gesehen – da fiel mir ganz plötzlich der Flyer wieder ein, den ich von der Tafel abgenommen hatte. Wir konnte ich den vergessen? Da war das, was ich suchte, schon ganz nah bei mir und so in Gedanken, hatte ich das vollkommen vergessen. Nun, war nicht wirklich etwas neues, dass mein Kopf einem Sieb glich, durch das alles hindurch rutschte. Ich hielt am Straßenrand und kramte in meiner Tasche herum. Und tatsächlich! Ich fand ihn in einer der Seitentaschen, faltete ihn auseinander und sah mir die angegebene Adresse an. Nach ein paar kleinen Klicks auf dem Navi, fuhr ich weiter und kam wenige Minuten später auch schon an.

Von Außen machte es auf jeden Fall einen ziemlich guten Eindruck, wirkte sauber und irgendwie sogar einladend. Ich konnte es mir nicht genau erklären, aber etwas daran zog mich so sehr an, das ich nach kurzem zögern ausstieg und mir die Bilder am Eingangsbereich ansah. Es gab etliche Zeichnung von verschiedenen Tattoos. Eines war besser als das andere und man erkannte auf jedem einzelnen Foto auch die Liebe, die hinein gesteckt wurde. Nicht nur von demjenigen, der es gestochen hatte, sondern auch dem, der sie entwarf. Mhh, hier schien ich richtig zu sein. Mein Gefühl sagte mir, ich sollte genau zu diesen Zeitpunkt an genau diesem Ort sein und nirgends anders. Klang vielleicht ein wenig komisch, aber bisher hatte mich mein Gefühl so gut wie nie getäuscht. Nur ein einziges Mal war es anders gewesen...

Ich atmete tief durch, öffnete die Glastür und wurde von dem leisen Klingeln einer kleinen Glocke begrüßt. Sofort sah ein Mann am Tresen zu mir. Sein Blick wanderte einmal an mir herab und wieder herauf. Dabei entging mir keineswegs, das er die Brauen leicht zusammen zog und sich vermutlich fragte, was jemand wie ich bei ihm im Laden wollen würde. Beim schlucken stellte ich mir diese Frage nun doch ganz kurz. Konnte ich das tatsächlich durchziehen? Nun, ich war kein Angsthase und würde es durchziehen. So viel ich wusste, bekam man ja eh zuerst mal ein Gespräch, in dem einen alles erklärt wurde und dergleichen. Danach konnte ich noch immer den Schwanz einziehen oder es wagen.

Der Typ, er war echt ziemlich groß und hatte dunkles, fast schwarzes Haar, kam um den Tresen herum, direkt auf mich zu und lächelte nun ganz freundlich.

„Hallo, wie kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte er mich als er vor mir stehen blieb. Ich sah zu ihm hoch. Er war sogar noch größer, als gedacht. Fast zwei Kopf mehr als ich! Einen so großen Mann war ich bisher nur selten begegnet, aber man musste auch ehrlich sein und sagen, dass ich nicht so riesig war.

Toll! Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ich musste hier auch was sagen. So ein Mist aber auch. Ich fuhr mir über die Lippen.

„Lassen Sie mich raten: Sie würden gern ein Tattoo haben, sind sich aber auch noch unsicher. Vielleicht auch unsicher, was das Motiv angeht?“ Ich nickte einfach nur, unfähig was zu sagen. Dann schüttelte ich den Kopf und holte die Zeichnung heraus. Diese reichte ich ihm. Er sah auf das Blatt, zog eine Augenbraue hoch und sah mich dann wieder an.

„Das sieht echt klasse aus. Hast du es entworfen?“ Ich wurde rot und machte eine Handbewegung die sagen sollte, halb halb. Vermutlich ging er davon aus, dass ich extrem schüchtern war, doch er schien auch zu verstehen, was ich sagen wollte.

„Darf ich du sagen?“, fragte er sachte und ich nickte erneut. Mensch, eigentlich könnte ich mir auch so einen Wackeldackel anschaffen der das dann immer für mich übernahm.

