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Prolog



Kalter Wind kam auf und spielte sanft mit vereinzelten Strähnen meines Haares.
»Ich weiß, dass du hier bist.«
Mein Herz begann zu rasen und die Röte stieg mir in die Wangen. Nervosität breitete sich in mir aus und ich schluckte leicht. Das konnte ja was werden …
»Komm raus oder ich werde richtig sauer, Rhia.«
Seine Stimme war ein einziges Knurren und kalte Schauer der Angst rannen mir über den Rücken. Ich wusste, dass er nicht log. Er war durchaus in der Lage, mich ernsthaft zu verletzen. Wind kam auf und spielte sanft mit meinen Haaren. Ich schloss für einen Moment die Augen und sog die kühle Luft tief in meine Lungen hinein. Die Hoffnung, dass er mir helfen würde, war gering, doch wer sollte mich sonst unterstützen können? Ich brauchte ihn. Ihn und den Status in seinem Volk.
Niemand würde und konnte mir helfen und auch wenn es vermutlich ein großer Fehler gewesen sein könnte, gerade ihn um Hilfe gebeten zu haben, so wusste ich niemand anderen. Langsam machte ich einen Schritt zur Seite. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mein Atem beschleunigte sich. Mein Körper zitterte kaum merklich und doch war ich mir mehr als sicher, dass er es bemerken würde. Als ich neben dem Baum stand, drehte ich mich um und da stand er.
Shane Dharkel Mooretarlio.
Als er mich sah, versteifte sich sein Körper kurz, doch in der nächsten Sekunde hatte er mich schon erkannt und man konnte sehen, wie er sich entspannte. Anscheinend vertraute er mir oder sah mich nicht als Gefahr, obwohl unsere Familien so wie auch unsere Völker sich bis aufs Blut hassten. Jedenfalls die Meisten von ihnen.
»Du bist wirklich gekommen«, meinte er und musterte mich. Ich schluckte leicht und nickte dann.
»Natürlich«, sagte ich und verfluchte meine Stimme.


Kapitel 1




»Rhia!«
»Ja, ich beeil mich doch schon«, brummte ich. Langsam nervte es. Shayenne, meine kleine Schwester, hüpfte, viel zu hibbelig auf ihrem Sitz neben mir, auf und ab, sodass ich schon nicht mehr freundlich bleiben konnte. Normalerweise war ich eher höflich und distanziert, aber bei meiner kleinen Schwester verhielt ich mich anders. Bei ihr fühlte ich mich sicher und vor allem konnte ich bei ihr Gefühle zulassen, ohne mir darüber groß Gedanken zu machen. Shayenne war anders. Sie hielt zu mir und war nicht so durchtrieben wie all die Anderen.
»Komm schon! Wir kommen noch zu spät zum Unterricht!«, rief sie neben mir und ich stieß ein Knurren aus. Nicht gerade königlich.
»Also Rhia! Du weißt doch, wie Vater reagiert, wenn du dich nicht so verhältst, wie du es eigentlich tun solltest. Auch wenn wir zur königlichen Familie gehören, dürfen wie es uns nicht erlauben, zu spät in die Akademie zu kommen«, rügte sie mich und ich stöhnte innerlich auf. Himmel ... konnte man das glauben?
Die zukünftige Königin der Tagelben wurde von ihrer kleinen Schwester zur Rechenschaft gezogen.
»Wir wären nicht so spät dran, wenn du dich beeilt hättest«, gab ich zurück und trat auf die Bremse. Mit kühlem Blick fixierte ich das rote Licht der Ampel und trommelte mich den Fingerspitzen auf dem schwarzen Leder des Lenkrades herum.
»Ich war schnell genug, große Schwester! Du jedoch nicht«, meinte sie und schenkte mir ein breites Grinsen. Ich schnaubte.
