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Prolog

 

Sekunden.

Viele oder nur wenige. Sekunden entscheiden darüber, ob man lebt oder stirbt. Sekunden entscheiden darüber, wer leben wird und auch wie. Sekunden entscheiden über die Zukunft aller.

Wenn man selbst nur ein paar wenige Sekunden hat um über das Schicksal von Millionen und Milliarden zu entscheiden, kann eine normale sterbliche Seele daran zerbrechen. Oh, natürlich kann sie auch wieder heilen, aber es werden doch immer Risse bleiben, die ebenso schnell wieder aufreißen können, wie schon beim ersten Mal. Und es ist vollkommen egal, wie viel Zeit vergeht, es wird nie wieder wie zuvor sein. Nichts und niemand kann etwas ändern, niemand die Zeit umkehren und es vielleicht nochmal neu entscheiden. Hat man einmal eine Wahl getroffen, ist diese endgültig und unumstößlich.

Das Schicksal geht selten einen Weg, den jeder sofort verstehen oder akzeptieren kann. Alles nachdenken, alles sinnieren... es nützt rein gar nichts. Man kann nur versuchen, damit zu leben, das Beste noch heraus zu holen. Sich dem Rad der Zeit anpassen, mit ihm leben, es genießen. Versucht man sein eigenes Schicksal zu ändern, endet es selten gut. Wahnsinn, Sünden, Leiden. All dies sind Risiken, die man eingeht und mit denen man dann klarkommen muss.

Nur wenige von uns haben eine Wahl. Eine, die niemand weiter kümmert. Eine, die nicht über das Leben anderer entscheidet. Die meisten von uns leben einfach ihr Leben, so wie sie es gelernt haben und kennen. Veränderungen bedeuten auch immer eine Ungewissheit, die mit Angst zusammen lebt. Neue Denkweisen sind in etwa so, als würde man eine neue Sprache lernen, neue Gerichte oder einfach in ein fremdes Land kommen. Man hat Angst vor dem, was man noch nicht kennt. Selbst dann, wenn es nur ein neues Rezept ist, ein neues Gewürz. Ja, selbst wenn es nur eine neue Farbe ist. Man kennt es einfach nicht und weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist. Ob es sich negativ auf das eigene Leben auswirken wird, vielleicht sogar richtig gefährlich werden kann. Also lässt man es in den meisten Fällen gleich von vornherein sein. Warum auch nicht? Was bisher gut funktioniert hat, kann doch auch so bleiben wie es ist.

Ja, dieser Ansicht war ich auch mal gewesen. Ich hatte daran geglaubt, mein Leben – meine Zukunft – schon zu kennen und akzeptierte diese. Auch wenn ich andere Gedanken in meinem Herzen trug, wurde mir von klein auf ganz strikt klar gemacht, was man von mir erwartete, was ich zu erwarten hatte. Da gab es keinen Platz für Träume, Wünsche oder Hoffnungen. Keine Zeit für naive Dinge, die eh niemals mehr werden würden als Gedanken in meinem Kopf. Von Geburt an wurde mein Leben in eine bestimmte Richtung gelenkt, bestimmte Sachen einfach an mich weiter gegeben. Richtiges Benehmen, Haltung, Sprache, Aussehen. Ganz egal was es war, es gab für meine Eltern keinen anderen Weg. Meine Familie kannte es genau so schon seid Jahrhunderten, hielt daran fest wie an einem Rettungsseil.

Ich wusste, was ich wann zu tun oder zu sagen hatte. Wusste genau, was ich niemals tun durfte und welche Strafen mich erwarteten beim nicht beachten. Und dennoch... Ein Teil von mir begehrte immer dagegen auf. Wollte aus mir ausbrechen. Ich verstand es ja selbst nicht. Meine Schwestern wurden ebenso erzogen wie ich, hielten sich auch immer an alle Regeln. Nur ich... ich war anders. Nicht merkwürdig anders, nur neugieriger. Ich hinterfragte Dinge, die alle für selbstverständlich hielten. Wollte Erklärungen, warum man etwas genau so tat, wie man es tat. Meine Eltern, ja sogar die ganze Stadt in der wir lebten, hatten kein Verständnis dafür.

Von manchen wurde ich dafür einfach nur belächelt – solange ich ein gewisses Alter hatte. Andere verspotteten oder schikanierten mich. Ich gewöhnte mich nach und nach daran, dass man mich nicht so akzeptieren konnte, wie ich war. Oder was ich versuchte zu sein. Ich wollte es meinen Eltern recht machen, wollte die Tochter sein, die sie sich wünschten. Versuchte wirklich alles dafür zu geben. Es gelang mir einfach nicht. Ich gab mir Mühe, drillte mich regelrecht „normal“ zu sein, wie sie es nannten. Doch umso mehr ich mich auch anstrengte, das Gegenteil davon trat nur ein. Leider geht es im Leben nicht immer so, wie man es sich wünscht. Das mussten wir alle irgendwann begreifen. Ich weiß nicht, ob es meinen Eltern schon bewusst war, bevor ich selbst es wusste. Bevor diese ganzen kleinen Eigenarten wirklich zu sehen waren. Oder ob sie es erst nach mir begriffen. So schön das Leben in Sarionth auch war, für mich gab es irgendwann keinen Platz mehr in der Stadt am Meer. Vermutlich kam dieser Zeitpunkt auch immer näher, umso älter ich wurde.

Meine Eltern wussten es, meine Schwestern wussten es und auch die drei Freunde – die mich tatsächlich mochten wie ich war – wussten es. Nur ich... ich hatte keine Ahnung davon, was mich erwarten würde. Wozu ich eigentlich geboren wurde. Hätte ich es gewusst... Hätte ich dann anders gehandelt als ich es tat?

Kapitel 1 ~ Alyona

 

 

Langsam, mit nackten Füßen, schlich ich mich den langen Flur entlang um zur Haustür zu gelangen. Meine ledernen Schuhe hielt ich in der linken Hand, damit ich sie gleich überziehen konnte, sobald ich draußen wäre. Ohne war ich im Moment aber um ein vielfaches leiser und konnte mich auch dazu noch wendiger bewegen. Längst waren alle Lichter im Haus gelöscht und meine Familie und die Dienstboten schliefen friedlich. Zumindest hoffte ich es, nachdem ich die Suppe am Abend tatsächlich mit einem leichten Schlafkraut versehen hatte. Tief in mir drin wusste ich genau, wie falsch es war, doch alleine der Gedanke für eine Nacht frei zu sein, hatte mich so handeln lassen und ich bereute es auch nur zu einen kleinen Teil. Dieser kleine Teil war so gering, dass ich versuchte es zu ignorieren.

Seit gestern Morgen war eine Gruppe von Alyona in unserer schönen Stadt Sarionth und meine Neugierde war schon alleine mit dieser Tatsache wieder so groß, dass ich es kaum bis heute Nacht ausgehalten hatte. Als kleines Kind hatte meine Mutter mir manchmal Geschichten über die vielen verschiedenen Wesen unserer Welt erzählt. Auch über die Alyona hatte sie sich ausgelassen. Sie seien ein zügelloses Volk, das weder Anstand noch Moral kannte. Das sich von der Fleischeslust, Gier und allen anderen Sünden leiten ließ und sich der verbotenen Magie bediente. Nie würden sie lange an einem Ort bleiben und durch das ganze Land ziehen. Immer auf der Suche nach jungen Leuten, die sich ihnen anschlossen. Und hatte man es einmal getan, gab es kein entkommen mehr und man war für alle Zeit verloren.

Schon als Kind hatte ich sie einmal sehen, an einen ihrer zahlreichen Feste teilnehmen wollen. Vielleicht war es also Schicksal, dass sie ein paar Tage vor meinem achtzehnten Geburtstag – der wohl eine größere Bedeutung hatte, wenn man meiner ältesten Schwester Tessa glauben schenken konnte - endlich nach Sarionth kamen. Wenn ich Glück hätte – und ich hoffte doch sehr darauf – sah ich nun endlich einen von ihnen. Bei noch mehr Glück, würde ich sogar das Fest des heutigen Abends besuchen können. Aber zuallererst musste ich es aus diesem Haus schaffen, ohne gesehen zu werden. Ich war mir sicher, dass das Kraut wirkte, doch unsicher darin, ob auch alle von den Dienstboten etwas von der Suppe gegessen hatten. Mutter sah es eigentlich nicht gern, wenn die Dienerschaft etwas von den Resten bekam. Dafür gab ich es ihnen noch viel lieber. Und sie deckten mich so manches Mal, wenn ich mich zurück zog und meine Mutter nach mir suchte.

Von dieser Seite aus gesehen hatten also die Dienerschaft und ich eine Win-Win Situation.

Die Tür ließ sich, Gott sei Dank, geräuschlos öffnen und ich schlüpfte schnell hindurch, ehe doch noch jemand kam. Es blieb mir keine Zeit zum nachdenken. Ich hatte nur diese eine Chance. Meine Schuhe, die bis eben in meinen Händen waren, zog ich nun schnell über und auch den mitternachtsblauen Mantel zog ich enger um mich. Im Laufe des heutigen Abends war Nebel aufgezogen. In Sarionth nicht besonders üblich zu dieser Sommerzeit. Eigentlich gab es auch im Frühling, Herbst und Winter selten Nebel. Im Sommer geschah es so selten, dass man schon fast von nie sprechen konnte. Was es bedeuten konnte, darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Zu viel anderes ging mir schon durch den Kopf.

Auf den Weg zu den Ställen, kroch die Kälte noch weiter in meine Glieder. Vielleicht hätte ich mir doch ein anderes Kleid und festere Schuhe anziehen sollen. Nun war es viel zu spät. Bei allen guten Göttern, jetzt ins Haus und in mein Zimmer zurück zu kehren, würde auch heißen, ich könnte sogleich dort bleiben. Ich wollte mein Glück lieber nicht überstrapazieren.

Meine Stute Samara hob leise wiehernd ihren schönen Kopf und legte diesen leicht schräg. Ganz so, wie eine stumme Frage, was ich um diese Uhrzeit hier zu suchen hatte. Sie war ein wirklich schlaues Tier und ich liebte sie. Samara war eine treue Gefährtin in all den Jahre wo ich sie nun hatte. Und ohne sie wäre ich in diesem Haus sicher schon vor Langeweile gestorben.