„Gut, komm doch einfach mal mit. Ich hab da den Richtigen für dieses Motiv hier. Er ist echt klasse und wird mit dir alles bereden. Du musst keine Angst haben, sei ganz locker.“

Ja, bereden... ganz locker... Der hatte leicht reden. Hoffentlich verstand der Typ gleich auch, was ich nicht sagen konnte. Nun ja, im Notfall hatte ich ja dann einen Block und Stift dabei. Würde zwar so sehr viel länger dauern, aber das war es mir wert. Und eine alltägliche Situation war es eben auch nicht.

Ich folgte ihm also nach weiter hinter, am Tresen vorbei, und in einen kleinen Raum. Ich roch Desinfektionsmittel und Seife, was mir irgendwie gefiel. Immerhin hieß das ja auch, dass es hier wirklich sauber war und ich mir nichts einfangen würde. Noch ein weiterer Pluspunkt.

„Achja, ich bin Tiger“, grinste der Riese. Ein durchaus passender Name für ihn. Sowohl Tiger als auch Riese, wie ich belustigt in meinen Gedanken feststellen musste. Ich erwiderte das Grinsen mit einem verhaltenen Lächeln, kramte in meiner Hosentasche und zeigte ihm einen der Zettel, auf dem mein Name stand und das ich nicht sprach. Ja ja, ich hätte es auch mit Gebärdensprache versuchen können – die beherrschte ich im Schlaf – doch aus Erfahrung wusste ich auch, wie wenig Leute das ebenfalls taten.

„Alice also, schöner Name.“ Er nickte mir freundlich zu, drehte sich zur Tür, der ich den Rücken zugewandt hatte und begrüßte den Mann, der den Raum nun ebenfalls betrat.

„Alice?! Was machst du denn hier?“

Die Stimme jagte mir einen Schauer über den Rücken, denn ich kannte sie ja nur zu gut. Ganz langsam drehte ich mich um.

 

 

 

Kapitel 6

 Alice:

 

Seid fast einer halben Stunde saß ich nun schon mit Logan in dem kleinen Raum der wohl sein Reich war hier im Studio. Bis auf seine überraschte Begrüßung hatte er noch kein weiteres Wort zu mir gesagt. Tiger hatte uns überrascht angesehen und natürlich wissen wollen, woher wir uns kannten. Logan hatte ihm einfach nur knapp erzählt, dass ich neu am College war und wir auch WG-Wohnungs-Nachbarn wären. Viel mehr hatte er nicht gesagt, aber irgendwas daran störte mich ungemein. Ich konnte es nur nicht richtig benennen...

Und nun starrte Logan einfach nur auf die Zeichnung, die ganze Zeit über! Was glaubte er darin zu finden? Nun, wenn er gut war – und auch irgendwie ein Genie – konnte er fast meine ganze Geschichte darin sehen. Davon ging ich aber keineswegs aus. Zumindest hoffte ich inständig, das dem nicht so war. Es würde zu viele Fragen aufwerfen und nur die wenigstens konnte ich ohne Worte beantworten. Außerdem war ich mir auch gar nicht sicher, ob ich überhaupt irgendwelche Fragen beantworten wollte. Es war besser, wenn so wenig Leute wie möglich überhaupt Bescheid wussten.

Ich zerbrach mir das Hirn darüber, was nun folgen würde, ging alles denkbare durch und kam doch auf keinen guten Nenner. Mich machte es vollkommen kirre, diese Stille um uns herum. Er war zwar die ganze Zeit, die ich ihn nun kannte, kein Meister vieler Worte – zumindest mir gegenüber nicht so – aber so wenig war mir unangenehm...

„Warum dieses Bild? Dass passt nicht zu dir. Nicht so, wie man dich erlebt. Es sei denn natürlich...“, riss er mich plötzlich aus meinen Gedanken. Mein Kopf fuhr zu ihm herum, begegnete seinem fragendem Blick. Sein angefangener Satz ließ meinen Puls höher schlagen. Vermutete er etwas? Wenn ja, was war es? In diesen Moment konnte ich ihn nur bis vor die Stirn schauen. Also presste ich die Lippen zusammen, zog eine Augenbraue fragend hoch und versuchte ihn dadurch zum weiter reden zu animieren. In der Vergangenheit hatte das ja durchaus schon geklappt.