»Ach halte die Klappe.«
»Rhia!«, rief Shayenne aus. Ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass sie mich entsetzt ansah. Irgendwann reichte es doch mal, oder? Ich meine ... nicht genug, dass ich zurzeit nicht schlafen konnte, nein! Meine Schwester musste auch noch so tun, als wäre sie meine Lehrerin für gutes Benehmen. Ich seufzte kaum hörbar und mein Blick strafte die Ampel, welche dann endlich auf Grün sprang. Sofort trat ich das Gaspedal fast bis zum Anschlag durch und der Wagen sprang nach vorn. Shayenne quietschte auf und krallte sich in den Sitz.
Ein kurzer Blick auf die eingebaute Digitaluhr im Armaturenbrett zeigte mir, dass wir knapp dran waren. Innerlich fluchte ich, verwünschte die Verkehrsregeln und trat das Gaspedal noch mehr durch. Dann wechselte ich auch brav in den nächsten Gang. Immerhin liebte ich meinen Wagen. Ein Grund, warum wir, die beiden Königstöchter, auf einen Chauffeur verzichtet hatten und ich die Aufgabe übernommen hatte, uns persönlich zur Schule zu fahren.
»Nicht ... bitte nicht so schnell ... «, brachte Shayenne hervor. Ich lachte leise auf und fuhr noch etwas schneller.
»Du wolltest doch nicht zu spät kommen, oder?«, fragte ich und kicherte leicht. Wer das eine wollte, der musste das andere mögen oder eben akzeptieren. Etwas, was meiner Schwester schon immer gegen den Strich ging. Sie mochte es nicht so, wie es meist war und konnte sich wunderbar aufregen. Etwas, was mich immer sehr amüsierte.
Nach wenigen Minuten kamen wir dann auch schon bei unserer Akademie an. Eine Schule, die eigentlich nur für Geschöpfe wie uns gedacht war. Für Tagelben. Damit es jedoch gerecht zu ging, hatte man auch eine weitere Rasse aufgenommen. Die Nachtelben. Dieses Volk war grausam, von Boshaftigkeit zerfressen und immer darauf bedacht, wie sie uns, den Tagelben schaden konnten.
Ich hatte nie verstanden, warum unsere Schulleiter es genehmigt hatten, dass dieses Volk an unsere Schule konnte. Sie taten nichts anderes, als uns Tagelben das Schulleben zur Hölle zu machen. Wenn jemand geärgert wurde, dann waren es Tagelben. Wenn etwas passiert war, dann war es ein Nachtelb gewesen. Unweigerlich brodelte es in mir und ich versuche krampfhaft, nicht an diese Personen zu denken. Ich stellte den Motor ab, zog den Zündschlüssel heraus und schnallte mich ab. Dabei atmete ich tief und gleichmäßig ein und aus. Ich wollte mich beruhigen. Shayenne schluckte leicht.
Fragend sah ich sie an und runzelte die Stirn.
»Was ist los?«
Meine kleine Schwester starrte geradeaus und schien nichts mehr wahrzunehmen. Eine Welle der Angst stieg in mir auf, ich schluckte leicht und folgte ihrem Blick. Vor meinem Wagen stand ein Nachtelb. Er war großgewachsen, hatte schwarze, kurze Haare. Seine Haut war blass, so wie die von allen Elben. Ob sie nun Tag- oder Nachtelben waren, das war egal. Beide Rassen hatten eine blasse Haut. Sein Körper war muskulös, er trug sportliche Kleidung und hatte markante Gesichtszüge. Rote Augen funkelten uns entgegen.
Das war in der Tat etwas ungewöhnliches, denn unsere wahre Augenfarbe veränderte sich nur im magischen Licht des Mondes.
»Shayenne?«, fragte ich und musterte sie von der Seite. Dann wanderte mein Blick immer wieder zwischen diesem Elben und meiner kleinen Schwester hin und her. Was zur Hölle war das jetzt bitte? Plötzlich seufzte Shayenne und schnallte sich unglaublich langsam ab. Sie wirkte wie in Trance.
Sie sah nur diesen Fremden an und schenkte mir nicht die geringste Aufmerksamkeit und dann tat sie etwas, was ich niemals hätte glauben können, wenn man mir es erzählt hätte. Shayenne lief zu ihm und schlang ihre schmalen Arme um ihn. Er beugte sich zu ihr runter, küsste sie sanft und liebevoll und als wäre das noch nicht genug, erwiderte sie den Kuss mit einer Intensität, die ich noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. So eine Leidenschaft.