Während meine Mutter und meine drei Schwestern nichts lieber taten, als Näharbeiten zu verrichten, Gäste willkommen zu heißen und auf Bälle zu gehen um geeignete Ehemänner zu finden, ritt ich gerne aus der Stadt heraus und erlebte etwas im nahegelegenen Wald. Ab und zu hatte ich auch schon versucht auf einen der Berge zu kommen, doch jedes Mal musste ich mein Unterfangen schon nach kurzer Zeit aufgeben. Ich hatte einfach nicht die richtige Ausrüstung dafür und meine Eltern würde mir diese auch niemals schenken oder auch nur erlauben. Also hatte ich es fürs Erste aufgegeben, Vielleicht kam eines Tages ja doch die Chance dazu und diese würde ich dann auch nutzen. Für den Augenblick wollte ich nichts mehr, als endlich von hier weg zu kommen. Meine tierische Freundin sah mich sehr aufmerksam an und ich schenkte ihr ein sanftes Lächeln, ehe ich sie kraulte.

„Schh, ganz ruhig, mein Mädchen“, flüsterte ich ihr zu, legte ihr ein einfaches Zaumzeug an und führte sie dann nach draußen. Natürlich gehorchte sie mir und ging ohne einen Ton von sich zu geben mit mir hinaus in die dunkle Nacht. Da ich Angst hatte, man könnte uns sehen oder die Hufe hören, führte ich sie durch den vorderen Garten. An dieser Hausseite war keines der Schlafzimmer, sodass ich nicht befürchten musste, meine Familie zu wecken. Erst als wir die Straße schon ein Stück gegangen waren – oder eher geschlichen – saß ich auf und ließ sie trabend bis ans Ende der Straße weiter ziehen. Dort konnten wir schneller werden, bis mir der Wind ins Gesicht peitschte und alle Ängste aus mir trieb.

Durch eine der Küchenmägde wusste ich, dass die Alyona südlich der Stadt, im angrenzenden Wald, kampierten, was vielen der Stadtbewohnern überhaupt nicht in den Kram passte. Umso mehr negatives ich von den Leuten bisher gehört hatte, umso mehr war meine Neugier gewachsen. Was war an den Alyona so schlimm, dass sie gemieden wurden? Während ich immer weiter ritt, machte ich mir genau über die Frage Gedanken. Eigentlich könnte es alles mögliche sein. Vielleicht waren sie hässlich wie die Nacht – dagegen sprach allerdings die Verlockung, die von ihnen ausgehen sollte. Wer würde sich schon freiwillig von einem hässlichen Wesen verführen lassen? Oder vielleicht waren sie Meister der Magie. Nun, das würde die Ablehnung, ja auch die Angst, der Bewohner erklären.

Magie war hier in Sarionth nicht gern gesehen. Nicht mal das Sprechen darüber, wurde als okay empfunden. Kein Wunder, denn Magie veränderte etwas. Egal ob es nur ein kleiner Gegenstand oder eine Person war. Und mit Veränderungen kam hier niemand wirklich zurecht. Egal welches Alter man hatte, Magie war böse in ihren Augen.

Ich hingegen freute mich ein jedes Mal darüber. Dafür reichte es schon aus, wenn nur ein neuer Händler die Stadt erkundete, eine Gruppe Musikanten für ein paar Tage die Stadt besuchte oder wenn ein Bote des Königs kam. Über letzteren freuten sich die meisten Leute am wenigsten. Ein Bote bedeutete selten etwas gutes. Höhere Steuern und Abgaben, ein neues Gesetz und und und. Ich konnte es in diesem Fall durchaus verstehen, dennoch war endlich mal wieder etwas los, was mich ehrlich freute.

Meine Mutter hatte vermutlich Recht wenn sie mir immer und immer wieder sagte, meine Neugierde würde mich eines Tages in Gefahr bringen. Gut, dass sie nichts von den kleinen Unfällen wusste, die ich schon ab und ab davon getragen hatte. Ich hatte alle blauen Flecken und Kratzer geschickt verbergen können. Ganz so, als würde irgendwas dafür sorgen, dass man es mir nie ansah wenn ich mal wieder einen keinen Ausflug unternommen hatte. Allerdings... Es gab noch etwas, das mir Sorgen bereitete.

Von klein auf war es so gewesen, dass Verletzungen jeglicher Art, schnell heilten bei mir. Auch war ich erst ein einziges Mal in meinem Leben wirklich krank gewesen und das kam auch nur durch ein Gift. Meine Schwestern hatten es aus Versehen getan, ein falsches Kraut benutzt. Jedoch hatte ich seitdem immer Vorsicht walten lassen, wenn sie etwas ausprobieren wollten. Ich hatte keine Ahnung, woher der Gedanke kam, aber in mir drin hatte ich die Vermutung, dass es gar nicht so unabsichtlich geschehen war, wie sie beteuerten. Nicht nett so zu denken, aber ungeschehen konnte ich es auch nicht machen. Und dieser Gedanke ließ mich auch absolut nicht los. Dabei war es jetzt drei Jahre her.

Seit diesem Tag hatte ich etwas kämpfen gelernt. Einer der Stallknechte hatte sich meiner erbarmt und mir ein paar grundlegende Taktiken gezeigt. Mir war vollkommen klar, damit konnte ich gegen niemanden siegen, jedoch würde ich auch nicht kampflos aufgeben und es meinem Gegner so schwer wie möglich machen. Was mir an Kraft und Übung fehlte, machte ich mit Klugheit und Willen wieder gut.

 

So in Gedanken versunken, sah ich den Mann vor mir erst, als Samara sich aufbäumte und ich mich so stark an den Zügeln festhalten musste, dass meine Finger weh taten. Tänzelnd wurde sie etwas ruhiger, nachdem der Mann seine Hand zu ihr ausgestreckt hatte. Samara war ein gutes Pferd, loyal, aber ebenso neugierig wie ich selbst. Kein Wunder also, dass sie nun viel ruhiger stehen blieb und ihren Kopf gegen seine Hand drückte. Als würde sie ihn darum bitten, sie zu streicheln.

Mein Herz pochte sofort viel schneller als gewöhnlich und ich starrte ihn einfach nur an. Etliche Sekunden, wenn nicht sogar eine ganze Minute. Auch dann noch, als seine Augen von dem Pferd zu mir glitten und unsere Blicke sich trafen. Nun setzte mein Herz für eine kleine Sekunde aus. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas derart schönes gesehen.

Sein Gesicht war scharf geschnitten, hohe Wangenknochen, eine gerade Nase und Augen, in einer solch ungewöhnlichen Farbe, dass ich sie nicht zu benennen vermochte. Sein Haar sah fast weiß aus im Mondschein, ging bis knapp unter die Ohren und war glatt. Durch eine leichte Brise wurde es kurz aufgewirbelt und seine Augen funkelten vor Belustigung. Auch seine Lippen waren schön. Im klassisch männlichen Stil, versteht sich. Dabei wurde mir auch bewusst, dass ich einen Mann noch nie als schön bezeichnet hatte, weil sie es alle nicht waren. Dieser hier... Er war es ganz eindeutig und unter seinem Blick wurde mir ganz anders. Ich schluckte mehrmals, ehe ich mich räusperte. Er machte mich nervös.

„Was macht Ihr um diese Uhrzeit hier im Wald?“, traute ich mich mutig zu fragen - obwohl es mit meinem Mut auch nicht so weit her war. Die Belustigung in seinen Augen erreichte nun auch seinen Mund und er lächelte mich nachsichtig an. Als wäre ich ein kleines Kind, dass eine dumme Frage gestellt hatte. Mhh, vielleicht hatte ich das sogar wirklich. Immerhin war ich los geritten, um die Alyona zu sehen. Und da sie in diesem Waldstück sein sollten, konnte es nur bedeuten, dass er zu ihnen gehörte.

„So jung und doch so neugierig. Und unwissend.“ Seine Stimme jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken – sie klang, kalt wie Eis und gleichzeitig samtig weich - und ich umklammerte die Zügel wieder fester. Wenn er mich angreifen würde, wollte ich schnell fortkommen. Er machte allerdings nicht den Eindruck, als wolle er mir etwas böses. Und selbst wenn, ich war mir auch darüber bewusst, dass er leichtes Spiel hätte. Seine Schultern waren muskulös, ebenso wie seine Arme und seine Brust, die sich deutlich unter seinem Leinenhemd abzeichnete. Auch seine Beine zeigten Muskeln, was nur bedeutete, er war das Laufen, auch das schnelle, durchaus gewöhnt. Im Gegensatz zu mir. Ich ließ meine Augen schnell wieder nach oben gleiten, ehe es zu peinlich geworden wäre.

„Das beantwortet meine Frage nicht.“ Ja, ich war kühn. Vater sagte immer, kühn und dumm. Ich wusste nicht, was an meiner Neugier so dumm sein sollte. Nur, weil ich mich eben nicht mit allem einfach so abfand, hieß das nicht, dass ich dumm war. Nur eben, wie der Fremde eben richtig sagte unwissend. Dafür konnte ich selbst jedoch nichts.

„Wie wahr, wie wahr, kleines Mädchen. Du bist ein kluges Köpfchen, doch deine Unerfahrenheit könnte dir den schmalen Hals schon bald brechen. Kehre um, ehe es zu spät ist und man dich hier sieht.“ Ich schnaubte nun. Bevor man mich sehen würde? ER hatte mich doch schon gesehen. Dieser Ratschlag war also nicht wirklich sinnvoll und sicher würde ich auch nicht so schnell nach Hause umkehren. Ich war hergekommen, um endlich die Alyona kennen zu lernen. Da mochten noch tausend Männer hier im Wald sein. Ich würde mein Ziel nicht aus den Augen verlieren.

„Und Ihr? Eure Augen haben mich gesehen, Ihr habt meine Stimme gehört und mein Pferd gestreichelt. Meint Ihr nicht auch, dass Euer wohl gemeinter Ratschlag eigentlich ein paar Minuten zu spät erfolgt?“ Ich reckte das Kinn vor und sah halbwegs auf ihn herab. Obwohl ich auf einem Pferd saß – und Samara war nicht besonders klein – war ich fast auf seiner Augenhöhe. Dieser Mann war wirklich groß, besonders im Gegensatz zu mir. Meine Mutter und Schwestern hatten sich immer darüber beschwert, wie klein ich für ein Mädchen aus ihrer Familie war und wie schrecklich es sei, dass die Kleider meiner Schwestern, die ich meisten bekam, immer geändert werden mussten. Aber ich konnte doch nun wirklich nichts dafür. Ich wäre auch viel lieber ein wenig größer gewesen. Auch, damit man mich ernster nahm. Wer hörte schon gerne auf einen Zwerg?!

