An einem kühlen Mittag lief ich die Straße entlang. Wie jeden Tag. Wie jeden einzelnen Tag lief ich die selbe Strecke. Ich kannte jeden Stein, jeden Flecken, jeden Baum, einfach alles. War ja auch kein Wunder, da ich hier schon mein ganzes beschissenes Leben lebte.
Mein tiefschwarzes Haar flatterte leicht im Wind umher, doch mir war nicht kalt. Nein. Mir würde niemals kalt werden, denn ich selbst war kalt. Ganz ehrlich: Mir war es egal, ob ich andere Menschen verletzte. Ich spürte kein Mitleid, nein, ich spürte eher Genugtuung. Ich liebte es, alleine zu sein und mir unerwünschte Menschen vom Leibe zu halten.
Und trotzdem gehörte ich einer schäbigen Bande an. Keine Angst, ich machte mir nie viel daraus, denn ich war eine Einzelgängerin. Eine Einzelgängerin aus Leidenschaft. Niemand durfte mir zu Nahe kommen oder auch nur näher auf mich einreden. Vielleicht war ich in dieser Hinsicht dumm oder zickig, aber das interessierte mich nicht weiter. Leider trat aber genau vorher beschriebene Situation auf.
Ein Junge war mir hinterhergelaufen und hielt mich am Handgelenk fest. Ich drehte mich abrupt um und riss mich sofort los. „Was willst du von mir, Jannik?“, fragte ich sichtlich sauer und verdrehte genervt die Augen. Jan meinte daraufhin: „Krys, bitte hör mir zu“.
Ich sah ihn unbeeindruckt an. Dann sagte ich verachtend: „Warum sollte ich? Siehst du denn wirklich nicht, dass ich es eilig habe? Wir Menschen auf der Straße haben es nun einmal nicht so leicht wie ihr“. Jan sah mich sehr traurig an und selbst das ließ mich völlig kalt. „Ich liebe dich“, sagte er leise. Ich für meinen Teil hatte aber nur ein spöttisches Lachen für ihn übrig, ehe ich mich zusammenriss und meinte: „Du sprichst von Liebe? Meine Fresse bist du naiv! Deine Liebe kannst du dir sonst wohin stecken, du eingebildete Bonze!“.
Na, schon gemerkt, dass ich reiche Pinkel hasste? Super, das freut mich. Jan ließ aber nicht locker. „Das ist unwichtig. Ich mag dich so wie du bist…“, setzte er an, doch ich schrie: „Verschwinde! Ihr scheiß Fatzken wollte eh nur angeben und protzen! Darauf kann ich getrost verzichten!“. Mein Gegenüber ging auf mich zu und meinte: „Krystal, ich…“, doch dann bekam er eine Ohrfeige von mir und schon sagte ich: "Ich habe dir gesagt, dass du mich in Ruhe lassen sollst!“. Daraufhin rannte ich von ihm weg. Ein etwas verdutzter Jannik blieb zurück.
Was bildete er sich eigentlich ein, schoss es mir durch den Kopf, dachte er wirklich, dass ich auf so einen reichen Pinkel wie ihn stand? Niemals! Wie ich die Menschen hasste! Er war ein lebendiges Beispiel dafür. Manchmal fragte ich mich, warum er nur so dumm war und nicht verstand, dass er mir sehr auf die Nerven ging.
Langsam aber sicher beruhigte ich mich allerdings wieder, da keine Menschenseele weit und breit zu sehen war. Im nächsten Moment fielen die ersten Schneeflocken von dem Himmel. Nichts Ungewöhnliches, denn allmählich suchte der Winter das Land heim. Hatte ich schon erwähnt, dass ich solches Wetter liebte? Nein? Dann ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, dies zu tun. Ich liebe Winter, Schnee, Kälte und Regen über alles!
Ich lief immer alleine durch das Leben umher, warum sollte ich mich auch anderen Menschen anvertrauen? Ich brauchte niemanden, der mir wehtat oder mich verarschte. Nein, so weit würde es niemals mehr kommen! Im Gegensatz zu den anderen kleinen Kreaturen, entschuldigt, ich meinte Menschen, kam ich super ohne fremde Hilfe zurecht. Ich brauchte niemanden, nur mich selbst.
Leider wollten das noch immer viele Gestalten nicht verstehen und genau das war das Nervige an der Sache. Besonders die Typen klebten mir an meinem Arsch und gingen mir mächtig auf die Eierstöcke. Okay, also eigentlich war ich ja gegen Gewalt, aber es ist auch schon das ein oder andere Mal passiert, dass mir die Hand ausgerutscht ist. Unabsichtlich natürlich, ihr versteht? Gut, ich liebte die Ironie und den Sarkasmus - vielleicht.
„Krystal!“, hörte ich plötzlich jemanden nach mir rufen. Nicht schon wieder, hatte ich mich vorhin denn nicht klar ausgedrückt? Wobei, mir fiel gerade auf, dass es nicht Jannik war, der mich sprechen wollte, sondern eine andere Person. Eigentlich war ich ja ganz intelligent, aber nach einiger Zeit hatte ich es aufgegeben, mir die ganzen Namen der Lebewesen zu merken, die mir hinterherliefen.
Natürlich stoppte ich nicht, denn ich wollte so schnell es geht zu meinem Schlafplatz. Dann aber wagte es dieser eklige Kerl mich an meiner rechten Schulter anzufassen. Okay, das war deutlich schlimmer, als an einem der Handgelenke berührt zu werden. Ich drehte mich um und sah einen langgezogenen Typen vor mir. Brr, nicht der. Es war von niemand geringerem als von Christian die Rede. Gut, er war weder so fett wie ein Schwein, noch so hässlich wie ein Biest, aber dafür umso nerviger.
Er sah von oben auf mich herab, hey das waren immerhin gute fünfzig Zentimeter! „Ich habe dich schon überall gesucht, meine Prinzessin“, säuselte er und wollte mich doch tatsächlich umarmen! Sollte das irgendwie eine Neuauflage von Die Schöne und das Biest werden? Kleiner Joke, ich war nicht eingebildet, sondern selbstbewusst. Tja, so war ich nun mal. Daher war es auch kein Wunder, dass ich einige Schritte zurücktrat und ihn angiftete. Ich zischte: „Was sollte der Scheiß? Pass bloß auf, dass du nicht auf deiner kilometerlangen Schleimspur ausrutschst!“.
Chris sah mich etwas bestürzt an. Oh no, hoffentlich heult der nicht gleich los, frotzelte ich innerlich und musste unwillkürlich kichern. Ruhig, ganz ruhig Krys, lass dir bloß nichts ansehen, schoss es mir durch den Kopf. Ich war nicht schizophren oder gestört, aber manchmal gab es da eine zweite Stimme in meinem Kopf. Ihr kennt diese sicherlich, man nannte diese auch Unterbewusstsein. Okay, jetzt war es an der Zeit, dass mein loses Mundwerk die Kontrolle über mich übernahm, denn ich wusste, dass Christian das nicht auf sich sitzen lassen würde.
Er sagte auch schon: „Komm mit zu mir, da hast du ein Dach über den Kopf und nicht die heruntergekommene Lagerhalle“. „Also mir gefällt es da wo ich penne sehr gut“, erwiderte ich amüsiert über sein lächerliches Angebot. Wobei ich schon ein wenig sauer war, denn niemand beleidigte meinen geliebten Schlafplatz! Das würde ich ihm aber noch sagen. „Sei nicht albern, ich kann dir viel mehr bieten als dieses jämmerliche Leben auf der Straße“, meinte er und ich sah in seine braunen Augen. Glubschaugen. Eigentlich eine ganz witzige Sache, aber na ja, ich wollte ja nicht mit ihm ein Kaffeekränzchen veranstalten, sondern nach Hause. Oh, hatte ich das wirklich gedacht? Tut mir leid, ich meinte Aufenthaltsort.
Ich hatte ja kein Zuhause mehr und das schon seit drei Jahren. Natürlich bin ich nicht aus reinem Spaß abgehauen, doch die Gründe für mein damaligen Handeln waren völlig egal, denn es ging niemanden etwas an. Selbst wenn mich meine sogenannte Familie finden würde, sie könnten mich nicht mitnehmen. Mittlerweile war ich nämlich volljährig und konnte machen, was ich wollte.
Ich bestahl oder erpresste niemanden, ich lebte nur für mich. Wenn ich Kontakt mit anderen Menschen hatte, dann nur um Geld zu bekommen. Eigentlich sprach ich selten mit ihnen ein Wort, aber manchmal musste das einfach sein. Außerdem liebte ich es, ihre wütenden Gesichter zu sehen. Irgendwie beruhigte mich das und ich spürte sogar eine gewisse Genugtuung. Nein, ich war nicht gestört, das sagte ich bereits, ebenso war ich keine Sadistin. Solche Wesen waren krank, aber mir sollte es egal sein, denn ich würde auf ihre dämliche Masche niemals hereinfallen.
Plötzlich wurde ich geschüttelt, plötzlich? Nein, ich erschrak kein bisschen, sondern blickte in das dämliche Gesicht von Christian. Scheiße, er wartete sicherlich noch auf eine Antwort von mir. Sollte ich oder sollte ich nicht? Hach, ich liebte es, Menschen leiden zu lassen. Dieses Mal aber machte ich meinen Mund auf. Ich sagte: „Also ich bin zufrieden mit meinem Leben, du scheinbar nicht oder warum willst du unbedingt, dass ich zu dir komme? Du bist genauso nervig wie Jannik!“. „Das … das stimmt nicht!“, stotterte Chris wild rum.
Daraufhin musste ich laut loslachen. Das war einfach nur zu komisch, geradezu göttlich. „Was dann?“, wollte ich schnippisch wissen und hatte ihn damit in die Enge getrieben. Mann, war ich gut! Er meinte: „Du bist viel zu hübsch dafür“. Jämmerliches Stück angehäufter Zellen und alles, was dazugehörte. Das war ja echt widerlich! „Hör zu, ich werde immer alleine durch das Leben gehen, ob du willst oder nicht. Finde dich damit ab und lass mich verdammt noch mal in Ruhe!“, schrie ich ihn an und rannte weg. Das zog immer bei den Kerlen, vor allem war ich noch eine exzellente Sprinterin.
Schade nur, dass es im Leben doch gewisse Gestalten gab, die sich nicht so leicht abschütteln ließen.
Ich lief durch die tiefblaue Nacht - vielen Dank ihr Typen, dass ihr mich so sehr zugetextet habt, dass es bereits dunkel geworden war - und kam endlich in der besagten Lagerhalle an. Unbemerkt wollte ich zu meinem Schlafsack gehen, doch vor der Tür stand jemand Wache. Na gut, das war jede Nacht so. Es war zwar schon stressig, aber wenigstens lief mir hier keiner hinterher.
“Hey Krys”, begrüßte mich Samuel und ich nickte ihn nur stumm an. Wow, das war mal eine grandiose Reaktion von mir! Er verstand wenigstens, dass ich eher für mich war und ließ mich auch in Ruhe. Ich war also in dem Inneren der gemütlichen Halle. Glaubt mir, dieses Gebäude ist so genial! Es war verlassen und groß, spendete aber trotzdem einen guten Schutz vor der Kälte.
Ein wenig erschöpft ließ ich mich in meinem schwarzen Schlafsack am anderen Ende der Lagerhalle fallen. Na gut, das war vielleicht übertrieben, aber ich hatte eine ganze Seite nur für mich. Ich mied nun einmal die Nähe zu Menschen. Daran konnte niemand etwas ändern. Müde kuschelte ich mich in den weichen Stoff ein und sah das geradezu sanfte Mondlicht in die Halle scheinen. Nacht für Nacht geriet ich in skurrilen und vielseitigen Gedankengänge. So wie auch jetzt. Es ging um das Leben. Na gut, es hatte für mich eher eine Art Dramatik, die mir gefiel.
Die Menschen auf diesen Planeten verliebten sich nur, um ihr Herz gebrochen vom dreckigen Boden aufsammeln zu können. Wie tragisch, denn ich konnte nicht mehr verletzt werden. Im Prinzip war ich nur eine leere Hülle, warme Gefühle waren mir völlig fremd. Vielleicht war es dämlich oder eiskalt, aber mir war es scheißegal, ob jemand wegen mir weinte.
Es war pure Verschwendung, sich ernsthafte Gedanken und Sorgen um einen anderen Menschen zu machen. Schon längst hatte sich mein Mitleid von mir verabschiedet, was ich freudig auffasste. Wenn ich etwas wirklich hasste, dann waren es Menschen. Sie waren Egoisten und interessierten sich nicht für ihre Gemeinschaft - mich betraf diese Aussage natürlich auch. Wäre ja schlimm, wenn nicht.
Tatsächlich gab es aber eine bestimmte Menschengruppe, die ich mehr hasste als alles Andere auf der Welt: Adelige. Diese jämmerlichen Spießer dachten wirklich, dass sie mit ihrem schmierigen Geld alles haben konnten. Das beste Beispiel dafür war Jannik. Ich erinnerte mich genau noch an den Tag, wie er mich einfach so mitten auf der Straße angesprochen hatte und mir Geld anbieten wollte, damit ich bei ihm einzog.
Meine Reaktion darauf war einfach nur einmalig gewesen. Ich habe die vielen lila Scheine zerrissen und sie ihm vor die Füße geschmissen. Ihr hättet seinen Blick sehen sollen, der war episch! Seine Pupillen hatten sie geweitet, doch ich grinste ihn nur ziemlich belustigt an, was ihn ziemlich verunsicherte. Natürlich war das nicht unbegründet, denn im nächsten Moment war meine kalte Stimme durch den ganzen Park gehallt. Ja, ich hatte ihn bis auf die Knochen blamiert und trotzdem war ich diesen Kerl immer noch nicht losgeworden.
Außerdem nervten mich die Adeligen mit ihren Titeln und Villen. Musste man denn mit aller Macht darauf aufmerksam machen, dass man mehr Geld besaß als die meisten anderen Wesen? Ich war der Meinung, dass das völlig übertrieben war. Na ja, aber da ich für diese Bonzen eh nur ein asoziales Straßenmädchen war, war das auch egal. Mit viel Geld konnte man einfach alles. Es war ein Leichtes, damit Menschen zu betrügen und zu manipulieren oder sich mal eben zehn Autos zu kaufen. Ein Auto war einfach zu wenig.
Zudem trugen manche Pelz, was ich ziemlich widerlich fand. Ich war zwar nicht sonderlich tierlieb - ja, auch Tiere interessierten mich nicht - aber ich fand es trotzdem ekelhaft, wenn ich solche Snobs mit Fell um den Oberkörper sah. Umso mehr liebte ich es aber, die Adeligen zu ärgern. Ihre Gesichter, die sie machten, waren unbezahlbar. Ich kleiner Teufel, den sie immer wieder hinterher schimpften, war einfach unverbesserlich.
Trotzdem bestimmte der Stolz mein Wohlbefinden. Nie würde ich für Geld auch nur irgendeinen Finger bewegen. Nein, dafür war mir meine Unabhängigkeit einfach viel zu wichtig. Umso mehr liebte ich es aber, anderen Menschen auf der Nase herumzutanzen. Mein Aussehen war ziemlich zurückhaltend: Schwarze Haare, blaue Augen und klein war ich auch noch. Zudem lief ich immer nur in dunklen Klamotten rum.
Und nein, ich gehörte keiner Jugendkultur wie Gothic's oder Emo's an und depressiv war ich auch nicht. Die Zeit habe ich schon durchlebt, deswegen waren meine Arme auch voller roter Striche. Vielleicht war ich doch ein wenig gestört, was mir doch gleichgültig war. Immerhin war ich noch nie in einem Bezirksklinikum gewesen.
Ich persönlich hielt mich für ein skurriles Mädchen, welches sich nichts gefallen ließ und tat, was es wollte. Das war auch gut so, bis zu einem bestimmten Tag.
Etwas müde blinzelte ich auf, verdammte Sonne, die hatte mich geweckt. Kaum hatte ich auch nur ein bisschen meine Augen aufgemacht, spürte ich ihre kräftigen Strahlen und den Schmerz, der sich durch meinen Kopf zog. Okay, so tragisch war das auch nicht, trotzdem störte mich die Sonne und außerdem hätte ich gerne noch ein paar Stunden geschlafen. Da ich es aber jetzt eh nicht mehr ändern konnte, richtete ich mich auf und streckte mich. War klar, dass niemand mehr hier war, denn ich war immer diejenige, die am Längsten schlief.
Ich sah auf meine Solaruhr, die ich einmal gefunden hatte, die mir anzeigte, dass es bereits halb zwei war. Hm, das müsste ich echt mal ändern. Nein, stopp! Was dachte ich da nur? Nie würde ich mir meinen Schlaf nehmen lassen! Der war mir heilig. Wenn ich zu wenig schlief, war ich nämlich ziemlich schlecht drauf. Trotzdem schälte ich mich nun aus meinem gemütlichen Schlafsack. Danach kämmte ihr mir die Haare, ja als Mädel auf der Straße fand man doch nützliche Dinge.
Dann machte ich fertig für meine tägliche Runde durch die Stadt. Wie ihr hoffentlich schon gemerkt habt, gehörte dies zu meinem Tagesablauf. Deswegen ja auch täglich. Das machte ich auch nur, um etwas Geld oder Lebenswichtiges zu bekommen. Da war es mir größtenteils egal, was es war, Hauptsache war, dass ich daraus meinen Nutzen ziehen konnte.
Meine erste Station war das Einkaufszentrum, welches für mich ein wahres Paradies war und außerdem brauchte ich auch etwas zum Frühstück. Irgendwo wird hier bestimmt etwas sein, dachte ich und begann in die ersten Mülleimer zu lugen. Ha, ich war echt gut! Sofort fand ich ein eingewickeltes Brötchen. Wie dumm, wie konnte man nur so etwas Leckeres wegwerfen? Die Leute wussten nicht, wie verschwenderisch sie sind. Naj a, mir konnte es egal sein, denn es war für mich ja logischerweise ein wahrer Vorteil.
Im Kaufhaus war nicht so viel los, wie ich gedacht hatte, das erleichterte mir meine Arbeit immens. Es war zwar auch ein gewisser Nachteil, da ich so weniger Chancen auf gutes Essen oder Trinken hatte, aber ich mochte nicht die Blicke, die immer auf mir hefteten, wenn ich herumlungerte. Eigentlich müssten mich die ganzen Trantüten ja schon kennen, aber das taten sie dann wohl doch nicht.
Nach über einer Stunde war ich fertig mit dem Durchforsten der Mülleimer und ich hatte sogar Gebäck von gestern bekommen. Ach wie gut, dass es manche Bäckereien gab, die mir ihr Essen, das nicht verkauft wurde, überließen.
Ich ging wieder nach draußen und setzte mich auf eine leere Bank, die in der Nähe des Einkaufszentrums war. Schon bald würde ich meine Runde fortsetzen, doch erst einmal brauchte ich Energie, die ich mir nun gönnte.
“Mädchen”, hörte ich auf einmal eine ältere Frau zu mir sprechen. Mist, die hatte sich einfach zu mir gesetzt. Konnte mich diese Welt nicht einfach in Ruhe lassen? Scheinbar war dem nicht so, denn die Alte meinte: ”Ich sehe dich immer wieder hier, wie du nach Essen oder Trinken suchst”. Ich versuchte sie gekonnt zu ignorieren, denn aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass sie mich musterte und eine Antwort erwartete. “Warum tust du das?”, fragte sie mich. Halt deinen Mund, dachte ich und ballte das Papier des Brötchens in meiner Faust zusammen.
Natürlich entging das der Frau nicht, doch sie ließ einfach nicht locker: “Es gibt doch bestimmt Arbeit, die du machen könntest und sei es nur die Wiesen sauberzumachen”, plapperte sie weiter. Bitte? Ich und eine Putze? Niemals! Nie, nie, würde ich mich vor anderen beugen! Oh ja! Nur über meine Leiche, das war ja echt abgefahren. Ich stand auf und setzte mich in Bewegung, ja, ich ließ sie einfach stehen, äh sitzen. Schließlich musste ich weiter.
Schritt für Schritt lief ich also los, denn der Platz, zu dem ich wollte, war nun einmal ein wenig weiter entfernt. Mir egal, wenn ich insgesamt eine Stunde laufen musste, von der schon fünf Minuten vergangen war. Ich war eh so ein Naturwesen. Außerdem war mein Ziel, ein Park, ziemlich ruhig gelegen und so hatte ich dann auch hoffentlich meine Ruhe. Das Wetter war immer noch sonnig, was mich nervte.
Egal, denn ich lief an einer Villa vorbei, vor der Umzugswägen standen. Oh mein Gott, die Stadt bekam einen neuen Bonzen! Schnell weg hier, dachte ich, wobei das Gelände von außen einfach nur riesig war. Das war dann viel zu viel für so einen kleinen Krystal-Kopf. Zudem würde ich mich nur wieder aufregen, was mir irgendwie dann doch auf die Nerven ging. Daher machte ich mich so schnell es ging aus den Staub.
Hin und wieder sah ich nach einiger Zeit bekannte Gesichter, die mich aber zu meinem - und ihrem! - Glück in Ruhe ließen. Eigentlich hätte ich ja auch mit den Bus dorthin fahren können, aber mein Geld, dass ich mir durch Betteln verdiente, war nun einmal so knapp, dass ich es lieber für Wichtigeres ausgab.
Irgendwie musste ich ja im Leben vorankommen und das ging eben nur so. Nie wieder würde ich zurück gehen. Ich sah mich um. Schon bald musste ich mir Gedanken um das Abendessen machen. Außerdem musste ich duschen. Wie sollte ich das nur alles anstellen?
Schon bald war ich im Park. Endlich! Wie ich das vermisst hatte. Freudig ging ich durch die Tür und vernahm den Geruch von frischer Luft. Eine Schneedecke gab es zu meinem Bedauern trotzdem nicht. Schade.
Vielleicht würde ich hier nette Menschen sehen, die mir etwas gaben. Irgendwie war ich ja schon in Eile, denn schon bald würde es wieder dunkel werden. So war das nun mal im Winter.
Ich rannte die vielen Hecken entlang und fühlte mich dabei wie ein kleines Kind, das unbedingt die Welt erkunden musste. Die meiste Zeit ging das auch gut, bis ich gegen etwas stieß. Außerdem hörte ich ein Geräusch. Anscheinend war etwas kaputt gegangen, mir egal, denn ich wollte weiter, aber natürlich nicht ohne zu keifen. “Da ist man einmal in seinem beschissenen Leben gut drauf und dann muss da irgendeine Gestalt kommen und einem die Laune vermiesen! Meine Güte regt das auf!”, schrie ich die Person an und wollte auch schon weiter laufen.
Zu meinem leichten Erstaunen und Leid wurde ich am Handgelenk festgehalten. Mal wieder. Sag bloß, das war einer meiner vielen Verehrer? Na super, die hatten mir gerade noch gefehlt! Das konnte ich aber dann auch schnell ausschließen, denn der Griff war ungewöhnlich grob. Daher raffte ich mich dazu auf, die Person anzublicken, was ich lieber hätte bleiben lassen sollen.
Im Bruchteil einer Sekunde erschrak ich nämlich so sehr, dass ich etwas überstürzt zurückwich. Wahnsinn, schoss es mir durch den Kopf, war das ein König? Ich sah einen Mann vor mir, der schwarze Wuschelhaare hatte und ebenfalls dunkel Kleidung trug. Sein Gesicht war so rein wie das einer Porzellanpuppe und am Liebsten hätte ich ihn berührt, doch das Fell um seinen Hals vermieste diesen grandiosen Anblick mit einem Schlag.
Er musterte mich stumm und sein Blick hatte etwas Ausziehendes an sich. Scheiße, was dachte ich da? Ich konnte nichts anderes, als ihn noch immer erstaunt anzustarren. Sofort erkannte ich, dass er sich sehr deutlich von der Masse abhob und das lag nicht nur an seiner Kleidung oder an seinem Aussehen. Es war eher sein … Auftreten.
Noch immer hielt er mich aber fest, was mich zurück in die Realität holte. Schon blaffte ich ihn an: “Was fällt dir ein, mich anzufassen? Loslassen!”. “Wie heißt das Zauberwort mit Doppel-t?”, wagte er es doch tatsächlich zu fragen. Dabei wirkte er so was von arrogant, dass ich ihn am Liebsten eine Ohrfeige gegeben hätte. Ich besinnte mich aber und antwortete: “Flott!”. Daraufhin musste er lachen, doch er ließ mich nicht los.
Ich wollte gerade etwas sagen, als er süffisant meinte: “Tut mir leid, Kleines, das geht aber nicht. Schon mal den Boden betrachtet?”. “Hast du was gegen Menschen, die nicht größer als einen Meter und fünfzig Zentimeter sind?”, fragte ich kampfbereit, doch er antwortete nur: “Hier spielt die Musik”.
Daraufhin blickte ich zu den grauen Asphalt und sah Scherben. Hm, und jetzt? Sollte mich das interessieren? Ich wette, dass das Ding, was auch immer es war, eh hässlich war.“Da sind Scherben, sonst noch was? Ich habe es nämlich eilig!”, zickte ich ihn an, doch er erwiderte völlig unbeeindruckt: “Das war einmal eine schöne Skulptur”.
War ich irgendwie im falschen Film? “Und weiter?”, fragte ich energiegeladen, doch er antwortete nur kalt: “Die war teuer, sehr teuer”. Ich verstand noch immer nicht, was der Kerl von mir wollte. “Schön für dich, das ist mir zwar scheißegal, aber was soll's”, gab ich barsch zurück. Dann aber sagte er etwas, was mir beinahe den Boden von den Füßen nahm: “Du schuldest mir genau eine ganze Million Euro”.
“Für das Ding? Bist du irgendwie bekifft oder so? Darum ist es absolut nicht schade”, konterte ich schlagfertig. Er aber schien gar nicht darauf zu reagieren, er sah mich nur überheblich an und meinte: “Ich wüsste nicht, was daran so lustig war und außerdem bin ich nicht Nichtraucher”. Oha, noch nie war jemand mit mir so umgegangen! Soweit durfte es wirklich nicht kommen. “Tja, dann tut es mir aber echt leid für dich, denn ich habe keine Million, da ich auf der Straße lebe”, versuchte ich aufzutrumpfen.
Jetzt blitzte in seinen Augen etwas Undefinierbares auf, das mir schon ein wenig Angst machte, aber nie würde ich mir das ansehen lassen. “Das hässliche Ding, wie du es nennst, war teilweise aus Diamant”, klärte er mich auf und mein Blick ging erneut zum Boden. Tatsächlich schimmerten im Sonnenlicht viele Steinchen. Scheiße, dachte ich mir, wie kam ich da nur wieder gut raus?
“Ich mache dir einen Vorschlag”, holte mich seine dominante Stimme, ja, das war mir gerade aufgefallen, aus meinen Gedanken und ich sah ihn daraufhin wartend an. Wehe der Kerl wollte, dass ich mit ihm eine Nacht verbrachte. Innerlich bereitete ich mich schon einmal darauf vor, ihm eine zu knallen, doch er meinte nüchtern: “Du arbeitest den Betrag in meinem Haus ab”.
Er hatte das einfach so gesagt. Ohne irgendeine Gefühlsregung, sondern als ob es für ihn selbstverständlich wäre. “Wie bitte? Ich soll so etwas wie deine Putze oder Sklavin werden? Vergiss es, nicht mit mir!”, schrie ich ihn empört an und wollte mich erneut losreißen, doch er reagierte blitzschnell und zog mich zu einem ruhigen Plätzchen. Für meinen Geschmack waren dort viel zu viele Hecken und Bäume.
Grob hielt er mich fest und drückte mich gegen einen Baum. Hatte der nicht mehr alle Tassen im Schrank oder was? Ich versuchte mich aus dem noch unangenehmeren Griff zu befreien, leider hielt er spielend dagegen. Na gut, dachte ich, dann versuche ich eben ruhig zu bleiben.
Schon ließ er mich los, aber nicht ohne mich zu warnen: “Wenn du wegrennst oder sonstige unnötige Sachen bringst, dann sehe ich mich leider gezwungen die Polizei”. “Das ist doch Erpressung!”, blaffte ich ihn an, doch er meinte: “Ist es nicht, sei froh, dass ich dich nicht anzeige, denn deinetwegen ist meine Skulptur Schachmatt”.
War dieser komische Kerl im Schachklub? “Nein, ich spiele kein Schach, aber ich wollte dir damit nur den Ernst der Lage verdeutlichen”, sagte der Mann und mich überkam das Gefühl, dass er meine Gedanken lesen konnte. Ich atmete ein und aus, dann fragte ich: “Und jetzt? Ich habe das Geld wirklich nicht und dass ich auf der Straße lebe war auch keine Lüge”. “Zeit für eine rasche Kapitulation deinerseits”, säuselte er, während er von oben auf mich herabsah. Warum musste ich auch nur anderthalb Meter groß, nein klein, sein?
Da ich merkte, dass es bei diesem fremden Schönling absolut nichts brachte, ihm über den Mund zu fahren, stimmte ich dem zu. Schon schlug er erneut vor: “Du arbeitest für mich”. “Soll ich deine krummen Dinger machen oder was?”, keifte ich, denn für mich hörte sich dieser Vorschlag alles andere als legal an. Im nächsten Moment hörte ich ihn aber lachen. Es war aber kein echtes Lachen, sondern eines, das mir signalisierte, dass ich ziemlich tief in der Scheiße steckte.
“Nein, du sollst weder eine Putze werden noch eine Sklavin. Du sollst lediglich bei mir deine Schulden begleichen. Tag und Nacht”, sagte er. Misstrauisch sah ich ihn an, dann meinte ich: “Du kannst unmöglich von mir verlangen, dass ich die ganze Zeit irgendetwas für dich mache!”. “Das habe ich auch nicht gesagt. So gütig wie ich bin, lasse ich dich nämlich bei mir wohnen. Außerdem ziehe ich dir all die Stunden, die du da bist von deinen Schulden ab. Auch wenn du schläfst. Zu guter Letzt kommt meine Gutmütigkeit hinzu. Pro Stunde werde ich dir genau einhundert Euro abziehen”.