Erschrocken riss ich die Augen auf und ein Keuchen entrang sich meinen Lippen. Was zur Hölle ...
Ein Kuss. Zwischen den beiden. Sie küssten sich. Shayenne und der Fremde küssten sich. Eine Tagelbin und ein Nachtelb küssten sich! Immer und immer wieder wiederholte ich diese Tatsache, doch ich konnte es nicht glauben. Schnell sah ich mich um, doch niemand außer uns war auf dem Gelände zu sehen. Es war komplett verlassen.
Sofort flog mein Blick zurück zu meiner kleinen Schwester, die ihre Beine bereits um seine Hüfte geschlungen hatte. Er lehnte sich leicht gegen den Baum und sie hatte ihre Hände in seinem dunklen Haar vergraben. Der Schock darüber, dass meine kleine Schwester, eine Tagelbin und obendrein noch eine Prinzessin, einen Nachtelben küsste, legte sich langsam und mein Verstand grub sich zurück an die Oberfläche. Ich stieß ein Schnauben aus, ging die wenigen Schritte hinüber zu Shayenne und packte sie am Arm. Dann zog ich sie einfach von ihm weg. Etwas, was nicht besonders einfach war, wenn man bedachte, dass sie sich an ihm festklammerte.
»Shayenne! Was fällt dir ein, dich mit einem Nachtelben einzulassen und ihn zu küssen?«, fragte ich sie. Wut blitzte in ihren Augen auf.
»Er ist mein Freund«, knurrte sie und schnaubte. Meine Augen weiteten sich und voller Entsetzen sah ich meine kleine Schwester an.
»Wie bitte?«
»Er ist mein Freund. Ich kann dir das Wort gern buchstabieren, Rhia.«
Shayenne zog lässig eine Braue hoch und wartete auf meine Antwort. Mir klappte die Kinnlade runter.
»Der da soll dein Freund sein? Sag mal, bist du jetzt komplett übergeschnappt? Weißt du zu welchem Volk er gehört? Muss ich dich daran erinnern, wer du bist? Was du für Pflichten hast?«
Mit jedem weiteren Wort stieg meine Wut und mein Blick wurde kälter. Shayennes Augen wurden immer größer und verräterische Tränen stiegen ihr in die Augen. Ihre Unterlippe zitterte leicht und sie zog die Brauen zusammen. Schmerz stand in ihren wunderschönen, violettfarbenen Augen.
»Ich ... ich habe keine Pflichten! Rhia ich bin doch nur die Zweitgeborene! Ich werde ewig nur die kleine Schwester sein. Niemand achtet auf mich«, sagte sie mit zittriger Stimme und es schnürte mir die Kehle zu, sie so leiden zu sehen. Meine kleine Schwester litt wegen mir und am liebsten hätte ich sie in meine Arme gezogen, doch das ging nicht. Ich musste das, was zwischen den Beiden bestand auslöschen. Ich musste es zerbrechen, auch wenn Shayenne unter seinem Verlust leiden würde, doch wenn ich es nicht tat und diese hoffnungslose Beziehung meiner Schwester und diesem Nachtelben an die Öffentlichkeit kommen sollte, dann würde sich unsere Gesellschaft das Maul darüber zerreißen.
Diese Beziehung brachte ihr nichts und war zum Scheitern verurteilt. Man würde ihr Leben zerstören und genau das konnte und wollte ich nicht zulassen.
»Shayenne. Diese Beziehung ist zum Scheitern verurteilt«, sagte ich mit kühler, beherrschter Stimme. Sie riss die Augen weit auf und ein leises Wimmern entrang sich ihren Lippen. Sie schüttelte den Kopf und nun rannen ihr unzählige Tränen über die Wangen. Der Nachtelb seufzte leicht und wollte sie in seine Arme ziehen, doch ich packte Shayenne am Handgelenk und zog sie mit mir. Sie wehrte sich nicht mal wirklich gegen meinen Griff und so konnte ich sie ohne große Mühe in das Schulgebäude hineinziehen.