Durch sein Lachen wurde ich erneut aus meinen Gedanken gerissen und ich versuchte ihn wütend anzusehen. Machte er sich etwa über mich lustig? Nun, dann hatte er sich mit der falschen angelegt. Ich war nicht groß, aber ich hatte immer mal heimlich trainiert und wusste auch, ich war nicht schwach. Ich konnte mich durchaus selbst verteidigen wenn es sein musste. Natürlich wusste ich nicht, ob ich gegen diesen Mann ankommen könnte, aber selbst wenn es mir an Kraft fehlte, ich war schlau. Man musste nicht immer mit Muskelstärke gewinnen. Auch schon oft in der Geschichte hatte man gesehen, so einige Male gewann der mit Köpfchen, gegen den mit Muskeln. Genau das hatte ich auch vor und wünschte es mir jetzt sogar.

„Wie wahr, wie wahr. Weißt du was? Du bist in Sicherheit vor mir, weil ich dich wirklich amüsant finde. Außerdem beeindruckt mich dein kühner Mut doch sehr. Es kommt wirklich nicht oft vor, dass ein Mensch mich beeindruckt. Zum lachen bringen mich wirklich viele, alleine schon durch ihren Übermut, aber in deinen Augen sehe ich die Wachsamkeit und die Entschlossenheit, die den Anderen bisher fehlte“, erklärte er, nachdem sein Lachen verebbt war.

„Nun, ich weiß nicht so recht, ob ich mich geschmeichelt fühlen soll, Sir.“ Ich versuchte einfach mal höflich zu bleiben. Auch wenn ich keine Ahnung über seine Stellung, Herkunft oder Stärke hatte, erschien es mir nun doch recht angebracht. Zumal er definitiv älter war als ich selbst. Auch wenn ich neugierig, wissbegierig oder sonst etwas war, was meiner Familie missfiel, so hatte ich doch auch eine ebenso gute Erziehung genossen. Diese setzte ich nun ein. Gekonnt.

Erneut lachte er und musterte mich eingehender.

„Warum bist du hier, Mädchen?“, fragte er. Dabei kraulte er Samara weiter, die es sichtlich genoss. Ja, sie war wirklich sehr loyal, dachte ich spöttisch und seufzte leise. Sie liebte Streicheleinheiten einfach viel zu sehr. Ich konnte ihr auch gar nicht böse deswegen sein. Das Einzige, weswegen ich manchmal nicht gut auf sie zu sprechen war... Wenn sie mir meine Äpfel weg aß! Ich liebte diese Früchte einfach viel zu sehr. Ich liebte es, wie sie aussahen, so schön rot, und wie sie schmeckten erst Recht.

„Ich will zu den Alyona“, erklärte ich aufrichtig.

Es erschien mir vollkommen unnötig, ihn anzulügen. Mit Leichtigkeit hätte er mich töten können, es aber nicht getan. Daher bezweifelte ich nun sehr, dass er es noch tun würde. Vielleicht war es ihm sogar einfach zu lästig und ich kein angemessener Gegner. Recht hatte er. Mit mir würde er keine Minute beschäftigt sein.

„So so, das willst du also. Und was hast du dir gedacht? Du spazierst einfach mal zu ihnen, plauderst ein wenig und kehrst dann nach Hause zurück? Glaubst du nicht, dass sie dich dort behalten werden? Ein so hübsches junges Ding kommt nicht jeden Tag einfach Mal so vorbei. Es ist, als wolltest du dich ihnen als Geschenkt anbieten. Das ist vollkommen naiv, Mädchen.“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Wieder hatte er Recht. Ich hatte mir eigentlich überhaupt keine wirklichen Gedanken gemacht was geschah, wenn sich mein Wunsch erfüllt hatte. Was passieren würde, wäre ich erst einmal bei den Alyona. Wenn die Geschichten stimmten...

Sein Lachen riss mich erneut aus meinen Überlegungen. Herrgott nochmal! Konnte man denn nicht mal fünf Minuten Ruhe haben zum denken? Fast schon wie daheim...

„Ich sag es dir, weil ich dich sehr sympathisch finde. Du solltest auf keinen Fall zu ihnen gehen, Mädchen, denn wenn du es tust, wirst du niemals zu deiner Familie zurück können. Und nein, dass ist keine Drohung von mir. Es ist ein guter Rat. Also überlege dir ganz genau, was du willst. Wenn du umkehrst, bringe ich dich zum Stadtrand und damit in die Sicherheit deiner Familie. Solltest du immer noch zu den Alyona wollen, werde ich dich eben dorthin bringen, dir deinen Wunsch erfüllen. Du musst dir nur wirklich bewusst sein, was dein Wunsch ist, dein Begehr. Und was du bereit bist, dafür zu opfern.“

Mühsam schluckte ich, drehte mich leicht und sah zu der Richtung aus der ich kam. Meine Familie... die Menschen, die ständig nur auf mir herum gehackt hatten. Bei denen ich absolut niemals etwas richtig gemacht hatte. Vor allem aber die Menschen, bei denen ich mich nicht wie ich fühlte. Manchmal hatte ich mir vorgestellt, sie hätten mich nur gefunden oder adoptiert. Dass ich deswegen so anders war als sie. Aber die Realität sah leider gänzlich anders aus. Es gab so viele Beweise dafür, dass ich seid meiner Geburt schon zu dieser Familie gehörte, zu niemand anderen.

Ich atmete tief durch, schloss die Augen und strafte die Schultern. In einer Sache war ich mir absolut sicher: sie würden mich weder suchen noch vermissen. Es würde ihnen nur recht sein, wenn ich verschwunden wäre. Diese Überlegungen waren es dann, die mich schlussendlich handeln ließen. Ich traf meine Wahl, die alles weitere nun entscheide würde.

Ich drehte mich wieder zu dem Mann herum, setzte ein freundliches Lächeln auf – meine Mutter war was derlei Sachen anging eine wahrlich gute Lehrerin – und nickte.

„Wenn Ihr mir Euren Namen sagt, werde ich Euer Geleit gern annehmen. Auf meinem Weg zu den Alyona.

Kapitel 2 ~ Miguellé

 

 

Zuerst fühlte es sich noch absolut richtig an. Und gut. Erst als der Wald immer dunkler und dichter wurde, fühlte ich einen Anflug von Angst in mir aufsteigen. Ich versuchte es zu unterdrücken, doch das gelang mir wohl nur mäßig, denn auch Samara wurde wegen mir nervös und tänzelte etwas herum. Ich hatte Schwierigkeiten, sie zu zügeln und auf dem Weg zu halten. Auf keinen Fall wollte ich mir die Blöße geben, dass mein eigenes Pferd mit mir durchging. Mein Begleiter würde das sicher nicht zu schätzen wissen, selbst dann, wenn ich für seine Unterhaltung damit sorgen würde.

„Schh, ganz ruhig mein Mädchen“, versuchte ich sie zu beruhigen. Und irgendwie auch mich selbst.

„Noch können wir umkehren“, hörte ich meinen Begleiter mit amüsierter Stimme sagen. Mir schien es eh so, dass er die ganze Zeit gute Laune hatte, obwohl wir schon mindestens eine Stunde unterwegs waren. Vielleicht sogar bereits zwei oder auch nur eine halbe. Ich hatte mein Zeitgefühl vollkommen verloren. Nicht wirklich verwunderlich bei mir und in dieser ganzen so unwirklichen Situation. Ich straffte die Schultern und nahm die Zügel fester in die Hände, Samara hörte augenblicklich auf meine Gesten. So war es schon sehr viel besser.

„Nein! Ich habe mich entschieden und ich will es wirklich. Ich bin schon viel zu lange vor der Wahrheit geflohen.“

„Der Wahrheit?“ Er drehte das Gesicht zu mir und sah mich fragend an. Oh, endlich war sein Blick nicht voll Heiterkeit. Er wirkte viel ernster als die ganze vergangene Zeit.

„Ja, der Wahrheit. Ich bin anders als der Rest meiner Familie. Sie haben mir immer das Gefühl gegeben, ich sei dumm, naiv und würde es nicht würdigen, was sie für mich taten. Aber eigentlich... Eigentlich haben sie nichts für mich getan, außer mich aufzuziehen. Und zwar so, dass ich werde wie sie. Leider bin ich das aber nicht. Und diese Wahrheit ist es, vor der ich immer Angst hatte. Der ich mich verschlossen habe. Ich liebe meine Familie, aber umso weiter wir gerade kommen, umso mehr spüre ich, dass es die richtige Entscheidung ist. Außerdem bin ich noch nie vor einer Herausforderung geflohen. Ich liebe das Abenteuer. Und ich stelle mich meiner Angst, die natürlicherweise dennoch empfinde.“

Miguellé schwieg, ließ seinen Blick jedoch auf mir liegen. Er schien den Weg den wir gehen mussten sehr genau zu kennen. Er musste nicht einmal aufsehen, als eine Weggabelung kam.

Kurz nachdem wir los gegangen waren, hatte er mir tatsächlich seinen Namen verraten und mir gesagt, ich solle ihn duzen. Obwohl es mir doch falsch vorkam, wollte ich ihn auch nicht verärgern und tat es. Im Gegenzug hatte ich ihm meinen Namen auch verraten. War das ein Fehler? Ich wusste es nicht. Was mir jedoch bekannt war, war die Tatsache, dass auch Namen eine heftige Magie in sich trugen. Noch so eine Sache, die man in Sarionth sehr ernst nahm. Man versuchte allen Namen zu geben, die nur mit wenig Magie behaftet waren. Und die Ironie an der Sache? Um einen geeigneten Namen zu bestimmten, benutzte man – wie sollte es auch anders sein – Magie!

Die Menschen dort waren in meinen Augen sehr heuchlerisch. Sie lehnten die Magie ab, benutzten sie aber so, wie sie es für richtig hielten. Wenn das alleine nicht schon genug Grund war, um von dort zu verschwinden. Und sei es auch nur für eine Nacht. Miguellé hatte mir allerdings deutlich gesagt, dass ich nicht zurück gehen konnte. Selbst wenn es gehen würde... ich wollte es nicht. Ja, ich würde sie vermissen, da brauchte ich mir nun wirklich nichts vormachen, doch dies hier war mein Weg. Ich wollte es so.