Super, da hatte ich echt etwas angerichtet. “Wie lange muss ich dann bei dir leben, wenn ich dein skurriles Angebot annehme?”, wollte ich wissen, doch er meinte nur unverschämt: “Das kannst du sicherlich selber ausrechnen, wenn du es fertig bringst, so frech zu sein”. Boah, das ging aber jetzt zu weit! Ich holte schon mit meiner Hand aus, doch er hielt meinen Arm fest. Schmunzelnd sagte er: “Am Tag sind das zweitausendvierhundert Euro, das bedeutet, dass du in nicht einmal anderthalb Jahren fertig bist, aber nur, wenn du dich auch gut anstellst und auch genau das tust, was ich dir sage”.
“Nein”, sagte ich. Er sah mich ohne Reaktion an, dann fuhr ich fort: “Wer weiß, was du mit mir vorhast”. “Gut, wie du willst, dann sehe ich mich leider gezwungen, die Polizei zu rufen”, erwiderte der Kerl.
Betont langsam holte er sein Handy aus seiner Jackentasche. Während er die Nummer wählte, starrte er mich an. Er wollte das doch jetzt nicht wirklich tun, oder? Erst als er sich das gute Stück an das rechte Ohr hielt, reagierte ich.
In guter Manier sprang ich die gut dreißig Zentimeter, die uns voneinander trennten hinauf und nahm ihm das Gerät aus der Hand. Sofort legte ich auf. “Ah, haben wir es uns anders überlegt, Mademoiselle?”, wollte er tatsächlich unverschämt wissen. Ich antwortete: “Scheint so, was”. “Gut, dann haben wir das ja endlich geklärt. Es wird Zeit, dass wir nach Hause fahren. Übrigens bin ich Tizian”, sagte er und wandte sich zum Gehen um.
Tizian hieß er also. Ein ziemlich gefährlicher Name, aber irgendwie ziemlich passend für ihn. Wenn ich ihn so ansah, wurde ich in der Tat etwas unruhig. Ich wusste gar nichts über ihn, nur seinen Namen und dass er anscheinend im Gegensatz zu mir sehr viel Geld besaß, was auch kein Wunder war, da ich auf der Straße lebte.
Schweigend gingen wir aus dem Park und er lotste mich zu seinem Wagen. Wagen? Nein, für mich war das schon beinahe eine Limousine, nein ein Ferrari, ach keine Ahnung. Jedenfalls sah sein schneeweißes Auto ziemlich schnell aus.
“Der Beifahrersitz ist vorne und nicht hinten”, wies Tizian mich zurecht, als ich in einer der hinteren Türen einsteigen wollte. Seine Stimme war echt gruselig, richtig angsteinflößend. Trotzdem ging ich seinem Befehl, so hörte es sich jedenfalls an, nach. Schweigend fuhren wir los. Schmollend sah ich aus meinem Fenster, denn der Typ sollte bloß nicht denken, dass er es mir wert war, ihn anzusehen.
Zu meinem Bedauern fing Tizian aber ein Gespräch mit mir an. “Was ist los, Kleine? Im Park warst du noch ziemlich schlagfertig und jetzt? Warum auf einmal ruhig und schweigsam?”, löcherte er mich mit Fragen und sah mich aus den Augenwinkeln an. Daraufhin drehte ich mich blitzschnell zu ihm. Ich hatte gedacht, dass ich ihn so erschrecken könnte, doch er starrte trotz meiner kleinen Aktion weiterhin auf die Straße.
Dann sagte ich: “Nenne mich nicht Kleine!”. Lachend meinte er: “Wie soll ich dich denn sonst nennen?”. Stimmt, Tizi kannte nicht einmal meinen Namen. Im nächsten Moment war ich es, die lachte. Tizi - das war ab jetzt sein Spitzname - klang ziemlich amüsant. “Ähm … wie du willst”, antwortete ich schließlich noch immer vor mich hin kichernd, was der Mann mit einem argwöhnischen Blick zur Kenntnis nahm.
An einer Ampel blieben wir stehen. Verdammter Verkehr, na super, jetzt guckte der mich auch noch an. “Was ist?”, wollte ich etwas beleidigt wissen, da mir das ziemlich auf die Nerven ging. Er sagte: “Ich suche nur gerade einen passenden Namen für dich”. “Pah, auf meinen echten kommst du eh nie”, entgegnete ich pampig, woraufhin Tizian meinte: “Das will ich auch gar nicht, er sollte einfach nur passen”.
Wie konnte man nur so nervig sein? Ich hatte schon jetzt keine Lust mehr mit ihm zu seinem Haus zu fahren. Dabei waren gerade einmal zehn Minuten seit unserer Begegnung im Park vergangen. “Ich nenne dich … Priscilla”. Kaum hatte er das gesagt, brannten in mir die Sicherungen durch und ich schrie empört: “Diesen Scheißnamen kannst du dir sonst wohin stecken! Du spinnst ja! Der ist echt total eingebildet!”.
Dieses Mal war er es, der lachte. Er verspottete mich geradezu und genau das machte mich tierisch wütend. Ehe ich etwas sagen konnte, meinte er: “Da würde ich sagen, dass du selber Schuld hast”. Das Schlimmste daran war, dass er Recht hatte. Ich blieb aber stumm. Erst als wir weiterfuhren und nach links abgebogen waren, ergriff ich wieder das Wort: “Krystal und achtzehn Jahre”.
Auf einmal schnellte sein Blick weg von dem Verkehr. Erschrocken drehte ich mich zu ihm und sah, wie er mich musterte. Ruhig bleiben, Krys, ganz ruhig, schoss es mir durch den Kopf. Warum brachte mich der Kerl eigentlich so durcheinander? Natürlich kannte ich die Antwort, da hätte ich mir diese überflüssige Frage sparen können. Es war seine enorme Selbstsicherheit, die mich zutiefst verunsicherte.
“Krystal? Wie ein Kristall … interessant. Desto öfter ich dich ansehe, umso besser passt der Name zu dir”, sagte Tizian und in seiner Stimme konnte ich immense Langeweile vernehmen. Vielen Dank auch, Arschloch. Ich zog es wieder vor, zu schweigen, war wahrscheinlich daran lag, weil wir gerade an einem Wald vorbeifuhren. Dabei sah er mich ein wenig seltsam an. Ich konnte diesen Blick nicht so richtig beschreiben, aber er machte mir einfach nur Angst.
Daher war es kein Wunder, dass ich ruppig meinte: “Damit eins klar ist: Ich lebe seit über drei Jahren auf der Straße und kann mich prächtig gegen solche widerlichen Typen wie dich wehren”. Danach blickte mich Tizian mit eingeengten Augen an. Oh, ich hatte ihn wohl wütend gemacht. Ich hielt lieber meinen Mund, doch auf einmal machte er mitten auf der Straße Kehrt und fuhr in den Wald. Oh mein Gott, ich hatte es geahnt!
Mit hoher Geschwindigkeit schlitterten wir immer tiefer in den Wald, bis er urplötzlich eine Vollbremsung machte. Super, ich war also in fast vollständiger Dunkelheit nur mit ihm und das auch noch im Wald! Zu meinem Glück konnte ich ihn durch das dürfte Sonnenlicht sehen. Das nützte mir auch nichts, denn blitzschnell schnallte er sich ab und zog etwas heraus.
Damit nicht genug kam er mir unendlich nahe, außerdem sah ich etwas in dem Licht funkeln. Was zur Hölle war das? Sein Atem streifte meinen Hals und obwohl ich in so einer ausweglosen Situation war, musste ich zugeben, dass er angenehm nach Pfefferminze roch. Seine dunkle Stimme holte mich sofort in die Wirklichkeit zurück.
Er flüsterte mir bedrohlich in das linke Ohr: “An deiner Stelle würde ich aufpassen, wie ich mit Menschen umgehe, das könntest du eines Tages bitter bereuen. Du bist gerade einmal achtzehn Jahre alt und ich bin siebenundzwanzig, zudem habe ich im Gegensatz zu dir das hier”.
Daraufhin hielt er mir sein Messer - den Gegenstand, den er zuvor hervorgeholt hatte - direkt vor die Augen. Scheiße, die Klinge sah ziemlich scharf aus. Ich war nicht in der Lage auch nur irgendwie zu reagieren, denn mich überkam die pure Panik und ich war völlig paralysiert. Nicht einmal schreien konnte ich und das war schon so etwas wie eine Sensation.
Würde er das wirklich tun? Hatte er das mit dem Arbeiten nur gesagt, um mich zu töten? Tizian kam mir langsam aber sicher mit dem Messer immer näher, was mir gehörig Angst einjagte. Ich spürte schon die Klinge an meinem Hals, aber auch seine eiskalte Hand, mit der er das Messer festhielt. Beides verursachte Gänsehaut auf meinem gesamten Körper.
Ich fragte mich, was Tizian tun würde, aber er rührte sich nicht, lieber drückte er mich noch tiefer in den Sitz. Das ging so lange weiter, bis ich mit dem Kopf gegen die Tür stieß und mein Gesicht etwas schmerzvoll verzog. Noch immer war ich nicht in der Lage mich auch nur irgendwie zu wehren. Eigentlich hätte ich ihm ja mein Knie zwischen die Beine rammen können, aber selbst das wollte mir nicht gelingen.
“Was willst du nun machen?”, wollte er mit bedrohlicher Stimme wissen. Stammelnd meinte ich: “Ich … ich”, doch ich brachte einfach nichts Vernünftiges aus meinem Mund. Mit einem heiseren Lachen ließ Tizian schließlich von mir ab und steckte sein Messer zurück in seine Tasche. Dann schnallte er sich wieder an und fuhr seelenruhig weiter.
Die ganze Fahrt über sprach ich kein Wort mehr mit ihm, das war echt zu viel für mich gewesen. Ich dachte, dass er mich tötete oder vergewaltigte oder sonst was mit mir anstellte! Aber nein, er hatte nur … ja was hatte er eigentlich gemacht? Mich bedroht? Noch immer zitterte ich am ganzen Körper und das lag bestimmt nicht an der eisigen Kälte, die da draußen herrschte.
“Worauf habe ich mich da nur eingelassen?”, fragte ich schluchzend vor mich hin, doch erst die Stimme von Tizian ließ mich bemerken, dass ich laut gedacht hatte. Er meinte nämlich: “Das wirst du gleich sehen, Krystal”. Daraufhin hob ich meinen Kopf und in der Tat waren wir außerhalb des Waldes und erst jetzt kam mir dieser Weg bekannt vor. Ratet mal vor welchem Gebäude wir hielten? Richtig, genau vor der schneeweißen Villa.
Da ich noch immer in seinem Auto saß, wollte Tizian wissen, wann ich denn endlich raus käme. “Das ist nicht dein Ernst?”, fragte ich um Fassung ringend, doch er machte mir mit seiner Antwort einen gehörigen Strich durch die Rechnung: “Doch, ist es. Sei lieber froh, so kannst du dich wenigstens duschen und hast ein Dach über den Kopf. Zudem bekommst du Essen und Trinken”. Oh, wie großzügig, dachte ich verachtend. Lustlos ging ich schließlich mit.
Schon allein der Vorhof war prächtig. Die Wiesen sahen sehr gepflegt aus und waren im Sommer bestimmt wunderschön. Zu dumm, dass ich gerade keinen klaren Gedanken fassen konnte, um mir das vorzustellen. Natürlich hatte ich die Villa schon im Sommer gesehen, aber mir wollte dieses bestimmte Bild einfach nicht in den Kopf kommen.
Vor der Türe holte er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche. Ich wollte aufs Namensschild blicken, doch zu meinem Bedauern war dieses doofe Schild leer. Hatte der Kerl keinen Nachnamen oder was? Seine Arbeiter, die seine Sachen in die Villa trugen, müssten das doch wissen, vielleicht konnte ich sie ja danach fragen? Leider aber war da kein Gefährt auf vier oder mehreren Rädern weit und breit. Dumm gelaufen.
Als Tizian die mächtige Tür aufmachte, war ich baff. Ich sah vor mir einen riesigen schwarzen-weißen Saal, in dem sich in der Mitte eine braune Treppe aus Holz befand. Diese führte in zwei verschiedenen Richtungen. Schon allein im Eingangsbereich sah ich gut fünf Zimmer vor mir. “Okay, das ist aber jetzt echt viel zu viel für so einen kleinen Krystal-Kopf”, gab ich ein wenig verdattert zu.
Daraufhin lachte Tizian und sagte: “Dann warte nur ab, was so auf dich zukommt”. Okay, das fand ich jetzt nicht so lustig. “Mensch Tizi, sei nicht immer so gemein zu mir!”, beklagte ich mich, doch aufgrund meiner Größe sah ich nur wie ein kleines bockiges Kind aus. Seine Miene verfinsterte sich augenblicklich und schon meinte er sehr schroff: “Wenn du mich noch einmal so nennst, dann kannst du dich auf etwas gefasst machen. Und das wird dann viel schlimmer, als es ohnehin schon für dich sein wird”.
Dieser Typ war einfach nur das Allerletzte! Für wen oder was hielt der sich eigentlich? Für einen Prinzen, der dachte, er könne alles und jeden nach seinen Idealen formen oder behandeln? Niemals, nicht mit mir! “Wie soll ich dich denn sonst nennen außer Tizian?”, gab ich pampig von mir, woraufhin er grinsend meinte: “Sir gefällt mir ganz gut oder Lord”. Meine Pupillen weiteten sich drastisch. Er war nicht nur ein gruseliger Kerl, sondern auch größenwahnsinnig. Ich ließ es dabei bleiben und er begann, mich durch sein riesiges Anwesen zu führen.
“Das Erdgeschoss ist eigentlich ganz uninteressant. Da befinden sich die kleineren Räume wie Abstellkammer, Keller und so weiter. Lass uns den linken Flügel zuerst vornehmen”, fing der Lord, Sir oder einfach nur Tizian, an. Schweigend nickte ich ihn an. Oh Mann, wenn ich meinen Kopf immer so weit heben musste, dann würde er mir irgendwann abfallen.
Während wir die mächtige Treppe hinaufgingen, drehte ich mich immer wieder um, denn alles sah einfach nur imposant aus. An den Wänden hingen viele alte Gemälde, daher mutmaßte ich, dass Tizian sich für Geschichte interessierte. Warum sollten denn auch sonst solche Persönlichkeiten wie Queen Victoria, Napoleon Bonaparte, Alexander der Große und wie sie alle hießen, dort hängen?
“Ein Geschichte-Freak”, entfuhr es mir, worauf Tizian nur lachen konnte. “Was ist daran so lustig, Lord?”, wollte ich schnippisch wissen und betonte dabei natürlich den Titel. Er antwortete mir: “Viele Menschen wissen gar nicht, wie interessant Geschichte ist”. Doch, dachte ich geknickt, ich weiß es. Schließlich war es mal mein Lieblingsfach in der Schule gewesen. “Was ist?”, fragte seine kühle Stimme und ich meinte: “Bitte? Ach, das geht dich gar nichts an! Gehen wir weiter”.
Er sah mich etwas erstaunt an, doch in seinem Blick konnte ich auch Vergnügen lesen. Daher sah ich sofort in eine andere Richtung, denn noch mehr Unterdrückung konnte ich an diesem Tag wirklich nicht gebrauchen.
“Tja, jetzt bist du umringt von Kisten”, meinte Tizian, als wir das erste Zimmer betraten, woraufhin ich erwiderte, dass ich das selber sah. Er lachte und provozierte mich damit so sehr, dass ich mal wieder die Beherrschung verlor und sauer sagte: “Halt deinen verdammten Mund!”. “Wie war das?”, fragte er mich scharf, aber dennoch ruhig. Da verschwand aber auch meine große Klappe wieder, denn damit machte mir der Kerl Angst. Ich nuschelte leise: “Tschuldigung”.
Damit wollte sich Tizian aber nicht zufrieden geben. Er sagte: “Es mag vielleicht sein, dass du mit dieser Masche bei den anderen Menschen durchgekommen bist, aber bei mir zieht das nicht, verstanden?”. Als ich darauf nicht reagierte, wollte er eine ordentliche Spur schärfer wissen: “Haben wir uns da verstanden?”. Dabei kam er mir wieder so nahe wie im Auto, dass ich anfing, zu zittern und nur leicht nicken konnte. Daher ließ er schmunzelnd von mir ab. Mistkerl, das tat er doch mit Absicht.
Ohne das ich mich davon erholen konnte, sprach der Typ weiter: “Das wird einmal ein Ballsaal”. “Ja, damit da für dich Prostituierte tanzen können”, entfuhr es mir und ich lief rot an. Ich hätte damit gerechnet, dass mich Tizi - ja, in meinem Kopf nannte ich ihn immer noch so! - anschrie, aber er säuselte nur: “Dann wird es wohl an der Zeit, dass wir dort tanzen, meine Edelnutte”.
Wie bitte? Er sah mich als Schlampe an? Boah, das war ein absolutes No-Go! “Ich bin nicht so niveaulos wie deine anderen Weiber!”, keifte ich ungehalten. Erst jetzt fragte ich mich, wie ich darauf kam, dass er viele Affären hatte. Davon war noch nie die Rede gewesen. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass er, trotz seines miesen Charakters, ziemlich gut aussah.
“So so, du willst mir also sagen, dass du Niveau hast?”, wollte er wissen. Ich antwortete: “Ja natürlich habe ich das!”. “Beweise es mir”, forderte Tizian mich weiter heraus und ich fragte mich, für wen er sich hielt. “Ähm, ich brauche dir absolut nichts zu beweisen, denn ich werde wohl am besten wissen, wie und vor allem wer ich bin”, konterte ich. Tizi meinte: “Stimmt, da hast du Recht, allerdings frage ich mich, warum du so wütend darauf reagiert hast. Versuche doch mal ruhig zu bleiben”.
Wo war ich da nur gelandet? Also ich gehörte auf gar keinen Fall in die Klapse. “Sag mal, willst du mal Psychologe werden?”, fragte ich etwas verdattert, da mir noch niemand vorgeschlagen hatte, ruhig zu bleiben. Überhaupt kam das erst gar nicht in die Tüte. Warum sollte ich? Jedoch antwortete Tizian mir auf meine Frage: “Nein, ich bin nur ein armer Geschichtsstudent, der gerne hinter die Fassade von Menschen blickt”.
Bämz! Also das hat echt gesessen. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, denn ich brachte einfach nichts aus meinem Mund heraus. Verdammt, das konnte ich nicht einfach so offen stehen lassen. “Du blickst also gern hinter der jämmerlichen Fassade von Menschen? Sorry, aber da wirst du bei mir keine finden, denn das ist meine Natur”, sagte ich, doch leider meinte Tizi: “Jetzt lügst du aber”.
“Sag mal, was soll das werden? Ich dachte, du willst mich in deiner Villa herumführen und mich nicht mit solchem Quatsch belagern!”, schrie ich ihn empört an, denn solche Gespräche hasste ich über alles auf der Welt. Dieser Kerl konnte aber einfach nicht aufhören und sagte süffisant, dass ich eine Marionette meiner Selbst sei. Musste ich das verstehen? Ich hoffte nicht, doch er sprach weiter: “Es stimmt schon, dass ich dir alles in meinem Anwesend zeigen will, aber was nützt mir das, wenn du so aggressiv bist?”.
Hmpf, dachte ich und erhob meine Stimme: “Ach so, ich bin daran Schuld, dass du mich wie Dreck behandelst?”. “Schon bald wirst du merken, was ich meine”, gab er von sich. Wie geheimnisvoll. “Was soll der Mist denn wieder?”, wollte ich genervt wissen, doch er würgte mich nur damit ab, dass er mir jetzt den Rest seiner Villa zeigen wolle.
Wir gingen auch schon zu der nächsten Tür, wie ich in dem Gang, in dem auch der Raum mit den vielen Kisten gewesen war, erkennen konnte. Dort befanden sich insgesamt fünfzehn Zimmer und daher mutmaßte ich, dass der rechte Flügel dieselbe Anzahl hatte. Wie ich später, als wir mit der linken Seite des Anwesens fertig waren, mitbekam, waren die Gänge sowohl hinten als auch vorne miteinander verbunden. Es war also so etwas wie ein Kreis, interessant. Jedenfalls sagte Tizi mir, dass er eh nur die rechte Seite seiner Villa so richtig nutzte. Da drängte ich ihm natürlich die Frage auf, warum er denn dann so eine große Bleibe hatte. Die Antwort war simpel, damit er Besuch unterbringen konnte, aber sich dort auch zurückziehen konnte.
“Das ist dein Zimmer”, sagte Tizian und ließ mir den Vortritt. Haha, schoss es mir durch den Kopf, das ist doch noch voll unordentlich, da die vorherigen Zimmer mit den entsprechenden Kisten voll gestellt waren. Nun, als ich aber die Türklinke nach unten drückte, das Licht in dem Zimmer anmachte und in das Innere des Raumes sah, starrte ich Tizi mit geweiteten Pupillen an. Das durfte doch nicht wahr sein! Seine Stimme riss mich aber aus meinen Gedanken: “Schau nicht so, mir ist es egal, ob es dir gefällt oder nicht. Sei lieber froh, dass du ein eigenes Zimmer bekommst”.
So ein Scherzkeks. “Doch … es ist … atemberaubend. Also, ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Es ist wunderschön und ich komme mir vor wie in einem Paradies”, gab ich schließlich zu und sah sein Grinsen. Menno, nie konnte ich mich bei ihm über etwas freuen. Das Zimmer war in hellen Farben eingerichtet, wobei es für mich kein Zimmer mehr war. Ich kam mir schon vor wie in einem Hotel oder Apartment. Echt jetzt, ungelogen. Das war übel. Mich würde es nicht wundern, wenn ich auch noch ein eigenes Bad hätte.
Plötzlich wurde ich nach vorne geschubst. Dabei wäre ich auch noch fast auf den Mund gefallen, doch Tizian zog an meiner uralten Jacke. “Was soll der Mist denn?”, wollte ich sauer wissen, denn so etwas mochte ich absolut nicht. Er antwortete: “Bevor es weiter geht, zieh dich doch bitte um. Das ist kein guter Anblick, du siehst so ziemlich... scheiße aus”. “Was willst du von einem Straßenmädchen auch erwarten?”, fragte ich, doch ich bekam dieses Mal keine Antwort.
Tizi meinte nämlich: “In der Ecke weiter hinten ist ein großer begehbarer Schrank, da sind deine Klamotten. Also husch husch”. Zu einem weiteren Ansporn lotste er mich auch noch dahin. Okay, das hatte ich nicht gewusst. Das Zimmer hatte nämlich noch einen kleinen Schleichweg, ich kam mir vor wie in einem Labyrinth. Na ja, jedenfalls kam ich seinem Befehl nach.
Nach zehn Minuten kam ich in einem völlig neuen Look zu ihm und natürlich musterte er mich ausgiebig. Kapierte Tizian denn wirklich nicht, dass ich das hasste? “So siehst du gar nicht mal mehr so hässlich aus”, kommentierte er. Sofort keifte ich: “Ach so, ich bin also unansehnlich? Ich zwinge dich gar nicht, mich anzusehen! Außerdem hättest du mich dann nicht verschleppen sollen!”. Tja, da brachte ich wieder Gift zwischen uns, denn der Kerl packte mein Handgelenk und sagte: “Warum ich dich schließlich hierher gebracht habe, weißt du zum Teil selber”.
Hä? “Wie zum Teil? Was sollte es denn für einen anderen Grund geben, abgesehen davon, dass ich unabsichtlich deine Skulptur kaputt gemacht habe?”, fragte ich etwas irritiert. Zu meinem Leid aber würgte mich der Lord, wie ich ihn ja auch nennen konnte oder sollte, in dem er entgegnete, dass es mich nichts anginge.
Schweigend sahen wir uns den Rest seines Anwesens an, sein Schlafzimmer durfte ich aber nicht betreten. Wahrscheinlich lagen dort seine Nutten, haha. Und nein, ich war nicht eifersüchtig, lieber würde ich mir die Kugel geben, als mich in so einen Mann zu verlieben. Der hatte sie nicht mehr alle. Tja, zum Schluss war der Garten an der Reihe, aber von dem sah man ja eh nicht viel, jedoch bereitete ich mich mental auf den Sommer vor, denn da gab es sicherlich viel zu tun. Somit wurde mir immer klarer, dass das hier bestimmt kein Zuckerschlecken werden würde.
Hm, und jetzt? Ich war nun in all den Räumen seines Anwesens gewesen, nur in seinem Schlafzimmer nicht. Komische Sache. Kein Wunder also, dass ich meine Stimme erhob: “Was ist mit deinem Schlafzimmer?”. “Das ist tabu für dich”, sagte Tizian sehr schroff und sah mir in die Augen. Ich mied seinen Blick. Nebenbei murmelte ich etwas davon, dass es mir leid täte und so weiter.
Auf einmal sah ich ihn vor mir. Dieser Arsch hatte sich klein gemacht und stand mir quasi gegenüber. Dann meinte er: “Nun, wir haben kurz nach zwanzig Uhr. Schlage mir etwas vor”. Bitte? Ich soll entscheiden, was wir als nächstes machen würden? “Ähm”, fing ich an zu stottern, “Essen!”. Oh mein Gott, wie dumm! Jetzt denkt er bestimmt, dass ich nur an das Essen denke, dachte ich mir und hätte mir am Liebsten eine Ohrfeige gegeben.
Tizian lachte aber nur auf und frotzelte: “Verstehe, du hast Hunger. Warum hast du denn nicht schon am Anfang etwas gesagt? Du kannst unsere Mahlzeiten herrichten, wo die Küche ist, weißt du ja bereits”. Pf, sollte er doch selber machen. Ich blieb auf der Eingangstreppe sitzen und rührte mich keinen Millimeter. Tizi stand hinter mir und obwohl ich ihn nicht sah, wusste ich, dass sein Blick auf mich lag. Ich konnte es einfach spüren.
Er setzte sich neben mich und meinte: “Das war im Übrigen ein Befehl. Du kannst unser Essen nicht herrichten, du sollst es und nun ab!”. “Ich … na ja …”, setzte ich an, brach aber dann ab, da er mich einfach hinter sich her zog. Die Küche lag natürlich auf der selben Seite von meinem Schlafzimmer. Es war gleich das erste Zimmer.
Schon von Anfang an bewunderte ich die Einrichtung. Sie war von den Farben her genauso wie die der Eingangshalle. Schwarz-Weiß war wirklich edel und doch dezent. Passte zu ihm irgendwie. Wobei dieser Kerl alles andere als galant war, also im Verhalten schon mal nicht. Da war er einfach nur abgehoben. “Na los, nun mache schon. Ich habe dich schließlich nicht mitgenommen, damit du hier die ganze Zeit nur blöd herumstehst”, holte mich seine Stimme zurück in die Wirklichkeit.
“Ja doch!”, vergriff ich mich etwas im Ton. Immerhin ging ich zu den Lebensmitteln, die er fein säuberlich in einem Regal sortiert hatte. Okay, irgendwie war er auch ein Freak. Mir sollte es aber egal sein, denn in drei Jahren war ich hier eh nicht mehr. “Es freut mich, dass du es bis hierhin geschafft hast. Ich erwarte von dir, dass du mir Tiramisu zubereitest”, stichelte Tizian weiter.
„Es ist Abend. Ich dachte immer, dass das ein Dessert ist”, widersprach ich ihm, doch er meinte: “Das brauchst du mir nicht sagen”. Dann sah er mir fordernd in die Augen, was mich unglaublich nervös machte. Um die Situation zu retten, versuchte ich es einfach erneut und sagte: “Ich … ich kann dir Brote machen!”. Daraufhin musterte mich Tizian stumm. Er sah so aus, als ob er etwas vorhatte. “Nein, du sollst mir das herrichten, was ich dir sagte. Keine Widerrede”.
Wieder geriet ich ein wenig ins Schwanken. “Die Sache ist die … ich kann nicht so richtig kochen”, gab ich etwas peinlich berührt zu und fuhr mir verlegen durch die Haare. Seine Reaktion war einfach nur mies. Er brach in schallendes Gelächter aus, für ihn war das wohl so eine Art Gewinn. Das konnte ich mir bei ihm sehr gut vorstellen, schließlich konnte heutzutage jede Frau kochen.
“Fang!”, sagte Tizian plötzlich und in sekundenschnelle hatte ich eine Schürze in der Hand. In pink. Schon keifte ich: “Ighitt! Gib mir lieber die weiße!”. Mit einem Blick auf das helle Stück Stoff, welchen er sich auf seinen rechten Arm gelegt hatte, wollte ich meinen Worten Nachdruck verleihen. “Nein”, hörte ich ihn sagen und sah ihn wütend an. Er jedoch kam damit auf mich zu, während er meinte: “Du hast gesagt, dass du der Aufgabe alleine nicht gewachsen bist und nun bringe ich dir das bei”.
Wie bitte? Er wollte mir Kochen beibringen? War er denn von allen guten, äh bösen, Geistern besessen? Eigentlich wollte ich protestieren, doch der unverschämte Typ ordnete mir an, dass ich die Zutaten alle auf die große Herdplatte legen sollte. Aha, heutzutage kochte man darauf.