»Komm schon Süße … es ist kein Weltuntergang. Da draußen gibt es Typen, die besser zu dir passen, als [b]der[/b]«, sagte ich und seufzte leicht. Seit gut einer Stunde saß meine kleine Schwester auf der Toilette, weinte ununterbrochen und ich konnte zusehen, wie ich sie dazu bringen konnte, zum Unterricht oder nach Hause zu gehen. Hauptsache sie kam hier raus.
Nur mühsam war es mir gelungen die Direktorin dazu zu überreden, dass dies nötig war. Das es nötig war, dass niemand auf diese Toilette kam. Innerlich hätte ich der Frau die Haare ausreißen können, doch äußerlich war ich emotionslos geblieben und hatte höflich gelächelt. Im Endeffekt hatte sie mir den Schlüssel gegeben, sodass ich dieses Klo abschließen konnte.
»Geh weg!«, schrie Shayenne mich mit verheulter Stimme an. Ok, es war amtlich. Meine kleine Schwester hatte Liebeskummer, hasste mich jetzt vermutlich und ich hatte jetzt wirklich keinen Schimmer, was ich tun sollte. Grrr war das eine bescheuerte Situation. Ein tiefes Seufzen entrang sich meinen Lippen und ich lehnte meinen Kopf an die Holztür. Dabei spielte ich leise mit dem Schlüsselbund in meiner Hand.
»Shayenne ... «, begann ich, wurde jedoch von ihr unterbrochen.
»Ich sagte du sollst verschwinden verdammt!«
Wut und ein tiefgehender Schmerz schwangen in ihrer Stimme mit. Super ... wirklich super! Das hatte ich wirklich toll hingekriegt. Die einzige Person, der ich in dieser verlogenen Gesellschaft trauen konnte, hasste mich. Ganz toll hingekriegt, Rhia. Wirklich super!
»Ich kann aber nicht gehen«, brummte ich und seufzte wieder. Augenblicklich verstummte Shayenne und dann klickte es leise. Sie hatte das Türschloss geöffnet, trat aus der Kabine und sah mich an. Wut und Schmerz lagen in ihren Augen, sowie in ihren Gesichtszügen und ihr Anblick schmerzte mich.
Sie schniefte leicht. Ihr Gesicht war von Tränen verklebt, dass wenige Maskara verlaufen. Dadurch sah man sehr deutlich, wie verquollen ihre Augen waren. Oh Himmel!
»Wieso kannst du nicht gehen?«
»Ich habe die Tür abgeschlossen«, antwortete ich ihr und hob die Hand mit dem schmalen Schlüsselbund hoch. Meine kleine Schwester runzelte die Stirn.
»Wieso?«, fragte sie dann und wischte sich mit der Hand die Tränenspuren weg.
»Shayenne ... ich bin und bleibe deine große Schwester. Das wird niemand ändern können. Ich weiß, was unsere Gesellschaft mit dir machen würde, sollte deine Beziehung bekannt werden«, erklärte ich und lächelte sie schwach an. Sie zog eine Braue hoch.
»Und ... «
»Ich kann, will und werde nicht zulassen, dass sie dein Leben zerstören. Du bist mir zu wichtig.«
Shayennes Augen weiteten sich und sie sah mich erstaunt an. Ich wusste auch, woran das lag.
Bisher hatte ich ihr nie wirklich gesagt, was sie mir bedeutete. Als ich sah, wie sich neue Tränen in ihren Augen zu sammeln begannen, schluckte ich und ignorierte das Brennen meines Herzens. Schnell überbrückte ich die kurze Entfernung, löste mich dabei von der Toilettentür an meinem Rücken und zog meine kleine Schwester in die Arme. Beruhigend strich ich ihr über den Rücken, als sie sich an mir festklammerte.
»Es tut mir so leid, Rhia«, schniefte sie und Wärme durchflutete meinen Körper.