Aber stattdessen seufzte er nur schwer, stand von seinem Hocker auf und legte das Papier auf seinen Arbeitstisch, ehe er dicht vor mich trat. Ich wagte es kaum seinen Blick entgegen zu treten. Oh Gott, wie gern würde ich seine Gedanken kennen!

„DAS werde ich dir nicht stechen, Alice. Da musst du dir jemand anderes suchen. Ich hab kein Problem damit, deine Haut zu entjungfern mit einem Tattoo, aber nicht dieses.“

Er sah auf mich herunter da ich trotz der Liege und der Höhe von dieser, noch um ein gutes Stück kleiner war als er, und hatte die Stirn gerunzelt. Als würde er nicht glauben können, dass ich ein solches Bild haben wollte. Nun, es war tatsächlich sehr ungewöhnlich, aber doch nicht vollkommen abwegig. Und es war auch nichts schräges oder ausgefallenes. Im Gegenteil sogar, denn eigentlich war es so furchtbar normal. Moment mal! Konnte es vielleicht genau daran liegen? Nein...

Ich zuckte die Schultern und machte mich daran von der Liege zu kommen, als seine Hände meine Handgelenke erfassten und mich an Ort und Stelle hielten. Ich sah fragend zu ihm auf.

„Du bist ein einziges Rätsel, Alice. Ich hab nie Probleme damit, Leute zu durchschauen und bisher hatte ich gedacht, dass mir das auch bei dir gelingt, doch jetzt muss ich einsehen, dass dem nicht so ist. Ich weiß ehrlich nicht, was ich mit dir machen soll.“

Das brachte mich tatsächlich zum grinsen. Mir ging es mit ihm auch nicht anders. In der einen Sekunde glaubte ich ihn zu verstehen, in der nächsten war er ein Buch mit sieben Siegeln. Und da sollte noch mal jemand sagen, Frauen wären kompliziert. Die Männer waren es in Wirklichkeit.

Er erwiderte mein Grinsen ganz langsam und sah mir direkt in die Augen. Ich öffnete den Mund, war schon wieder versucht mit ihm zu reden. Wie schaffte er das nur? Er war der erste, nicht mal für Megan hatte ich es gewollt, wo ich Worte aus meinem Mund entlassen wollte. Das war gar nicht gut. Im Moment durfte ich es nicht brechen. Noch nicht. Scheiße!

Ich biss mir auf die Unterlippe, erwiderte seinen Blick aber weiterhin. Auch hielt er noch immer meine Handgelenke, was sich auch viel zu gut anfühlte. Sein Daumen begann sanft über die Stelle zu streichen, unter der mein Puls immer weiter in die Höhe stieg. Wegen ihm, seiner Nähe, seiner Berührung. Ich brauchte mich nur einen winzig kleines bisschen weiter nach vorne lehnen und schon konnte ich mein Gesicht an seinen Körper schmiegen. Ein viel zu verlockender Gedanke. Daher schloss ich die Augen – wobei das auch falsch verstanden werden konnte – und atmete tief durch. Dann öffnete ich sie wieder und lehnte mich nach hinten. Einfach nur weg von ihm.

Er runzelte die Stirn und sah auf seine Hände herunter, da ich versuchte meine Handgelenke frei zu bekommen. Anscheinend war es ihm nicht mal so wirklich bewusst gewesen, was er soeben getan hatte. Mhh, merkwürdig. So etwas musste einem doch bewusst sein. Nun gut, ich steckte ja nicht in seinem Kopf. Männer schienen eh sehr anders zu denken als Frauen – siehe mein Vater!

„Sorry“, nuschelte er. Ich konnte das Wort kaum verstehen, musste es von seinem Lippen ablesen. Und damit er sich nicht schlecht fühlte, lächelte ich wieder zu ihm auf und schüttelte den Kopf. Es war ja nicht unangenehm gewesen. Ich wusste nur einfach nicht, wie ich mit so etwas umgehen sollte. Logan verwirrte und faszinierte mich gleichermaßen, sodass ich mich kaum in seine Nähe wagte.