Ich dachte ja - und hatte auch gehofft! - dass das mit dem Beibringen nur ein Scherz war, doch zu meinem tiefsten Bedauern hatte er sich die Schürze wirklich umgebunden und sah mich auffordernd an. Kaum war ich seinem Befehl gefolgt, fing ich auch schon unter seinen präzisen Anweisungen an, die verschiedenen Zutaten für die Creme zu verrühren
Es fühlte sich komisch an, nach Angaben zu kochen. “Nein, das musst du so machen”, sagte Tizian und erhob sich von dem Stuhl, dem ich ihm zuvor gegenüber von der Arbeitsplatte hinstellen musste, auf dem er gesessen hatte. J
a genau, natürlich kam die Herdplatte als Zubereitungsort nicht in Frage. Ich sah ihn an und er nahm mir das Biskuit einfach aus der Hand. Hmpf. Tizi meinte: “Dafür dass du angeblich nicht kochen kannst, stellst du dich gar nicht mal so schlecht an”.
Dieser Spott in seiner dunklen Stimme war absolut nicht zu überhören! Beleidigt ging ich ein paar Schritte zurück und zischte: “Tu mir einen Gefallen und beurteile mich nicht! Sag' mir einfach, was ich falsch gemacht habe und wie ich das richtig zu tun habe und gut ist”. Danach zeigte er mir ohne jegliche Kommentare, wie man Tiramisu richtig zubereitet.
Einige Handgriffe später war es dann auch vollbracht. Ich war fertig. Fertig mit der Welt und dem Dessert. Na gut, mit der Welt war ich nicht fertig, aber ich wollte jetzt einfach nur noch schlafen.
Tizian hielt mich aber auf. “Hey, willst du das Chaos nicht wieder sauber machen?”, fragte er mit einem Blick auf das dreckige Geschirr. Na klar, das hatte ich vergessen. Er wollte mich einfach quälen. “Sieh mal auf die Uhr, es ist kurz vor zehn, ich bin müde und möchte zu Bett gehen”, antwortete ich. Der Kerl gaffte mich nur streng an, doch dann meinte Tizi: “Na gut, aber dann verlange ich von dir, dass du das Morgens bis um zehn Uhr erledigt hast”.
Oh, auch das war mir missfallen. Er wollte ja auch gar nichts ohne eine Gegenleistung. “Ist gut, war es das?”, wollte ich ihn abwürgen, doch er meinte: “Nicht ganz. Setze dich hin”. Als ich mich wieder nicht rührte, sagte er gefährlich ruhig: “Na los, mache schon”. Okay das war jetzt schon etwas gruselig. Trotzdem protestierte ich nicht weiter und ließ mich auf einen der Stühle an dem Küchentisch, der am anderen Ende der Küche stand, nieder. Selbstverständlich musste ich zuerst noch seinen Stuhl zurückstellen. Immerhin saß ich weit weg von ihm. “Sei nicht kindisch”, kam es auch schon von ihm. Natürlich befand ich mich eine Minute später direkt neben ihm.
“Was gibt es denn noch? Ich bin wirklich müde und möchte schlafen”, fragte ich sehr sauer. Er antwortete nur seelenruhig: “Daran kannst du dich schon einmal gewöhnen, denn wie es mir scheint, bleibst du ziemlich lange hier”. “Wie bitte? In anderthalb Jahren bin ich weg”, sagte ich und musste beinahe nach Luft schnappen. Stattdessen trank ich lieber aus dem Glas Mineralwasser, was er mir großzügigerweise erlaubt hatte.
Tizian meinte überaus belustigt: “Du glaubst auch alles, was man dir sagt, oder?”. Bitte? Was meinte er denn nun damit? “Das ist dasselbe wie mit dem Tiramisu: Ich sagte dir, dass du das jetzt zubereiten sollst und habe ich es bis jetzt angerührt? Nein, es steht im Kühlschrank”, erhob Tizi weiterhin seine Stimme. “Ich kann zwar nicht kochen, aber ich weiß trotzdem, dass man Desserts vor dem Servieren einige Stunden kühlt. Dazu kommt noch, dass es dir scheinbar gefällt, mich so mies zu behandeln“, versuchte ich dagegen zu halten, doch er erwiderte nur: “Ja genau und jetzt rennst du wieder weg”.
Okay, das war … hart? Nein, nicht unbedingt, eher … okay, mir blieb die Stimme weg. Ich war davon überrascht und machte meinen Mund schnell wieder zu, nachdem mir aufgefallen war, dass ich den Schwarzhaarigen mit offenem Mund anstarrte. “So und jetzt noch einmal für solche Zwerge wie dich: Glaubst du denn wirklich, dass ich dir pro Stunde, die du hier bist, einhundert Euro abziehe?”, fuhr Tizian unbeirrt fort. Mit diesen Worten hatte er es geschafft: Ich war so stumm wie eine Feder, die zu Boden fiel. In meinem Kopf herrschte dagegen ein Gewitter.
Auf einmal stand er neben mir und sagte auch schon: “Dividiere das durch zehn oder ziehe von diesen einhundert Euro einfach die Wurzel und schon hast du das Ergebnis”, feixte er und seine Stimme glühte nahezu vor Vergnügen. Ruckartig erhob ich mich von meinem Stuhl und wollte schon gehen, aber natürlich hielt er mich auf. “Du verdammter Wichser, hast mich…”, fing ich schon an ihn zu beleidigen und meinem Ärger Luft zu machen, doch er zog mich kräftig zu sich und ehe ich mit meiner Hassrede weitermachen konnte, stieß ich gegen ihn.
Augenblicklich später war ich stumm. Das erinnerte mich nämlich an unser Zusammentreffen im Park. Ein Déjà-Vu. “Ich werde dich nicht mehr so oft warnen, benehme dich mal wie ein normaler Mensch. Mit Schimpfwörtern kann ich auch um mich werfen. Du verhaltest dich wie eine Zwölfjährige”, sagte Tizian und musterte mich. Nebenbei sah er natürlich auf mich herab.
Grr, wie ich das hasste! “Hör mal zu, Lord! Es mag sein, dass ich ziemlich klein bin, aber das heißt nicht, dass ich mich von so einem … Sir … wie dich unterkriegen lasse!”, schrie ich ihn an. Ich für meinen Teil hatte ja damit gerechnet, dass er wütend wurde, aber nein, er grinste mich nur unverschämt an. Bah, der war so was von mies. Geradezu ungenießbar.
Tizi sagte ganz ruhig: “Du wirst so oder so länger bleiben. Ich dachte ja, dass du weißt, dass ich dir nicht so leicht deine Schulden erlasse. Du hast meine geliebte Dekoration kaputt gemacht”. “Ja, dann heul doch!”, entfuhr es mir und ich brach in Gelächter aus. Er jedoch blieb ernst und verzog nicht einmal ein Glied.
Lieber meinte Tizian: “Zehn Euro sind das pro Stunde. Ich merke schon, Kopfrechnen ist nicht so dein Ding. Wenn du Glück hast, lasse ich dir einen Taschenrechner zukommen, denn neben meinem Studium bin ich Produktmanager und arbeite daher sehr oft hier”.
Bitte nicht, dachte ich, bitte alles nur nicht das! Jetzt musste ich den Kerl nicht nur noch länger ertragen, nein, er war auch noch fast die ganze Zeit daheim! “Du brauchst mich nicht zu kontrollieren, ich werde hier schon keine Party geben”, gluckste ich, aber er parierte meinen Versuch abzulenken und sagte: “Das ist ein glattes Paradoxon. Du sagtest doch, dass du alleine auf der Straße lebst, also wirst du das wohl kaum machen”.
Verdammter Klugscheißer! “Was du nicht sagst. Ich vertraue niemandem, nur mir selbst”, fuhr ich fort. “Du vertraust also niemandem? Dann solltest du auch lieber dir selbst nicht vertrauen”, hörte ich ihn nur sagen und dann setzte er sich in Bewegung. Ich konnte es jedoch nicht lassen. Ich schrie ihm schon beinahe hinterher: “Oh doch und wie ich das tue!”. “Weißt du Krystal, ich bin es gerade sehr leid, mit dir darüber zu diskutieren. Freunde dich lieber mit dem Gedanken an, dass du hier nicht anderthalb Jahre bist, sondern fast elfeinhalb Jahre”, schmetterte er mir geradezu entgegen.
Na super. Dieser Mistkerl brachte mich noch am Rande des Wahnsinns. Wortlos ging ich aus der Küche und schon zwei Zimmer weiter war mein eigenes Reich. Mir gefiel es noch immer total, aber erst jetzt fragte ich mich, warum dort Frauenklamotten waren. Verkleidete sich Tizian etwa manchmal als Frau? Okay, das wäre zu lustig. Wenigstens konnte ich mich umschauen und bemerkte dabei, dass es in diesem Raum doch ein Bad gab. Meine Güte, Tizi hatte einen echt abgefahrenen Geschmack. Aber mein Problem soll es ja nicht sein.
Nachdem ich mir mein Gesicht gewaschen hatte und auch sonstige hygienische Angelegenheiten erledigt hatte, legte ich mich das erste Mal in das Riesenbett an der Tür des Zimmers. Wahnsinn, es war verdammt bequem! Ich kuschelte mich in die grüne Decke und breite mich aus. Danach dachte ich nach. Noch immer könnte ich mich dafür ohrfeigen, dass ich mit diesem Kerl mitgefahren bin und hier gelandet war.
Wahrscheinlich war ich da nicht klar bei Sinnen gewesen, aber das war jetzt auch egal. Ich würde hier erst mit knapp dreißig Jahren herauskommen. Gruselig. Am Liebsten würde ich schlafen, aber das ging nicht und das nur wegen einem Mann namens Tizian. Vielen Dank auch. Wie konnte man nur so arrogant und überheblich sein? Ich verstand das absolut nicht.
Überhaupt war Tizi ein Rätsel für mich. Er behandelte mich schon jetzt wie Dreck und zeigte mir die kalte Schnauze. Dabei kannte er mich doch gar nicht! Ich merkte, wie ich mich innerlich aufregte und versuchte mich zu beruhigen. Sicher, er sah gut aus, aber deswegen würde ich bestimmt nicht meine Meinung über ihn ändern. Für mich blieb er trotzdem ein süffisantes Arschloch.
Ihm gefiel es wohl total, mich immer wieder so zu behandeln. Mich einfach leiden zu sehen. Leiden… erst jetzt kam mir da noch so ein Gedanke. Vielleicht war dieser Typ nicht nur ignorant, sondern auch ein Sadist. Wahrscheinlich geilte er sich daran gerade auf. Widerling. Perversling. Ich wusste nicht wann genau, aber ich war irgendwann endlich eingeschlafen.
Müde blinzelte ich und wunderte mich darüber, dass ich so gut geschlafen hatte. Wo war… ach ja. Ich war in einer Villa. Welch Ironie! Mich hatte es ausgerechnet an einem Ort verschlagen, den ich mit am Meisten hasste. Eins musste man ihn aber lassen: Er hatte Stil. Ich lag auf dem weichen Bett und döste darin ein wenig herum. Das Zimmer wurde nur so von Licht durchflutet, da die gelben Vorhänge halb durchsichtig waren.
Trotzdem konnte man von außen nicht sehen, was innen vor sich herging. Mein Blick glitt zur Wand, die in einem strahlenden Orange gestrichen worden war. Auf dem Boden befand sich ein kuscheliger Teppich in Rot. Dieses Zimmer war gegen Tizian das Paradies. Er dagegen war einfach nur ein Dummkopf. Mir war es absolut gleichgültig, ob er schon siebenundzwanzig Jahre alt war, wenn das überhaupt stimmte. Man konnte ja nie wissen. Der würde schon noch merken, dass man sich nicht mit mir anlegen sollte. Mit mir konnte man eh nicht gut Kirschen essen, man bekam eh nur die Sauren.
Das Öffnen der Tür holte mich aber zurück in die Realität. Natürlich stand Tizian in meinem Zimmer. Sofort zog ich die Decke über mich und kehrte ihm den Rücken zu. Wollt ihr wissen, was er daraufhin getan hatte? Er ging aus dem Zimmer ohne die Tür zu zumachen und kam eine Minute später wieder. Nebenbei konnte ich schwach ein Geräusch wahrnehmen, was genau konnte ich leider nicht sagen, ich war einfach zu müde.
Jedenfalls spürte ich etwas Kaltes, als er wieder da war. Ich schreckte auf. Dieser … Idiot hatte über mich doch tatsächlich einen Eimer Wasser geschüttet! Sofort schreckte ich auf und schrie: “Sag mal, hat man dir in das Gehirn geschissen? Du bis so ein mieses Arschloch!”. Belustigt, meinte er: “Guten Morgen, du Spätstarterin”. Hä? Ehe ich etwas sagen konnte, sagte Tizian nämlich: “Schon mal auf die Uhr geblickt?”. In sekundenschnelle sah ich auf den Wecker, der auf der Kommode neben dem Bett stand und las. 13:51 Uhr.
Und … scheiße! Wie ein aufgeschrecktes Huhn sprang ich aus dem Bett, zog mir schnell irgendetwas aus dem Schrank an und machte mich auf den Weg in die Küche. Ich merkte nur, wie mir Tizi langsam folgte. Als ich ankam, war das Chaos von gestern beseitigt. Alle strahlte nur so vor sich hin. “Das sollte ich doch machen!”, entfuhr es mir enttäuscht. “Zu spät”, hörte ich Tizian sagen und drehte mich um.
Ach was. Das wusste ich bereits. Mein Vorgesetzter - im Grunde war er das - erhob erneut das Wort: “Nun, dafür hast du nun den Spaß, den Rest hier schön einzuräumen. Wo das Zeug hingehört steht auf den Kisten. Du weißt ja hoffentlich noch, dass sich die Kisten unten befinden”. Aha, ich wusste es. Er würde mich zu seiner Putze degradieren. “Im Kühlschrank ist übrigens noch etwas Tiramisu, also nur zu, ich möchte ja nicht, dass du umkippst oder dergleichen”, fuhr er auch schon fort.
Etwas, ja klar. Bestimmt hatte er das Zeug nicht einmal angerührt, weil es so miserabel schmeckte. Ich war nun einmal keine Köchin. “Ja ja”, sagte ich beleidigt und mit einer Spur von Sarkasmus vor mich hin. “Ich melde mich dann mal von dir ab, mein Kristall. Wir sehen uns später wieder”, fuhr er auch schon unbekümmert fort und ich keifte: “Ich bin nicht dein Kristall!”. Mit einem abfälligem Lachen entfernte er sich von mir und ließ mich mitten in seiner Küche stehen.
Nun war ich also allein. Langsam, schon fast schüchtern, ging ich zum Kühlschrank und öffnete diesen. Danach nahm ich die große Auflaufform, in der das Tiramisu gelagert war. Mir wären fast die Augen ausgefallen! Das Ding war bestimmt so groß wie eine kleine Pizza gewesen und es befand sich darin nicht einmal ein Viertel von dem Zeug! Was zur Hölle hatte Tizian damit gemacht?
Sofort ging ich zu dem Mülleimer, der eine Ecke weiter einsam dastand. In Durchsuchen von Abfall hatte ich ja schon gewaltige Übung. Zu meinem Entsetzen fand ich aber nichts vor. Als er ging, hatte er jedenfalls nichts in der Hand gehabt. Hm, bestimmt hatte Tizi das in einem anderen Mülleimer geworfen oder zu seinen Tonnen, die an der Ausfahrt für sein Auto standen. Darum würde ich mich noch kümmern. Verlasst euch drauf.
Erst musste ich nämlich seinem Befehl folgen, doch bevor ich das machte, ging ich zurück in mein Zimmer und wechselte die nasse Bettwäsche. Ich sah mich etwas um und entschied mich dann für die mit den schwarz-roten Rosen. Bäh, was wollte dieser Kerl eigentlich mit so was? Das passte überhaupt nicht zu ihm! Da fiel mir ein, dass ich ja in sein Schlafzimmer gehen könnte. Ich war gespannt, was mich dort so erwarten würde. Später, sagte ich mir, später würde ich das eiskalt durchziehen. Das würde bestimmt viel Zeit in Anspruch nehmen, ebenso das Einräumen von seinem Zeug.
Ich ging also nach unten, denn als wir dort waren, hatte er ja gesagt, dass dort alles war, was mit Putzen und so weiter zu tun hatte. Als ich ankam, kam mir gleich der Geruch von Staub entgegen. Pfui! Konnte der nicht putzen? Ach ja, das sollte ich ja übernehmen. Zuerst wollte ich mich dem Einräumen aber widmen.
Nun, dachte ich mir und war erstaunt, dass da gar nicht mal mehr so viele Kisten waren. Ich schnappte mir die Erstbeste und suchte nach einer Schrift, die ich auch fand. Küche. Aha. Mein Weg führte mich also zurück von dort, wo ich gekommen war. Hm, ich dachte ja, dass da alles schon eingeräumt sei, aber gut. Erst als ich die Treppen hochging, fiel mir auf, wie schwer das Ding war.
Mit Mühe und Not hatte ich es geschafft, die Kiste auf die Arbeitsplatte der Küche zu stellen. Yeah, man war ich gut! Genug der Freude, jetzt wird gearbeitet. Gesagt, getan. Ich räumte die Cocktail-Gläser fein sortiert ein und war überrascht, dass sie allesamt in den verschiedensten Farben strahlten. Auch wenn Tizian ein Arschloch war, war das mit diesen Gläsern sehr unpassend für ihn und doch hatte ich daran Gefallen gefunden.
Ich machte weiter und ging immer wieder abwechselnd nach unten und nach oben. Ich war sogar wirklich tüchtig, was nur sehr schwer zu glauben war. Jedenfalls konnte ich den Bereich “Einräumen” abhaken. Danach legte ich die Kartons, in der all seine kleinen Schätze waren, sorgfältig zusammen und verstaute diese in dem Keller, den ich nebenbei mal erkundet hatte.
Als das erledigt war, fegte ich die große Eingangshalle. Das war eine Arbeit! Mir fielen schon fast die Arme weg von dem ganzen Fegen. Zudem tat mir mein Rücken dann doch nach einer Zeit weh. Wie mies. Wobei, ich kümmerte mich bestimmt schon seit mehr als fünf Stunden um den ganzen Mist hier. Warum konnte Tizian das eigentlich nicht alleine machen?
Wahrscheinlich hatte er überall Kameras installiert, um mich zu beobachten. Ja genau, das würde ihm noch mehr Vergnügen bereiten! Wenn Gedanken töten könnten, dann wäre er schon längst krepiert. Amüsante Vorstellung. Brillant. Wo trieb der sich überhaupt rum? Eigentlich könnte mir das ja egal sein, aber dieser komische Kerl war schon ziemlich lange fort.
Da mir nach dem ganzen Kehren und Fegen immer noch total langweilig war, wischte ich sogar noch die Eingangshalle. Hoffentlich würde der empfindliche Marmorboden nach meiner Putzaktion so schön wie tausende von Diamanten strahlen. Diamanten. Warum dachte ich nur an diese Edelsteine? Die hatten mir die ganze Scheiße hier ja erst eingebrockt.
Trotz allem machte mir das Wischen Riesenspaß. Wer hätte das gedacht? Ich sicherlich nicht! Musste wohl daran liegen, weil Tizian nicht da war. Ja genau, das wird es sein! Nun denn, auch Schönes im Leben hatte mal sein Ende. Ich war also fertig mit der gesamten Arbeit und war auf einer grotesken Art und Weise ziemlich stolz auf mich.
Mein Blick galt nun der mächtigen Standuhr. Wow, die sah wirklich gut aus! Sie war aus dunklem Holz und die Uhr selbst schien aus Gold und Platin zu sein. Da merkte man schon wieder, dass ich gar nicht mal so dumm war. Die Ziffern der Uhr waren total edel gemacht. Das passte wieder zu Tizi. Ich wusste nicht wie lange, aber als ich endlich mal aufhörte, diese tolle Uhr anzustarren, war es kurz vor einundzwanzig Uhr.
Laute Geräusche - ich glaubte es war das Lachen von Tizian und ein paar Nut… äh Weibern - rissen mich schließlich aus meiner Paralyse.
Meine Theorie bewahrheitete sich sogar. Tizian kam mit zwei Frauen - jeweils eine neben ihn - die mächtige Eingangstür herein. Er blickte mir verschmitzt in die Augen und sah sich um. Als er sich einen ersten Eindruck von meinem Werk verschafft hatte, sagte er: “So rein wie Kristalle”.
Ich sah ihn verärgert an und überkreuzte die Arme vor meiner Brust, den Besen ließ ich wie von einer Tarantel gestochen fallen. Danach giftete ich: “Ich geb dir gleich 'So rein wie Kristalle'! Was machst du überhaupt schon um die Uhrzeit hier?”. “Nicht in diesen Ton mit mir, mein Fräulein. Zufälligerweise wohne ich hier”, antwortete Tizian mir nur unverschämt süffisant.
War klar, dass er so reagierte. Wütend meinte ich: “Ich bin nicht dein Fräulein! Nur weil du mich zu deiner Sklavin gem…”, weiter kam ich nicht, da eine der Frauen fragte: “Ist sie das?”. Verwirrt sah ich die drei Personen an, die mich auf einmal wie eine Beute fixierten. Was sollte das denn? Tizian erhob seine Stimme: “Ja genau, das ist sie”. “Nettes Mädchen”, kommentierte die andere.
Hm, dachte ich mir, wenn er schon zwei Bitches mitbringt, dann kann ich die ja auch mal unter die Lupe nehmen. Die Frau, die links von ihm stand, war ebenfalls recht groß, ich schätzte, dass sie bestimmt um die zwanzig Zentimeter größer als ich war. Sie hatte platinblondes Haar, war aber ansonsten sehr sympathisch vom Aussehen. Auch ihre Kleidung überstand meinen Check ohne Probleme. Sie trug nämlich eine hellblaue Hose und einen braunen Mantel.
Danach kam natürlich die Dame rechts von ihm dran. Tiefschwarzes Haar, welches mich unglaublich sehr an das umwerfende von Tizi erinnerte. Ja, ich mochte es, sehr sogar. Nun ging es weiter mit der Musterung. Von den Klamotten war sie sonst so ähnlich wie die Blondine und auch sie war recht groß. Krystal war also unter Riesen. Allein.
“Du kannst im Übrigen aufhören zu putzen”, riss mich die kühle Stimme von Tizian aus meinen Gedanken. Bevor ich etwas sagen konnte, fuhr er nämlich fort: “Zieh dich lieber um und bereite uns etwas zu”. “Ich kann nicht kochen, schon vergessen, du Hohlkopf?”, wies ich ihn zurecht, woraufhin die Frauen lachten, was mich provoziert. Meinetwegen konnte sie dort bleiben, wo der Pfeffer wuchs, nämlich in Indien! Nur weil ich den Mut hatte, das zuzugeben, brauchten sie nicht gleich denken, dass sie was Besseres als ich waren.
Plötzlich setzte sich das Trio in Bewegung. Nebenbei sagte Tizian: “Deswegen habe ich auch dieses Mal ein kleines Fertiggericht dabei. Ich hoffe doch, dass du mit Mikrowellen umgehen kannst”. Seine Süffisanz war dabei absolut nicht zu überhören. Ich beschloss kurzerhand, ihm die Stirn zu bieten
Daher antwortete ich spitz: “Nein, oh mein Gebieter, verzeih mir doch, aber ich lebe in der Steinzeit. Zeige mir, wie so eine sogenannte Mikrowelle funktioniert und weise mir den Weg in die richtige Richtung”.
Ich nahm ja auch wirklich kein Blatt vor den Mund. Sichtlich wütend stampfte Tizi auf mich zu, doch das Lachen der Blondine ließ ihn abrupt stoppen. Er drehte sich um und wollte gerade etwas sagen, doch die Frau kam ihm zuvor. Mit schnurrender Stimme sagte sie “Du hast mit deiner gesamten Erzählung wirklich nicht übertrieben, Tizi”. Oha. Erst wurde er unterbrochen und dann auch noch so angesprochen. Was er wohl machen würde?
Zu meinem leichten Erstauen, welches ich mir selbstverständlich nicht ansehen ließ, erwiderte Tizian mit einem Blick auf seine Begleiterinnen: “Frauen. Ihr seid aber auch nicht besser und das wart ihr noch nie”. Um was ging es hier? Ich verstand nur Bahnhof, nämlich nichts. Ehe ich mir noch weitere Gedanken darum machen konnte, landete etwas genau vor meinen Füßen. Es war eine weiße Tüte.
Erst jetzt bemerkte ich, dass Tizi etwas in der Hand gehabt hatte. Also bevor er die Tüte zu mir geworfen hatte. “Na los, ich habe dir einen Arbeitsauftrag gegeben und den sollst du noch immer ausführen”, wies er mich gleich zurecht, woraufhin ich sagte: “Ja ja, du arroganter Schnösel”. Wieder kicherten seine Begleiterinnen, Tizian aber würdigte mich keines Blickes mehr und sagte an den Frauen gerichtet, dass sie doch schon einmal in die Küche gehen sollen.
Bevor dies aber geschah, nahm er ihnen die Mäntel ab. Verstehe, er mimte also den Gentleman, um die Frauen ins Bett zu bekommen. Meine Güte, die mussten ja wirklich naiv ein! Jedenfalls begab sich das Trio zur Treppe. Während sie die vielen Stufen hoch liefen, funkelte mich Tizian bitterböse an.
Nach etwa zehn Minuten war ich dann ebenfalls bereit. Ich hatte mir einen gemütlichen Jogginganzug angezogen. Tizian sollte bloß nicht denken, dass ich mich schön machte. Jawohl! Nicht, nachdem er mich so angeblickt hatte. Das war irgendwie … gemein. Ping! Wie bitte? Oh, die Lasagne, die ich zuvor in die Mikrowelle geschoben hatte, war soeben fertig geworden.
Ich ließ sie noch stehen, denn ich musste noch den Tisch decken. Nur weil Tizian zu faul dafür war. Je länger ich hier war, desto mehr musste ich mich über ihn und seine Lebensart aufregen. Wahrscheinlich kam er alleine nicht zurecht, da musste ich ihm ja behilflich sein. Hmpf.
Missmutig stellte ich jeden der drei Personen einen Teller hin, doch Tizi meinte: “Ich kann mich nicht daran erinnert haben, dich auch an den Tisch gebeten zu haben”. “Wie bitte?”, fragte ich nur, da ich absolut nicht verstand, was er von mir wollte. Einen Augenblick später dämmerte es mir. Ich Idiotin hatte vier Teller aus dem Schrank genommen. Muss wohl noch von früher sein.
Früher. Nein! Aus! Raus da aus meinen Kopf! Ich schüttelte meinen Kopf und murmelte etwas von wegen ich würde nie wieder an meine Vergangenheit denken. Ich glaubte, dass es deswegen auch so hieß. Es war vorbei. Vorbei. Für immer. “Sorry, ich …”, begann ich, brach aber dann ab. Lieber gab ich ihnen Gläser und schenkte jedem ein Wasser ein. Tizian wollte es nämlich so.
Tizian’s Sicht!
Nachdem ich diesem kleinen Mädchen gesagt hatte, dass ich mich nicht daran erinnern könnte, es auch einen Platz an den Tisch angeboten zu haben, sah es ziemlich verwirrt aus. Ich fragte mich sogar, was in dem Kopf von Krystal so vorging, doch ich wusste, dass sie mir nie und nimmer die Wahrheit verraten würde.
Lieber musterte ich sie weiterhin und musste aufpassen, dass sie nicht bemerkte, wie ich jeden ihrer kleinen Schritte beobachtete. Für ihre Größe von einen Meter und dem halben Meter war sie ziemlich schlagfertig. Das musste ich ausnahmslos zugeben. Was mich aber am Meisten beunruhigte, war, dass sie daraufhin den Kopf geschüttelt hatte.
Obwohl ich sie nicht kannte oder auch nur ein Detail aus ihrem Leben wusste, war ich beunruhigt. Meine Sorgen um sie verschwanden auch nicht, im Gegenteil, sie wurden stärker, als sie angefangen hatte, sich zu entschuldigen und dann nicht fertig sprechen konnte. Da war irgendetwas faul. Ich fühlte es und doch hatte ich keine Ahnung von Krystal.
Es war für mich irgendwie faszinierend, ihr dabei zuzusehen, wie sie Tara, Tabitha und mir Wasser einschenkte. Sie wirkte dabei so nachdenklich und zerbrechlich. Manchmal gab es Momente, in denen ich Krys so sehr anschreien könnte, dass sie weinte, doch dann gab auch wieder welche, in denen ich ihr Gehör schenken wollte. Leider war Letztes gerade eingetroffen.
Ich musste mich sogar richtig anstrengen, um meine zwei reizenden Besucherinnen nicht vor die Tür zu setzen und nicht mit dem Mädchen, welches so blaue Augen wie Eis hatte, allein sein zu wollen. Wie gerne würde ich mir ihre Geschichte anhören, wie gerne würde ich hier helfen wollen und doch blieb mir das alles verwehrt. Wäre sie doch bloß nicht so verdammt störrisch. Hätte sie doch bloß nicht meine Skulptur kaputt gemacht. Wäre ich ihr doch bloß nie begegnet. Wäre ich doch bloß…
Ändern konnte ich es auch nicht mehr und so fand ich mich, langsam aber sicher, mit meinem Schicksal ab. Es würde schon bald besiegelt sein. So viel stand fest. “Willst du denn nicht auch essen?”, fragte mich plötzlich Tara, die Blondine und ich antwortete: “Doch, aber mich stört hier etwas gewaltig”. “Ist ja gut, ich geh ja schon!”, hörte ich Krystal pampig sagen.
Nein! Sie hatte ich doch gar nicht gemeint! Und doch ließ ich sie ziehen. Ich musste ihr einfach hinterher sehen. Sie war für mich wie ein versiegeltes Buch. Ich fragte mich, wie lange ich wohl brauchen würde, um dieses verdammte Siegel zu knacken und das Buch zu lesen. Es gab schon jetzt Momente, in denen ich daran zweifelte. Nie aber würde ich ihr zeigen, was wirklich Sache war. Nie.