»Sch~Sch~ ... süßer, kleiner Engel. Ich nehme es dir nicht übel«, murmelte ich und drückte ihr sanft einen Kuss ins Haar. Sie war so unschuldig. Trotz ihrer 14 Jahre.
Meine Worte bewirkten, dass sie sich noch mehr an mich klammerte und ich hielt ihren zitternden Körper fest. Shayenne war ein sensibles Geschöpf und ich würde als ihre große Schwester niemals zulassen, dass irgendjemand sie verletzte. Egal wer es war.

Nach Minuten lösten wir uns voneinander und Shayenne lächelte traurig.
»Geht es dir besser?«, fragte ich und lächelte sie an. Sie schüttelte leicht den Kopf und der erneut aufblitzende Schmerz in ihren Augen brachte mich fast um. Mein Herz pochte schmerzhaft und eine unangenehme Hitze erfüllte meinen Körper. Gott ich fühlte mich grauenhaft, denn immerhin war ich diejenige, die sie verletzt hatte, obwohl ich mir dessen Bewusst war.
Um mich abzulenken strich ich ihr vorsichtig eine Haarsträhne hinter ihr linkes Ohr und lächelte aufmunternd.
»Das wird schon wieder, Süße.«
Shayenne schüttelte leicht den Kopf.
»Nein ... wird es nicht. Ich fühle mich, als würde ich sterben, sollte ich ihn verlieren«, sagte sie leise und ihre Stimme zitterte. Ich schluckte leicht und strich ihr über den Kopf. Obwohl uns nur 2 Jahre trennten, war sie einen ganzen Kopf kleiner als ich.
»Ich wünsche mir langsam, dass ich Sorhow Lestat Montgomery niemals kennengelernt hätte«, murmelte sie und ich seufzte.
»Das geht aber schnell bei dir, Süße.«
»So lange ich ihn liebe hasst du mich, oder?«
Erschrocken riss ich die Augen auf und sah sie fassungslos an.
»Das kannst du schon mal sofort wieder vergessen«, sagte ich schnell und drückte sie an mich. Shayenne seufzte leise.
»Er nennt mich Lhizze ... dabei mag ich meinen Zweitnamen nicht so besonders«, murmelte sie und schmiegte sich in meine Arme. Kurz warf ich einen Blick auf die Uhr im Nebenraum. Das war ein leichtes für mich, immerhin besaß ich die Fähigkeit der ‚Sicht’. Dies ermöglichte es mir, durch so ziemlich alles durchzugucken.
Normale Menschen würden es mit dem Röntgenblick von Superman gleichsetzen. Nur, dass die ‚Sicht’ eben ein bisschen anderes war. Gegenstände oder Lebewesen wurden dann immer irgendwie transparent und verfärbten sich grün. Mit Schrecken stellte ich fest, dass es jetzt schon 2 Stunden her war, seit wir hier ankamen. Verwundert runzelte ich die Stirn und löste dann meinen Griff um Shayenne. Anscheinend waren wir doch länger hier, als ich gedacht hatte. Dabei war ich mir so sicher gewesen, dass wir erst seit einer Stunde hier waren.
Ich zog Shayenne zu den Waschbecken an der Wand, damit sie ihr Gesicht säubern konnte.
»Was ist los?«, fragte mich meine kleine Schwester. Ich kramte in meiner Tragetasche nach einer Packung Taschentücher.
»Es ist bereits 10«, meinte ich nur und zog die gefundene Packung aus den Tiefen meiner schwarzen Tasche. Shayenne riss ungläubig die Augen auf.
»Ne, oder?«
»Doch ... glaub es ruhig«, sagte ich und reichte ihr eines der Taschentücher.
»Woher ... Moment! Du hast ‚Sicht’ benutzt, oder?«
Sie drehte den Wasserhahn auf, hielt den Zellstoff unter den kühlen Wasserstrahl und wandte sich dann dem Spiegel zu. Wortlos betrachtete ich sie dabei und nickte dann.