„Du bist wirklich ungewöhnlich, kleines Mädchen.“ Ich schnaubte bei seiner Bemerkung. Ich war ganz sicher kein kleines Mädchen! Okay, ja, ich war noch nicht volljährig, damit hatte er wirklich Recht, doch ein kleines Mädchen war ich auch schon eine ganze Weile nicht mehr. Zumindest fühlte es sich für mich nicht so an, trotz allem, was meine Mutter und meine Schwestern mit mir gemacht hatten.

Die vielen, aufwendigen Kleider, die Bälle und Teepartys... ich konnte all das schon nicht mehr sehen. Wollte es nicht. Vielleicht hatte ich mir mit dem heutigen Ausflug jedoch zu viel vorgenommen. Aber das konnte dann auch nur die Zeit zeigen. Ich war, trotz meiner leichten Ängste und Zweifel, auch ziemlich neugierig. Ich hatte nicht wirklich eine Ahnung davon, was mich erwarten würde am Ziel von Miguellé. Es konnte einfach nur ein rauschendes Fest sein oder sogar mein Tod. Einfach alles war möglich. Und dieses Alles, war der Grund meiner Angst in diesem Moment. Und meiner unbändigen Freude. Es mochte falsch sein was ich hier tat, aber ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich wie ich selbst. Daher verdrängte ich alles negative und versuchte mich einfach nur auf das hier und jetzt zu konzentrieren und es ebenso anzunehmen.

„Wir sind gleich da“, informierte er mich, blieb stehen und sah mich an.

„Ich biete dir hiermit, zum letzten Mal, die Möglichkeit es dir anders zu überlegen und zu deiner Familie zurück zu gehen.“ Mein Blick traf seinen, ganz ruhig.

„Ich denke, wir wissen beide, dass es schon kein zurück mehr gab, als ich dir begegnet bin.“

Er schmunzelte amüsiert, schien mit meiner Antwort aber gerechnet zu haben. Oder er hatte sie zumindest erhofft, denn er nickte leicht.

„Du hast Recht. Seitdem du mir in die Augen gesehen hast, hat dein Schicksal seine richtige Laufbahn gefunden und beschreitet nun den vorherbestimmten Weg.“ Seine Antwort irritierte mich etwas. Schicksal? Richtige Laufbahn? Was sollte das alles nur bedeuten... Aber viel wichtiger noch, woher wusste er all diese Dinge, die mir nur ein großes Fragezeichen gaben?

„Woher...“, setzte ich zum reden an, wurde aber von ihm sofort unterbrochen. Er sah mich ernst an, griff meine Hand und zog mich in einer fließenden Bewegung vom Pferd. Ich war so überrascht, dass ich nicht Mal einen Laut von mir gab. Sein Körper war so angespannt, dass ich selbst nervös wurde. Irgendwas war hier ganz und gar nicht in Ordnung.

„Mi-“, versuchte ich es wieder. Seine Hand verschloss meinen Mund und sein Körper wurde immer kälter. Ich gab keinen Mucks mehr von mir, versuchte nur zu lauschen, doch außer seinem wilden Herzschlag, nahm ich nichts richtig wahr. Selbst die Geräusche der tiefen Nacht waren verstummt. Mir fiel erst jetzt auf, dass ich schon eine Weile keine Vögel mehr gehört hatte. Oder auch nur das Rauschen der Blätter im Wind. Merkwürdig.

„Wenn ich es dir sage, wirst du dich auf den Boden legen, so flach es geht. Schließe die Augen und versuchte ruhig zu atmen. Dabei halte dir die Ohren zu. Das ist sehr wichtig. Hast du das verstanden?“ Ich nickte ganz leicht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, jede schnelle Bewegung wäre fatal für mich und auch für ihn. Ich überlegte noch, was gerade passieren könnte, da hörte ich ein schlurfendes Geräusch. Wie Stoff, der über den mit Blättern bedeckten Waldboden gezogen wurde. Schwerfällig, plump. Und vor allem immer näher kommend.

Nein, das hieß sicher nichts gutes...

 

„Jetzt“, flüsterte er mir leise ins Ohr. Ich handelte sofort, ließ mich erst auf die Knie sinken, dann auch mit dem Gesicht auf die Erde. Im Bruchteil einer Sekunde schlossen sich meine Augen. Nur meine Atmung dauerte einen Moment. Klar, ich war aufgeregt wie noch nie und auch hätte ich zu gerne geschaut. Leider hatte ich auch ein wenig Angst und tat daher, was Miguellé mir gesagt hatte. Das Stoffgeräusch wurde lauter, es kam also näher.

„Miguellé, mein lieber kleiner Junge.“ Mein Herz setzte aus. Diese Stimme war einfach grauenvoll. Weil sie so sanft war, dass man ihr unwillkürlich vertrauen schenkte, ganz gleich, was sie von sich gab. Man musste einfach. Wie ein Zwang, den man sich nicht entziehen konnte, so sehr man es auch versuchte. Und man tat ganz sicher, was sie wollte, dessen war ich mir sofort bewusst. Oh Mist, ich hatte mir die Ohren zuhalten sollen! Nun war es zu spät. Ich wollte mich jetzt nicht bewegen, also versuchte ich einfach an meine Familie zu denken, an die ewigen Diskussionen und die gemeinen Sachen, die meine Mutter und Schwestern mir immer wieder gesagt hatten. Leider lenkte es nur sehr gering ab. In einem Ohr hörte ich meine Mutter schimpfen, im anderen hörte ich diese Stimme als Miguellé leise lachte.

„Klein? Ich? Oh, du wirst dich nie ändern, Alte. Scher dich zurück in deine Höhle und koch dir ein kleines Menschlein. Du siehst aus, als würde deine Haut dir gleich vom Knochen fallen. Wohl nicht sehr erfolgreich bei der Jagd. Nun, das muss wohl am Alter liegen, altes Mütterlein“, sagte er beleidigend. Ob das wirklich klug war? Er schien sie jedoch zu kennen – mir war sofort klar, dass das nicht ihr erstes Gespräch war -, also ging ich davon aus, dass er schon wusste, wie er mit ihr umzugehen hatte. Die andere Person zischte kurz, aber sehr zornig.

„Du wagst es so mit mir zu reden, kleiner Junge? Hat dir denn dein Vater keine Manieren beigebracht? Oder bist du nur so dumm, dein Leben wegwerfen zu wollen?“ Alle Sanftheit war verschwunden, als wäre sie nie existent gewesen. Meine Atmung wurde wieder schneller, mein Herz pochte... immer lauter...

„Vor allem hat mich mein Vater eines gelehrt: Habe niemals Angst vor der Hexe des südlichen Waldes. Und das habe ich auch nicht, altes Weib. Mir kannst du gar nichts.“

Verdammt! Meine Neugier regte sich weiterhin. Ich hatte in Mutters Geschichten von der Hexe des südlichen Waldes gehört, unzählige Male um genau zu sein. So gerne wollte ich sie sehen, dass ich alle Vorsicht und alle Ratschläge von Miguellé in den Wind schlug, die Augen öffnete und den Kopf hob. Nur ein winzig kleines Stückchen, mehr war es nicht. Ein riesiger Fehler!

Sie sah mich sofort an, fast so, als habe sie mich schon vorher gewittert, was doch eigentlich nicht sein konnte, nach seiner Ansage was ich zu befolgen hätte. Aber, nun ja... ich hatte auch nicht wirklich daran geglaubt, dass sie mich übersah, da ich direkt neben Miguellés Füßen lag. Niemand könnte mich hier übersehen. Dennoch hatte sie vorher nicht den Anschein erweckt, dass da noch jemand war außer der Mann vor ihr.

„Ein Menschenkind!“, zischte sie und trat einen großen Schritt auf mich zu. Miguellé stellte sich sofort zwischen uns.

„Sie ist nichts für dich, Alte! Verzieh dich endlich.“

„Oh, du hast noch nichts gelernt in deinem langen Leben, Junge!“, zischte sie erneut. Dieses Geräusch ging mir langsam auf die Nerven, weil es mir eine Gänsehaut der schlechten Art bescherte. Ich wollte es nicht mehr hören. Dennoch lugte ich ganz vorsichtig um Miguellé herum und sah mir diese Gestalt an um die sich so viele Geschichten rankten.

Die sanfte Stimme zum Anfang, passte nicht mal ansatzweise zum Äußeren. Sie war klein, in gebückter Haltung sah es aus, als habe sie einen Buckel auf dem Rücken. Ihre Haare waren zwar lang und strohweiß – was durchaus hübsch hätte aussehen können -, aber es war auch sehr dünn und strähnig, sie sahen wohl nur selten Wasser und Seife. Und erst ihr Gesicht!

Die Haut hatte einen gräulichen Schimmer, war faltig, zerknittert und überall war sie mit Warzen überseht. Dazu sah man hier und dort mal eine kreisrunde offene Stelle, aus der ein wenig Blut heraus sickerte, sie schien es jedoch nicht zu bemerken oder es kümmerte sie nicht weiter. Ich ekelte mich auf der Stelle davor, denn ich hatte Blut noch nie sehen können. Mir wurde schlecht davon und schwindelig. Wie auch jetzt wieder.

Ich kam unwillkürlich auf die Beine. Gesehen hatte sie mich ja nun eh schon, da machte es auch keinen Sinn mehr unten zu hocken. Falls nun eine Gefahr drohte, musste ich schnell rennen können. Ging von unten nur schlecht. Ich drückte mich wegen dem Schwindel an seinen Rücken und schloss die Augen einen Moment. Wie sagte man: Aus den Augen, aus den Sinn. Das versuchte ich damit zu erreichen, mir mäßigen Erfolg, da sie weiter sprach und mit ihrer Stimme auch ihr Bild hinter meinen geschlossenen Lidern auftauchte.

„Fass sie an und du brauchst einen neuen Kopf.“ Nun klang er so eiskalt, wie ich es ihm auf keinen Fall zugetraut hätte. Als er sich bewegte, wich ich von seinem Rücken ab und sah, dass er ein langes Schwert mit einen goldenen Knauf zog. Hatte er das die ganze Zeit über schon, wie hatte ich es übersehen können? Es war wunderschön! Am Griff funkelten unzählige kleine Edelsteine in verschiedenen Farben und die Klinge glänzte sogar nun im Mondlicht, dass nur schwer durch das Blätterdach drang.