Ich aß mit meinen zwei Damen auf und dann rief ich nach Krystal. Gereizt kam sie zurück in die Küche und wollte wissen, was denn los war. „Räume den Dreck hier weg”, sagte ich, doch sie meinte: “Morgen früh”. Etwas in mir knackste gewaltig an dieser Aussage. Daher blieb ich standhaft und brachte sogar Erfahrungen mit hinein: “Damit du wieder bis kurz vor vierzehn Uhr schläfst? Stell dich nicht so an, es ist kurz vor dreiundzwanzig Uhr, also mache schon!”.
Natürlich kam sie meinem Befehl daraufhin nach und räumte den Tisch ab. Wieder blieb mein Blick an ihr kleben, aber ich durfte das nicht. Nicht bevor ich das hatte, was ich wollte. “Wenn du mich brauchst, ich bin mit den Frauen in meinem Schlafzimmer. Ich wünsche, nicht gestört zu werden”, klinkte ich mich wie heute Morgen von ihr aus. Sie keifte: “Na endlich, ich frage mich schon, wie lange du mich noch mit deiner Anwesenheit belästigen willst”.
Neben mir wurde gelacht. Tabitha natürlich. Wer denn auch sonst? Dass sie auch nie ihre liebenswerte Art verlor. Das war zum Verrücktwerden und doch zeichnete sie das aus. Genau diese Eigenschaft rechnete ich ihr hoch an. Im nächsten Moment kam mir aber eine amüsante Idee. Ich sagte an Krystal gerichtet: “Mein Kristall, was haltest du davon, wenn du mit uns kommst? Ich bin mir sicher, dass wir Vier in meinem kleinen kuscheligen Reich sehr viel Spaß haben werden”.
Kaum hatte ich das ausgesprochen, sah ich, wie Krys erstarrte. Sie war geradezu entsetzt von meiner Frage, was ich ihr schon fast nicht verübeln konnte. Nichtsdestotrotz erwiderte sie: “Nein danke, da würde ich lieber mit dem Teufel höchstpersönlich in einem Raum sein, als mit dir”. “Schade”, sagte ich, “du verpasst da nämlich wirklich etwas”. “Ach, tue ich das? Tut mir leid, dass das mir noch gar nicht aufgefallen ist”, konterte sie und ich musste mich für den Bruchteil einer Sekunde neu ordnen.
Dann aber schlug ich den Ball zurück, indem ich sagte: “Du spielst ganz schön mit dem Feuer”. “Darin habe ich ja auch schon Übung”, entgegnete sie und ich sah, wie sich ihre Augen mit Trauer füllten. Grenzenloser Trauer. Ich fragte mich, woher das kam und hatte dafür keine Antwort. So war es auch mit meinen ganzen anderen Fragen. Es waren so viele, dass ich mir sicher war, nie auf jede eine vernünftige Antwort zu bekommen.
“Was ist? Ich dachte, du wolltest mit deinen Bitches Spaß haben”, blieb Krystal ungerührt bei der Sache. Neben mir war es still. Tara und Tabitha sei Dank! Zum Glück ließen sie diese Beleidigung über sich ergehen. “Werden wir auch. Viel mehr Spaß, als ich mit dir je haben könnte und werde”, sagte ich süffisant und ging mit den beiden Damen erhobenen Hauptes aus dem Raum.
Nach diesen Worten von Tizian stand ich da und starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Seine Aktion war das Allerletzte gewesen! Es war so, als ob etwas in mir zerbrach, aber das konnte nicht sein. Es war nämlich schon längst alles zerbrochen. Seit über drei Jahren war das so und es ging mir dabei auch gut. Nach einer Weile kümmerte ich mich um das dreckige Geschirr. Nachdem es endlich sauber und abgetrocknet war, räumte ich es zurück.
Danach ging ich sofort in mein Zimmer. Angekommen schloss ich sofort die Türe zu und verschanzte mit in meinem Bett. Wenigstens konnte ich morgen ausschlafen. Jetzt konnte ich auf keinen Fall in mein Traumland verschwinden. Wobei ich mich gerade fragte, was für ein Land das sein mochte. Auch wenn ich lang schlief, gute Träume hatte ich davon nicht. Eher das Gegenteil.
Manchmal hatte ich diesen Traum, dass alles um mich herum dunkel war und ich nach Hilfe schrie, mir aber niemand half. Ich blickte in strahlende Gesichter, die so nah und doch so fern waren. Es war so, als ob mich eine Art Glaswand von dieser Freude trennte. Ich konnte die fröhlichen Menschen zwar sehen, aber sie mich nicht. Ich spürte aber keine Trauer, es war eher … Einsamkeit.
Diese Einsamkeit war wie ein Zaun, der mir schon längst eine zweite Chance verwehrte. Die benötigte ich aber eh nicht. Nur weil ich jetzt mit diesem Arschloch von Tizian unter einem Dach leben musste, hieß das noch lange nicht, dass ich auch nur den kleinsten Drang dazu verspürte, mich wieder in eine Gesellschaft zu intrigieren.
Schon fast ohne einer Gefühlsregung sah ich mich in der Dunkelheit um. Ich sah einfach nichts. Nichts. Nur gähnende Leere. Mir ging diese verdammte Szene mit Tizi nicht mehr aus den Kopf. Wahrscheinlich vergnügte er sich gerade mit diesen beiden Weibern. Frauen. Wunderschöne Frauen. Da würde ich niemals mithalten können und auch das war ein Grund, warum ich diesen Schuft mied.
Ich lebte gerade einmal zwei Tage hier und kann mir vor wie… wie in einem Gefängnis. Okay, das hörte sich zwar übertrieben an, aber ich liebte doch die Freiheit. Und sie liebte mich. So war das schon immer. So würde das auch immer sein. Es wäre töricht, diesen Tizian zu vertrauen oder sich auch nur einzubilden, dass er auch nur etwas nett sein konnte. Mit diesen nervenaufreibenden Gedanken schlief ich immerhin nach kurzer Zeit ein.
Der nächste Morgen brach dagegen schon nach acht Stunden an. Ich war wirklich um kurz vor Zehn aufgewacht. Das war ja schon fast ein Wunder. Für eine Langschläferin wie mir eine Qual. Einschlafen konnte ich auch nicht mehr und das nur, weil ich sehr unruhig war. Keine Ahnung warum. Wie ich auch nach ein paar Minuten feststellte ging es mir miserabel. Wieder hatte ich keine Antwort darauf.
Leise richtete ich mich auf, um mich anzuziehen. Der Tag war eh noch nicht so wirklich angebrochen und zu tun hatte ich auch nichts. Daher beschloss, in den verschneiten Garten von Tizian zu gehen. Kaum war ich außerhalb der Villa, schlug mir auch schon die kühle Luft entgegen. Ich ging aber nicht zurück, um mir einen Mantel aus dem Schrank zu holen. Erstens war ich dafür zu faul und zweitens wollte ich Tizi auf keinen Fall wecken. Das würde nur wieder Ärger geben.
Langsam ging ich durch den Schnee, der die Landschaft wie ein Paradies aussehen ließ. Das passte perfekt zu mir. Also der Schnee. Nicht, dass ich wie ein Paradies aussah. Wäre ja widerlich. Ich sah ein kleines Gartenhäuschen, welches ziemlich verschneit war. Und verlassen. In mir machte sich nämlich ein Verlangen breit, welches ich gerade nicht wirklich unterdrücken konnte.
Daher war es kein Wunder, dass ich eine Klinge aus meiner Hosentasche hervorholte. Die habe ich ganz unauffällig aus dem Bad geklaut, Tizian war eh so ein Hohlkopf, der das nie bemerken würde. Mein Glück. Ich dachte ja, dass ich damit aufgehört habe, aber gerade ging es einfach nicht anders. Dieser Kerl brachte mich einfach in den purpurroten Wahnsinn.
Wahrscheinlich verwöhnte er gerade abermals seine zwei Weiber, die das natürlich toll fanden. Widerling. Warum waren sie auch so dumm und ließen sich von jemanden wie ihn um den kleinen Finger wickeln?
Ich machte gegenüber mir selbst kein Geheimnis daraus, dass Tizi zwar attraktiv war, aber das würde auf mich nie und nimmer einen so derartigen Eindruck machen, dass ich mich ihm unterwerfen würde. Nein, niemals. Dafür besaß ich zu viel Verstand.
Warum aber um alles in der Welt war meine Laune aber gerade so … traurig? Das Ganze erinnerte mich an meiner Zeit auf der Straße und die Zeit davor. Deswegen trug ich auch immer langärmlige Klamotten. Niemand sollte all die roten Striche sehen, die sich kreuz und quer auf meinen Armen befanden. Es ging auch niemanden etwas an. So einfach war das.
Nun starrte ich die Klinge an. Mein Blick war leer und ich krempelte in der Kälte meinen Pulli hoch. Dann sah ich das Kunstwerk, welches ich vor Jahren selbst erschaffen hatte. Ich atmete tief ein und aus, ehe ich die Klinge immer näher an meiner Haut brachte. Der Wind ließ meine Haare wirr durcheinander hin und her tanzen, doch ich konzentrierte mich nur auf das, was als Nächstes passieren würde.
Wusstet ihr was das Erschreckende an der ganzen Sache war? Ich spürte keinerlei Schmerz, auch nicht, als das Blut schon meinen Arm herunter floss und den schönen weißen Schnee blutrot färbte. Es war wirklich sehr faszinierend zu sehen, wie die helle Landschaft sich um mich in die Kriegsfarbe umwandelte.
Man konnte mein Verhalten ruhig als krank bezeichnen, aber das half mir in diesem Moment einfach am Meisten und genau das war das Wichtigste. Ich lief weiter und weiter, ab und zu sah ich zurück, um die wunderschönen roten Spuren zu sehen. Sie glitzerten in dem schwachen Sonnenlicht so toll.
Es tat gut, sich den riesigen Garten anzusehen, doch allmählich wollte ich zurück zu dem Gartenhäuschen. Was mich aber beunruhigte war die Tatsache, dass es nach wie vor ruhig war. Das würde noch mehr Konsequenzen mit sich ziehen. Jetzt war nämlich der rechte Arm dran. Nebenbei blickte ich nach vorn, aus der Richtung, aus der ich kam, denn dort war es wirklich rot.
Ja, manchmal blickte ich doch zu dem Chaos, was ich zurück ließ. Egal, ich drehte mich um und ging hinter das Häuschen. Ich wollte gerade den nächsten Schnitt machen, als ich schnelle Schritte hörte. Ehe ich reagieren konnte, spürte ich schon einen heftigen Schlag auf meiner linken Hand, der die Klinge irgendwo in den Schnee beförderte. Damit nicht genug, ich fiel rückwärts in dem Schnee und sah auf.
Woher zur Hölle hatte er das gewusst? Okay, jetzt war ich es, die verwirrt war. Vor mir stand tatsächlich Tizian! Mit erhobener Hand. Er sah ziemlich wütend aus. “Was um alles in der Welt sollte der Scheiß? Hast du dich einmal umgesehen? Du kannst dich doch nicht einfach hier halb aufschlitzen!”, schrie er auch schon los.
Oha, so von der Rolle hatte ich ihn ja noch nie erlebt. Ich sagte ziemlich sauer: “Was willst du hier, hm? Kannst du mich nicht einmal alleine lassen? Kannst du nicht einmal aufhören, mich zu nerven? Das geht dich überhaupt nichts an!”. “Du verstehst es einfach nicht, oder? Kommt mit!”, blieb Tizi stur und beugte sich etwas zu mir, um mein Handgelenk zu nehmen.
Ich versuchte mich loszureißen, doch dieser Mistkerl nutzte meine Situation schamlos aus und verstärkte seinen Griff. Die Schmerzen, die ich dann doch spürte, waren stärker als ich dachte und so blieb mir nichts anderes übrig, als mich schweigend von ihm in seine Villa ziehen zu lassen.
Der Weg war ziemlich holprig und ich hatte wirklich große Mühe, seine überaus riesigen Schritte mitzugehen. Daran merke ich eben, dass Tizian es genoss, mich zu quälen. Ich fragte mich sowieso, was er vorhatte. Warum veranstaltete er so ein großes Theater? Außerdem tat mir mein Arm höllisch weh!
Wir kamen in dem Inneren seiner Villa an. Er zog mich die Treppe hoch und bog dann rechts ab. Aha. Sekunden später fand ich mich im Bad wieder. Was sollte das denn? “Hey! Was ist?”, wollte ich wissen, doch ich sah nur, wie Tizi mich losließ und aus dem Schrank, der neben den Spiegel angebracht war, etwas hervor holte. Bitte? Wofür brauchte er Verband… Nein! Das würde er jetzt nicht wirklich tun!
Doch, das tat er. Er desinfizierte meinen linken Arm und verband ihn. Geradezu behutsam ging er dabei vor. Der Kerl wurde mir immer skurriler. Schade, dass ich kein einziges Wort hervorbrachte, sondern nur mit geweiteten Pupillen zusehen konnte, was er da fabrizierte.
Tizian schwieg weiterhin, was mir ein wenig Angst machte. Natürlich keine richtige Angst, es war eher … beunruhigend. Seine Finger wechselten flink hin und her, ehe Tizi am Ende sein vollbrachtes Werk sehr genau betrachtete. Zufrieden nickte er. Ich dachte ja, dass er wenigstens jetzt dazu etwas sagte, doch er verließ nur das Bad. “Wir sehen uns beim Mittagessen wieder”, hörte ich ihn tatsächlich noch sagen.
Bitte? Ich sollte das Essen machen, nachdem ich mir das angetan hatte? Ich sah auf meinen verbundenen Arm und dachte darüber nach, wie schön es war, alleine draußen gewesen zu sein. Was machte Tizian überhaupt schon um die Uhrzeit auf den Beinen? Blöde Frage, er war ein Frühaufsteher. Das hatte ich schon nach der kurzen Zeit, in der ich bei ihm lebte, herausgefunden und verstanden.
Trotzdem würde ich jetzt nicht wie ein wild gewordenes Kaninchen sofort in die Küche eilen und ihm ein Frühstück zubereiten. Der hatte echt einen Knall! Ich blickte in den Spiegel. Vor mir sah ich ein kleines Mädchen mit schwarzem, zerzaustem Haar und einem charakterlosem, geradezu bleichem Gesicht. Es hatte Augen aus Eis. Das war mir noch nie so wirklich aufgefallen. In ihnen konnte ich gar nichts lesen. Nichts. Nur gähnende Leere. Ich atmete noch einmal tief ein und aus, ehe ich langsam zu der Küche ging.
Dort angekommen musste ich schlucken. Dort war schon alles zurechtgemacht! Sogar ziemlich schön. Der Tisch war gedeckt und zwei Teller standen sich gegenüber. Sie wurden durch ein Körbchen mit Semmeln und Brot getrennt. Natürlich gab es auch Wurst und Käse. Mein Blick ging weiter und dann runzelte ich die Stirn. Nutella? Aß der Typ das Zeug wirklich?
Schweigend starrte ich darauf, Tizi saß bereits auf seinem Platz. “Guten Morgen”, sagte er völlig teilnahmslos. So kannte ich ihn ja gar nicht. Was war passiert? “Tag”, grummelte ich und wollte gehen, doch Tizian meinte: “Setze dich. Bitte”. Schweigend ging ich seiner Bitte nach. “Hast du dir jetzt neue Sklavinnen gesucht?”, wollte ich ein wenig neugierig wissen.
Tizian schüttelte den Kopf, dann antwortete er: “Nein, ich habe die beiden Frauen nach Hause gefahren und dann habe ich das Frühstück zubereitet …guck nicht so”. Er hatte bemerkt, dass sich meine Pupillen geweitet hatten und trotzdem blieb er so ruhig. “Du hast deine Bitches nach Hause gefahren? Damit nicht genug willst du das hier alles gemacht haben?”.
Ungläubig musste ich ihn anstarren. Der Mann sagte: “Ja, das habe ich. In deinem Zimmer warst du nicht und ich hatte keine Lust, zu warten, bis du kommst. Nun, dann habe ich eine gute halbe Stunde auf dich gewartet und noch einmal nach dir gesehen. Du warst immer noch nicht da und dann bin ich hinaus…”. Seine Stimme senkte sich gegen den Schluss. Was sollte der Mist?
Egal, langsam griff ich nach der ersten Semmel. Selbst das bereitete mir Schmerzen, die ich mir auf keinen Fall ansehen lassen wollte. Kein Wunder also, dass ich eine halbe Ewigkeit brauchte, bis ich darauf Nutella geschmiert hatte. Tizi aß ein Brot mit Pflaumenmus. Ich sage nichts, wollte einfach nur das Essen schnell hinter mir bringen und dann verschwinden.
Als Tizian aufstand, sah ich ihm hinterher, um festzustellen, dass er nur etwas zu Trinken geholt hatte. Daran war irgendetwas faul. Meine Augen verließen ihn nicht, bis er erneut seine dunkle Stimme erhob: “Das habe ich wohl vergessen. Möchtest du auch einen Pfefferminztee trinken?”. Bei dem vorletzten Wort fröstelte es mich ein wenig. Mir ging die Szene im Wald durch den Kopf. Mehr als ein knappes Nicken bekam ich nicht hin. So saßen wir also in uns gekehrt und frühstückten.
Nach einer halben Stunde wollte ich endlich meine ersehnte Ruhe, doch ich wurde abermals aufgehalten. Na klar, ich musste den Mist aufräumen. Das wäre mir fast missfallen. So begann ich, die Lebensmittel auf meinem schmerzenden Arm zu legen, doch Tizian nahm sie mir im Sitzen ab. Ich wollte gerade meine schwache Stimme erheben, aber natürlich kam er mir zu vor.
Er sagte: “Das meinte ich nicht. Lass das”. Wie bitte? Ich sah ihn nur irritiert an, der Mann vor mir meinte daraufhin: “Ich wollte mich bei dir entschuldigen”. “Für … für was?”, fragte ich verdattert, da ich mit so etwas gar nicht gerechnet hatte. Und diese Frage beschlich mich sogar ernsthaft. “Für mein gestriges Verhalten”, antwortete er mir nur kurz und knapp.
Ich verstand noch immer nichts und zuckte nur mit den Schultern. Dann ließ ich ihn ein wenig unbekümmert wissen, dass ich nicht wüsste, was es da zu entschuldigen gab. Zu meinem Bedauern aber ließ er nicht locker. “Das weißt du genau”, kam es aus seinem Mund und er durchbohrte mich förmlich mit seinem Blick. “Ich weiß es wirklich nicht, du bist seltsam”, gab ich nur von mir. Er erwiderte: “Schon gut, du sollst nur wissen, dass es mir leid tut”.
Bah, ich konnte solche falschen Entschuldigungen absolut nicht leiden! Angewidert sah ich ihn an. Im nächsten Moment aber stockte ich. Da war nichts. Kein Spott, keine Arroganz oder auch nur ein Anzeichen dafür, dass er log. Was war denn mit dem los? Was mich auch noch wunderte war die Tatsache, dass er noch immer auf seinem Platz saß. Merkte der Kerl denn nicht, dass ich ihm so überlegen war?
Nein, ich hatte gerade absolut nicht den Nerv, mich reizen zu lassen. Mir ging es nicht gut und das war schon Grund genug, dass ich einfach nur allein sein wollte. Wartend sah mich Tizian weiterhin an. Was gab es denn noch? Oh, wahrscheinlich wartete er auf eine Antwort. Auch wenn ich noch immer keine Ahnung hatte, warum er sich entschuldigte, meinte ich: “Ist gut”.
Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen, welches ich nicht deuten konnte. War ich irgendwie mit dem falschen Fuß aufgewacht oder warum kam mir alles so seltsam vor? Heute war ja auch überhaupt nichts normal. In meinem Unterbewusstsein wusste ich bereits, dass es noch schlimmer werden würde, aber das nahm ich zu dieser Zeit gar nicht wahr.
Lieber konzentrierte ich mich darauf, mich nicht noch mehr verwirren zu lassen. Brav räumte ich dann doch den Tisch ab und ging mit einem Lappen darüber. Jetzt war es wieder schön sauber und aufgeräumt. Trotzdem fühlte ich mich unwohl, denn mir war klar, dass ich beobachtet wurde. Ich wusste nicht warum, bestimmt hatte er wieder etwas an mir auszusetzen. Das war mir aber egal, es interessierte mich kein Stück. Und doch kam ich mir vor wie eine Gefangene, die Tizian immer genau im Auge behalten musste.
Unsicher wie eh und je fragte ich: “Ähm … kann ich eine Stunde nur für mich haben?”. Er zog ein wenig erstaunt die rechte Augenbraue hoch. “Ich … ich brauch das einfach mal”, stotterte ich. Noch immer keine Antwort und so schob ich noch ein sachtes “Bitte” hinterher. Skeptisch wurde ich von Tizi gemustert. “Warum?”, wollte er wissen.
Was sollte ich ihm sagen? Hey, sorry, ich fühlte mich ziemlich scheiße und ja, das war eigentlich der einzige Grund. Nein, dachte ich, das würde er nie und nimmer gelten lassen. In meinem Gehirn suchte ich nach einer Antwort. Zaghaft antwortete ich: “Nun … ich, ich mache das eigentlich immer und seit ich hier bin, geht das nicht mehr. Mir fehlt das”.
Wow, was für eine tolle Ausrede! Na super, das konnte ich vergessen. Au revoir, meine geliebte Stunde. Ich sah, wie Tizian überlegte. Er sagte einfach nichts dazu. So nahm ich an, dass er es mir nicht erlaubte. Während ich mich zum Gehen wandte, hörte ich endlich wieder seine Stimme: “In Ordnung”. “Danke”, sagte ich, doch er meinte: “Versprich mir nur eine Kleinigkeit”. Ach du Scheiße! War klar, dass er das nicht ohne eine geringste Gegenleistung durchgehen ließ.
Ich drehte mich um und dann rückte er damit raus: “Tue mir den Gefallen und tue dir das nicht noch einmal an”. Nebenbei hatte er seinen Blick auf meinen verletzten Arm gelegt. Ach darum ging es ihm! Darauf wäre ich wirklich nie gekommen. Voller Erstaunen nickte ich ihn an, ehe ich geradezu aufgewühlt das Zimmer verließ.
Tizian’s Sicht!
Wieder musste ich ihr hinterher sehen. Ich wurde aus ihr einfach nicht schlau. Krystal. Allein dieser Name war schon ungewöhnlich. Sie selbst war das. Auch wenn ich es vor ihr nicht zugeben wollte, diese Wunden an ihren Armen hatten mich zutiefst schockiert. Nie hatte ich damit gerechnet. Nie. Ich dachte, dass sie weggelaufen ist oder einfach nur ein Bad genommen hatte, aber nein, sie hatte genau das getan, was ich nicht gedacht hatte.
Sie trug zwar stets dunkle Kleidung, aber das hieß noch lange nicht, dass sie sich selber wehtat. Warum war ich nicht darauf gekommen? Ihre Blicke sprachen Bände. Noch nie habe ich jemanden gesehen, der so war wie sie. Gerade eben hatte sie wieder so zerstreut gewirkt. Ich zweifelte daran, dass sie mir meine Entschuldigung glaubte. Hätte ich mir auch denken können. Sie war nun einmal eine sehr misstrauische Person und daran konnte ich auch nichts ändern.
Dabei wollte ich doch nur, dass sie wusste, wie leid sie mir tat. Immerhin aß sie noch gut. Das hatte ich bei dem gemeinsamen Frühstück gesehen. Wie ein Mähdrescher. Bei diesem Gedanken musste ich schmunzeln. Im nächsten Moment aber war ich wieder ernst. Sie war trotzdem ziemlich dünn und ich fragte mich, ob sie an Bulimie litt. Nach diesem grausigen Bild mit den Armen traute ich ihr alles zu.
Ich musste diesem Nachdenken ein rasches Ende machen. Nicht umsonst hatte ich ihr diese Stunde Freiraum gewährt. Seit kurzem hegte ich den Wunsch,, herauszufinden wer sie wirklich war oder warum sie so war. Dazu musste ich ihre Sachen durchsuchen. Schnellen Schrittes begab ich mich zu ihrem Zimmer. Sofort ging ich zu ihrem Rucksack, den sie bei unserer ersten Begegnung hatte. Den hatte ich nämlich total vergessen.
Eigentlich fand ich nichts Besonderes vor, doch dann fiel mir etwas in die Hände, was mir einen kleinen Einblick in ihre Welt liefern sollte. Ein Bündel Briefe und ein Tagebuch. Vermutlich ihres. Ich fing mit den Briefen an, die an sie adressiert waren.
Langsam und mit klopfendem Herzen öffnete ich den Ersten. Dann begann ich auch schon, ihn zu lesen:
Liebe Krystal,
ich hoffe, dass du mir nicht böse bist, dass ich dir erst jetzt schreibe. Verzeih mir, denn du bist mir das Wichtigste in meinem Leben. Leider habe ich zurzeit sehr viel zu tun und so wird das mit dem Zurückschreiben ein wenig dauern. Hoffentlich hast du dafür Verständnis.Ich möchte mich aber auch nicht nur entschuldigen, sondern wissen, wie es dir in Deutschland so geht und was du dort tust. Weißt du, bei mir in der Türkei ist es ziemlich warm, ich schätze so um die vierzig Grad. Ich hätte dich so gerne bei mir. Warum um alles in der Welt musste ich auch auswandern?
Es hat mir das Herz gebrochen, dich alleine in Deutschland zu lassen und ich denke jeden Tag, nein, jede Sekunde, an dich. Du fehlst mir total. Nur unsere gemeinsamen Fotos oder auch nur Fotos von dir erinnern mich an die schöne Zeit, die wir hatten. Ich werde sie stets in meinem Herzen tragen, ebenso wie dich.
Tut mir leid, wenn ich dir nicht mehr schreibe, aber du weißt ja, hier herrschen andere Sitten. Vielleicht kann ich dir beim nächsten Brief mehr schreiben, ich werde es zumindest versuchen. Hier hast du ein Bild von mir, wie ich auf das weite Meer starre und an dich denke.
Ich liebe dich!
J.
Nachdem ich dieses Stück Papier gelesen hatte, musste ich einen Würgereiz mit aller Macht unterdrücken. Wer auch immer diesen Brief geschrieben hatte, war ziemlich schlecht im Lügen. Schon allein dieses “J.” war total unpersönlich. Ich fragte mich, wer das war. Wut keimte in mir auf, ich konnte es einfach nicht fassen!
Sofort nahm ich das Foto, welches tatsächlich noch in dem Umschlag war und sah einen jungen Mann vor mir. Ich schätzte ihn auf etwa achtzehn. Er hatte seine blonden Haare mit Gel nach hinten gekämmt und sah überaus überheblich aus.
Im nächsten Moment weiteten sich jedoch meine Pupillen. Das durfte nicht wahr sein! Ich kannte ihn. Ziemlich gut sogar. Am Liebsten hätte ich dieses Foto kaputt machen, aber dann würde Krystal merken, dass ich ihre Sachen durchstöbert hatte.
Dieser Kerl war total schmierig! Wie er mich anwiderte! Er konnte Glück reden, dass er und ich keinen großartigen Kontakt pflegten, denn sonst hätte ich ihn mit großer Sicherheit den Hals umgedreht. Eigentlich war ich ja nicht so, aber ich sah diesen J. Schon an, dass er mit den Mädchen spielte. Ich legte das verdammte Foto zurück in den Umschlag und sah erneut zu dem Brief.
Mein Blick ging auf das Datum: 31.07.2008. Das war also schon über dreieinhalb Jahre her. Ich erinnerte mich daran, dass Krystal zu mir sagte, sie würde schon seit über drei Jahren auf der Straße leben. Das musste also nachdem sie diesen Brief bekam, geschehen sein. Ich musste mehr über den Verfasser erfahren und so nahm ich mir sofort das nächste Papier vor. Wie ich es mir gedacht hatte, war es von ein und derselben Person:
Liebe Krystal,
hier ist der versprochene, längere Brief. Dir hat das Foto also gefallen? Gut. Mit etwas anderem hatte ich auch nicht gerechnet. Hebe es dir gut auf, denn es könnte eines der letzten sein, die du von mir bekommst. Das mit dem Postverkehr wurde hier nämlich noch einmal verschärft. Neuerdings darf man nämlich nur einmal pro Monat einen Brief verschicken. Du hattest also ziemliches Glück, dass ich den letzten Brief genau am letzten Julitag abgeschickt hatte.
Bei dir auf dem Gymnasium läuft es also weiterhin sehr gut? Das freut mich. Ehrlich gesagt hätte es mich sehr gewundert, wenn sie dich nicht zur Woche für Geschichte nach Frankreich geschickt hätten. Du warst schon immer ein wahres Ass darin. Selbst mich hast du darin übertroffen und das ist wirklich schwer.
Schön, dass dir Karina wegen mir verziehen hat. Weißt du, es haben sich schon öfters Mädchen um mich gestritten. Mich hat euer Streit also nicht gewundert. Nicht jede hat schließlich die Chance, mit einem Gentleman wie mir zusammen zu sein. Und das mit ihr war eh nur eine kurzzeitige Affäre. Als wir zusammenfanden, habe ich ihr sofort klargemacht, dass das mit ihr nichts Ernstes war.Das mit dir ist aber etwas anders. In dir habe ich meine große Liebe gefunden. Dass du dir nur wegen mir deine dunklen Haare Blond gefärbt hast, ist ein sehr schöner Liebesbeweis und bedeutet mir wirklich sehr viel. Nur könntest du ein paar Kilo abnehmen, vierundvierzig sind eindeutig etwas zu viel.
Was mich noch stört ist die Tatsache, dass du noch immer ziemlich keusch bist. Es ist doch wirklich nichts dabei, in einem Rock herumzulaufen oder Ausschnitt zu tragen. Wenn du all das, was ich dir geschrieben habe, erfüllt hast, kannst du mich gerne besuchen kommen.
Ich liebe dich!
J.