»Man ... für so etwas sollten wir unsere Fähigkeiten doch nicht verwenden«, meinte sie, drehte den Hahn zu und wischte sich die schwarzen Schlieren von den Wangen. Ich begann erneut in meiner Tasche zu wühlen. Wenn sie mit der Reinigung ihres Gesichtes fertig war, dann würde sie etwas Eyeliner und Maskara brauchen. Auch wenn sie erst 14 war, so mussten wir beide perfekt aussehen. Immerhin waren wir die Töchter Tageskönigs. Zwei von 5 Prinzessinnen. Denn ... außer uns Tages- und Nachtelben gab es noch eine Art von Elben. Niedere, unreine Geschöpfe. Wobei ich mir unwillkürlich die Frage stellte, wie sie eigentlich noch niedriger und unreiner als die Nachtelben sein konnte.
»Hast du Maskara und Eyeliner?«, fragte meine kleine Schwester und holte mich aus den Tiefen meiner Gedankenwelt zurück. Ich kramte noch etwas tiefer in meiner Tasche und zog dann, mit einem zufriedenem Grinsen, dass Gefragte hervor.
»Klar, lil Sis«, meinte ich und zwinkerte ihr zu. Shayenne grinste ebenfalls, nahm das Mascara und den Eyeliner an sich. Dann begann sie sich zu schminken und verdeckte somit ihre rotgeweinten Augen. Als meine kleine Schwester damit fertig war ihr Äußeres wieder in Ordnung zu bringen, verließen wir die Toilette. Vorher prüfte ich jedoch mit ‚Sicht’, ob da jemand stand und darauf wartete uns auszufragen zu können. Erleichterung machte sich in mir breit, als ich niemanden dergleichen erblickte.
Mit schnellen Schritten liefen wir den verlassenen Gang entlang. Dabei versuchten wir beide so leise wie möglich zu sein.
»Meinst du, es lohnt sich noch in den Unterricht zu gehen?«, fragte Shayenne mich so leise wie möglich. Ich zog eine Braue hoch.
»Du weißt, dass wir noch 8 Stunden hierbleiben werden.«
Daraufhin seufzte meine kleine Schwester. Ich nahm sanft ihre Hand und drückte sie.
»Du brauchst dir keine Sorgen machen, Süße. Unter diesen Umständen gehen wir erst zur Dritten hin«, beruhigte ich sie und hörte das erleichterte Aufatmen. Meine Lippen verzogen sich automatisch zu einem Lächeln. Plötzlich hörte ich leise Schritte und fuhr ruckartig herum. Ein Schüler kam mir entgegen.
Er hatte kurze, schwarze Haare, die typische Blässe der Elbenhaut und war hochgewachsen. Seine schwarze Kleidung verlieh ihm eine Eleganz, welche sogar ein ungeschultes Auge sehen konnte und seine Gesichtszüge waren klar geschnitten. Eine gerade Nase, perfekt geschwungene Augenbrauen, ein maskulines Kinn, ein Mund, welcher die Mädchen geradezu zum Küssen einluden und graue Augen, welche über seinen hohen Wangenknochen glitzerten. Eine Gänsehaut zog sich bei seinem Anblick über meinen Körper und mein Herz schlug einen Takt schneller. Ich wusste nicht, was hier mit mir passierte, wieso ich ihn so genau betrachtete. Vermutlich hätte es sich für mich falsch anfühlen sollen, doch genau das tat es nicht.
»Rhia?«, flüsterte Shayenne neben mir, doch ich achtete nicht auf sie.
Er lief an uns vorbei, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Oh Himmel war er groß! Gut ... das hatte man vorher schon sehen können, doch so groß? Er maß mindestens 1,80 Meter oder größer.
»Rhia«, zischte meine kleine Schwester mir zu und stieß mir ihren Ellenbogen in die Seite. Der Geruch von Zitrone mit einem Hauch von dunkler Schokolade vernebelte meine Sinne und brannte sich in mein Gedächtnis, als er mit geschmeidigen Bewegungen den Gang hinab lief und mein Blick folgte ihm. Nie gekannte Gefühle brannten sich durch meinen Körper und ich schluckte leicht.
»Rhia!«, rief Shayenne jetzt und ich zuckte heftig zusammen. Kurz flackerte Wut in mir auf und ich wandte mich ihr zu.