„Gib sie mir! Gib sie mir! GIB SIE MIR!“, kreischte die Hexe und war ganz plötzlich direkt hinter mir. Ich stieß einen erschrockenen Schrei aus und wurde sofort von meinem Begleiter hinter sich gezerrt, was sich anfühlte, als wolle er mir den Arm mit einen kräftigen Ruck herausreißen. Nun, das war vermutlich sogar wirklich unwichtig im Vergleich dazu, was diese Frau mit mir anstellen würde bekäme sie mich tatsächlich in die Hände.

„Verdammt! Ich hatte doch eigentlich gewusst, dass ein Mensch nur Ärger bringen konnte. Ich hätte dich im Wald zurück lassen sollen, egal ob du dann gefressen worden wärst“, zischte er mir leise zu. Ich zuckte zusammen und versuchte nicht betreten zu Boden zu schauen denn auch ich musste mich wohl nun konzentrieren. Auf keinen Fall wollte ich eine noch größere Last für ihn werden, nachdem er mir geholfen hatte und es anscheinend auch weiterhin tun wollte. Sonst wäre er kaum in Kampfhaltung gewesen und hätte sicherlich auch nicht sein Schwert gezogen. Da war ich mir wirklich sicher, obwohl ich ihn nicht kannte.

„Ja, vielleicht. Aber nun ist es zu spät. Sag mir lieber, wie ich dir helfen kann“, knurrte ich mit dem letzten Rest meiner Würde heraus und versuchte die Alte nicht anzusehen. Gelang mir etwa dreißig Sekunden lang, dann wandte ich ihr doch mein Gesicht zu. Ich traf sofort auf ihren Blick. Nun konnte ich auch erkennen, dass ihre Augen nur aus einem intensiven Weiß bestanden. Nur eine Iris also. Pupillen schienen auf den ersten Blick gar nicht vorhanden zu sein. Ich konnte nichts dergleichen erkennen.

„Sei einfach still und halt dich immer hinter mir. Du hast auch so schon für genug Ärger gesorgt. Verdammt.“ Als wäre es nur meine alleinige Schuld, dachte ich verstimmt, gab aber keinen Mucks mehr von mir. Vielleicht sollte ich jetzt wirklich tun was immer er auch verlangte. Solange ich das Gefühl hatte, dass er mich beschützte, musste ich einfach meinen Stolz und Ärger hinunter schlucken. Also blieb ich tatsächlich fürs Erste ganz still. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass frei zu sein nicht unbedingt bedeutet hingehen zu können, wo man gern hingehen möchte. Nicht so, wie ich es mir immer vorgestellt ha...

„Miguellé, rechts von uns war grade irgendwas. Ein Schatten, sehr schnell“, wisperte ich erschrocken, obwohl ich mir eben selbst noch verboten hatte wieder zu sprechen. Irgendwie war mir jedoch danach, ihn zu warnen. Konnte für mich ja auch nur von Vorteil sein, wenn er über die Gefahren Bescheid wusste. Tot nutzte mir der Mann nämlich herzlich wenig. Und ich mochte ihn irgendwie schon jetzt.

Er fluchte ungehalten und konzentrierte sich jetzt noch um einiges mehr. Ich bemerkte, dass seine Ohren, die etwas zu Spitz waren für einen Menschen, zu zucken begannen. Ganz wie bei einem Tier, dass auf etwas aufmerksam wurde und nun wissen wollte, woher das neuerlich Geräusch kam. Konnte er es tatsächlich hören? Es würde mich kaum noch überraschen im Moment.

„Sei ein lieber Junge und gib mir den Menschen. Dann muss ich dich nicht töten, ehe ich sie mir hole und verspeisen kann. Oh, was habe ich da schon für tolle Rezepte im Kopf!“

Alles Blut wich mir aus dem Gesicht und ich versteifte mich auch unwillkürlich. Nein, ich wollte auf keinen Fall von dieser alten Hexe verspeist werden. Ich wollte sogar von niemanden verspeist werden! Dafür war ich ganz sicher einfach noch viel zu jung und hatte auch noch viel weniger gesehen. Da gab es dann doch einiges in meinem Leben, für das es sich zu leben lohnte. In Hundert Jahren konnte ich vielleicht anders darüber denken.

„Ich schätze, es liegt auch am Alter, dass du mich nicht verstanden hast. Verschwinde, Hexe. Ich wollte heute mal mit sauberen Sachen zu meinen Freunden kommen“, brüllte er, wobei er auch ein wenig amüsiert klang plötzlich. Ich verstand es nicht denn sie konnte ihm doch wohl kaum etwas entgegen setzen, so alt und gebrechlich wie sie erschien. Oder war es wegen dem Schatten? Er wusste gewiss, was es damit auf sich hatte sonst hätte er wohl kaum geflucht.

Ich zitterte wieder etwas mehr und sah zu der Stelle, wo ich den Schatten wahrgenommen hatte. Natürlich war jetzt nichts mehr dort, aber ich konnte mich auch täuschen. Meine Haut begann eigenartig zu prickeln.

Ich wollte mich gerade mehr auf die dunkle Stelle konzentrieren, als ein Lufthauch direkt an mir vorbei wehte. Nun, eigentlich war es kein Hauch, es hatte sich eher wie ein Sturm angefühlt, aber nur kurzzeitig. Ich konnte es nicht richtig deuten. Doch das Röcheln der Frau nahm ich sehr bewusst war.

Mein Blick huschte zu ihr, sie hatte die Augen weit aufgerissen und fasste sich an den Hals. Unter ihren knochigen Fingern, sickerte dunkelrotes Blut hindurch und ergoss sich immer schneller über ihren Oberkörper. Vollkommen verwirrt und auch entsetzt, sah ich zu Miguellé. Leider verwirrte mich das nur noch mehr, denn dieser war nun vollkommen entspannt wieder und grinste breit. Hatte er sie noch alle? Was ging hier vor sich?

In mir begann die Angst zu pochen und ich zitterte immer Stärker.

„Du hast dir ganz schön Zeit gelassen, mein Lieber. Hast du uns etwa noch nicht gehört? Oh, du lässt echt nach“, kommentierte Miguellé die Szene. Mit wem sprach er denn jetzt? Ich sah mich langsam um, konnte jedoch nichts erkennen. Nicht mal einen Schatten oder Umriss. Vielleicht hatte Miguellé plötzlich den Verstand verloren.

Durch ein paar Geschichten, die ich beim Hafen aufgeschnappt hatte, wusste ich, dass so etwas durchaus möglich war. Also, von einer Sekunde zur nächsten den Verstand zu verlieren. Ich konnte mir das allerdings nicht so wirklich vorstellen.

„Und du hast mir etwas zu erklären“, erklang eine eiskalte Stimme hinter mir. Ich schnappte erschrocken nach Luft, wirbelte herum und sah einfach nur eine nackte Männerbrust vor mir. Ich sprang regelrecht ein paar Schritte fort und musste dennoch den Kopf heben um den Mann ins Gesicht sehen zu können.

Hatte ich geglaubt, Miguellé würde schön aussehen, so war dieser Mann atemberaubend. Und sehr beängstigend sein Blick den er auf mich gerichtet hatte. Keine Spur von Wärme war in seinen Augen zu erkennen und seine Haltung zeigte deutlich, dass er mich auch ohne mit der Wimper zu zucken umbringen würde. Mist!

Ich starrte ihn dennoch vollkommen gebannt an und sogar meine Angst wich. Ich konnte es mir nicht erklären. Er hatte rabenschwarzes Haar, das er in einen lockeren Zopf zusammengebunden trug, dazu jadegrüne Augen und ausgeprägte Wangenknochen. Breite Schultern, straffe Muskeln und einen beachtlichen Bizeps. Sein Bauch war auch nicht zu verachten mit dem hübschen wohl definierten Muskeln. Dazu hätte ich ihm aber die Hose weiter herunter ziehen und der leichten Spur von Haaren folgen müssen. Durchaus ein reizvoller Gedanke.

Innerlich seufzte ich vor Zufriedenheit so einen Mann ansehen zu können, während ich meine Beobachtung fortsetzte. Seine Schenkel waren auch muskulös und er lief Barfuß. Alles in allem konnte ich ehrlich sagen, ich war vollkommen hin und weg von ihm!

Als ich meinen Blick wieder hob, sah er mich spöttisch an und zog eine Augenbraue hoch. Oh Gott! Er hatte mich dabei erwischt, wie ich ihn ganz unverhohlen gemustert hatte. Verdammt, hatte ich vielleicht sogar gesabbert? Verwundert hätte mich das sicher nicht.

„Ja, nun, also...“, stammelte Miguellé, was mich sofort zu ihm schauen ließ. Ich hätte nie gedacht, das er mal ehrlich um Worte bangen musste.

Anscheinend war der Fremde jemand wichtiges, ich erkannte es an Miguellés ganze Haltung. Die Frage war nur noch, wer war das?!

„Du kannst es mir später erklären. Soll sie leben oder sterben?“, fragte der Fremde. Ich erstarrte und sah den Mann wieder an. Hatte er diese Frage tatsächlich gestellt? Verdammt! Damit machte man einfach keine Scherze. Leider ließ sein Blick darauf schließen, dass es kein Scherz war und er auch nicht zögern würde. Obwohl ich vor Angst einen Moment wie erstarrt war, würde ich nicht einfach so kampflos aufgeben! Niemals. Nicht, wenn ich so nah dran war meinem Traum zu verwirklichen.

Ich trat mutig einen Schritt auf ihn zu und bekam seine Aufmerksamkeit so auch wieder vollständig. Erneut hoch er eine Augenbraue und beobachtete mich fast schon neugierig.

„Na hör mal! Du kannst so etwas doch nicht einfach so in den Raum werfen, Mister! Und schon gar nicht kannst du es einem anderen überlassen, über mein Leben, oder Tod, zu entscheiden!“ Ich funkelte ihn an und spürte wie ich wütend wurde. Von Sekunde zu Sekunde mehr. Ich setzte erneut zum reden an, doch er schnitt mir das Wort ab indem er eine Hand hob.

„Halt den Mund, du nervst.“ Er sagte es tonlos, was meine Wut noch anstachelte. Dabei kam er jetzt nun seinerseits näher. Ich schnappte nach Luft. Das er so einfach sagte, ich würde nerven... Dieser Mann mochte Außen wirklich atemberaubend sein, Innen schien er jedoch hässlicher als die Hexe zu sein. Unwillkürlich fiel mein Blick auf ihre Leiche.