Dieser Scheißkerl machte mich so wütend! Wie konnte er es wagen, Krystal in so einer Tour runter zu machen? Und das mit der Post ist eine verdammte Lüge! Jetzt wurde mir aber klar, warum Krystal so traurig geguckt hatte, als ich ihr sagte, dass viele Menschen Geschichte als langweilig ansahen. Sie war auf einem Gymnasium gewesen und wusste ziemlich viel über dieses Fach.
J. hatte also andere Mädchen gehabt. Das wunderte mich nicht im geringsten. Er war ein Herzensbrecher, ein Casanova, der nur darauf wartete, den Mädchen das Herz zu brechen und mich würde es nicht wundern, wenn das bei Krystal funktioniert hatte. Außerdem war ihr Gewicht völlig in Ordnung gewesen. Bestimmt war sie deswegen so dürr. Immerhin hatte sie wieder dunkle Haare, ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie sie mit übertrieben heller Mähne aussah. Bei Tara sah das ja noch gut aus, aber bei Krystal konnte ich mir das einfach nicht vorstellen.
Zu guter Letzt war da noch das mit der Kleidung. Der Verfasser des Briefes widerte mich noch mehr an. Bestimmt schlief er mit allen Mädchen, die seinen Idealen entsprachen: Dürr, blond und bloß viel Haut zeigen! Ekel stieg in mir auf und ich hatte noch mehr das Verlangen, ihm die Zähne auszuschlagen. Oder noch besser: Ihn zu foltern. Nur damit er mal sah, was für ein Aas er doch war. Der Brief stammte vom 27.08.2008.
Wahrscheinlich waren diese anderen miesen Briefe mit noch mehr Schmach geschrieben, daher widmete ich mich nun dem Tagebuch von Krystal. Das war eh ausschlaggebender. Ich erhoffte mir davon, endlich einen kleinen Blick über ihre Welt zu bekommen. Mir war egal, ob ich da in ihrer Privatsphäre eingriff, denn mir war klar, dass sie nie und nimmer von sich aus damit herausrücken würde.
Ich nahm behutsam den Schlüssel, der an das Schloss gekettet war und öffnete das bunte Buch, welches so gar nicht den Stil von Krystal entsprach. Mir war es auch egal, welche Seite ich dort aufschlug, denn ich wollte einfach nur lesen, was passiert war. Kein Mensch änderte sich von heute auf morgen oder einfach nur zum Spaß. Irgendetwas in meinem Inneren sagte mir nämlich, dass auch das Mädchen, welches ich für mich arbeiten ließ, früher einmal normal gewesen war. Jetzt aber konzentrierte ich mich lieber auf das Lesen.
Liebes Tagebuch,
heute war ein sehr schöner Tag. Weißt du, endlich hat die Schule wieder begonnen und ich konnte wieder etwas Neues lernen. Es gibt einfach so Vieles, was man lernen kann. Außerdem freue ich mich tierisch auf Geschichte. Ich liebe dieses Fach! Wenn es nach mir ginge, könnte ich das immer haben. Na ja, ich möchte dich auch nicht nur damit unterhalten, sondern auch über meine Familie.
Wir machen bald Urlaub in der Türkei. Dort sehe ich Jakob wieder. Ich vermisse ihn so sehr! Er ist so weit entfernt von mir, dabei sind wir doch schon seit über zwei Jahren ein Paar! Warum kann ich noch nicht volljährig sein, so wie er? Ich mit meinen fünfzehn Jahren kann unmöglich alleine und ohne Erlaubnis von Mum und Dad fliegen!
Deswegen fliegen wir auch zu Viert dorthin. Ein schwacher Trost, denn ich habe ihn seit über einem Monat nicht gesehen. Diese Sehnsucht bringt mich noch um! Zu meinem Glück habe ich es geschafft, seine Anforderungen zu erfüllen. Schließlich will ich auch schön für ihn sein.
Um meine dunklen Haare ist es eh nicht schade, aber ich bin so stolz auf mich, dass ich endlich abgenommen habe! Das war schon fast ein kleiner Kampf, den ich ganz knapp gewonnen habe. Ich würde alles für Jakob tun, selbst sterben. Er müsste mir nur sagen, dass ich mir die Kugel geben soll. Ich würde es tun. Für ihn.
Das Abendessen ruft, bis bald,
Krystal
Nachdenklich sah ich diese vollgeschriebene Seite an. Sie hatte sich also für Jakob - so hieß der Mistkerl - geändert. Wie konnte sie nur? War Krystal wirklich so blind vor Liebe gewesen? In diesem Eintrag sah ich nur zu gut, wie sehr sie ihn geliebt haben musste. Sie wollte sogar mit ihren Eltern Urlaub in der Türkei machen, nur um ihn zu sehen.
Was für ein Liebesbeweis, aber es war auch ebenso tragisch. Dort, wo sie erhoffte, ihr Glück wiederzubekommen, fand sie wohl ihr Unglück. Obwohl ich noch nicht weiter gelesen hatte, war ich mir sicher, dass ich mit meiner Annahme richtig lag. Anders konnte es nicht gewesen sein. Zumal dieser Eintrag hier Ende September geschrieben wurde. Ich musste noch mehr herausfinden. Jetzt. Sofort.
Ich schlug die nächste Seite auf, aber da ich schon ganz oben sah, dass dort noch alles in Ordnung gewesen sein muss, übersprang ich diese. Wieder und wieder, bis ich endlich das fand, wonach ich suchte. Der erste Eintrag, der so voller Trauer war, war mit Blut geschrieben. Daher war es auch kein Wunder, dass sie mehrere Seiten Papier für diesen Eintrag benutzen musste.
Ich kann nicht mehr. Es ist wahr. Dabei habe ich doch alles für Jakob getan! Es sollte doch eine schöne Woche werden und was ist daraus geworden? Meine große Liebe hat mich nur belogen! Mir geht es so schlecht, ich will nicht mehr leben. Warum hat er das getan? War ich ihm nicht schön genug?
Er hat gelacht und gemeint, was ich mir eingebildet hätte. Er ist nun einmal der Traum vieler Mädchen und das hatte er ausgelebt. Natürlich hinter meinen Rücken. All die schönen Stunden, die wir miteinander verbracht hatten, waren gelogen. Nichts wert. Die Worte, die er mir sagte, leer. Die Geschenke, die ich von ihm selten bekam, Müll.
Damit nicht genug, seitdem das mit Jakob war, haben meine Eltern enormen Stress miteinander. Sie haben doch tatsächlich gesagt, dass ich Schuld sei! Warum nur? Hat sich die ganze Welt gegen mich verschworen? Ich war doch immer eine tadellose Musterschülerin und habe alle Aufgaben, die man mir gab, widerstandslos erledigt. Ich ertrage diesen Scheidungskrieg nicht mehr!
Karina kann ich mich auch nicht anvertrauen, schließlich hat sie mich auch belogen. Mein ganzes Leben ist ein Chaos. Ich bin nichts wert und alleine. Alles wird schlimmer und das schon jetzt. Es tut mir leid, wenn ich bei den vorherigen Einträgen noch so voller Optimismus war und diese Sachen nicht erwähnt habe, aber ich konnte es doch nicht wissen!Ich kann niemanden vertrauen. Niemanden. Nur mir selbst. Am Besten ist, ich gehe. Für immer. Diese Welt braucht mich nicht mehr. Hatte sie mich je gebraucht? Die Antwort ist simpel: Nein.
Ich schluckte schwer. Mir war nicht gut. Diese Worte, die Krystal da nieder geschrieben hatte, klangen alles andere als nur daher geschrieben. Sie hatte ihr Tagebuch nicht einmal begrüßt oder sich verabschiedet. Details fehlten auch. Wahrscheinlich war sie dafür zu geschockt gewesen.
Armes Mädchen, sie tat mir schon irgendwie leid. Diese Zeit musste für sie wohl so prägend gewesen sein, dass sie davon einen psychischen Schaden bekommen hatte. Die letzten Worte in dem Eintrag waren sehr beunruhigend. Alles, was dort stand. Schon allein das Blut, welches an dem weißen Papier haftete, ließ mir mein Blut in den Adern gefrieren. Jetzt wusste ich also, was in diesem Mädchen vorging. Und doch war alles schlimmer, als ich zu diesem Zeitpunkt ahnte und dachte.
Als ich die Villa verließ, hatte ich mich noch gewundert, warum Tizian mir erlaubt hatte, sein Grundstück zu verlassen. Ich lief durch die Straßen und atmete die frische Luft ein. Natürlich wusste ich, wofür sich dieser Kerl entschuldigt hatte. Warum aber, war mir sehr schleierhaft. Ihm hatte es doch gefallen, mit den zwei Frauen zu flirten und mich vor ihnen bloßzustellen sowie seine Macht zu demonstrieren.
Nur warum um alles in der Welt tat es ihm dann leid? Jedenfalls würde ich nicht auf dieses miese Spiel von ihm hereinfallen. Nie und nimmer! Ich bin schon einmal damit auf die Fresse gefallen und das wollte ich mir kein zweites Mal antun, doch leider kamen genau diese Gedanken wieder auf, als ich zurückkehrte. Nach gut einer halben Stunde betrat ich nämlich wieder die Villa und machte mich auf den Weg in mein Zimmer, da ich keine Lust hatte, Tizi zu sehen.
Missmutig wie eh und je hätte ich es auch fast betreten, doch mir stockte der Atem. Ich sah, wie sich Tizian vor meinen Sachen in dem Rucksack, den ich eigentlich immer bei mir trug, gebeugt hatte und die Briefe las. Nicht irgendwelche, sondern geheime Briefe. Tizian hatte mich nicht bemerkt und so sah ich ihn dabei zu. Immer wieder sah ich, wie seine Miene ernster und wütender wurde. Was hatte der denn genommen?
Jedenfalls machte er weiter und bereits nach zwei Briefen machte er sich an meinem Tagebuch zu schaffen! Mein Heiligtum. Und wieder war da dieser Ausdruck in seinem wunderschönem Gesicht, den ich nicht deuten konnte. Seine dunklen Augen blitzten voller Aggression auf. So kannte ich ihn ja gar nicht. Darüber war ich sehr froh, denn ehrlich gesagt, machte mir das schon etwas Angst.
Was er wohl davon dachte? Ich sah ihn weiterhin dabei zu und mich überkam die volle Überzeugung, dass er deswegen so fassungslos schaute, weil er somit wusste, dass man mich nicht mehr verletzen konnte. Ha ha, wahrscheinlich wollte er mich quälen und da er nun in meine Sachen herum gestöbert hatte, war er nicht mehr der Erste. Tja, da war er wohl zu langsam gewesen. Mieses Arschloch.
Ich schlich mich weg von diesem Zimmer und lief zielstrebig zu einem der Zimmer für Gäste. Dort gab es bestimmt Stift und Papier, solche Menschen wie er sparten sicherlich nicht an der Ausstattung. Natürlich hatte ich Recht. Aus einem Anflug von einem flauen Gefühl im Magen traf ich eine Entscheidung. Niemand machte sich ungestraft an meinen Sachen zu schaffen! Das war privat und nicht umsonst tabu für außenstehende Menschen.
Wie ich ihn kannte, lachte er eh über mich und das wollte ich mir nicht länger geben. Nein, es war an der Zeit, sich zu verabschieden. Aufgewühlt wie eh und je nahm ich einen Kuli in die Hand. Das weiße Papier, welches mich anstrahlte, war schon bald mit meiner Schrift vollgeschrieben. Ich schrieb einfach alles, was mir in den Sinn kam und machte überhaupt keinen Hehl aus meinem Wissen, dass er in meinem Zimmer gewesen war.
Ich werde gehen. Wenn du das hier liest, werde ich bereits gegangen sein. Auch wenn es dich einen Scheißdreck interessiert, aber ich gehe, weil ich es nicht ertrage, dass du so zu mir bist. Was habe ich dir getan? Du kennst mich gar nicht. Du durchsuchst während meiner Abwesenheit einfach meine Sachen! Schon mal etwas von einer Privatsphäre gehört?Wahrscheinlich hast du darüber gelacht, was du alles so gelesen hast. Mir ist das egal. Du wirst immer über mich lachen und mich unterdrücken. Du bist ein Sadist, der nur darauf wartet, anderen Menschen das Leben schwer zu machen! Hoffentlich bist du darüber glücklich, denn du hast es geschafft, mich nach so kurzer Zeit fertig zu machen.
Deine Entschuldigung - sie war gelogen, nicht wahr? Du genießt es doch, wenn du siehst, dass du Macht über andere Menschen hast. Diese Macht hast du aber nicht mehr über mich! Ich lasse das nicht mehr mit mir machen! Du hast es geschafft - ich bin noch gebrochener als zuvor. Ist es das, was du wolltest?
Jetzt weißt du also von Jakob. Ihr wärt bestimmt gute Freunde, wenn ihr euch kennen würdet. Dann könntet ihr euch über mich lustig machen und vielen anderen Mädchen das Herz brechen. Deine zwei Frauen tun mir eh leid. Bestimmt hast du sie schon von der Bettkante gestoßen und ihnen gesagt, dass du nur mit ihnen gespielt hast. Oder du tust so, als ob du sie begehren würdest, um sie noch mehr auszunutzen.
Mein Herz ist so oder so gefroren, genauso wie meine Seele und mein Verstand. Diese jämmerliche Welt ist voller Schatten, ohne Licht. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zurückzukehren. Ich bin dafür bestimmt, in der Dunkelheit zu leben. Für mich gibt es keine strahlende Zukunft. Trotz allem werde ich keine Tränen vergießen, die sind nämlich schon vor langer Zeit versiegt.
Du kannst dir eine neue Sklavin suchen, die du mit in den Abgrund ziehen kannst. Ich bin weg. Für immer. Mach es am besten so wie Jakob: Schaff dir eine große, blonde Tussi an, die sofort für dich das Höschen fallen lässt. Ach und vergiss nicht: Sie muss spindeldürr sein. Ein Model, wenn du verstehst? Jetzt hast du mich jedenfalls los und ich wette, du hast dir schon längst eine neue Putze angeschafft.
Die tut mir auch übrigens leid. Wahrscheinlich bist du so ein arroganter Schnösel, der denkt, dass er bei jedem Menschen gut landet. Nicht mit mir! Ich hasse dich! Wenn ich dich schon sehe, könnte ich ausrasten. Wenn ich deine verdammte Stimme höre, würde ich dir am Liebsten an die Gurgel gehen. Zum Glück bist du so ein Riese, denn sonst hätte ich dir schon längst den Hals umgedreht.
Dann blickst du immer so überheblich durch die Welt. Als ob du der König wärst! Was bildest du dir eigentlich ein? Du bist ein normaler Mensch, so wie ich! Gut, du bist neun Jahre älter als ich, aber mehr auch nicht! Und nur weil ich auf der Straße lebe, heißt das nicht, dass du etwas Besseres bist!
Weißt du, ich habe schon immer so ein richtiges Kopfkino. Wie ich dich an deinem Kopf packe und dir die Haare ziehe. Wie ich dir in den Bauch trete und du zu Boden gehst. Du machst mich so aggressiv! Und das ist nicht gut für mich. Daher mache ich mich lieber aus dem Staub, ehe ich noch Taten begehe, die ich bitterböse bereuen könnte.
Also lebe ruhig weiter in deiner beschissenen Welt, in der du denkst, du der Herrscher bist und alle anderen Menschen deine Untertarnen sind. “L'État, c’est moi! – Der Staat bin ich!“, das passt wirklich gut zu dir. Du bist aber nicht Ludwig XIV. Denke ruhig, dass dein Wort Gesetz ist und du mit Frauen machen kannst, was du willst. Nebenbei sind die ganz schön dumm, wenn sie sich so von dir unterdrücken lassen. Ich bin froh, dass ich dich nie wieder sehen muss, denn ohne dich bin ich viel glücklicher.
Ich werde mich bestimmt nicht persönlich von dir verabschieden, denn wenn Blicke töten könnten, würde ich dich mit meinem zerstören. Ich hasse dich nicht nur zutiefst, sondern verachte dich ebenso wie den Rest der jämmerlichen Welt! Es tut mir nicht leid.
Ich hatte all diese Worte wohlüberlegt niedergeschrieben und war mir der Sache sehr bewusst gewesen. Schließlich war ich kein kleines Kind mehr. Nein, ich war keine fünfzehn mehr. Wenn Tizian den Brief lesen wird, wird er sich bestimmt freuen und dann war alles gut. Allein die Vorstellung ließ mich kalt lächeln.
Bevor ich das Stück Papier aber abgeben würde, ging ich nochmals eine Runde um die Villa und sah die Blutspuren, die noch immer den Schnee rot färbten. Ich erinnerte mich daran, wie Tizi mir die Klinge aus der Hand geschlagen und mich danach verarztet hatte. Da hatte er schon fast fürsorglich gewirkt. Was für ein schlechter Schauspieler er doch war.
Er sollte sich ein Beispiel an mir nehmen. Vielleicht hätte ich ihm Unterricht geben sollen, denn das, was er da abgezogen hatte, war wirklich durchschaubar gewesen. Er selbst war für mich wie Glas. Und daher würde ich seinem kleinen Spiel ein Ende machen. Ich war die Gewinnerin und er der Verlierer.
Genug nachgedacht, ich ging leise die Treppe hinauf. Zuerst musste ich aber meine Sachen holen. Zum Glück hatte ich mich in dem Zimmer, in dem ich schlief, nicht zu sehr ausgebreitet. Im Prinzip gar nicht. So nahm ich den Rucksack und vergewisserte mich, dass ich auch ja nichts vergessen hatte.
Danach ging ich zu seinem Schlafzimmer. Ich atmete tief ein und aus. Zögernd legte ich den Brief genau vor die Tür. Es war das Richtige für mich. Langsam, schon fast aufgeregt, entfernte ich mich schließlich von dem Gang und unterdrückte die Tränen, die mir mit einem Mal in den Augen standen. Warum um alles in der Welt war mir überhaupt zum Weinen zumute?
Auf mich wartete mein altes, schönes, beschissenes Leben. Ohne Tizian. Was also wollte ich mehr? Was hielt mich hier? Nichts. Es war zwar schön, in einem warmen und weichen Bett geschlafen zu haben, aber mehr auch nicht. “Geh einfach”, sagte ich ganz leise und mit bebender Stimme zu mir, “geh und hole dir die Freiheit zurück”. Und dann verließ ich seine Villa und ließ zurück, was mich nur noch mehr kaputt machte.
Kaum war ich außerhalb der Villa, überfiel mich die Erleichterung. Endlich konnte ich zurück gehen. Zurück zu der Straße und zu meiner Lagerhalle. Der Weg dorthin war aber ziemlich mühsam. Zu meinem Glück lebte ich ja schon mein ganzes Leben lang in dieser Stadt. Würde ich das nicht tun, hätte ich ein großes Problem. So war ich aber nach gut zwei Stunden dort, wo ich hingehörte.
Ich ging auf die mächtige Eisentür zu, als mich Samuel, der Torwächter, erstaunt ansah. Schon meinte er: “Willkommen zurück”. Ich brummte nur etwas vor mich hin und schon war ich im Inneren der Halle. Draußen war es ja doch recht kalt. Wenigstens trug ich noch die warmen Klamotten von Tizian. Einen Vorteil hatte ich also aus dem Schlamassel mit ihm ziehen können.
Mein Blick richtete sich auf meinem Stammplatz und siehe da, dort lag noch tatsächlich mein Schlafsack. Als ich mich gerade auf diesen fallen ließ, wurde ich auch schon von anderen Straßenkindern angesprochen. Es war Kristof, der auch schon zu Reden begann: “So sieht man sich wieder, Emo”. “Scheint so“, gab ich ihm eine zickige Antwort und drehte mich von ihm weg, da ich einfach nur meine Ruhe haben wollte.
Ich hatte jetzt absolut keine Lust, mit diesem Deppen ein Gespräch zu führen. Leider musste er das ja tun. Er meinte: “Was willst du überhaupt wieder hier? Gab es etwa Stress mit deinem Macker?”. Hä? Bitte? Wie kam er denn auf diese absurde Idee? “Ähm, ich habe keinen Kerl! Jeder hier weiß, wie sehr ich den Kontakt zu anderen Menschen verabscheue. Außerdem hasse ich es, so dumm von der Seite angesprochen zu werden!”, keifte ich ihn an, doch damit gab sich Kris bestimmt nicht zufrieden. “Ich habe euch doch gesehen, im Park. Ihr seid aus dem Park gelaufen und dann in einem weißen Auto weggefahren”, sagte Kristof von seiner Meinung überzeugt.
Verdammte Axt! Er hatte uns also gesehen. Was für ein Mist! War ja klar, dass er so dachte und ich konnte es ihm schon fast gar nicht mehr verübeln. Trotzdem schaltete ich auf stur und fragte: “Du glaubst doch wohl echt nicht, dass dieses Arschloch mein Freund ist?”. “Nein, er war es. Sonst wärst du wohl kaum hier”, war sich Kristof der Sache sehr sicher.
Er sah mich mit seinen braunen Augen an, die mich an Tizian erinnerten. Nur waren diese nicht so dunkel wie die von meinem ehemaligem Meis- äh Vorgesetzten. Und der Typ, der vor mir stand, war auch nicht so groß wie Tizi und hatte keine Wuschelhaare.
Wenigstens hatte er schwarze Haare. Was dachte ich eigentlich? Warum sah ich in Kris schon fast Tizian oder dachte an ihn?
Ich war wohl von allen guten Geister verlassen. Ich konzentrierte mich lieber auf eine Antwort. “Meine Güte, ich habe Mist gebaut und deswegen lebte ich bei Tizian die zwei, drei Tage. Zufrieden?”, gab ich schließlich zu. Kristof sagte: “Aha. Ich hoffe für dich, dass der Mann nicht hier aufkreuzt. Den sieht man doch schon an, dass er aus wohlhabendem Hause ist”. Ja ja, dachte ich mir, nickte ihn aber nur stumm an und war froh, als er ging.
Endlich hatte ich meine Ruhe. Ich wollte mich von dem langen Laufen ausruhen, doch natürlich kam wieder jemand zu mir. Dieses Mal war es ein Mädchen. Oha. Was wollte denn ausgerechnet die von mir? Vor mir sah ich Samira, die mich ziemlich sauer ansah. Ich hatte nichts getan, was sie auch nur im Geringsten stören könnte! Echt jetzt, ungelogen.
Ich überließ ihr das Wort. Schon wetterte sie drauf los: “Sag mal, was war das für ein Kerl, mit dem du mitgegangen bist? Das war doch Tizian, nicht wahr? Was willst du mit so einem tollen Mann?”. Toll? Was war an ihm denn bitte toll? Ich war hier echt im falschen Film! “Ähm, nichts? Und woher willst du wissen, dass er toll ist? Woher weißt du seinen Namen?”, konterte ich. Mira antwortete: “Das wüsstest du gerne, was? Ich sagte dir eins: Lass die Finger von ihm oder du kannst was erleben!”.
Heilige Peperoni! Die hatte echt nicht mehr alle Tassen im Schrank! “Willst du mir drohen? Du weißt genau, dass ich vor nichts und niemanden Angst habe. Reize mich lieber nicht und wenn ich es nicht wissen wollen würde, würde ich wohl kaum so dumm fragen. Wenn du aber schon so darauf bist, dann kannst du nur eifersüchtig sein”, provozierte ich sie und lachte höhnisch.
Samira dachte wirklich, sie hätte gegen mich eine Chance. Dummes Mädchen. Sie war zwei Jahre jünger als ich und ich würde mir bestimmt nicht etwas von Jüngeren sagen lassen! Nicht, dass ich mir irgendwie etwas einbildete, aber ich hasste es, wenn kleine Kinder dachten, sie könnten mir drohen. Mira sah mich wütend an, doch ich machte nicht einmal Anstalten, mich aufzurichten oder mich zu erheben. Pech für sie, denn ich entspannte mich gerade.
Sie schrie mich an: “Ich und eifersüchtig? Auf dich oder was? Davon träumst auch nur du! Ich kenne Tizian schon eine ganze Weile und weiß genau, dass er solche Weiber wie dich total scheiße findet!”. “Ach, was du nicht sagst. Ich hasse solche Typen wie ihn eh. Das müsstest du eigentlich wissen, also spuck schon deinen Stolz runter, falls du welchen besitzt und lass mich in Ruhe!”, speiste ich sie ab und kehrte ihr einfach den Rücken zu. Nach einem verärgerten Schnauben wandte sich Mira von mir ab und verließ sogar die Halle. Endlich hatte ich meine ersehnte Ruhe.
Meine Gedanken kamen wie ein Tsunami auf mich zu und überschwemmten mich förmlich. Ich musste an die Zeit in der Villa denken. Dort hatte ich ein recht sicheres Dach über den Kopf gehabt. Außerdem konnte mich nur eine Person nerven. Tizian. Allein dieser Name klang schon gefährlich. Ob er das auch war?
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Vielleicht war Tizi in einer Mafia verwickelt oder drehte andere krumme Dinger! Zu ihm würde das wirklich sehr gut passen. So ein arroganter Schnösel wie er war. Und so zwielichtig! Ich wusste nie, was er so dachte. Wollte ich dann auch nicht, denn für mich war klar, dass er sich für etwas Besseres hielt.
Seine Villa fand ich aber trotzdem toll. Besonders die Gemälde von den berühmten Persönlichkeiten aus der Geschichte hatten mich fasziniert. Schon schade, dass er das nicht wusste. Was dachte ich da eigentlich? Mir konnte es doch egal sein, ob er das wusste, oder nicht. Und doch rührte sich innerlich in mir etwas. Nur was? Ich konnte es nicht definieren und so gab ich mich weiterhin meinen Gedanken hin.
Ich war zurückgekehrt. Zurück in das tiefschwarze Leben. Mein Leben. Sollte Tizian doch sein Leben weiterleben. Ohne mich. Das war ihm doch eh viel lieber. Ich fragte mich, warum er mich überhaupt erst in seine Villa mitgenommen hatte, wenn er doch so mies zu mir war. Das alles war so unfair. Die anderen Menschen hatten alles, ich aber war allein.
Nicht das mich das störte, aber nervig war das schon. Wie sie lachten und sich Blicke zuwarfen. Oh, wenn sie doch wüssten, dass das alles nur eine Illusion war! Dann würden sie zerbrechen, da war ich mir sicher. Das wäre dann wieder ein Vorteil für mich. Ich konnte nicht mehr fallen. Irgendwann würde meine Zeit kommen, das wusste ich.
Kurzerhand beschloss ich daher, betteln zu gehen. Das konnte ich am Besten und da war es mir auch egal, dass die Temperaturen sich in dem Minusbereich befanden. Bald würde eh der Frühling kommen und dann würde es allmählich wärmer werden. Also Schwamm drüber und durchbeißen. Schließlich machte ich das schon eine Weile.
Ich ging wie immer in das Einkaufszentrum, in dem wirklich viel los war. Kein Wunder also, dass ich ziemlich viel zu tun hatte. Immerhin wurde ich dafür auch überaus kräftig belohnt. Sage und schreibe vierzig Euro konnte ich erbeuten und Lebensmittel im Wert von gut dreißig Euro! Man, das war echt toll.
Als ich zurück von meiner Runde war, wurde ich gleich von vielen neidischen Blicken überhäuft. Mit einem Blick gab ich den Gaffern aber zu verstehen, dass sie sich bloß nichts einbilden sollten. Das war alles meins. Alles. Gar nichts würde ich hergeben. Sollten sie doch selber sehen, wie sie klar kamen. Ich hatte damit nichts zu tun und wollte es auch nicht.
Entspannt aß und trank ich, doch irgendwann war ich fast nur noch alleine in der Lagerhalle. Schön und gut, aber warum war dann draußen so viel Randale? Die anderen Jugendlichen schrien schon beinahe wie am Spieß und ich hörte Reifen quietschen. Sehr skurril. Sollte mir aber egal sein, das war es mir aber nicht, denn es nervte tierisch.
Plötzlich ging aber die Tür auf und ich konnte einen kurzen Blick auf das Geschehen erhaschen. Das hätte ich lieber nicht tun sollen, denn was ich da sah, verschlug mir glatt die Sprache.
Tizian’s Sicht!
Als ich fertig mit dem Lesen der Briefe von Krystal und ihrem Tagebuch war, wollte ich mich in mein Schlafzimmer zurückziehen. Dort konnte ich einfach am Besten abschalten und da ich in meinem Fernstudium eh den anderen Teilnehmern ein gehöriges Stückchen voraus war, war das auch kein Problem.
Zielstrebig machte ich mich also auf dem Weg, natürlich nicht ohne vorher die Sachen von dem Mädchen, welches ich seit einiger Zeit nicht mehr gesehen oder gehört hatte, sorgfältig aufzuräumen. Ich musste einfach nachdenken und wollte niemanden sehen. Auch nicht sie. Doch als ich die Tür zu meinem Schlafzimmer öffnen wollte, fiel mir sofort dieses weißes Papier in die Augen.
Ich brauchte den Wisch nicht zu lesen, sondern suchte zur Sicherheit noch einmal mein gesamtes Anwesen nach Krystal ab. Meine Vermutung bewahrheitete sich natürlich. Sie war weg. Ob sie das für immer war? Nein.
Sofort stieg ich in meinem schwarzen Audi R8. Das Auto war in diesem Falle einfach das Beste. Die Gegend, in der wir lebten, war eh schon so dunkel und daher würde ich kaum auffallen. Und selbst wenn, mir war das egal, denn ich wollte einfach nur das Mädchen finden. Irgendwo in dieser Stadt musste es ja sein.
Ich minimierte meinen Suchradius in dem Gebiet, in dem ich Krystal das erste Mal gesehen hatte. Das war im Park. Anderseits: Wo sollte sie leben? Sie sagte zwar, dass sie auf der Straße lebt, aber ich konnte mir bei meinem besten Willen nicht vorstellen, dass sie wortwörtlich auf der Straße hauste. Wohin also?