»Was ist?«
»Er ...«
»Ja?«, unterbrach ich sie und meine Stimme strotzte nur so vor Ungeduld. Was wusste sie über ihn? Shayenne seufzte theatralisch auf und fuhr sich dann mit der Hand durch die Haare. Ich fühlte mich leicht benommen, schenkte dem aber keine weitere Beachtung und funkelte meine kleine Schwester an.
»Das kannst du nicht machen, Rhia«, murmelte sie und blinzelte leicht. Verwirrung durchflutete mich und ich legte den Kopf schräg. Wovon sprach sie? Meine Augen fesselten den Blick meiner Schwester, als sie dem meinen auszuweichen versuchte.
»Wovon redest du? Ich will doch nur wissen, wer er ist.«
Shayenne erwiderte meinen Blick und ich sah die Traurigkeit und die Erkenntnis darin. Wieso war sie so traurig? Ich verstand es nicht und konnte dank diesem himmlischen Geruch nicht mehr ganz klar denken. Alles war leicht verschwommen und nur Shayenne konnte ich noch klar sehen.
Solche Gerüche gehörten eindeutig verboten, soviel war mal klar. Fragend zog ich eine Braue hoch. Was hatte Shayenne denn? Gut, ich interessierte mich für einen fremden Jungen, der auf unsere Schule ging, aber was war schon groß dabei? Ich war nicht versprochen, da unser Vater nicht viel von so etwas hielt und seinen Töchtern die Entscheidung überlassen wollte. Etwas, wofür viele im Rat und überhaupt in unserer Welt schlecht über ihn redeten. Shayenne seufzte erneut und biss sich fest auf die Unterlippe. Sie sah unglücklich aus und ich verstand nicht warum.
»Shaye ... «
»Rhia er ist ein Nachtelb!«, zischte sie mir zu und ein vorwurfsvoller lilafarbener Blick sah mir entgegen. Verwirrt riss ich die Augen auf und mir klappte buchstäblich die Kinnlade herunter. Was?
»Aber ... wie ... was ... «, stotterte ich verwirrt und runzelte die Stirn. Langsam aber sicher gab sie mir zu denken. Was war los? Ein Nachtelb? Wo? Ich kam mir gerade ausgesprochen dumm vor.
Anscheinend dachte das auch Shayenne und sie ließ den Kopf hängen.
»Himmel ... er hat wohl etwas geraucht«, brummte sie verärgert und musterte mich kurz. Ich zog beide Brauen hoch und dann wurde mir schwindelig. Schnell streckte ich eine Hand aus, um mich an der Wand abzustützen, aber offensichtlich war ich zu langsam gewesen, denn ich fiel einfach um.
»Oh mein Gott!«, rief Shayenne erschrocken und sah sich schnell um.
Ich lag währenddessen auf dem Boden und betrachtete die gewölbte Decke des Ganges. Das Kreuzrippengewölbe sah aber merkwürdig aus. So ... verdreht.
»Rhia steh auf«, zischte eine weibliche Stimme neben mir, aber langsam wurde meine Sicht schwächer und verschwommener. Ich hörte das verräterische Geräusch eines Fluches und runzelte die Stirn. Wer fluchte denn so? Es gab doch gar keinen Grund, immerhin war ich in Ordnung oder nicht? Mein Körper, welcher sich zu Anfang so schwer angefühlt hatte, als ich umgekippt war, fühlte sich nun befreit an und ich hatte das Gefühl, regelrecht zu schweben. Ein Lachen löste sich in meiner Kehle und entfloh unaufgehalten meinen Lippen. Wozu hätte ich es auch aufhalten sollen?
Nur ganz leicht spürte ich, wie jemand an mir zog und etwas sagte, aber ich verstand und spürte es nicht richtig. Es war, als wäre ich in Watte eingepackt. Was für ein wunderbares Gefühl. Ich lächelte selig und schloss die Augen. Dann umfing mich Schwärze.

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Texte: Der Inhalt ist mein geistiges Eigentum und das Klauen von irgendeinem Funken Inhalt verbitte ich mir.
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2011

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