Er trat nun auch einen Schritt zurück.

„Lässt du mich etwas anderes für dich entwerfen?“, fragte er mich mit ernstem Gesicht. Ich nickte, sah ihn aber verwirrt an. Ein sanftes Lächeln legte sich auf seine hübschen Lippen und mein Blick blieb daran kleben. Leider konnte ich nicht mal dem Piercing die Schuld geben, obwohl mich das auch faszinierte, aber in diesem Fall waren es tatsächlich absolut nur seine Lippen. Wie die sich wohl auf meinen anfühlen würden? War er ein sanfter Küsser oder eher ungehemmt und wild? Oh man...

„Cool. Ich verspreche dir, du wirst nicht enttäuscht sein. Es wird perfekt zu dir passen und dir gefallen.“ Mhh, er schien sich wirklich sehr sicher zu sein meinen Geschmack zu treffen, obwohl er mich noch nicht sonderlich lange oder gut kannte. Moment, wo kam denn dieses „Noch nicht“ her? Tja, da passte man ein einziges Mal nicht auf seine Gedanken auf und schon entwickelten sie ein recht interessantes Eigenleben. Okay, damit hatte leugnen jetzt auch keinen Sinn mehr. Ich WOLLTE ihn tatsächlich besser kennen lernen. Und auch, dass er mich besser kennen lernte. Eine echt verzwickte Situation in die ich mich mal wieder hinein manövriert hatte. Aber das war eigentlich recht typisch für mich.

Ich nickte ihm erneut zu und legte den Kopf leicht schräg. Das tat ich öfter wenn ich eine Antwort erhalten wollte. Auf eine Frage, die ich nicht laut aussprach, was ich in den meisten Fällen auch gar nicht musste. Und wir schienen damit eigentlich fertig zu sein für heute.

Ich nahm mein Handy und öffnete den Kalender darin. Diesen hielt ich ihm hin. Erst sah er verwirrt darauf, dann verstand er jedoch auch schon und lächelte leicht.

„Lass mich kurz schauen wann ich wieder kann. Oder... Ach, weißt du was?“ Er sah mir in die Augen.

„Ich mach das in meinem Zimmer fertig, hab alles was ich brauch auch dort. Und dann komme ich die Tage einfach rüber zu euch und zeig es dir. So sparen wir beide nicht nur Zeit, ich kann dich auch sehen.“ Der zweite Teil seines letzten Satzes schien er eigentlich mehr gedacht zu haben. Meine Augen weiteten sich ein Stück als ich den vollen Umfang verstand und Logan sah verdrießlich drein. Ja, er hatte es nicht laut sagen wollen, aber ich freute mich darüber. Weil ich ihn auch bald wieder sehen wollte.

„Mist, das kam irgendwie jetzt falsch rüber. Sorry, Kätzchen.“ Huch! Er verpasste mir einen Spitznamen, einfach mal so. Und was für einen! Ich fing sofort an zu grinsen. Obwohl ich eigentlich nicht wusste, wie er auf Kätzchen kam, gefiel es mir. Es klang niedlich und wie was besonderes. Doch meine Neugier war auch geweckt. Ich öffnete den Mund, als würde ich ihn fragen wollen. Er verstand mich wieder sofort.

„Wegen Alice. Die Grinsekatze von Alice im Wunderland. Wenn du frech grinst, dann erinnert es mich an den Film.“ Ich kannte den Film und seine Varianten natürlich auch. Es war auch keineswegs das erste Mal, das jemand einen Vergleich dazu anstellte. Em hatte es ja ebenfalls getan. Doch ich mochte seine Gedanken dazu. Daher nickte ich nun und kam von der Liege herunter.