Ich vermutete, dass sie sich in abgelegene Industriegebiete oder Lagerhallen aufhielt. Diese beiden Möglichkeiten erschienen mir am Logischsten. Und siehe da: Nach vielen Minuten hatte ich Erfolg. Ich wollte zuerst vorbeifahren, doch dann sah ich Samira. Nun, schoss es mir durch den Kopf, vielleicht sollte ich sie fragen, ob sie Krys kannte. Gesagt, getan.
So fuhr ich dann doch dorthin und Mira erkannte mich sofort. Ich ließ das Fenster meines schicken Wagens herunter und fragte: “Sag mal, kennst du ein Mädchen mit schwarzen langen Haaren und das sich auch sonst ziemlich düster kleidet?”. Sie zog ein wenig erstaunt die Augenbrauen in die Höhe, ehe sie antwortete: “Das könnte auf dem Grufty-Girly zutreffen”.
Daraufhin konnte ich sie nur fragend ansehen. Eigentlich wollte ich noch etwas sagen, doch dann kam ein langhaariger, schwarzhaariger Junge zu ihr. Schon sagte er: “Das ist doch dieser Kerl von Krystal”. “Sie ist da? Wo? Ich muss mit ihr reden!”, erhob ich meine Stimme wie von einer Tarantel gestochen. Samira sagte zu dem Kerl: “Danke, dass du das gesagt hast, du Idiot!”. Danach wandte sie sich ab.
Ich wollte aus meinem Wagen steigen, um in das Innere der Lagerhalle zu gelangen, doch der Typ ließ mich nicht durch. Frech stellte er sich genau vor meiner Autotür. “Was willst du von ihr, hm? Jeder hier weiß doch, dass sie sich nie freiwillig auf solche Menschen wie dich oder überhaupt Menschen einlässt”, sagte der Junge. Geduld Tizian, sagte ich zu mir und meinte: “Da hast du Recht, aber es ist wichtig”.
Das interessierte ihn kein bisschen, er blieb eisern dabei. Daher blieb mir nichts anders übrig, als den Motor meines Autos aufheulen zu lassen und so nah wie es ging an die Halle zu fahren. Mittlerweile waren andere Jugendliche auf mich aufmerksam geworden. Mein verzweifelter Plan, der mir gar nicht gefiel, ging also auf. Noch aber sah ich nichts von Krystal.
Nur die vielen Teenager kreischten herum. Fehlte nur noch, dass sie mit Steinen um sich warfen. Warum hatten sie überhaupt etwas dagegen, wenn hier Fremde herkamen? Das verstand ich überhaupt nicht. Wahrscheinlich verbrachten alle nur ihre Zeit damit, Alkohol zu trinken und zu kiffen. Ich, als Eindringling, war ihnen ein Dorn im Auge. Vermutlich fürchteten sie um ihre Drogen.
Dabei interessierte mich das kein bisschen. Auch das Geld und die Sachen von ihnen waren mir egal. Ich suchte nur nach diesem kleinen Giftzwerg.
Diese Aktion sollte auch belohnt werden. Schon bald sah ich, wie Krystal aus der Halle kam. Ihr Blick schnellte von den Jugendlichen zu mir, woraufhin sich ihre Pupillen drastisch weiteten. Sie hatte mich sogar durch die Scheibe und meiner Sonnenbrille erkannt. Ich stieg aus dem Auto heraus. Nun stand ich ihr gegenüber. Die Show konnte beginnen.
Ich sagte zu ihr: “Na du Giftzwerg, dachtest wohl, dass ich dich nicht finde? Falsch gedacht, mitkommen!”. Aus ihrem Mund kam kein Laut, noch immer sah sie mich mit offenem Mund an. Als ich sie aber am Arm packte, regte sie sich endlich. Sie wich zurück und schien sogar ein wenig verängstigt zu sein. Als ich meine Sonnenbrille abnahm, fragte ich: “Steigst du nun endlich ein?”.
Sie machte Kehrt und zog sich zurück. Das ließ ich mir allerdings nicht gefallen. Immerhin hatten wir einen Deal! Ich ging ihr hinterher und sah, wie sie so unter dem Dach lebte. Was mir zuerst auffiel, war die Tatsache, dass Krystal von den anderen völlig abgeschottet war. Auch hier war sie also eine Einzelgängerin. Mich überraschte aber noch mehr, dass sie nur ihre Sachen nahm und schweigend an mir vorbeilief.
Ihre Freunde sagten während des ganzen Vorganges gar nichts, sondern sahen uns nur zu. Sie stieg in den Wagen, nachdem ich diesen per Funk aufgesperrt hatte. Bevor ich es ihr gleichtat, sagte ich an den Jugendlichen gewandt: “Ich wüsste nicht, was daran so interessant ist, zwei Menschen beim Einsteigen zuzusehen”. Danach brauste ich mit Krystal ein wenig säuerlich davon.
Während der Fahrt kam mir kein Wort über die Lippen. Auch das Mädchen neben mir schwieg. Sollte es doch. Mir war in diesem Moment eh nicht zum Reden zumute. Im Gegenteil, Krys trieb mich noch mit ihrer Art in den Wahnsinn. Mein Gesicht glich dem einer Bestie. Das wurde mir erst klar, als ich sah, wie sie mich mit ihren eisblauen Augen gebannt ansah.
Diese Augen. Diese verdammten blauen Augen. So kalt wie Eis. Erst jetzt sah ich in ihnen nicht nur diese Kälte, sondern auch Trauer. Grenzenlose Trauer. Mir war zwar schon vorher klar gewesen, dass es ihr nicht gut ging, doch nun sah ich in ihnen viel mehr. Ich brauchte mehr Informationen, doch dazu würde ich erst kommen, wenn wir wieder in meiner Villa waren.
Nach ein paar Minuten kamen wir auch dort an. In meinem schönen Zuhause. Nachdem wir die Türe geschlossen hatten, sagte ich sofort: “Gehe duschen. Danach erwarte ich dich sofort in meinem Wohnzimmer”. Ohne jegliche Regung wollte sie an mir vorbeigehen, doch ich betonte noch einmal: “Sofort”. Dann verschwand sie auch schon.
Gut eine halbe Stunde später war sie da. Sie hatte also nicht getrödelt. Statt sich mir gegenüber hinzusetzen, zog Krystal es vor, die Bücherregale, die hier waren, zu bestaunen. Da verstand ich sie wieder gar nicht. “Setze dich”, meinte ich nur. Sie rührte ich noch immer nicht. “Na los, setze dich hin”, knurrte ich und war schon wieder kurz davor, sie anzuschreien.
Wenigstens hörte ich wieder ihre Stimme. “Nein”. Eine einfache Ablehnung. Sie wollte also nicht auf mich hören. Na gut, dann werde ich andere Seiten aufziehen. Störrisches Miststück. “Gut, wie du willst. Dann höre mir zu”, gab ich mich geschlagen, woraufhin Krys konterte: “Meinetwegen”.
Während sie sich also umsah und ab und zu ein Buch in die Hand nahm, sagte ich: “Ich glaube, ich habe mich am Anfang wohl nicht ganz klar ausgedrückt. Daher sage ich es dir noch einmal: Du wirst hier über zehn Jahre leben, ist das klar? Ob du dieses Grundstück verlässt oder nicht, bestimme ich”. “In Ordnung”, hörte ich sie sagen.
Das reichte mir allerdings nicht. “Sieh mich an”, befahl ich ihr in einem strengen Ton. Vor Schreck ließ sie ein Buch fallen. Mein Lieblingsbuch. Es war die Originalausgabe des ersten Entwurfes von dem sogenannten Code Napoléon oder auch nur Code Civil. Das war übrigens ziemlich teuer gewesen. Sofort lief ich also zu ihr und hob es auf. Mit meinem kleinen Schatz in der Hand fuhr ich fort: “Sage mir, dass du nie wieder weggehen wirst. Nie wieder”.
Daraufhin sah mich Krystal ein wenig geschockt an. Ich hielt ihrem Blick locker stand und durchbohrte sie förmlich mit meinen dunklen Augen. Meine Haare dagegen waren wirr und da empfand ich zum ersten Mal diesen gewissen Wahnsinn. Ich musste mich kontrollieren, denn ich wusste, dass ich mich nicht mehr lange zurückhalten konnte. Noch konnte ich nicht meinen Ärger über alles freien Lauf lassen.
Lieber konzentrierte ich mich darauf, eine Antwort von ihr zu bekommen. “Wie du willst, kann ich jetzt das Buch wieder haben?”, entfuhr es ihr. Ich sagte: “Nein, ich habe keine Lust, dass du es noch einmal auf den Boden fallen lässt”. Danach schob ich es zurück zu den anderen historischen Büchern. Ich sah, wie ihr Blick nur dem Buch galt und wieder wunderte ich mich darüber. “Höre mir lieber weiterhin und vor allem genau zu. Ich habe da nämlich noch Einiges zu sagen”, blieb ich, wenn auch angestrengt, bei der Sache.
Mit einem lauten Seufzer ließ sie sich dann doch auf einem der düsteren Holzstühle fallen. Meine Bibliothek eben. Ich liebte den alten Stil einfach zu sehr. Daher setzte auch ich mich hin. Mit starrem Blick auf sie sagte ich: “Du scheinst dich wirklich nicht an unserer Abmachung halten zu wollen. Ich war bis jetzt immer gnädig mit dir und das ist der Dank. Damit Eines klar ist: Ich werde andere Seiten aufziehen”.
Schnippisch meinte sie: “Du und gnädig? Das ist wohl ein schlechter Scherz, aber gut. Ich werde ja dann sehen, was du dir so einfallen lässt”. “Ja, das wirst du. Darauf kannst du dich verlassen oder doch lieber diese Welt verfluchen”, wies ich sie zurecht. Den Blick, den ich dann von ihr erntete, zeigte ihr Innerstes. Ich wusste es und mir war klar, dass sie das überhaupt nicht wahrnahm. Also ihr Inneres.
Krystal fragte: “War es das dann?”. “Noch nicht ganz”, antwortete ich. Dann nahm ich das Papier, welches ich vor meiner Schlafzimmertür gefunden hatte, hervor und zerriss es vor ihren Augen. “Mache das weg. Mit den Fingern”, befahl ich ihr und entfernte mich betont langsam von ihr. Hinter mir konnte ich wahrnehmen, wie sie die Wut, die sie umgab, langsam und mit großer Mühe herunter schluckte. Trotzdem machte sie sich aber sofort an die Arbeit.
Daraufhin drang ein höhnisches Lachen aus meiner Kehle. "Sadist!", hörte ich sie empört kreischen. Ich machte sofort Kehrt und mit wenigen Schritten war ich bereits bei ihr. Ich nahm einfach ihre Hand, mit der sie bereits viele der Papierschnipsel aufgesammelt hatte und zog sie zu mir. Natürlich stieß sie gegen mich, woraufhin ich sie ansah. "Hör auf, mich diabolisch anzugrinsen!", kreischte sie weiter, doch ich konnte deutlich erkennen, dass sie nicht mehr so selbstsicher wie vorher war.
Leise, aber schnurrend wie eine Katze, die nur darauf wartete, ihren Opfern die Augen auszukratzen, flüsterte ich: "Und wenn ich nicht will? Ja, du hast Recht, ich bin ein Sadist. Nichts liebe ich mehr, als Menschen zu quälen. Besonders solche Menschen wie dich". Augenblicklich später schoss ihr das Blut nur so in die Wangen. Es war so, als ob ich spürte, wie das Blut ihr nur so in den Adern gefror. Krystal begann, wie Espenlaub zu zittern und bewegte sich ansonsten gar nicht. "Genau das liebe ich. Ich sehe die Angst in den Augen meiner Opfer und am Liebsten würde ich damit so lange weiter machen, bis sie davon so paralysiert sind, dass sie nicht mehr wissen, wer sie sind”.
Nach diesen Worten wartete ich auf eine Reaktion. Wieder nichts, nur Entsetzen. Ich beschloss aber trotzdem, nicht locker zu lassen. “Oh ja, genau das meine ich. Diese Fassungslosigkeit in deinen Augen spornt mich nur noch weiter an”, gab ich unter einem süffisanten Grinsen zu. Krystal bekam noch immer keinen Ton heraus, daher ging ich noch weiter: “Du weißt nicht, was ich am Liebsten mit dir alles machen würde. Weißt du, gerade weil du so klein bist, fühle ich mich umso stärker. Das Gute ist, ich habe sogar die Macht über dich”.
Das Mädchen vor mir brach zusammen. Damit nicht genug, begann es bittere Tränen zu vergießen. “Ja, weine. Weine für mich, für den Lord!”, rief ich voller Euphorie und konnte nichts anderes tun, als zu lachen. Ich blickte auf den Boden herab. Ohne auch nur zu schluchzen sagte Krystal: “Ich weine nicht für dich. Das würde ich nie tun. Ich weine nur um mich. Um mein verdammtes Leben, welches ich mir selbst verpfuscht habe!”.
Interessant. Sie hatte also noch immer nichts gelernt. “So? Hast du das? Na das tut mir aber leid, denn wie ich bereits sagte, du bleibst hier. Sonst sehe ich mich wirklich gezwungen, die Polizei zu rufen. Glaube mir, du armes kleines Mädchen, ich werde dir schon noch zeigen, wie es ist, am Ende zu sein”, sagte ich daher noch immer vergnügt. Danach hatte ich aber wirklich genug. Ich sah sie herablassend an und meinte zum Schluss: “Und vergiss nicht, die Schnipsel zu beseitigen”.
“Und vergiss nicht, die Schnipsel zu beseitigen”, mehr hatte Tizian nicht gesagt, als er den Raum verlassen hatte. Ich war nicht fähig, mich zu bewegen. Das, was vorhin aus seinem Mund gekommen war, traf mich tief. Er war also wirklich ein Sadist. Kein Wunder also, dass er mich zu seiner Sklavin gemacht hatte. Ja genau, so fühlte ich mich. Wie eine wertlose Marionette.
Noch immer musste ich meine aufkommenden Tränen weg blinzeln. Es war schon sehr erstaunlich, dass ich dazu noch fähig war. Es machte mich sogar schon fast ein wenig froh. Warum? Weil ich lange nicht mehr so nah am Wasser gebaut war. Ich musste zugeben, dass ich mich bei Tizian für diesen Akt bedanken müsste.
Natürlich war mein kleiner Gefühlsausbruch nicht wegen ihm gekommen. Zumindest nicht direkt. In mir kamen nämlich Erinnerungen an meine Vergangenheit hoch, von der Tizi nun einen winzigen Teil wusste. Trotzdem würde ich ihm nie von Jakob erzählen. Nein. Niemals. So, wie er sich gerade benommen hatte, würde er es nur noch mehr auf mich abgesehen haben. Ich sagte ja, sie würden bestimmt gute Freunde sein. Männer waren einfach nur für die Mülltonne.
Ich musste mich irgendwie sammeln, denn der Befehl von Tizian hatte trotz Allem seine Gültigkeit nicht verloren. Zuerst musste ich die Schnipsel meines kleinen, mit vollster Leidenschaften geschriebenen Briefes aufsammeln. Ob Tizi ihn gelesen hatte? Bestimmt, denn sonst wäre er nicht so wütend gewesen. Ein kleines Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Es mag vielleicht sein, dass die brennende Zeit mich irgendwann einmal niederbrennen würde, aber bis dahin würde ich nicht mehr so schnell nachgeben. Nein. Ich nicht.
Die Zeit verging, ich hatte schon stolze drei Monate in der Hölle von Tizian überlebt. In diesen zwölf Wochen kam ich nicht drum herum, etwas über ihn zu lernen. Der Mann war ein ziemlich schwieriger Mensch. Manchmal wusste ich gar nicht, wie mir geschah, denn es gab kleine Momente, in denen er schon fast wieder freundlich mit mir umging.
Dann aber war er einfach so wie er immer war. Kaltherzig und grausam. Immer wieder sah ich, wie Tizi mit ernstem Gesicht schmunzeln musste, wenn ich mich über etwas aufregte oder eine spitze Bemerkung von mir gab. Immerhin hatte er es geschafft, mir das Kochen näher zu bringen. Es machte mir sogar Spaß, trotzdem war ich froh, wenn die restlichen knapp elf Jahre vorüber waren.
Schon bald würde es Sommer werden, schließlich hatten wir schon Ende April. Es würde nicht mehr lange dauern und schon würden die Blumen nur so blühen. Das bedeutete noch mehr Arbeit. Wie aufs Stichwort betrat ein etwas schlaftrunkener Tizian den Raum. Um diese Uhrzeit? Etwas konnte nicht stimmen, denn die Uhr an der Wand zeigte halb zwölf Mittags an.
Tizian’s Sicht!
Mit Kopfschmerzen wachte ich auf. Schon fast davon geplagt drehte ich mich auf die andere Seite. Mein Schlaf blieb mir schon seit vielen Wochen verwehrt und das nur, weil ich mir den Kopf über Krystal zerbrach. Dieses Mädchen war noch immer ein Geheimnis und gerade deswegen bekam ich es nicht aus meinen Gedanken.
Ich hatte noch immer so viele Fragen. Was mich aber in diesem Moment am Meisten interessierte, war, wie lange Krys das alles noch aushalten würde. Verdammt, ich war nicht dumm und daher war es für mich ein Leichtes ihr anzusehen, dass es ihr nicht gut ging. Seit der Sache von vor drei Monaten, ich meine den Tag, an dem ich sie zum ersten Mal weinen gesehen hatte war sie ein wenig anders.
Klar hatte sie noch immer diese unverkennbare große Klappe, doch immer öfters konnte ich erkennen, dass sie grübelte. Ich hätte sie gerne nach den Grund gefragt, aber natürlich ging das nicht. Sie war einfach noch nicht soweit und ich musste mich sehr beherrschen, um ihr nicht an die Gurgel zu gehen. Wie konnte man auch nur so störrisch und schwierig sein?
Ich konnte nicht einmal mehr so richtig arbeiten, da ich die meiste Zeit über damit beschäftigt war, Krystal auf den Zahn zu fühlen. Sowohl im Gedanken, als auch mit Fragen, die ich ihr stellte. Danach musterte sie mich immer nur still und kam ihrer Arbeit nach. Arbeit, das war ein gutes Stichwort. Zwar ging es meiner Firma noch immer hervorragend gut, aber mein Fernstudium hatte darunter gelitten.
Das mit Geschichte ging schon gut, aber das Andere bereitete mir immer mehr größere Schwierigkeiten. Und das, obwohl ich ein hervorragendes Versuchskaninchen in meiner Villa hatte. Krystal. Apropos, was machte sie eigentlich jetzt? Bestimmt war sie noch am Schlafen, um diese Uhrzeit, wenn die Sonne schon so strahlend schien… mein Blick schnellte nur so zu meinem Handy, das neben meinem Bett auf der Kommode lag.
Kaum wusste ich, wie spät es war, schreckte ich auch schon auf. Auch das noch! Schon fast Mittag. Ich würde noch verrückt werden. Mit schnellen Schritten wollte ich schon in die Küche gehen, doch dann fiel mir auf, dass ich nur eine Boxershorts trug. Ich wollte Krys absolut nicht in Verlegenheit bringen und daher kehrte ich noch einmal um. Mit einer Jogginghose und T-Shirt bekleidet konnte ich mich bei ihr schon eher blicken lassen.
Als ich sie schließlich sah, wie sie so nachdenklich aus einem der vielen Fenster sah, wuchsen meine Sorgen ins Unermessliche. Eins musste ich aber trotzdem zugeben: Sie hatte eine verdammt gute Reaktionsgabe. Denn kaum stand ich in der Küche, lag ihr Blick auf mich. “Guten Morgen”, begrüßte sie mich, was mir nicht sehr gelegen kam. Daher grummelte ich ein “Morgen” vor mich hin.
Blitzschnell hatte sie meine schlechte Laune, die eigentlich gar keine war, erkannt und mir Lasagne hingestellt. Hatte sie die ohne meine Hilfe zusammengebracht? Schon etwas bestürzt sah ich sie an, woraufhin sie mir einen Pfefferminztee zubereitete. Dachte sie, dass ich sie deshalb so gemustert hatte? Ich grinste in den Tee hinein, der mir schmeckte. Und auch das Essen war ihr gelungen.
Als ich fertig war, frage ich: “Willst du nicht auch etwas essen oder hast du schon?”. “Kein Hunger”, antwortete sie kurz und knapp. Mein Blick galt nun ihr. Abgemagert. Ja, Krystal kam mir in der Tat etwas dünner vor. Trotzdem konnte ich nicht aufhören, ich musste sie einfach weiterhin necken. “Sag mal, hast du dich schon um den Garten gekümmert?”.
Irritiert sah sie mich nach dieser Frage an, woraufhin ich meinte: “Der Schnee ist schon längst geschmolzen und schon bald klettern die Temperaturen weiterhin nach oben und da wäre es doch sehr schön, wenn der Rasen gepflegt aussehen würde”. “Ist gut”, sagte sie, “ich mache mich an die Arbeit”.
Sie wollte schon aufstehen und sich davon machen, doch ich hielt sie auf. “Stopp”, sagte ich und sie sah mich an. “Wir müssen zuvor noch in die Stadt. Ich brauche natürlich auch Pflanzen. Da ich mal davon ausgehe, dass du nicht pflanzen kannst, werde ich dir auch ein wenig helfen”, fuhr ich fort. Ihr klappte der Mund auf. Hatte ich etwas Falsches gesagt?
Ein wenig zickig sagte Krys: “Sag mal, glaubst du wirklich, dass ich nichts kann? Ich werde doch wohl in der Lage sein, die kleinen Büsche aus den Plastikbechern zu nehmen, diese in ein zuvor gegrabenes, kleines Loch hineinzusetzen, dieses Loch dann mit Erde zum Schluss füllen und es zurecht zu klopfen!”. Sie war noch immer der kleine Giftzwerg wie von Anfang an.
Grinsend meinte ich: “Gut, aber ich werde dir trotzdem am Anfang genau auf die Finger schauen”. “Ist gut”, keifte sie. “Na dann, lasse uns das mal machen”, sagte ich und wollte den Raum verlassen. Krystal aber gab schließlich dann zu, dass sie doch etwas Hunger hatte. Ich blieb aber hart und wies sie darauf hin, dass sie das schon längst hätte machen können.
Die Fahrt zu einer Gärtnerei dauert nicht lange. Wir waren vielleicht eine viertel Stunde mit dem Auto unterwegs gewesen. In dieser Zeit war Krys vollkommen ruhig gewesen. Nur das Knurren ihres Magens konnte ich immer wieder hören. Das Essen würde ich ihr aber erst nach getaner Arbeit gönnen.
“Wollen Sie vielleicht Stiefmütterchen oder doch lieber Geranien?”, fragte mich Herr Kreil, der mich wie jedes Jahr betreute. Ich liebte diese Gärtnerei einfach und genau deswegen war ich Stammkunde. Ich wusste genau, dass das Personal gut war und viel Acht auf die Pflanzen gab, die nebenbei hervorragend gepflegt wurden. “Mich würden dieses Jahr beides ansprechen”, antwortete ich.
Mein Blick ging zu Krystal, die aber mit riesengroßen Augen an den Tulpen klebte. Wie ulkig, schoss es mir durch den Kopf, doch ich sagte laut: “Giftzwerg, komme mal her”. “Du sollst mich nicht so nennen und schon gar nicht vor anderen Menschen!”, giftete sie und machte ihren Spitznamen wieder alle Ehre. Trotzdem war sie kurz darauf bei uns.
Sofort betrachtete sie die Pflanzen genau und was sollte ich dabei noch denken? Sie liebte die Natur. “Sag mal, was sagst du denn dazu? Beide nehmen oder nicht? Wenn ja, welche dann?”, bombardierte ich sie schon fast mit Fragen, woraufhin sie mich etwas erstaunt ansah. Ja genau, ich Tizian, fragte einen kleinen Zwerg um Rat. “Alle!”, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.
Warum war mir das nur klar gewesen? Trotzdem nahm ich sowohl die Stiefmütterchen als auch die Geranien und im Laufe der Zeit kamen dann auch Tulpen dazu, sowie Sonnenblumen, Rosen und viele weitere Blumen. Schon bald würde mein riesengroßer Garten also nur so vor Farben strahlen, ach was, er würde explodieren!
Erst einmal musste alles in meinem Geländewagen geladen werden. Wie gut, dass ich mir ein paar Autos leisten konnte. So konnte ich immer ein Passendes für jeden Anlass nehmen. Zu dritt hievten wir also die vielen Paletten in mein Auto und ich wurde knapp stolze tausend Euro los. Immerhin hatte ich noch den ein oder anderen Baum gekauft und Sträucher.
Das war es mir aber wert, denn der Tag war herrlich. Heute würde die ganze Arbeit für den Garten von Statten gehen. Schließlich war es erst kurz nach zwei Uhr. Der Tag war also noch recht lang und wenn ich so zu dem Himmel sah, wurde mir warm. Die Sonne strahlte nur so vor sich hin und auch die Temperatur trug ihren Teil dazu bei. Wie ich mich darauf freute und außerdem war ich gespannt darauf, wie Krystal sich anstellte.
Mittlerweile war ich durch Tizian in einer Gärtnerei gelandet. Das überraschte mich ja schon ein wenig, aber was mich noch mehr erstaunte, war die Tatsache, dass er mich ernsthaft um meine Meinung gefragt hatte. Warum nur? Ich wurde aus ihm einfach nicht schlau. Selbst wenn ich mich darum bemühen würde, war mir klar, dass ich das nie schaffen würde. So konnte ich nur sagen, dass ich Pflanzen aller Art liebte. Und siehe da: Tizian hatte sogar so ziemlich alle verschiedensten Blumen, gar Bäume, gekauft. Ich wollte nicht wissen, wie teuer das insgesamt war.
Lieber half ich den zwei Männern dabei, die Ware in das Auto zu verfrachten. Mir gefiel es sogar, hin und her zu laufen. Aber das musste ich ja nicht vor Tizi zugeben. Als wir dann endlich fertig waren, fuhren wir auch schon wieder los. Mein Meister, ja, so nannte ich ihn mittlerweile insgeheim, - im genauerem Sinne war er das sogar schon - bestand nämlich darauf, dass wir uns sofort an die Arbeit machten. Seine Worte, dass ich noch nichts zu Essen bekam, macht er sogar wahr.
Wir kamen kurz nach zwei Uhr an. Tizian fuhr den Wagen zu einer größeren Fläche und stieg aus. Danach nahm er eine Palette von den Stiefmütterchen. “Kommst du?”, fragt er mich, da ich nur blöd vor mich hinstarrte. Leicht verwirrt frage ich: “Wie bitte? Warum?”. Ja, ich war irgendwie nicht klar bei Sinnen. Tizi lachte aber nur und meinte: “Na, ich möchte sehen, ob du dich wirklich damit auskennst, Pflanzen zu pflanzen”.
Ach du meine Güte! Das hatte ich ja ganz vergessen! Er wollte also wirklich sicher gehen, dass ich es konnte. Okay, dachte ich mir und nahm eine lila Pflanze. Geradezu sanft holte ich diese aus dem schwarzen Plastikbecher. Dann grub ich ein kleines Loch in die Erde. Die Augen von Tizian waren dabei stets auf mich fixiert und als ich das Ding auch schon fast gepflanzt hatte, hielt er mich auf.
Fragend sah ich ihn an, er kam näher zu mir, zu nahe. Ich wich zurück, denn ich konnte es in diesem Moment absolut nicht ertragen, erniedrigt zu werden. Wartend stand ich also da und wollte schon wissen, was ich denn falsch gemacht hatte, doch er nahm mir nur das Stiefmütterchen aus der Hand. “Hey…”, fing ich an, aber er meinte: “Bevor du dich völlig blamierst, zeige ich es dir lieber doch”.
Für wie dumm hielt er mich eigentlich? “Sag mal…”, setzte ich an, wurde aber wieder unterbrochen. Barsch sagte der Mann: “Sei leise und sieh zu, dass du es genauso hinbekommst”. Abgewürgt. Wie freundlich er wieder war! Hmpf, schoss es mir durch den Kopf, wenn es ihn glücklich macht. Schnell und wohlüberlegt ging der Akt des Pflanzens über die Bühne. Ich beobachtete ihn sogar dabei und musste zugeben, dass es irgendwie faszinierend war, einen Mann bei solch einer Arbeit zu sehen.
Nun war ich an der Reihe. Dadurch, dass Tizian vor ein paar Sekunden so sicher gewirkt hatte, war ich mir umso zaghafter. Langsam und mit zittriger Hand nahm ich die Stelle neben der Pflanze von ihm in Angriff. “Nein, das musst du so machen. Du musst wirklich mit Gefühl das Stiefmütterchen in die Erde setzen”, hörte ich auf einmal seine dunkle Stimme. Ehe ich reagieren konnte, beugte er sich dicht über mich und führte meine Hände sicher. Ein komisches Gefühl umgab mich, denn so nah war ich ihm ja wirklich noch nie gekommen. Zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern. Ich blickte ihm in die Augen und das erste Mal sah ich in ihnen nicht nur diese grenzenlose Dunkelheit. In ihnen konnte ich auch den kleinsten Splitter von Hingabe vernehmen. Mir war klar, dass es sich dabei nur um die Pflanzen handeln konnte.
Verwundert darüber starrte ich ihn weiterhin an, sein Blick traf den Meinen. Ich wusste nicht, wie lange wir so verharrten, aber als wir fortfuhren, ging mir dieses Szenario nicht mehr aus dem Kopf. Kein Wunder also, dass ich sehr unkonzentriert war und mir Tizi eine ganze halbe Stunde dabei zusah, wie ich meine Arbeit erledigte. Danach legte auch er Hand an und ließ mich endlich alleine.