Dass sie tot war bezweifelte ich keine Sekunden. Jedoch war ich nicht auf das vorbereitet, was ich zu sehen bekam. Das Fleisch hatte sich von ihren Knochen gelöst und begonnen flüssig zu werden. Kleine Dampfschwaden stiegen auf, in mir die Übelkeit. Heilige...!

„Leben“, hörte ich Miguellé sagen und war tatsächlich dankbar für dieses eine Wort. Auch, weil es mich ablenkte. Ich wandte mein Gesicht wieder dem Fremden zu und erschrak als ich dabei mit meinem Gesicht direkt an seine Brust prallte. Ich hob den Blick und starrte in seine schönen grünen Augen. Wieder musste ich schlucken – auch die Galle von dem Anblick der Hexe -, um im nächsten Moment auf den Boden zu sinken. Alles um mich herum wurde schwarz...

Kapitel 3 ~ Geheimnis

 

 

Ich drehte mich auf die Seite und kuschelte mich weiter ins weiche Kissen, das so herrlich nach Rosen duftete. Gott, ich liebte diese Blumen so sehr. Aber Zuhause waren nie welche, weil meine Mutter deren Geruch zu penetrant fand und es als Geldverschwendung ansah, da die Blumen ja nach ein paar Tagen eh nur wieder verwelken würden. Abrupt verflüchtigte sich das schöne Gefühl in mir und ich schlug ebenso abrupt die Augen auf. Nein, ich war nicht Zuhause. Ganz und gar nicht. Aber in einem Keller, Kerker oder unter dem freien Himmel, war ich ebenfalls nicht.
Schlagartig kamen die Erinnerungen zurück was passiert war und ich setzte mich auf. Ich befand mich in einem fremden Zimmer. Obwohl man gut und gerne auch Saal hätte sagen können. Dieser Raum war absolut riesig und imposant. Außerdem sah man den Reichtum in jedem Quadratmeter. Alleine das Bett in dem ich lag... hier hätten mindestens vier Leute Platz gefunden!
Ich ließ den Blick weiter schweifen. Über den Marmorboden, den großen Schreibtisch bei den hohen Fenstern, den Balkontüren, drei weiteren Türen – diese waren sehr hübsch verziert – und einem wundervollen Bücherregal. Es war gefüllt bis zum letzten Winkel und ließ darauf schließen, dass der Besitzer dieses Zimmers gern las. Was Farben anging war es hauptsächlich in Weiß und verschiedenen Blau und Türkistönen gehalten. Es wirkte aber dadurch nicht kalt. Im Gegenteil. Und überall standen Vasen mit frischen Rosen in verschiedenen Farben.
Lächelnd setzte ich mich an den Rand des Bettes und schwang die Füße aus diesem. Wow, das Bett war verdammt hoch, denn ich berührte geradeso mit den Zehen den Boden, der ziemlich kalt war. Erschaudernd stellte ich mich hin. Verdammt, der war echt richtig kalt!
Plötzlich wurde eine der Türen aufgerissen und ein junges Mädchen kam herein. Ich schrak zusammen und war drauf und dran mich hinter dem Bett zu verstecken. Immerhin wusste ich nicht wo ich mich hier befand und wer mir etwas böses wollte. Obwohl das Zimmer schon angenehm war, konnte ich dennoch als Geisel oder ähnliches hier festgehalten werden. Man konnte ja nie wissen.
Sie knickste an der Tür.
„Guten Morgen, Mylady. Ich bin Lillianna und für Euch da, wenn Ihr etwas benötigt. Wenn Ihr ein Bad nehmen wollt, lasse ich eine Wanne für Euch ein, ehe ich das Frühstück anrichte. Vielleicht auf dem Balkon? Das Wetter ist heute Morgen mal wieder überaus hübsch.“
Ich kam kaum hinterher und verstand ungefähr nur die Hälfte des Gesagten. Klar, die Worte hatte ich alle mitbekommen, aber noch nicht so ganz, was hier vor sich ging. Ich war keine Gefangene? Nun, das war durchaus interessant.
„Wo bin ich hier?“, fragte ich vorsichtig. Das Mädchen lächelte freundlich.
„Im Moment befinden wir uns noch in Sarionth, aber ich denke, bevor der neue Tag anbricht werden wir weiter ziehen.“ Ich runzelte verwirrt die Stirn? Wir waren in meiner Heimatstadt? Das war kaum möglich. So riesig wie das Zimmer hier war, musste das gesamte Gebäude auch ebenso riesig sein. Und ich kannte alle Gebäude der Stadt. In keinen von ihnen, nicht mal im Schloss des Bürgermeisters, hätte das Zimmer gepasst.
„Das ist nicht möglich“, sagte ich daher und reckte das Kinn vor. Ich mochte vielleicht keine Gelehrte sein, aber dumm war ich sicher auch nicht. Damit konnte sie mich nicht in die Irre führen. Warum auch immer sie gedachte es zu tun.
Sie kicherte, verstummte aber sofort, als ich ihr einen bösen Blick zuwarf. Zumindest hoffte ich inständig, dass ich böse schaute. Ganz sicher war ich mir dessen natürlich nicht. Bisher gab es nicht viele Gelegenheiten um böse zu schauen. Zuhause traute ich mich derlei nicht. Und anderswo gab es nicht den geringsten Grund es zu tun.
„Oh doch, das ist es, Mylady. Magie ist zu fast allem fähig.“ Ich zuckte zusammen und sah sie nun genauer an. Erst jetzt viel mir auf, dass sie eine Art Schwanz hinterm Rücken hatte, der sich nun leicht bewegte. Und ihre Ohren... sie waren nicht seitlich am Kopf wie ich es kannte, nein, sie waren auf ihrem Kopf und... Oh Gott! Sie hatte Tierohren!
„Was bist du?!“
Obwohl ich versuchte mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen, konnte ich nicht verhindern, dass meine Stimme etwas barscher klang als ich es wollte. Und auch ein wenig ängstlich. Aber nur ein ganz klein wenig. Eine gesunde Portion Angst konnte einem das Leben retten. Aber ich hatte sie mit meiner Frage keinesfalls beleidigen wollen. Hatte ich wohl aber. Ich merkte es daran, dass ihr Lächeln verblasste. Ihr Gesicht wurde ausdruckslos.
„Wenn Ihr Antworten wünscht, so werde ich unverzüglich Master Miguellé darüber informieren.“ Auch ihre Stimme hatte den weichen Klang verloren und sie distanzierte sich. Oh weih! Ich war echt in ein Fettnäpfchen getreten. Aber so richtig!
„Hör zu, es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe oder dergleichen. Ich bin nur eben wach geworden, in einer vollkommen fremden Umgebung, nachdem ich mich Nachts aus dem Haus geschlichen habe und in den Wald ging. Dort wurden wir angegriffen und eine Hexe hat mich zu ihrem Abendessen erklärt. Dann habe ich zusehen müssen, wie man diese Hexe getötet hat, was wirklich kein schöner Anblick war. Zumal ich noch nie zuvor eine Leiche gesehen habe. Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen und mein Magen isst sich auch gleich selbst auf.“
Da ich nicht wusste wo ich war und was man mit mir vorhatte, sollte ich vielleicht einfach ehrlich sein. Sie schien mir jedenfalls nichts antun zu wollen, sonst wäre es schon passiert. Ich bezweífelte keinen Moment, dass sie dazu in der Lage war mich auszuschalten.
„Ich hab einfach... Angst...“, setzte ich dann leise hinzu und senkte den Blick. Demütig. Bei meinen älteren Schwestern half das absolut immer. Wenn sie dachten, sie hätten die Macht in der Hand. Warum sollte es also nicht auch bei Dämonen jeglicher Art funktionieren?
Mein Plan ging auf, denn sie sah mich wieder freundlicher an und kam näher.
„Das verstehe ich gut. Aber hier wird Euch nichts passieren, solange Master Miguellé es nicht sagt. Ihr steht unter seinem Schutz.“ Sie war mir nun so nah, dass ich auch die leicht spitzen Ohren besser sehen konnte. Und ihr Geruch... Sie roch nach Blumen und Wald. Nach Erde und Wasser. Es war wirklich angenehm. Fast so, als würde ich mich wie gestern Nacht im Wald befinden. In dem ruhigen, ungefährlichen teil versteht sich.
„Nun gut. Ich werde Euch wohl wirklich ein Bad einlassen und dann das Frühstück holen. Und natürlich etwas zum anziehen. Vielleicht fühlt Ihr Euch dann etwas wohler.“ Ich nickte zögerlich.
Ein Bad und Essen klang himmlisch!
Sie ging durch eine der drei Türen, die ich schon gesehen hatte, und kurz darauf hörte ich Wasser rauschen. Mit einen kurzen Blick auf mich, verließ sie das Zimmer dann wieder. Neugierig wie ich war, ging ich in den Raum, der ein traumhaftes Bad offenbarte! Bei all dem Luxus erschrak ich tatsächlich sogar. Anscheinend war alles hier sehr groß geraten.
Das Bild des fremden Mannes erschien vor meinen Augen und einen winzigen Moment schlug mein Herz viel schneller. Rasch schüttelte ich alle Gedanken an ihn ab und besah den Raum.
Die Wanne stand vor einer großen Fensterfront, mit einem wundervollen Blick in einen blühenden Garten weiter unten. Sofort hatte ich die Befürchtung, man würde mich von dort dann in der Wanne sehen können, doch als ich näher an die Fenster trat, wurde mir bewusst, dass das Bad dafür doch etwas zu hoch war. Gott sei Dank! Ich wäre einfach so im Erdboden vor Scham versunken wenn irgendjemand mich nackt sehen würde. Immerhin hatte ich auch viel zu viel Gewicht. Laut Aussage meiner Familie zumindest. Und das, obwohl ich mich ständig bewegte...
Neben der Toilette und dem Waschbecken, befanden sich auch noch zwei Regale mit Handtüchern und einigen Tiegeln und Töpfen darin, sowie ein Schrank im Raum. Es roch sehr angenehm nach Blumen und verschiedenen Ölen.
Sofort spürte ich ein Gefühl des Wohlbefindens, obwohl ich noch immer Angst hatte.
Wo immer ich mich hier auch befinden mochte, ich würde genießen, was man mir gab. Aber ebenso würde ich mich wehren, wenn ich Gefahr spürte...