„Ist es schlimm?“, fragte er mich und ich schüttelte den Kopf. Plötzlich griff er sich eine Strähne meines Haares und ließ es durch seine Finger rinnen. Ich hielt den Atem an. Dieser Mann verwirrte mich in jeder Sekunde. Erst schien es so, als wären wir gebannt voneinander, dann gingen wir beide auf Abstand – er mehr als ich – und dann tat er wieder so etwas.

Gott, wenn er so weiter machte, würde ich mal was unternehmen müssen. Entweder ich hielt ihn dann auf Abstand oder ich würde ihn an mich ziehen und so küssen, dass ihm hören und sehen verging. Beides hielt ich für gar nicht so unwahrscheinlich. Ich räusperte mich, was ihn von irgendwoher wieder zum hier holte. Er tat einen tiefen Atemzug, trat wieder zurück und versuchte zu lächeln. Leider glich es eher einer kleinen Fratze. Ich stieß einen kleinen Laut beim lachen aus und sofort sah er mich verwundert an.

„Das klingt schön.“ Ich wollte wieder den Kopf schief legen, als er mir die Antwort gab.

„Dein Lachen.“ Ich seufzte nun und hob kurz die Schultern.

„Na gut, ich will dich nicht länger aufhalten. Wir sehen uns dann die Tage.“ Moment! Wollte er sich so einfach von mir verabschieden? Nach diesen Augenblicken eben? Shit! Ich...

Rasch ergriff ich wieder mein Handy und hielt es ihm hin. Ich wollte gerne seine Nummer haben. Dann konnten wir doch irgendwie reden! Normalerweise war das auch nicht so mein Ding, aber für Logan würde ich es tun. Keine Frage, warum.

Er nahm es wortlos entgegen und wieder erriet er meine Gedanken, denn kurz darauf hatte er sich eingespeichert. Ich rief die Nummer sofort an, damit er meine auch hatte, nahm meine Tasche wieder zur Hand und verließ den Laden. Draußen atmete ich ganz tief durch und schloss einen Moment die Augen. Dabei grinste ich über beide Ohre. Ja, mit der Grinsekatze lag er gar nicht so falsch. Zumindest in seiner Nähe. Oder der, der Mädels.

Als ich sie wieder öffnete, erschrak ich und blinzelte. Auf der anderen Straßenseite war ein Mann, der mich direkt ansah. Irgendwie kam er mir bekannt vor. Ein LKW fuhr an mir vorbei und als er weg war, war der Mann es auch. Hatte ich mir das nur eingebildet?

Schulterzuckend ging ich zu meinem Wagen und fuhr zum Campus zurück.

 

Fünf Tage später saß ich mit den Mädels Abends beim Chinesen – wir waren heute einfach zu faul zum kochen und wollten es uns gut gehen lassen - als mein Handy eine neue Nachricht meldete. Ich griff danach und dachte nicht wirklich, dass es etwas wichtiges war, doch bei dem Namen musste ich lächeln. Es war einfach ganz automatisch und fiel mir echt nicht schwer. Ich bemerkte auch wie Megan mich ansah. Von den anderen mal ganz abgesehen.

 

Logan: Hey, Kätzchen! Logan hier. Was machst du?

 

Als ob ich das am Absender nicht erkannt hatte, dachte ich amüsiert und tippte eine Antwort ein. Allerdings ließ ich mir mindestens eine Minute Zeit mit dem senden. Ich wollte ihm ja nicht vermitteln, dass ich ungeduldig war. Obwohl ich es selbstredend doch war! Das Leben war echt kompliziert.

 

ICH: Hey du :) Schön dich zu lesen. Bin gerade mit den Mädels essen

 

Nachdem ich abgeschickt hatte wurde mir bewusst, wie dumm die Antwort klang. Ich hätte ruhig mehr schreiben können, doch würde ich eine zweite hinterher schicken, setzte das auch falsche Signale. Also zumindest vielleicht. Ich kannte mich mit solchen Dingen nicht wirklich aus. Shit! Und doppelt Shit!