Er kümmerte sich um die Bäume, denn an die traute ich mich nun wirklich nicht heran und außerdem war ich nicht so stark wie er. Ja, Tizian war stark. Einmal, als er eine junge Trauerweide in ein gegrabenes Loch setzen wollte, rutschte er ab und das arme Bäumchen drohte umzufallen, doch er reagierte blitzschnell und hielt die Trauerweide fest in seinen Armen.
Wie er wohl mit Frauen umging? Ich gab mir daraufhin selbst eine Ohrfeige. Mal wieder waren meine Gedanken mit mir durchgegangen! So ein Arschloch, wie er es war, würde nie auf die Idee kommen, so sanft zu dem anderen Geschlecht zu sein. “Hey, du sollst arbeiten!”, schrie er mich leicht angesäuert an. Oh Mist, schon wieder erwischt! Das durfte nicht wahr sein, dabei hatte ich erst einundzwanzig der unzähligen Pflanzen gepflanzt.
So ging das auch ein paar Stunden weiter und mir wurde immer wärmer. Dazu trug auch die verdammte Sonne bei, die unentwegt auf mich herab schien. Konnte die nicht jemand mal abstellen? Die war im Moment nämlich ziemlich überflüssig. Ich sah mich um und staunte: Schon der halbe Garten war über und über mit Blumen und Bäumen oder auch Sträuchern dekoriert. Wie schön, dachte ich und musste schmunzeln.
Tizian konnte mich nicht tadeln, da er kurz in die Villa gegangen war. Nach meiner kleinen Musterung machte ich aber fix weiter, denn ich liebte es, in der Natur zu arbeiten. Glaubt mir, das machte mir so viel Spaß, dass ich am Liebsten bis in die Nacht gearbeitet hätte, doch auf einmal fühlte ich mich gar nicht gut.
Zuerst dachte ich mir nichts dabei, denn ich war es gewohnt, trotz Beeinträchtigungen bis zu meinem persönlichem Limit zu arbeiten, aber irgendwann überkam mich der Schwindel. Ich setzte mich kurz auf die Wiese und merkte, wie die Sonne auf mich traf. Mein Kopf fing an zu dröhnen und ich beschloss, mir die Jacke auszuziehen. Damit bewirkte ich aber das Gegenteil, denn ich trug ausschließlich schwarz und da machte es auch keinen großen Unterschied.
Ich vergrub mein Gesicht in beide Hände und massierte mir die Schläfen, in der Hoffnung, dass ich mich nicht mehr so schlecht fühlte. Nicht einmal das brachte mir etwas. Als ich Schritte hörte, die den Kies, der am Rande der Villa war, knirschen ließ, stand ich ruckartig auf. Das war ein großer Fehler. Denn kaum sah ich Tizi, der auf mich mit einem ziemlich wütenden Gesichtsausdruck zukam, bekam das Bild vor mir kleine schwarze Punkte.
Diese Teile vergrößerten sich sogar und ich suchte nach Halt. “Ti-Tizian… bitte, hilf mir“, murmelte ich völlig kraftlos daher und stolperte holprig voran. Du schaffst das, sagte ich mir, er ist gleich da. Von wegen! Denn irgendwann waren die kleinen Punkte verschwunden und mein Sichtfenster komplett in Schwarz gehüllt. Bevor ich gänzlich das Bewusstsein verlor, glaubte ich auf irgendetwas Weichem gelandet zu sein.
Fragt mich nicht wie lange ich bewusstlos war, aber als ich meine Augen langsam aufschlug, war die Sonne bereits am Untergehen. Vorsichtig öffnete ich diese und vergewisserte mich, dass an mir noch alles dran war. Nur meine Klamotten, die ich getragen hatte, waren weg. Ein Fluchen überkam mich, denn dieser Kerl, für den ich arbeitete, war anscheinend nicht nur ein eiskalter Mensch, sondern auch ein Perversling, doch als ich mich musterte, fiel mir auf, dass lediglich meine Schuhe fehlten. Meine Hose trug ich noch, und auch der Pullover, der unter der Jacke gewesen war, die ich mir aber schon ausgezogen hatte, befand sich nach wie vor an meinem Körper.
Erleichtert atmete ich aus. Meine Panik war also unbegründet gewesen, denn vorher hatte mich Tizian auch nie körperlich belästigt. Vermutlich war ich nur deswegen unruhig gewesen, da meine Sinne noch nicht hundertprozentig geschärft waren. Ich war noch nie bewusstlos gewesen und wusste daher gar nicht, wie es sich anfühlte, oder wie man eben danach drauf war. Welch Premiere also für mich. “Guten Morgen”, konnte ich eine gedämpfte Stimme, die sich trotzdem sehr belustigt anhörte, wahrnehmen.
Ich ließ mich zurück auf das Kissen fallen und sah, dass eine dünne Decke über mich ausgebreitet worden war. Wer war das gewesen? Was für eine dumme Frage, aber ich konnte nicht glauben, dass das Tizian gewesen war. Dieser saß auf einem Sessel, also lag ich wohl auf der Wohnzimmercouch. Ich sollte Recht behalten, denn vor mir war der Tisch, auf dem ein Tablett stand. Mit Essen und Trinken.
Erstaunt sah ich Tizi an, dieser meinte aber nur in seiner typischen kalten Manier: “Nun iss schon, die Arbeit ruft nämlich noch”. War mir total klar gewesen. Einmal, wenn ich dachte, dass er wirklich nett zu mir war, brachte er solche Aktionen. “Danke”, sagte ich trotzdem leise und richtete mich langsam auf. Zögernd griff ich nach dem ersten Sandwich, was ziemlich lecker schmeckte. Ich vergaß, er konnte ja kochen, also war das für ihn kein Problem gewesen.
Daher war es auch normal, dass neben den Sandwichs sich auch noch Früchte auf dem Tablett befanden. Ich fragte mich nur, woher er wusste, dass ich Erdbeeren, Kiwis und Kirschen mochte. Wer weiß, vielleicht waren sie ja vergiftet und er wartete nur darauf, dass ich abkratzte. Wie lächerlich, dachte ich und aß das Sandwich, an welchem ich noch immer zu knabbern hatte, weiter.
Nach ein paar weiteren Bissen, griff ich nach dem Wasser, in dem er sicherlich etwas gegen den Schwindel getan hatte. Es schmeckte nämlich leicht anders. “Schon gut”, meinte er schließlich wissend nach einer halben Ewigkeit und fuhr fort: “In dem Wasser ist etwas gegen den Schwindel”. Ich nickte nur, wollte aber trotzdem wissen, woher er gewusst hatte, dass sich diese Frage in meinem Kopf befand.
Er antwortete so hart wie Stahl: “Blicke sagen bekanntlich mehr als tausend Worte”. Eine Gänsehaut durchfuhr mich. Irgendwie bekam ich das Gefühl, dass mehr hinter diesem Satz steckte, aber das konnte nicht sein. Was sollte er sonst damit meinen? Es wurde wirklich Zeit, dass ich wieder bei klarem Verstand war und daher begann ich, wie ein Mähdrescher, das Tablett zu leeren. Kaum war ich jedoch fertig, stand er auf und sagte seelenruhig, als ob nichts geschehen wäre: “Weiter geht es”.
Ich hatte absolut keine Kraft dafür! “Das geht nicht, ich …”, doch er unterbrach mich. “Schweig’ lieber und keine Widerrede! Ich habe in der Stunde, in der du geschlafen hast, weiter gemacht und daher ist noch eine Palette übrig. Sei lieber froh, dass ich nicht untätig war”, fluchte er vor sich hin. Was war denn mit dem los? Dennoch kam ich ihm lieber nach, da mir sein Ton dann doch etwas Angst eingejagt hatte.
Mein Blick ging aber noch zu der schönen Standuhr, bevor wir schließlich erneut in seinem Garten landeten. Halb acht. War das nicht etwas übertrieben, jetzt noch zu pflanzen? Hm, ja, dachte ich. Zu dumm, dass Tizian kein Widerspruch duldete. Ich erledigte also noch den Rest, aber immerhin war ich nicht allein. Der Lord behielt mich dabei ganz genau im Auge. Zu genau für meinen Geschmack. “Geht das nicht etwas schneller?”, fragte er genervt, doch ich keifte: “Hallo? Ich bin nicht umsonst umgekippt!”.
Er musste lachen. Sehr witzig. “Dafür, dass es dir angeblich so schlecht geht, bist du immer noch ziemlich vorlaut”, tadelte er. Ausgeknockt. Ist ja gut. Gegen ihn konnte man echt nichts sagen, denn er wusste nur zu gut, wie man anderen Menschen die Worte im Munde umdrehte oder sie zumindest ruhigstellte. “Pass auf!”, blaffte Tizi mich plötzlich an. Was war denn nun schon wieder?
Ich konnte unmöglich erneut das Bewusstsein verloren haben, denn ich konnte noch denken und sah die Sonne, die noch immer am Untergehen war. Bevor ich fragen konnte, was denn los war, war er schon wieder bei mir. “Du brichst ihr ja noch das Herz”, sagte er. Wie bitte? Was…? Ach so. Mein Blick ging zu der Pflanze, die ich in den Händen hielt. Eine Sonnenblume. Warum auch immer, ich hätte sie am Stängel fast entzweit. Wie kam er aber nur auf Herz?
Meine Güte, ich werde diesen Mann nie verstehen, dachte ich frustriert. Okay, ich hattee wohl wirklich einen Dachschaden. Anders konnte ich mir absolut nicht erklären, wieso ich mir Gedanken um Tizian machte. Er war mein Feind, ein Sadist, der nur daraus aus war, seinen Opfern das Leben zur Hölle zu machen und rein zufällig gehörte ich dazu. “Die schöne Blume werde ich dir zu den Schulden dazurechnen”, hörte ich ihn sagen und fuhr herum.
Das durfte doch echt nicht wahr sein! Ich meinte schnippisch: “Das ist doch nicht dein Ernst! Du bist so was von kindisch!”. “Lass’ das mal mein Problem sein, du solltest lieber mal endlich fertig werden. Stell’ dir mal vor, dass ich auch noch ein Leben jenseits von dir habe, du nerviges Gör”, wies er mich ziemlich hart in die Schranken. “Männliche Zicke!”, gab ich zurück.
Trotzdem pflanzte ich aber die restlichen zwölf Pflanzen, die es noch zu pflanzen gab. Ich wollte vor Tizian einfach nur meine Ruhe haben. Mir ging es noch immer miserabel und außerdem war ich sehr müde. Das interessierte ihn ja kein bisschen, lieber drillte er mich weiterhin und die Krönung war ja noch, dass ich die vielen Plastiktöpfe, die nach der Aktion herumstanden, in den Müll befördern musste.
Nach diesem Tag fühlte ich mich so, als ob ich am Abgrund meines Lebens stehen würde. Dagegen war die Straße, auf der ich über drei Jahre lebte, der reinste Ponyhof gewesen. Ich begriff schließlich, dass ich hier, auf dieser Welt, total fehl am Platze war. Nur warum war mir das erst jetzt klar geworden?
Ein paar Tage verstrichen, in denen es mir nach wie vor nicht sehr gut ging. Immer wieder stellte ich mir die Frage, was ich auf dieser Welt machte, wenn ich eh nur dazu da war, um unterdrückt zu werden. Ja, in mir war jede Hoffnung auf eine Besserung in meinem verkorksten Leben gestorben. Tizian trug aber auch seinen Teil dazu bei.
Er behandelte mich schon fast wie Vieh und es scherte ihn kein bisschen, wie ich mich fühlte. Würde ich das überhaupt wollen? Nein. Ich verstand sowieso nicht, warum ich mir so viele Gedanken um Tizi machte. Musste wohl daran liegen, weil ich bei ihm lebte. Oder eher vor mich hin vegetierte.
Ich richtete mich auf und sah auf die Uhr. 06:54 Uhr. Meine Güte, wie früh! Ich hatte zwar mehr als acht Stunden geschlafen, aber das war trotzdem jenseits meiner üblichen Zeiten zum Aufstehen. Mir war klar, dass ich jetzt nicht mehr schlafen konnte. Es klang absurd, aber doch war ich mir sicher. Ich war ausgeschlafen und müde zugleich.
Was für ein Leben! Missmutig stieg ich aus dem Bett, da ich ein bestimmtes Bedürfnis verspürte. Ich hatte zwar Tizian versprochen, das nie wieder tun zu wollen, aber jetzt ging es mir viel schlimmer als vor ein paar Wochen. Zudem würde er mich dieses Mal nicht daran hindern können, da er um diese Uhrzeit bestimmt noch nicht wach war. Auch wenn er viel früher aufstand wie ich, das traute ich ihm nicht zu.
Ohne mich also großartig zu waschen und zurechtzumachen, ging ich in die Küche. Dann glitt meine Hand zu der Schublade, in denen die Messer lagen. Für meinen letzten Akt nahm ich extra das Schärfste und logischerweise Längste. In dem sanften Sonnenlicht sah es einfach nur zu schön aus.
Langsam ging ich den Gang entlang und überlegte nun, wo ich sterben wollte. Dann fiel mir der riesengroße Eingangsbereich ein. Wie es wohl aussehen würde, wenn der wunderschöne Marmorboden voller Blut war? Ich liebte dieses Schwarzweiß einfach so sehr und daher hatte ich schneller als erwartet den Ort gefunden. Hier würde mein langersehntes Ende also kommen.
Irgendwann würde der Eingangsbereich bestimmt einmal auch als Ballsaal fungieren. Tizian hatte zwar einen anderen Raum vorgesehen, aber ich fand diesen hier viel prächtiger. Schade eigentlich, dass ich das ihm nie erzählen können würde, schließlich würde ich da nicht mehr am Leben sein.
Mittlerweile war ich dort angekommen, wo ich sein wollte. Nur die Treppen trennten mich noch von dem Marmorboden. Bedächtig stieg ich Stufe um Stufe nach unten, bis ich dann endlich ankam. Ich freute mich und musste lächeln. Wahrscheinlich war das Lächeln eh nicht echt, da ich nie ernsthaft lächelte. Einst wurde mir gesagt, mein Lächeln wäre so kalt wie der Pluto und der war schließlich eiskalt.
Ich stellte mich fast unter die Treppe, denn mitten im Raum wäre mir dann doch zu dramatisch und schließlich war das dann nicht so eine große Sache. Wer würde mich schon vermissen? Niemand. Wer würde sich schon um meinen Verbleib sorgen? Niemand. Wer würde schon auf meine Beerdigung kommen? Niemand. Es würde keinen geben, da war ich mir sicher. Wenn mich Tizian erst mal leblos finden würde, würde er mich bestimmt irgendwo in seinem prächtigen Garten verscharren oder mich in seinem Keller verstecken.
Wer weiß, vielleicht würde er mich auch irgendwo ausstellen und damit prahlen, schließlich war er ein Sadist und dazu noch ziemlich arrogant. Ich hasste sowieso alles an ihm. Allein seine Fratze, die noch immer so rein wie eine Porzellanpuppe war. Und dieses dunkle Haar, was immer so schön glänzte. Ich hasste nicht nur ihn, sondern die ganze Welt. Auch mich.
Was war das bitte für ein Leben? Es war so was von sinnlos und daher war es für mich wirklich das Beste, wenn ich dem ein Ende machen würde, aber nein, ich musste ja gerade jetzt so viel rum philosophieren. Mein Blick ging zu der schönen Wanduhr. Es war bereits kurz nach sieben Uhr. Hm, bis Acht würde ich schon längst tot sein. Da würde Tizi mich schätzungsweise finden.
Jetzt aber genug nachgedacht, ich war bereit für meinen letzten Akt. Das Messer war nämlich nach wie vor in meiner rechten Hand und da ich hier eh nur in T-Shirt und Boxershorts stand, war es ein Leichtes, mir die Pulsadern aufzuschneiden.
Eigentlich waren die lässigen Shorts zum Schlafen etwas für Männer, aber ich hatte in meinem Zimmer, in dem ich schlief, welche gefunden und als mein Leben noch in Ordnung war, hatte ich ebenfalls Boxershorts getragen.
Ich lauschte der Ruhe und hörte dabei nur das Ticken der Wanduhr. Tick Tack. Tick Tack. Tick Tack. Das erinnerte mich schon fast an eine Zeitbombe. Die tickende Zeit. Nur lief sie bei mir viel schneller ab, als bei anderen Menschen.
Egal. Leicht strich ich mit dem überaus mächtigem Messer über mein linkes Handgelenk. Verdammt, das war ziemlich scharf! Ich hatte schon jetzt Kratzer, die mit Sicherheit noch bluten würden, wenn ich heftiger darüber streichen würde. Das, was ich aber vorhatte, war bei Weitem schlimmer.
Ich lächelte, denn ich wusste, dass ich das richtige Messer ausgewählt hatte. Langsam setzte ich es an meinem Handgelenk etwas unterhalb der Pulsadern an, damit ich mein gesamtes Handgelenk mit einem Zug aufschlitzen konnte. Bedächtig Langsam und dann…
“Lasse sofort das Messer fallen!”, schrie plötzlich Tizian oberhalb von mir und noch bevor ich reagieren konnte, rannte er auch schon ein paar Treppenstufen hinunter, ehe er auf das Geländer kletterte und sprang. Er landete dicht neben mir und wäre dabei noch fast auf den schönen Marmorboden geflogen, doch er schwankte nur und konnte sich gerade rechtzeitig fangen.
Schon war er bei mir. Mit einem flotten Handgriff hatte er mir daraufhin das Messer abgenommen und es ziellos über das Geländer geworfen. Er hatte damit genau auf einem seiner Geschichte-Gemälde getroffen. Direkt in die Pupille von Napoleon Bonparte.
Ich starrte das Portrait an, doch Tizi unterbrach mich. Er packte mich grob an mein linkes Handgelenk, welches durch den Druck, den ich zuvor mit dem Messer darauf ausgeübt hatte, blutete. Nur etwas, also halb so schlimm. “Spinnst du? Das Thema hatten wir bereits und ich dachte, dass ich mich klar ausgedrückt hatte!”, fing er auch schon an, mich anzuschreien.
Meine Güte, so wütend hatte ich ihn ja noch nie erlebt! Sein Gesicht war nicht ruhig und schön, sondern eine verzerrte Maske aus Wut. Seine Stimme war dagegen ebenso dunkel wie sonst. Nur richtig laut. Augenblicklich später spürte ich diese immense Gänsehaut, die ich an jenem Tag gehabt hatte, als ich ihm das erste Mal begegnet war und er mich im Wald bedroht hatte.
Es war still. Wir blickten uns in die Augen und ich wusste, dass Tizian eine Reaktion von mir erwartete, aber ich konnte nicht. Ich wollte das nicht. Lieber ging ich wie ein Häufchen Elend zu Boden. Tizi blieb jedoch stehen und fragte nach einer halben Ewigkeit: “Warum?”. Eisiges Schweigen, war das, was er von mir bekam.
“Antworte!”, herrschte er mich auf einmal an, woraufhin ich erschrak. Ich sah zu ihm auf, was ich nicht hätte tun sollen. Sein Blick schien mich förmlich zu durchbohren, was mich sehr angsterfüllt schlucken ließ. Ja, ich hatte irgendwie Angst vor ihm. Was würdet ihr denn tun, wenn vor euch so ein Riese stehen würde, der nebenbei sehr wütend war?
Ich konnte aber nichts dazu sagen, da mich das ziemlich überraschte. Was machte er schon so früh auf den Beinen? Klar, seine Firma und sein Fernstudium brauchen seine Zeit, aber er war so gut wie immer in der Villa. Was würde er nun mit mir machen? Ich kauerte mich in die Ecke unterhalb der Treppe und machte die Augen zu. Nein, ich wollte einfach nichts sehen, nichts hören und nichts fühlen.
Es machte mich kaputt. Er machte mich kaputt. Einfach alles. Täglich musste ich schuften, schuften und nochmals schuften. Ich musste mir Dinge an den Kopf werfen lassen, die nicht stimmten. Ich war nicht faul. Ich war nicht langsam. Ich war auch nicht … Tizi riss mich aus meinen Gedanken, indem er mich hochzog. Verdammt, der Griff war so hart!
Erschrocken schrie ich daher auf, doch das beeindruckte Tizian kein bisschen. “Was ist nur los mit dir? Rede doch mit mir!”, brüllte der Mann mich auch schon an und bildete ich mir das nur ein oder sah er wirklich dabei fassungslos aus? Nein, das konnte nicht sein. Wahrscheinlich wollte er das eh nur wissen, um mich damit dann nieder zu machen. So war es immer und so wird es immer sein.
Ich schüttelte daher mit dem Kopf. “Krystal…”, fing er an, doch dann kamen mir endlich ein paar Worte über die Lippen. “Nein, ich … ich kann nicht”, flüsterte ich ratlos, doch er ließ einfach nicht locker. Er meinte: “Doch, du wirst reden! Ich habe keine Lust mehr auf diese Spielchen!”, blaffte er mich weiterhin an und ich merkte schon, wie ich allmählich ebenfalls wütend wurde.
Rasch wich ich zurück und verschränkte die Arme vor meiner Brust. Ich sagte etwas lauter: “Von mir wirst du kein bisschen erfahren, hörst du? Das geht dich gar nichts an!”. “Oh doch, das werde ich!”, schrie er völlig von der Rolle und dann reichte es mir. So redete er nicht mehr mit mir! Ich war es Leid, so was von Leid!
“Wirst du nicht!”, keifte ich und holte mit meiner kleinen Faust aus. Ja, ich weiß, das war ziemlich lächerlich, aber damit wollte ich ihm zeigen, dass er nicht mehr alles mit mir machen konnte, was er wollte. Mir war aber ebenso klar, dass das nichts ändern würde. Es funktionierte nicht, denn ich ging ihm ja gerade mal zur Brust mit dem Schlag.
Wie lächerlich. Trotzdem trommelte ich wild und blind vor Wut auf ihn ein. Ich musste mich irgendwie abreagieren, auch wenn das keine gute Lösung war. Tizian aber sagte dazu nichts, sondern sah nur auf mich herab. “Ich hasse dich!”, schrie ich vor lauter Rage und fing an, auf ihn einzutreten. Mir war es so was von egal, wenn ich seine … heiligen Kronjuwelen treffen würde, denn ich war so sauer.
Dann aber erhob Tizian doch die Hand. Aha, wusste ich es doch, er war auch ein Frauenschläger. Passte gut zu ihm, trotzdem hörte ich nicht auf und das obwohl sich seine Hand immer weiter erhob. “Schlage doch zu! Na los, mache schon, mir doch egal, wenn du mich verprügelst!”, verrannte ich mich immer weiter in meine Wut. Es hatte sich einfach so vieles tief in mir angestaut und das musste raus.
“Verdammt noch mal!”, herrschte Tizian mich an und dann schnellte seine Hand zu meinem verletzten Handgelenk. Damit nicht genug, er zog mich, ohne auf meine Schmerzensschreie zu achten, in die Abstellkammer und verschloss sie rasch. Was würde mich dort erwarten?
Tizian’s Sicht!
“Was soll das?”, schrie sie völlig von der Rolle. Dieses Mädchen machte mich noch wirklich fertig. Ständig war es nur am zicken und schreien, aber das hier war nun einmal die rascheste Lösung, die mir eingefallen war. Mittlerweile fragte ich mich sogar selbst, warum ich ausgerechnet in die Abstellkammer gegangen war. Das Dumme war nämlich, dass das Licht in diesem Zimmer nur von außen angeschaltet werden konnte. Ich wusste genau, wenn ich den Raum aufsperren würde, dass Krystal sich heraus mogeln würde. Also blieb mir nichts anderes übrig, als dieses Gespräch, was mir schon jetzt so ziemlich auf die Nerven ging, im Dunklen zu führen.
Krys dagegen kamen wieder die Tränen. Auch wenn ich es kaum vernehmen konnte, aber da war ein Schluchzen. Sie war also wieder dabei, zusammenzubrechen. Das wievielte Mal war es? Ich wusste es nicht, aber das war mir gerade auch herzlich egal. Das Einzige, was ich wollte, waren Antworten. Schweigend stand ich also zur Sicherheit vor der Tür. Irgendetwas in meinem Inneren sagte mir nämlich, dass meine selbsternannte Sklavin diese sonst eintreten würde.
“Willst du wirklich nicht lieber reden?”, fragte ich, als Krystal ruhig war. Daraufhin vernahm ich ein Schnauben. “Nein, verdammt nochmal!”, schrie sie mich an und fügte weinend hinzu: “Ich sehe in meinem Leben einfach keinen Sinn mehr!”. Glaubt mir, als ich diese Worte gehört hatte, brannten in mir alle Sicherungen durch. Ich ging auf sie zu und schüttelte sie kräftig. Dann meinte ich: “Du dummes Gör, höre auf so etwas zu sagen!”. Anstatt ruhig zu bleiben, konterte Krystal: “Ja, ich bin dumm. Schließlich war ich dumm genug, um zu glauben, dass das Leben schön ist!”.
Auch diese Worte gingen nicht spurlos an mir vorbei, aber das würde ich nie vor ihr zugeben. Nie. Nicht, weil ich zu stolz dafür war oder Angst hatte, sie würde mich auslachen. Nein, ich wollte ihre Geschichte hören. Ihre Lebensgeschichte, die sie zu dem gemacht hatte, was sie war. Ein scheues und überaus unsicheres Mädchen, welches meinte, sich hinter dieser Maske aus Eis verstecken zu müssen. Ich war mir einfach so verdammt sicher, dass das alles nur Fassade war.
Krystal riss mich aber aus meinen Gedanken, in dem sie sagte, dass ich sie loslassen könne. Oh, ich hatte nicht bemerkt, dass ich sie noch immer festhielt. “Dann höre auf, so zu denken”, giftete ich sie streng an, nahm aber Abstand von ihr. Sie dagegen erwiderte: “Nein, hörst du? Ich werde nie aufhören so zu denken, denn ich weiß, dass das die absolute Wahrheit ist”.
Es war mit ihr zum Verrücktwerden. Dann kam mir ein Satz über die Lippen, der mit einem Schlag alles änderte. “Ich werde nicht zulassen, dass du dir das Leben nimmst”. In der Stille konnte ich hören, wie Krystal hart schluckte und sich zurückhielt. “Mir ist so was von gleichgültig, was du denkst, aber ich werde so etwas nicht dulden”, blieb ich sachlich.
Wieder hatte ich sie überrascht, denn erneut unterdrückte sie jegliche Reaktion, nur ein leises, kaum merkliches “Warum?”, presste sie aus beinahe zusammengepressten Lippen hervor. “Was lief in deinem Leben schief?”, fragte ich lieber, um abzulenken. Damit hatte ich sie aber noch mehr getroffen, denn jetzt schnappte Krystal nach Luft. Das würde mich aber nicht daran hindern, weiterzumachen. Ich wollte wissen, seit wann es in ihrem Leben bergab ging, woraufhin sie nur meinte: “Das … das geht dich gar nichts an! Lass mich einfach in Ruhe meine Schulden bei dir begleichen und gut ist”.
Sie verstand überhaupt nichts, was ich ihr auch sagte. “Du würdest mich sowieso nicht verstehen. Außerdem bin ich schon zu tief gesunken, um noch gerettet werden zu können”, flüsterte Krystal leise vor sich hin. Bei diesen Worten war ich derjenige, der schlucken musste, was sie leider auch mitbekam. Ich konnte ihren brennenden Blick auf mich förmlich spüren. Musste wohl daran liegen, dass ich mich hier viel besser auskannte und daher auch einen besseren Orientierungssinn besaß.
Mir war ganz und gar nicht gut. Warum dachte sie so? Warum nur? Verstand sie denn absolut nicht, was ich wirklich wollte? “Wer sagt denn auch, dass ich dich verstehen, geschweige denn retten möchte?”, harkte ich desinteressiert nach. Es tat einfach nur weh. Weh, so mit ihr umzugehen, aber was sollte ich schon anderes machen? Sie antwortete darauf nichts, sondern wurde immer nervöser.
Sie lief umher, was erstaunlich gut für so eine Abstellkammer war und stieß dabei gegen ein Regal. “Ah!”, schrie Krystal erschrocken auf, was ich nur mit einem höhnischen Lachen quittierte. “Das ist gar nicht lustig! Ich sehe hier gar nichts und bin auch noch mit dir eingesperrt!”, beschwerte sich das Mädchen. Ich aber ging nicht darauf ein, sondern meinte nur: “Das hebst du aber auf”. Bei ihrer Kollision mit dem Regal waren nämlich Putzmittel heruntergefallen.
“Bring mich hier weg!”, rief Krystal auf einmal. “Warum?”, wollte ich leicht überrascht über diese schüchterne Dominanz in ihrer Stimme wissen, woraufhin sie meinte: “Ich … es bringt mich durcheinander!”. Zum Schluss klang ihre Stimme sehr panisch, was mich dann doch aufhorchen ließ. “So, du willst also hier raus und dann vergessen, was war? Das kannst du vergessen, ich will wissen, was los ist!”, ging ich etwas barsch auf das eben begonnene Gespräch ein. Es würde interessant werden, da war ich mir sicher. Ihr Leiden war der beste Beweis dafür.
Krystal dagegen weinte bitterlich und ging erneut zu Boden. Hatte sie das nicht vor einer halben Stunde gemacht? Frauen. Ich würde sie wohl nie verstehen. Manchmal fragte ich mich sogar, warum ich das ernsthaft wollte. In meinen Kreisen war es nämlich normal, sich kein bisschen um das Leid anderer zu scheren. Dann fiel mir aber ein, dass ich mich nicht umsonst davon abgewandt hatte.
Genau deswegen stand ich hier mit einem Mädchen, das früher einmal auf der Straße lebte, in einer düsteren Abstellkammer. Wobei ich keine Angst kannte. Die war für mich schon längst überflüssig geworden. Nur, was war dann auf einmal mit Krystal los? Hatte sie Angst, weil sie nichts mehr sah? Oder tat sie nur so, um dieser ein wenig unangenehmen Konversation auszuweichen?