Etwa zwei Stunden später war ich frisch gebadet und hatte gegessen. Reichlich. Außerdem saß ich in einem wirklich wunderschönen Kleid aus blauen Samt und frisch frisierten Haaren auf dem Balkon meines Zimmers. Bis auf Lillianna hatte ich noch niemand anderen gesehen. Gehört allerdings schon. Daher hatte ich das Frühstück auch auf dem Balkon vorgezogen. Ich war mittlerweile ziemlich neugierig, wo ich denn hier nun wirklich war. Da ich ja nach draußen sehen konnte, fiel Sarionth weg. Auch wenn Lilly etwas anderes gesagt hatte.
Seufzend stand ich auf, ging nach drinnen und steuerte direkt die Tür des Zimmers an. Nachdem ich sie geöffnet hatte, sah ich mich in den großen hellen Flur nach beiden Seiten um. Nichts und niemand war zu sehen – abgesehen von all diesen Kostbarkeiten auf den kleinen Schränken zwischen den Türen - also schlüpfte ich raus und lief nach rechts. Irgendwo musste doch jemand zu finden sein!
Jemand, der mir meine Fragen beantworten konnte. Allen voran die Frage, warum ich hier war. Und wo hier war. Unmöglich konnte man jemand einfach entführen. So etwas kannte ich in meiner bisherigen kleinen Welt nicht. Immerhin achtete in meiner Familie und Bekanntenkreis jeder absolut auf das äußere Erscheinungsbild. Nur aus diesem Grunde war es meiner Mutter und meinen Schwestern immer so gegen den Strich gegangen, wenn ich nicht perfekt war. Nicht in ihren Augen jedenfalls.
Ich passierte einige Türen bis ich endlich bei einer großen Treppe ankam und diese nach unten ging. Mein Schritt war langsam, da ich auf der Hut war und im Falle des Falles hätte ich mich rasch verstecken können. Wenn keiner direkt die Treppe herauf oder herunter kam. Oh man, eigentlich war diese Idee, dass ich mich so besser verstecken könnte, total dämlich. Zumal mich die Bewohner hier vermutlich schon zehn Meilen gegen den Wind riechen konnten.
Unten angekommen, drangen Stimmen in mein Ohr denen ich ganz unbedacht folgte. Es war meine einzige Spur hier. Alles war besser als nur herum zu sitzen und nichts zu tun. SO war ich einfach nicht. Und so würde ich auch nie wieder sein, das hätte ich mir doch selbst versprochen. Es fühlte sich falsch an, das erste Versprechen an mich selbst gleich schon wieder zu brechen.
Umso lauter die Stimmen wurden, umso deutlicher nahm ich auch einige Stimmen wahr.
„Was macht dieser kleine Mensch hier? Und vor allem ein, ein kleines Mädchen? Ich will sie nicht hier haben, D“, hörte ich kurz darauf eine aufgeregte und kalte Frauenstimme. Einen solchen Ton hatte ich noch nie gehört. Nicht einmal meine Mutter bekam diese Art von Kälte wenn sie mit mir sprach. Ich bekam sofort eine Gänsehaut und ohne zu wissen warum, war ich mir doch sicher, die Rede war von mir.
„Shy“, knurrte ihr Gegenüber. Diese männliche Stimme erkannte ich auf Anhieb auch wenn ich sie nur kurz im Wald gehört hatte. Es war der Fremde der mir und Mig zur Hilfe gekommen war. Irrtum ausgeschlossen.
„Aber... Es gab noch nie Menschen hier im Palast! Schick sie fort! Ich finde es lächerlich, sie zu beherbergen. Und wenn sie schon hier sein muss, dann sperrt sie wenigstens in den Kerker, zu den ganzen anderen Viechern.“ Die Frau wurde hörbar ungehaltener und anscheinend auch unsicher. Was war denn an mir so schlimmes? Ich hatte in meinem Leben noch nicht mal eine Spinne getötet. Oder eine Fliege. Und von Dämonen und dergleichen kannte ich nur Geschichten. Noch nie war mir ein echter begegnet. Bis gestern Nacht.
„Sie ist Miguellés Gast. Wende dich an ihn. Solange er es nicht sagt, wird sie bleiben. Und zwar als sein Gast, nicht Gefangene. Finde dich damit ab, Shy.“ Er schien ihrer überdrüssig zu werden denn ich hörte Schritte in meine Richtung kommen, doch als ich mich schon verstecken wollte, war es zu spät. Er hatte mich gesehen und blieb nur wenige Schritte von mir entfernt stehen.
Wieder war ich vollkommen von seiner Erscheinung gebannt. Aber hier im hellen Licht konnte ich nun viel mehr erkennen als gestern Nacht im Wald. Es war doch hoffentlich erst gestern gewesen? Erst jetzt kam mir Gedanke, dass durchaus auch schon ein paar Tage vergangen sein konnten.
Dieses Mal trug er seine etwas längeren schwarzen Haare nicht in einem Zopf, sondern offen und ein paar Strähnen fielen ihm ins Gesicht als eine kleine Brise durch ein deckenhohes Fenster herein kam. Sein Blick aus dieses wunderschönen jadegrünen Augen, war stechend und gleichzeitig irgendwie fragend. Er hatte gebräunte Haut, trug wieder nur eine Hose und lenkte meine Aufmerksamkeit eindeutig wieder gen Süden. Für einen winzig kleinen Augenblick jedenfalls.
Ich schluckte und sah wieder hoch, damit ich nicht seine nackte Brust und ganz allgemein seine nackte Haut, anstarrte. Vermutlich war das aber auch vollkommen vergebliche Mühe. Es war als würde sein Blick mich magisch anziehen.
„Miguellé ist nicht da. Geh ins Zimmer zurück“, wies er mich mit kalter Stimme an. Ich sah ihn weiterhin einfach nur an. Vielleicht war auch mein Mund ein wenig offen. Wer konnte mir das schon verdenken bei so viel männlicher Schönheit. Keine Frau bei klarem Verstand und Augen im Kopf würde es anders machen, da war ich mir ziemlich sicher. Und auch egal, welches Alter. Er war absolut vollkommen.
„Ähm... ich...“, begann ich endlich mal meine Sprache wiederzufinden, auch wenn ich nur stotterte. Ja, was wollte ich eigentlich zu ihm sagen?
„Ich...ich wollte mich bedanken“, hatte ich dann einen guten Einfall. Und es stimmte, ich war ihm wirklich dankbar. Immerhin hatte auch er mich davor bewahrt zum Abendessen für eine Hexe zu werden. Außerdem hatte ich ein wundervolles Bad und ein super Frühstück gehabt. Von diesem Traumkleid ganz zu schweigen.
Er sah mich noch immer an, und ich konnte schwören, es war ein klein wenig neugierig. Vermutlich, weil ich ihn einfach so angesprochen hatte. Kurz ging mir durch den Kopf, dass das wohl nicht viele tun würden. Keine Ahnung woher dieser Gedanke kam, aber er war einfach da.
„Für das von gestern. Und deine Gastfreundschaft auch.“ Erst viel zu spät fiel mir auf, dass ich ihn einfach so duzte. Oh Mist! Er senkte den Kopf ganz leicht, was ich als Nicken deutete. Dann wandte er den Blick ab und lief weiter. Sofort fühlte ich mich unwohl und ohne zu begreifen, was ich da tat, ging ich ihm nach und griff nach seinen Arm.
Als ich ihn berührte, spürte ich einen Stromschlag. Ja, das war es wirklich. Nicht nur so metaphorisch gesagt, sondern tatsächlich. Die Luft um uns lud sich auf und kleine helle Lichter in verschiedenen Farben tanzten zwischen uns hin und her, schienen sogar auf unserer Haut zu spielen. Er sah erst auf meine Hand, die seinen Arm berührte, dann in mein Gesicht. Reglos.
„Wer bist du?!“, fragte er nun. Ich war noch vollkommen verwirrt. Was geschah da gerade? Und wie war es überhaupt möglich? Es fühlte sich nämlich wie Magie an. Nun ja, so ganz sicher konnte ich das natürlich nicht sagen, ich war noch nie mit echter Magie in Berührung gekommen, doch etwas anderes konnte es ja nicht sein. Es war jedenfalls nicht normal.
„Ich heiße Rhyana...“, sagte ich leise.
„Ich habe nicht nach deinen Namen gefragt, Mädchen. Ich fragte, wer du bist.“ Jetzt hob ich den Blick und sah ihn an. Was meinte er denn damit?
„Ich verstehe nicht, wo der Unterschied liegt. Es ist doch das Gleiche.“ Er schüttelte den Kopf.
„Nein. Dein Name sagt nicht, wer du bist.“
„Könntest du das erklären?“, bat ich. Dass ich ihn duzte schien ihn nicht weiter zu kümmern, also behielt ich es erst einmal bei. Sollte es ihn doch stören, konnte er es mir ja mitteilen. Obwohl ich stark bezweifelte, dass er es tun würde. Auf mich machte er den Eindruck, kein Mann vieler Worte zu sein. Egal zu welcher Zeit oder welchem Anlass auch immer. Derlei kannte ich auch von meinem Vater. Er hatte nie viel gesagt. Besonders nicht, wenn meine Mutter mal wieder mit mir schimpfte, weil ich etwas in ihren Augen falsches getan hatte. Fast immer hatte ich dann dabei das leichte Gefühl, dass es ihm schlicht alles egal war, solange er nur seine Ruhe haben konnte. Und meine Schwestern grinste dann auch immer nur…
„Könnte ich durchaus, aber ich denke nicht, dass du es verstehen würdest.“ Ich schnappte nach Luft und ließ seinen Armen nun endlich los. Die Funken erstarben in der Luft und zurück blieb nur ein eigenartiges Kribbeln in meiner Hand. Ein starkes Gefühl war es dennoch. Fast hätte ich schwören können, dass ich seine Haut noch immer an meiner spürte.
„Ach, und wie kommst du darauf?“ Ich reckte das Kinn vor, da er mich spöttisch ansah. Für mich klang es, als würde er mich für zu dumm halten. Und ich ließ mich nicht gern so behandeln. Meine Familie hatte das viel zu lange gemacht und ich hatte es geduldet. Damit war nun Schluss. Ich würde für niemanden mehr ein Fußabtreter sein!
„Ist das nicht offensichtlich? Du bist noch ein Kind, schleichst dich aber Nachts einfach aus dem Haus und gehst in einen Wald, in dem es vor Ungeheuern nur so wimmelt. Und zu allen Überfluss gehst du dann auch noch mit einen Dämon mit.“ Ich zuckte zurück und knurrte kurz. Ja, das tat ich tatsächlich. Keine Ahnung warum ich es tat oder woher es kam. Es war wie ein Instinkt tief in mir. Etwas, dass ich nicht zu kontrollieren vermochte. Oder im Moment auch nur Ansatzweise wollen würde.
Als Antwort darauf zog er nur eine Augenbraue hoch und sah weiter herablassend auf mich herab mit seinen wunderschönen, aber doch sehr kalten Augen. So ein...
„Ich bin kein Kind mehr. Und mir war durchaus bewusst, wie gefährlich es war in den Wald zu gehen. Aber ich habe es einfach satt, immer eingesperrt zu sein. Zu tun, was jeder von mir erwartet, immer zu gehorchen. Und egal wie sehr ich mich anstrenge, es ist doch nie genug, ständig gibt es etwas an mir zu meckern und ich kann anscheinend nichts richtig machen, was meine Eltern und Schwestern wollen. Ich werde niemals einfach nur brav Daheim sitzen und auf meinen Mann warten. Ich werde nie einfach nur den Haushalt führen, die Kinder erziehen und nichts tun. So bin ich einfach nicht und so werde ich auch niemals sein. Daher musste ich gehen. Ich will ein Leben haben. Ich will... leben!“
Mit dem letzten Wort entließ ich die Luft, die ich unwillkürlich tief eingeatmet hatte. Erst nachdem ich all das gesagt hatte, wurde mir bewusst, wie wahr jedes einzelne Wort davon war. Und wie sehr es in mir arbeitete. Ich wollte tatsächlich nicht das Leben, was meine Familie für mich wollte. Konnte es nicht. Ich war eben wirklich viel zu anders als sie, würde es auch immer sein. Was nicht in einem war, konnte man auch nicht nach außen hin zeigen.
Ich senkte den Kopf und somit auch meinen Blick. Die Hände hatte ich zu Fäusten geballt. Egal was als nächstes geschah, ob man mich hier raus schmiss oder nicht, nach Hause würde ich nicht gehen. Ich würde mein Glück auch alleine versuchen und wenn ich dabei starb... nun, das war dann wohl einfach mein Schicksal. Aber ich würde mich nicht mit dem zufrieden geben, was andere von und für mich wollten. Nein, auf keinen Fall.
„Das würde jedes Kind sagen.“ Ich riss den Kopf hoch, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass er was sagen würde. Und wegen den Worten an sich. Gott, ich wurde langsam ehrlich wütend!
Ohne drüber nach zu denken, holte ich aus. Doch ich kam nicht mal ansatzweise dazu, das auszuführen, was ich dummerweise hatte tun wollen.
Ich konnte überhaupt nicht so schnell reagieren, wie ich von seinem Körper gefangen, an die Wand stieß.
„Wage es nur ein einziges Mal, die Hand gegen mich zu erheben und du wirst sterben, Mensch!“, knurrte er mich an. Er drückte mir sogar etwas die Luft ab. Ich spürte jeden harten Muskeln seines Körpers an meinem, als würde er tatsächlich nur daraus bestehen. Aus Haut, Blut und Muskeln. Es war unwirklich und gleichzeitig auch so... normal.
Ich schluckte und sah ihm direkt in die Augen. Bis etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Von seinen plötzlichen Überfall war ich so überrascht, dass ich die erneuten Funken nicht gleich bemerkte, die sich erneut bei dieser körperlichen Berührung bildeten. Sie tanzten auf seiner Schulter seinen Arm hinab, bis zu der Stelle, an der er mein Handgelenk umklammert hielt. Im ersten Augenblick sah es tatsächlich aus, als würden sie dann mit Anlauf auf meine Hand springen. Und wieder zurück.
Ich war davon so abgelenkt, wand mich nun in seinem Griff und sah ihm wieder in die Augen.
„Was sind das für komische Dinger?“, wollte ich wissen. Eben hatte es ihn auch verwirrt, ich hatte es gesehen, und so hoffte ich, es würde wieder geschehen. Waren sie gestern Nacht auch dagewesen? Irgendwie hatte ich das Bewusstsein verloren, und komischerweise war ich mir auch ziemlich sicher, das dieser Mann etwas damit zu tun hatte.
Er ließ mich abrupt los, drehte sich herum und ließ mich vollkommen verwirrt stehen.
„Hey! Ich rede mit dir!“, rief ich ihm empört nach. Vielleicht mochte ich die Methoden meiner Mutter nicht, und wie sie auf mir herum hackte, aber sie hatte mir dennoch Manieren beigebracht. Und jemand einfach so stehen zu lassen, war unhöflich. Sehr! Okay, ja, jemanden so hinterher zu schreien war auch nicht unbedingt ein Zeuge von guten Manieren.
Ich seufzte leise und versuchte mich zu beruhigen, er ignorierte mich ja eh wie ich feststellen konnte. Und ich wusste auch, so schnell würde der Kerl nicht zurück kommen...