 

Logan: Was gibt es denn feines? Ich wollte dir eigentlich gleich einen ersten Entwurf zeigen. Schade. Muss ich wohl noch etwas auf deine Reaktion dazu warten. Wünsche guten Appetit ;)

 

ICH: Chinesisch. Ja, wirklich schade. Bin ziemlich neugierig darauf, muss ich wohl gestehen. Aber ich vertraue deiner Kenntnis. Es wird mir sicher gefallen. Danke.

 

Ich wurde sofort rot, grinste aber auch noch mehr. Megan stupste mich an.

„Hey, mit wem schreibst du denn? Muss ja jemand tolles sein, wenn er dich so zum lächeln bringt.“ Ich sah sie etwas perplex an. Eigentlich war mir gar nicht aufgefallen, dass ich lächelte. Aber ich fand es nicht wirklich schlimm. Ich freute mich einfach, dass er mir schrieb. Auch wenn ich traurig war, weil er es nicht noch am gleichen Tag getan hatte. Was sagte das nur über mich aus?

Ich sah sie nachdenklich an, wobei sie eine Augenbraue hoch zog. Auch sie verstand mich ohne ein Wort, wie Logan. Bei ihr wusste ich, woran es lag: wir mochten uns und waren auf einer Wellenlänge. Und natürlich kannte sie mich lang genug. Diesen Mann kannte ich jetzt knapp einen Monat, fühlte aber auch eine fast identische Verbundenheit. Das müsste mir Angst machen, tierische Angst, tat es aber nicht. Eher im Gegenteil. Ich wollte unbedingt so viel mehr über ihn erfahren. Wollte wissen, was er dachte, was mit seinem Bruder war und ob ich ihm irgendwie helfen konnte...

Kurz zögerte ich noch, zeigte ihr jedoch das Display, auf dem schon eine neue Nachricht von Logan halb angezeigt wurde. Sie las, stutzte und grinste dann diebisch.

„Echt jetzt? Den hast du dir geangelt?!“ Ich sah sie verwirrt an ehe es klick machte, ich große Augen bekam und den Kopf schüttelte. Nein, so war es doch gar nicht!

„Du kannst den Kopf schütteln, so viel du willst, meine süße beste Freundin, aber du HAST ihn dir geangelt. Irrtum ausgeschlossen. Ich hab doch bemerkt, wie er dich immer angesehen hat in der Mensa. Und du ihn übrigens auch. Was läuft da zwischen euch?“

Wieder schüttelte ich den Kopf. Zwischen uns lief nichts. Oder? Nein, das hätte ich doch gemerkt. Okay, ja, ich dachte mittlerweile ständig an ihn, seine Augen, seinen Mund. Sogar an seinen Körper! Aber es lief dennoch nichts zwischen uns. Leider... Nein, Stop! Nicht leider!

„Er fragt übrigens gerade, ob du nach dem Essen noch zu ihm kommst“, ließ sie mich grinsend wissen. Ich konnte die Nachricht gar nicht schnell genug öffnen zum antworten.

 

Logan: Wenn es nicht zu spät für dich wird,

hast du dann Lust nach eurem Essen noch zu mir zu kommen?

 

ICH: Ähm, ich denke, das wird gehen.

Aber ich will dich nicht zu spät noch stören.

 

Logan: Quatsch! Du störst doch nicht.

Sonst hätte ich es dir doch gar nicht angeboten, Kätzchen ;)

 

ICH: Gut, dann bis später!

Logan: : D

 

„...und dann dieses Gekicher immer wenn Logan in der Nähe ist!“ Als ich seinen Namen hörte, riss ich den Kopf hoch, nur um dann knallrot zu werden. Emily, Aileen und Megan sahen mich grinsend an. Oder war es eher ein wissender Blick? Ich hoffte nicht. Noch sollte keiner wissen, wie es in mir aussah. Ach, was sagte ich da eigentlich? Das -noch- konnte man streichen. Im Moment wollte ich überhaupt nicht, dass irgendjemand etwas wusste. Warum? Weil ich ja selbst nicht so ganz genau wusste, was los war. Ja, ich fühlte mich irre zu Logan hingezogen und diese Verbundenheit gefiel mir, aber er verbarg etwas, was sicher mit seinem Bruder zu tun hatte, und ich selbst musste mich mit ganz anderen Dingen beschäftigen.