Unschlüssig sah ich mich um. Was nun? Ich wusste es nicht wirklich. Unentschlossen suchte ich mir den Weg zum Garten, fand ihn irgendwann tatsächlich und hatte das Gefühl in eine andere Welt zu tauchen. Überall wucherten große Pflanzen, gaben Schatten, ließen aber auch die heißen Strahlen der Sonne hindurch und durch die vielen verschiedenen Blüten, wirkte es sehr... nun ja, wie die Bilder von einem Dschungel, den ich einst in einem Buch gesehen hatte. Ja, es war tatsächlich wie ein Dschungel und ich war augenblicklich darin verliebt.
Lächelnd setzte ich mich auf eine gusseiserne Bank, lehnte mich zurück und schloss die Augen. Es war ein Paradies. Dabei störten auch die leisen Geräusche von Tieren nicht. Eher im Gegenteil. Sie untermalten noch einmal das Gefühl von Vollkommenheit und sogar Ruhe. Ich entspannte mich immer mehr und lauschte auf meine Umgebung. Die Augen dabei locker geschlossen. Verdrängte alles von den letzten Stunden.
Ich nahm ein paar verschiedene Vögel wahr, sowie das Summen von unzähligen Bienen und anderen kleinen, fliegenden Insekten. Sie summten, surrten oder machte kleine kreischende Laute. So vertieft wie ich war, nahm ich meinen Besucher neben mir auch nicht sofort wahr.
„Wie ich sehe, lässt du es dir gut gehen. Und bist noch nicht vor Angst ganz starr in deinem Zimmer versunken.“
Ich riss bei dem Klang von Miguellés Stimme die Augen auf und sah ihn unschlüssig an. Er grinste auf diese schon vertraute Weise und sofort erwiderte ich mit einem Lächeln, wobei ich leicht nickte.
„Es ist wirklich schön hier. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wo hier eigentlich genau ist“, gab ich zu und seufzte dann leise. Lilly hatte behauptet, wir wären immer noch in Sarionth, doch das war einfach nicht möglich.
„Die Antwort auf diese Frage, wurde dir doch schon beantwortet“, grinste er mich frech an und setzte sich an meine Seite auf die Bank. Ich seufzte resigniert und schüttelte den Kopf.
„Aber es ist Unmöglich, Miguellé. Ich kenne jedes Gebäude in Sarionth, jeden Ort. So ein Palast wie dieser, wäre mir im Laufe der Jahre ganz sicher aufgefallen. Versuch bitte nicht mich für blöd zu verkaufen. So dumm bin ich nun auch wieder nicht.“
Ich sah ihn nun ernst an und erwartete eine Erklärung. Wenn er mich schon hier mit hernahm, wollte ich auch ein paar Antworten bekommen. Ehrliche und nicht irgendwelche Tricks.
„Ach, Mädchen. Du solltest endlich die Augen öffnen für die Magie um dich herum. Ich kann dir ehrlich versichern, wir sind in deiner Heimatstadt. Was du hier siehst, oder besser gesagt, was alle anderen zu sehen glauben, dazwischen liegen Welten. Und das meine ich wortwörtlich. Jeder in deiner Stadt sieht von diesem Gebäude, das, was er sehen will. Einige werden eine Taverne sehen, einen Stoffladen, eine Herberge. Manche werden lediglich eine alte Ruine sehen, oder auch nur ein Zelt am Stadtrand. Nur, wer einmal eingeladen wurde, kann die Wahrheit sehen. Diese parallele Welt, die ich eigens erschaffen habe.“
Er stand wieder auf und sah in den Himmel hinauf, die Hände ein die Hüften gestemmt.
„Magie ist eigentlich überall. Auch wenn die meisten Menschen sie fürchten oder sogar verurteilen. Und sie kann gefährlich sein. Ebenso kann sie aber auch Dinge wie diesen Palast erschaffen. Ein richtiges Zuhause für unterwegs sogar. Ich könnte dir jetzt alles ganz genau erklären, doch dafür haben wir auch noch später Zeit. Ehrlich gesagt habe ich noch einiges zu erledigen und würde dich bitten, das Grundstück nicht zu verlassen. Und wenn es ginge, auch den Palast oder diesen Garten nicht. Nicht alle von uns sind den Menschen wohlgesonnen. Viele mögen euer Fleisch zu sehr.“
Bei diesem letzten Satz musste ich an die Hexe denken und eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Ja, ich hatte sie nicht vergessen. Und das würde ich auch niemals tun. Selbst wenn sie jetzt tot war, so war sie noch in meinen Gedanken. Ganz tief drinnen sogar. So ein Erlaubnis würde nie ausgelöscht werden.
„Oh, keine Sorge, sie tut dir hier nichts. Ihre Macht ist begrenzt.“ Fragend sah ich Miguellé an. Er klang nämlich ganz so, als wäre sie…
„Sie ist nicht tot, Mädchen. Ein so magisches Wesen wie die Hexe, tötet man nicht einfach so. Man hält sie nur für eine Weile auf. Ganz gleich, wie mächtig man auch ist. Solche Wesen leben durch die Erzählungen der Leute. Solange man von ihnen spricht, kehren sie immerfort zurück.“
Sprachlos huschte meine Blick durch den Garten. Natürlich wollte ich auf Nummer sicher gehen, egal was er sagte. Und wieder folgte sein Lachen und ich sah zu ihm auf. Schnell wurde er jedoch erneut ernst.
„Bitte, höre auf mich. Ich mag dich und möchte nicht, dass dir etwas passiert.“
Erst nachdem ich geknickt hatte, lächelte er wieder und ließ mich mit meinen Gedanken alleine.
Die Hexe war also noch nicht tot…

Impressum

Texte: Mandy Summer/M.S.Night
Bildmaterialien: Pixabay
Cover: Mandy Summer
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2020

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