Gott, alles in mir war total verwirrt! Was waren das genau für Gefühle?

„Sorry, worum geht’s?“, fragte ich ganz unschuldig nach, indem ich ihnen genau diesen Text mit meinem Handy hinhielt. Lieber hätte ich die Worte gesprochen, aber so ging es nun mal auch. Die Mädels fingen sofort an zu lachen.

„Ach komm, als wüsstest du es nicht. Lass uns doch nicht im Dunkeln. Du hast ihn dir wirklich geangelt. Den lieben Logan.“ Megan fragte es nicht, es war eine reine Feststellung. Sie hatte die Nachrichten ja gesehen. Und die anderen waren Freunde von Logan, was wohl bedeutet, auf kurz oder lang würden sie es auch heraus bekommen. Emily quietschte regelrecht.

„Echt jetzt? Mit unserem Logan? Wow! Ich bin ehrlich beeindruckt. Normalerweise gibt er Mädels nicht seine Nummer. Na ja, außer er ist mit ihnen befreundet. So wie mit uns.“

Warum versetzte mir dieser Kommentar einen Stich ins Herz? Es war doch schön zu hören, dass er augenscheinlich mit mir befreundet sein wollte. Das sollte mich ungemein freuen, tat es ja auch, aber irgendwie... Ich wusste es ja auch nicht so recht. Etwas an dieser Aussage und der Tatsache störte mich ungemein.

Ich zuckte fast schon unbeteiligt mit den Schultern und traute mich fast gar nicht mehr die anderen anzusehen. Auch, weil ich weiterhin an Logan dachte. Mehr, als ich eigentlich sollte. Oh. Mein. Gott. Ich dachte sogar daran, das Essen schnell zu beenden, damit ich zu meinem Zimmer konnte. Zum umziehen! Ich wollte hübsch aussehen und das tat ich im Moment wohl weniger. Okay, ja, ich sah okay aus, wie jedes Mal wenn wir essen gingen. Ich hatte mir was lockeres angezogen und auf Make-Up komplett verzichtet. Ich brauchte es auch gar nicht wirklich, meine Haut war vollkommen okay wie sie war. Aber gerade jetzt wollte ich... ja, mehr einfach.

„Erde an Alice!“, holte Megan mich zurück. Sie beugte sich zu mir damit die anderen ihre Worte nicht hören konnten. Hieß, es waren Dinge, die mich wohl noch verlegener machen konnten.

„Also, falls ich dein Gesicht richtig deute, und das kann ich ziemlich perfekt, überlegst du dir im Moment, was du anziehst nachher und all den Kram.“ Sie konnte ich wirklich nicht belügen. Also zeigte ich ihr die Nachrichten sogar mit dem Treffen. Das ich wirklich zugesagt hatte. Sie nickte und lächelte warm.

„Iss noch eine Kleinigkeit und dann mach dich auf den Weg. Aber bleib wie du bist. Du bist hübsch, das weißt du ohne eingebildet zu sein. Und er weiß es auch. Vertrau mir, Süße.“

Ich biss mir auf die Unterlippe und sah sie nervös an. Sollte ich wirklich? Sie nickte erneut und lächelte weiterhin. Megan war immer mein Ruhepol gewesen, wenn mich alles zu überrollen drohte. Daher vertraute ich ihr uneingeschränkt. Nun nickte ich und umarmte sie überschwänglich. Sie lachte leise und tätschelte mir den Rücken.

Grinsend aß ich noch etwas. Nachdem ich meinen Anteil des Geldes auf den Tisch gelegt hatte, verabschiedete ich mich mit Winken von den Mädels und fuhr so schnell ich konnte und die Verkehrsregeln es zuließen, zum Campus zurück. Vor seiner Tür atmete ich tief durch und nahm mein Handy.

 

ICH: Klopf, klopf

Impressum

Texte: Mandy Summer/M.S. Night
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: Mandy Summer
Lektorat: Mandy Summer /Sandra Schurtzmann
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2019

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