Bei ihr konnte ich mir nie wirklich sicher sein, was in ihrem kleinen Köpfchen vorging. Wie denn auch, wenn ich so gut wie gar nichts über sie wusste? Allerdings war ihr auch meine Vergangenheit nicht bekannt. Da stellte sich mir wiederum die Frage, warum ich ihr auch etwas erzählen sollte. Mich hatten die früheren Zeiten nicht so sehr aus der Bahn geworfen wie sie.
Zudem war ich auch um einige Jahre älter als sie. Versteht mich nicht falsch, ich bilde mir da überhaupt nichts drauf ein, nur merkte man den Altersunterschied von neun Jahren bei uns dann doch. Wenn auch nur ab und zu. Das musste ich Krystal dann doch lassen: Für ihre achtzehn Jahre war sie reifer wie manch anderer in meinem Alter. Nur versaute sie das mit ihrer störrischen Art.
Dieses Mädchen, was schon doch als junge Frau galt, war so unberechenbar und doch durchschaubar. “Tizian, bitte!”, riss mich ihre Stimme aus meinen Gedanken. “Wie bitte?”, fragte ich leicht verwirrt und wusste zuerst gar nicht, wie mir geschah. Krystal sagte: “Ich will hier raus, bitte”. Im Bruchteil von wenigen Sekunden wurde mir wieder alles klar.
Natürlich. Ich hatte sie hier eingesperrt, um etwas aus ihrer Vergangenheit zu erfahren oder sie zumindest besser zu verstehen. Sie schaltete natürlich auf stur. “Nein”, blieb ich hart und fügte hinzu: “Du kennst meine Bedingung”. “Mein Leben geht dich aber nichts an!”, keifte Krystal schon verzweifelt. Woher kam nur diese Verzweiflung? Ich meinte: “Dein Psychologe tut mir echt leid”.
Ich hörte, wie sie nach diesen Worten um Fassung rang. “Als ob ich meinem Leben je jemanden anvertrauen würde! Du spinnst ja wohl! Diese geldgierigen Psychologen und können mir so was von gestohlen bleiben!”, redete sie sich in Rage. Aha, also bei einem Psychologen war sie nie gewesen. Das war doch schon mal ein Anfang. Ein Anfang, der irgendwo enden musste.
Wie könnte ich sie denn noch unbemerkt aus der Reserve locken? Seelenruhig lehnte ich noch immer an der Tür und überlegte. “Sag mal”, begann ich, “wie lange lebtest du auf der Straße? Drei Jahre, richtig?”. “Was soll das denn jetzt? Das weißt du doch!”, brachte Krystal verwirrt hervor. Ich ging nicht darauf ein und meinte: “Da warst du fünfzehn. Wie mir scheint, hat deine Familie nicht einmal nach dir gesucht”. Ich wusste, dass ich sie mit dieser Schlussfolgerung getroffen hatte.
Sie gab nämlich zu dieser Aussagte nicht ihren Senf dazu. Lieber kauerte sie sich auf den Boden wie ein Häufchen Elend zusammen. Nachdem ich mich dicht vor ihr gebeugt hatte, - und so verhinderte, dass sie flüchten konnte - sagte ich: “Sie haben dich im Stich gelassen, nicht wahr?”. “Lass mich in Ruhe!”, schrie Krystal daraufhin aufgebracht.
Eins musste ich ihr lassen, sie konnte wirklich gut ausweichen oder abblocken, denn ich war noch immer keinen Deut schlauer aus ihr geworden. “Ich muss hier raus, ich bekomme keine Luft mehr!”, presste das Mädchen hervor. Was sollte ich dazu nur sagen? Irgendwie schenkte ich meiner Arbeiterin Glauben, doch noch würde ich sie nicht in die Freiheit entlassen.
Etwas in mir musste sie einfach noch etwas quälen. “Was du nicht sagst, Liebes. Ich habe aber gerade keine Lust, dieses schöne Gespräch hier zu beenden”, stieß ich geradezu gelangweilt hervor. Der Damm brach. Was mich nun erwartete, war ein ohrenbetäubendes Spektakel, wie es besser nicht sein konnte. Krystal weinte Rotz und Wasser, dazu begann sie, die Abstellkammer halb zu verwüsten.
“Ist gut”, sagte ich genervt und packte sie daher etwas hart an der Hüfte. Danach sperrte ich schließlich die Türe auf und dann endlich sah das Mädchen wieder Licht. Wir waren in der riesigen Eingangshalle, die von Licht nur so durchflutet wurde und Krystal atmete hörbar aus. Wieder machte sie Bekanntschaft mit dem Boden, sie musste wohl also wirklich die Wahrheit gesagt haben. Ich sah auf sie herab und sagte sogleich: “Und jetzt?”. “Danke…”, murmelte sie nur und atmete weiterhin lautstark ein und aus. Ich dagegen war darüber überhaupt nicht zufrieden.
Es war einfach nur schwer, etwas über sie herauszufinden. Sie selbst machte es mir schwer, was mich noch mehr ärgerte. Was sollte ich aber schon dagegen machen können? Alles, was ich bisher versucht hatte, war gescheitert. Daher beschloss ich, für heute die direkte Art aufzugeben. Für mich war das nämlich auch nicht sehr gut, wenn ich mich danach verzerrte.
So meinte ich also zu ihr: “Ich bringe dich in das Wohnzimmer. Dort kannst du dich ein wenig ausruhen, aber ich möchte irgendwann Antworten”. “Nicht heute”, flüsterte sie und sah mich mit ihren eisblauen Augen an. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter und ich nickte schweigend. Das war immerhin schon ein Kompromiss, was mich dann doch ein wenig lächeln ließ.
Langsam liefen wir die Treppen hoch. Ich hasste diese unangenehme Stille, die von uns beiden ausging, aber ich wollte einfach nur meine Ruhe haben. Als wir dann endlich im besagten Raum ankamen, erklärte ich ihr, wenn sie etwas bräuchte, solle sie es sich selber holen. “Was machst du?”, wollte sie wissen, was mich etwas verwunderte. Ich antwortete ihr matt: “Nichts”. Danach verließ ich den Raum und ließ sie allein.
Nun war ich also allein. Endlich. Zum Glück. Ich musste mich sammeln. Das, was gerade geschehen war, hatte mich getroffen. Zutiefst. Mir war so, als ob Tizian wirklich hinter meiner Seele blicken wollte. Fast hätte er es wohl auch geschafft. Ich war mir nicht mehr ganz so sicher, was Sache war. Er war mein Feind, sonst nichts. Jeder Mensch war mein Feind.
Nur, warum fragte er mich solche Sachen? Warum wollte er wissen, was in meinem Leben schief lief? Warum wollte er wissen, ob ich je bei einem Psychologen war? Wie kam er überhaupt auf diese absurde Idee? Was interessierte es ihn, dass ich drei Jahre auf der Straße lebte? “Und das Schlimmste ist, dass er fast dahinter gekommen wäre, dass mich meine Familie im Stich gelassen hat”, flüsterte ich leise.
Ich lag hier auf der Couch und war den Tränen nahe, daher fuhr ich einfach mit meinem Selbstgespräch fort: “Natürlich haben sie mich fallen gelassen, was denn auch sonst? Nur weil ich nicht ihren Idealen entsprach. Ich wollte nie so enden wie mein Vater. Meine Mutter war auch noch so dumm und blieb bei ihm”. Warum redete ich eigentlich darüber, wenn auch nur vor mich hin?
War das nicht egal? Nicht ganz, denn gerade tat es mir irgendwie gut, all das, was ich in mir herumtrug, laut auszusprechen. “Letztendlich bin ich noch tiefer gesunken, als meine jämmerliche Familie zusammen”, redete ich weiterhin mutlos vor mich hin. “Was ist daran so schlimm?”, fragte ich und legte mich auf den Rücken hin. Ohne jegliche Gedanken sah ich zu der weißen Decke.
“Mist”, sagte ich, “jetzt kommen mir schon wieder die Tränen”. Ehe sie aus meinen Augen herauslaufen konnten, wischte ich sie mit meinen dünnen Arm ab. Ich wollte nicht weinen, wollte nicht schwach sein. Das Einzige, was ich wollte, wurde mir eh nicht gegönnt. Daher sprach ich weiter: “Früher einmal hatte ich Spaß am Leben. Die Schule war mir schon fast das Wichtigste. Es hat mir ernsthaft Spaß gemacht, etwas zu lernen. Besonders über Geschichte”.
In meinem Hals bildete sich daraufhin ein dicker Kloß, der sich einfach nicht auflösen wollte. Tränen rannen mir über die Wangen, da ich sie nicht mehr zurückhalten konnte. Mein einst so schönes Leben glich einem blutigen Scherbenhaufen, in dem ich mich vor lauter Verzweiflung ertränken wollte. Fast hätte ich es auch geschafft, wäre Tizian nicht rechtzeitig dagewesen. Auch so eine Sache, die ich absolut nicht verstand. Warum um alles in der Welt hatte er mir das Leben gerettet?
Ich grübelte und doch wusste ich keinerlei Antwort darauf. Wollte er mich weiterhin leiden sehen? Genügten ihm die fünf Monate, in denen ich bereits bei ihm lebte, nicht? “Wahrscheinlich will er, dass ich langsam krepiere”, schluchzte ich und vergrub mein Gesicht in die weiche Decke, die Tizi mir noch zuvor gegeben hatte. Plötzlich hörte ich Schritte. Schritte, die mir so oder so ziemlich nahe waren. Ehe ich mich versah, wurde ich schon in eine Umarmung gezogen. Tizian.
Ungläubig und nicht fähig etwas zu sagen, vergrub ich mein Gesicht erneut in Etwas, diesmal in sein schwarz-rot kariertes Hemd. Nein, dieses Mal hatte ich nicht die Kraft, so zu tun, als wäre ich ein starkes Mädchen, welches Gefühle nicht kannte. So weinte ich stumm vor mich hin und schon bald war das Hemd von Tizian, was mir am Besten gefiel, in meinen Tränen ertränkt. Auch wusste ich, dass es nun an der Zeit war, zu reden. Wenn auch nur etwas.
Doch bevor ich damit loslegte, fragte ich leise: “Wie lange?”. Er verstand mich sogar und antwortete: “Verzeihe mir, ich habe in der Küche gelauscht. Somit habe ich alles gehört”. Seine Stimme klang geradezu traurig, was mich dazu veranlasste, zu sagen: “Du hattest Recht”. “Ich weiß”, meinte Tizi überaus niedergeschlagen und fügte hinzu: “Warum hat dich deine eigene Familie so sehr im Stich gelassen, dass du keinen anderen Ausweg als die Straße sahst?”.
Wie ein Häufchen Elend wisperte ich: “Mein… mein Vater ist Alkoholiker und meine Mutter hatte nie die Kraft, sich von ihm zu trennen. Ich kann von Glück reden, dass er mich in seinen Suff nie geschlagen hat”.
Beschämt schloss ich die Augen und fuhr fort: “Nur meine Mutter ließ sich alles gefallen. Ich ging auf die Straße, da auch meine Schwester von Zuhause weglief. Meinen Eltern war es so oder so egal, wo ich mich herumtrieb”.
Ich machte eine kleine Pause, doch Tizian sagte: “Das war, als du fünfzehn warst? Aber, ich verstehe dann nicht so ganz, was das mit der Schule zu tun hat”. “Nur so konnte ich doch ihre Aufmerksamkeit erhaschen. Durch Leistung. Ich puschte mich deswegen immer mehr und schon bald beachteten sie mich”, flüsterte ich, woraufhin Tizi meinte: “Lass mich raten, Geschichte war dein Lieblingsfach?”.
Ich entzog mich seiner Umarmung und nickte ihn stumm an. “Das habe ich mir schon gedacht. Mir ist nämlich nicht entgangen, dass du meine Gemälde ständig angestarrt hast”, sagte der Mann, der mir auf einmal ziemlich nett vorkam. Ich entgegnete: “Nach einiger Zeit war ich der Star der Familie, doch schon bald hackte mein Vater auf mich herum. Was ich mir denn einbilde, nur weil ich so gute Noten schrieb und das sich bei uns daheim nie etwas ändern würde”.
Mir versagte die Stimme. Ja, mir setzte das Gespräch mehr zu, als ich dachte und doch konnte ich nicht aufhören, weiterzuerzählen. Wenigstens über meine Familie sollte Tizian Bescheid wissen. “Du hast trotzdem weiter gelernt, nicht wahr?”, wollte er wissen, woraufhin ich geradezu verbittert erwiderte: “Ich war sogar die Beste auf diesem verdammten Gymnasium und das nur, weil ich wollte, dass meine Eltern stolz auf mich sind!”.
Tizian sah mich überrascht an und sagte: “Respekt. Und irgendwann konntest du nicht mehr oder wie soll ich das verstehen?”. “Nein, doch, also das stimmt nur so halb. Ich machte weiter, denn ich wollte wirklich so viel wie möglich lernen. Nur war mein Vater nach einiger Zeit sehr genervt davon. Meine Mutter dagegen fand das gut. Ich denke, weil ich mich daher fast nur noch in meinem Zimmer befand und so meinem Vater gut ausweichen konnte. Sie hatte Angst um mich. Angst, dass ich irgendwann an den Familienverhältnissen zerbrechen könnte”, gab ich ihm eine ausführliche Antwort, was Tizian bestürzt zur Kenntnis nahm.
Mir war es egal, ob er mir all diese Gefühle nur vorspielte, denn ich wollte, dass er wusste, was ich mit meiner Familie so durchmachen musste. Vielleicht konnte er mich etwas besser verstehen, was ich dennoch bezweifelte. Es tat nur jetzt, in diesem Augenblick, unheimlich gut, darüber zu reden. Warum sollte ich das also nicht tun? Sollte er mich doch auslachen.
Aber das tat Tizian nicht. Er nahm sich viel Zeit für seine nächsten Worte, die meiner Meinung nach sehr wirkungsvoll waren. “Für mich ist das gerade sehr unverständlich, wie du nur deine Intelligenz wegwerfen konntest”. Die Vorsicht in seiner Stimme ließ mich sogar etwas lächeln. “Ach Tizian, glaubst du, ich wollte das? Natürlich nicht, aber die Situation in meinem Elternhaus wurde immer unerträglicher. Hinzu kam auch, dass ich mich immer schlechter mit Samira verstand”, gab ich dann zu.
Tizi sah mich verwundert an, woraufhin ich meinte: “Sie ist meine Schwester”. “Die Samira? Also von der Lagerhalle? Die, die mir hinterher rennt?”, löcherte er mich mit Fragen, die ich nur mit einem Nicken bestätigte. Ich meinte dazu noch, dass das niemand wisse und dies auch so bleiben solle, was er auch respektierte. “Sie ist doch jünger als du, also warum war sie dann vor dir auf der Straße?”, wollte Tizian wissen. Ich antwortete: “Im Gegensatz zu mir hatte sie Freunde und manche waren bereits von Zuhause geflüchtet. Ich dagegen kapselte mich von meiner Umgebung ab, für mich zählte damals nur noch Leistung”.
Ehe Tizian dazu etwas sagen konnte, fragte ich: “Woher kennt ihr euch überhaupt?”. “Denke jetzt bitte nichts Falsches von mir, aber wir hatten eine kleine, heftige Affäre miteinander”, seufzte Tizi, woraufhin ich entsetzt die Augen aufriss. Meine kleine Schwester und er! Außer mir vor Wut wetterte ich: “Sag mal, spinnst du? Sie ist sechzehn und nicht einmal volljährig! Du kannst doch nicht…”, doch Tizian unterbrach mich.
Er meinte: “Rate mal, weshalb ich die Sache mit ihr beendet habe? Glaube mir, ich wusste nicht einmal, dass sie erst so jung ist! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ihr doch von Anfang an klar gemacht, dass das nichts mit uns wird”. “Ich glaube echt, ich bin im falschen Film! Wie lange ging das mit euch?”, versuchte ich, meine Fassung wieder zu bekommen, doch ich klang noch immer sehr aufgewühlt. “Es war nur der letzte Sommer. Als ich schließlich herausfand, dass sie erst sechzehn ist, habe ich die Affäre beendet”, sagte Tizi.
Okay, das war wirklich… hart. Langsam und wohlüberlegt, keifte ich: “So so. Du hast sie also nur für deinen Spaß benutzt, was? Ich verstehe mich zwar überhaupt nicht mehr mit ihr, aber das ist echt mies von dir! Deswegen hat sie nämlich auch so reagiert, als ich ihr sagte, dass ich bei dir war”. “Nein, so war das nicht! Ich bin nicht egoistisch und alle Frauen, die noch keine achtzehn Jahre sind, sind sowieso Tabu für mich! Ich habe ihr von Anfang an gesagt, dass das nichts Ernstes ist. Was kann ich dafür, wenn sie sich da in etwas verrennt? Außerdem habe ich ihr am Ende eindeutig zu verstehen gegeben, dass unsere Affäre beendet ist”, verteidigte sich Tizian überaus barsch.
Was sollte ich dazu sagen? Irgendwie glaubte ich ihm und gab dem nach. “Sie hatte schon immer das bekommen, was sie wollte. Schließlich war sie auch die Jüngere von uns beiden. Nie brauchte sie etwas Tolles leisten. Ihre Noten in der Schule waren hundsmiserabel und meine Eltern? Die standen voll hinter ihr und ich war vergessen”, kehrte ich ruckartig zum ursprünglichen Thema zurück.
Allmählich fügte sich das Puzzle um meine Familie zusammen, was mir jetzt jedoch unangenehm wurde. Peinlich berührt meinte ich: “Entschuldige, ich…”, doch Tizi unterbrach mich leicht barsch: “Rede weiter”. Er wollte noch mehr hören? Oh, ich wusste nicht, ob ich auf Kommando erzählen konnte. Dennoch bemühte ich mich: “Was soll ich dazu noch sagen? Mira hatte es um Einiges leichter, als ich. Hätte ich mich nicht monatelang in meinem Zimmer eingesperrt, um zu lernen, hätte ich vielleicht auch Freunde”.
Mitfühlend sah Tizian mich an und meinte: “Armes Mädchen, du hattest es mit deiner Familie wirklich nicht leicht. Weißt du wenigstens, wie es ihnen jetzt geht?”. “Nein, ich möchte sie alle nie wieder sehen und deswegen bin ich schon fast froh, dass ich hier, bei dir, gelandet bin”, gab ich ehrlich zu.
“Warum fing dein Vater überhaupt mit dem Trinken an?”, fragte mich der Mann, der noch immer so anders war. Ich antwortete: “Seitdem seine Firma, die er zusammen mit einem alten Freund geführt hatte, von einer raffgierigen Person übernommen wurde, war er nicht mehr derselbe. Er fing an, seinen Frust in Alkohol zu ertränken”. “Und deine Mutter ist trotzdem bei ihm geblieben”, staunte Tizian, woraufhin ich erwiderte: “Was blieb ihr denn sonst übrig? Wenn sie ihn verlassen würde, würde sie wahrscheinlich auch auf der Straße landen. Sie hat sonst niemanden mehr, er aber schon”.
Was für eine traurige Geschichte, dachte ich mir. Zum ersten Mal, war mir aufgefallen, wie armselig das doch alles war. Natürlich war mir das schon vorher klar gewesen, aber erst jetzt begriff ich, wie schlimm die Lage wirklich war. Und ich war mittendrin. “Ich weiß einfach nicht mehr weiter”, gestand ich Tizi und fügte hinzu: “in den Ecken meines Verstandes ist einfach nur gähnende Leere”.
Unschlüssig sah er mich daraufhin an und nahm meine Hand. Leicht entsetzt starrte ich darauf und fragte leise: “Warum hörst du dir all den Kram an, wenn du es doch so viel besser als ich hast? Ich ziehe das Elend magisch an, denn ich bin das Elend”. “Krystal, denke so was bitte nicht. Im Leben gibt es nun einmal Zeiten, in denen es überhaupt nicht gut läuft”, flüsterte er, doch mir kam es eher so vor, als ob er das nur so vor sich hin sagen wollte. Ich schüttelte bedächtig den Kopf.
“Vertraue mir”, bat er mich daraufhin sanft und wischte mir die Tränen, die sich schon wieder in meinen Augen gestohlen hatten, ab. Diese Worte. Vertrauen. Das war so ein großes Wort. Konnte ich ihm vertrauen? Ich wusste es nicht und doch sagte mir Etwas in meinem Inneren, dass ich das konnte. Trotz seiner kühlen und distanzierten Art. Aus diesen Gedanken heraus, meinte ich: “Ich … ich versuche es”.
Daraufhin lächelte er mich an und mir war so, als ob ihn Erleichterung umgab. Warum das denn? Ich verstand ihn gerade überhaupt nicht, woraufhin ich ihn nur verwundert anstarren konnte. In mir drehte sich so ziemlich alles. Noch immer saß ich auf dem Sofa und war von dem vielen Erzählen geschafft, zudem hatte sich Tizian noch immer nicht gerührt.
Er sah einfach nur umwerfend aus. Und sein Lächeln erst! Noch nie habe ich so ein warmes Lächeln gesehen. Warum aber, war Tizi so arrogant? Das war auch so eine Sache, die mir nicht klar werden wollte. Im Grunde genommen war er nämlich ein netter Mann. Vielleicht hatte ihn seine Vergangenheit ebenfalls geprägt. Daher fragte ich: “Du… sag mal, warum bist du eigentlich so?”.
Dieses Mal war er es, der mich anstarrte. “Wie …?”, wollte er wissen, woraufhin ich sagte: “Nun, du bist schon etwas … na ja, du haltest dich schon für etwas Besseres und distanziert bist du auch. Jetzt weißt du etwas über mich, da will ich auch Einiges über dich in Erfahrung bringen”. Seinen Blick, den er mir nach diesen Worten schenkte, konnte ich absolut nicht deuten.
Tizian überlegte. Ihm taugte es wohl auch nicht, über sich zu reden. “Das wirst du schon noch, denke ich. Ruhe dich lieber ein wenig aus, schließlich ist es erst kurz vor halb elf. Übrigens bekomme ich heute Abend Besuch, da wäre es äußerst gut, wenn du noch hier und da putzen könntest”, meinte er. Er hatte mich zwar abgewürgt, was ich dann doch unfair fand, doch ich war durch das vorherige Gespräch so befreit, dass ich nur eifrig nickte.
Wieder lächelte Tizi, was mich ein wenig unruhig werden ließ. Er jedoch blieb sachlich. “Ich koche uns ein gutes Mittagessen und dann erledigst du deine Aufgaben, ist das in Ordnung für dich? Bis dahin kannst du dich noch ausruhen oder was auch immer du willst”. Wie freundlich er auf einmal zu mir war! Das haute mich ja fast vom Hocker. Ich konnte nichts anderes, als zu strahlen.
Daraufhin entfernte er sich von mir. Ehe ich alleine war, meinte ich: “Danke, Tizian”. Er drehte sich noch ein letztes Mal um, musterte mich ausgiebig an und schien sich zu freuen. “Kein Problem”, sagte er noch und ließ mich zurück.
Ich atmete tief ein und aus. Das, was in den letzten vier Stunden geschehen war, war einfach nur … wow! Tizi hatte mir nicht nur zugehört, nein, er hatte mir sogar tiefes Mitgefühl vermitteln können. Nur das mit Samira wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. Wenn ich mir nur vorstellte, dass die beiden gemeinsam in der Kiste gelandet sind, drehte sich alles um mich herum.
Jedenfalls hatte Tizian auf mich nicht wirklich den Eindruck gemacht, dass er gehörig jüngere Mädchen, ganz besonders fast volljährige Teenager, bevorzugte. Stimmt, darüber hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht. Was für Mädchen beziehungsweise Frauen bevorzugte er am meisten? Im nächsten Moment aber fragte ich mich, warum mich das auf einmal so brennend interessierte.
Gut, er war gutaussehend, verdammt gutaussehend! Was seine Kleidung betraf, zeigte er sich sehr modebewusst und stilvoll. Nur bei seinen Manieren war ich mir nicht so sicher. Ich erinnerte mich zwar, dass er sehr gut mit seinen zwei Besucherinnen – an die Namen von ihnen erinnerte ich mich leider nicht mehr - umging, aber das konnte auch nur Fassade gewesen sein. Anderseits, warum sollte er so tun, als ob er ein guter Mann war?
Er war absolut undurchsichtig! Wie ein Glas, dass verstaubt war. Es kam bei einem Menschen schließlich nicht auf das Aussehen oder auf die Kleidung, die er trug, an, nein, mir kam es viel eher auf den Charakter an. Bei Jakob damals hatte ich mich schließlich von seinem Äußeren blenden lassen und okay, sein Seelenleben war mir auch bis an jenem Tag verborgen geblieben.
Tizian war aber irgendwie anders. Ich wusste es zwar nicht hundertprozentig, aber etwas in mir ganz tief drin sagte mir, dass ich ihm wirklich vertrauen konnte. Und vielleicht auch sollte. Schließlich lebte ich noch gut elf Jahre bei ihm. Mit ihm. Was danach wohl sein würde? Würde er mich sofort rausschmeißen oder würde ich - warum auch immer - bei ihm bleiben wollen?
Das war die Zukunft. Die weit entfernte Zukunft. Wie viel Leid müsste ich bis dahin noch ertragen? Wie viele Tränen würde ich bis dahin noch vergießen? Natürlich konnte ich mir keine der beiden Fragen beantworten. Nur die Zeit konnte das. Meinen kleinen Gedanken wurden ein Ende gemacht, als mich Tizian zum Essen rief. Meine Güte, wie die Zeit schon jetzt verging!
Auf dem kurzen Weg in die Küche - schließlich gelangte man ja nur durch ihr in das Wohnzimmer und in die Bibliothek - wurde der köstliche Geruch, der sich schon vor Minuten in der Luft geschlichen hatte, immer stärker. Mit geschlossenen Augen konzentrierte ich mich auf den köstlichen Duft, der mir noch irgendwann die Sinne rauben würde, wenn ich so weitermachen würde. Leise vor mich hin kichernd nahm ich schließlich Platz und riss schon beinahe entsetzt die Augen auf.
Tizian, der mir gegenüber saß, fragte besorgt: “Stimmt etwas nicht? Magst du keinen Fisch?”. Ich schüttelte heftig mit den Kopf, denn ich fragte mich, woher er nur wusste, dass ich Lachs mochte. Dazu gab es Reis und eine Soße durfte natürlich auch nicht fehlen. Der Mann hatte sich sogar noch die Mühe gemacht und Karotten in dünnen Scheiben geschnitten. Daher meinte ich lächelnd: “Ich frage mich nur, woher du weißt, dass das mein Lieblingsgericht ist”.
Daraufhin stahl sich auf seinen Lippen ein Lächeln. Und da fiel mir wieder auf, wie schön geschwungen sie doch waren. Wie es sich wohl anfühlte…? Moment! Stopp! Aus! Das konnte ja wirklich nicht wahr sein! Nur weil mir Tizian etwas sympathischer vorkam, hieß das noch lange nicht, dass ich gleich daran denken musste, wie es wäre, ihn zu küssen. Oder besser gesagt, von ihm geküsst zu werden.
Wieder sah dieser mich an. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck der Verwunderung, aber auch der Belustigung. “Wenn du nur immer so hinreißend grinsen würdest”, sagte Tizi, was mich im nächsten Moment alt aussehen ließ. “Was hast du gedacht?”, wollte er wissen, was mich in eine peinliche Lage brachte. Ich konnte ihm ja unmöglich sagen, was mir eben durch den Kopf ging!
“Nicht wichtig”, antwortete ich leicht schief grinsend und fuhr fort: “Zeit, zu essen. Ich habe einen wirklich großen Kohldampf”. Daraufhin tat ich mir Essen auf den Teller, reichlich sogar, daran merkte man, wie sehr ich Fisch, insbesondere Lachs, vergötterte.
Tizian tat es mir gleich. “Das schmeckt fantastisch, also von mir aus kannst du das jeden Tag machen”, schwärmte ich nebenbei und konnte es einfach nicht lassen, sein Mittagessen zu loben. Das quittierte er mit einem seligen Lächeln.
Leider musste auch das einmal sein Ende haben. Ich hatte mir viel Zeit gelassen, nicht, weil ich keine Lust hatte, seine Villa auf Vordermann zu bringen, sondern weil das Essen einfach zu köstlich war. Immerhin war auch alles aufgegessen worden. Tizian hielt mich bestimmt jetzt für einen Mähdrescher, der alles verschlang, was ihm unter die Räder kam. Dafür hatte ich jetzt einen vollen Magen und sprühte nur so vor Energie, die ich natürlich an meiner Arbeit auslassen wollte. Tizian half mir sogar dabei, wie ich verwundert feststellte.
Wir säuberten alles von hinten nach vorne. Meinen Raum brauchte ich nicht zu machen, mein Leben war zwar ein Chaos, aber da ich hier auch nur ein Gast war, achtete ich geradezu penibel darauf, Ordnung zu halten.
Das Zimmer von Tizi blieb mir dagegen noch immer unbekannt. Wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatte ich mich auch schon längst damit abgefunden, dass ich es nie zu Gesicht bekommen würde.
“Ich mache die Küche als nächstes”, sagte ich zu ihm, als wir uns zufällig auf dem rechten Gang trafen. Er meinte: “In Ordnung, dann kümmere ich mich um den linken Flügel”. Oh, daran hatte ich absolut nicht gedacht. Dann fiel mir allerdings ein, dass es dort bestimmt nur Staub zu wischen gab, da sich ja dort die Zimmer für seine Gäste befanden. Hier würde also sein Besuch übernachten.
Anderseits … die zwei Schönheiten, die vor einiger Zeit hier waren, durften auch in seinem Schlafzimmer übernachten. Na ja, wobei, die waren bestimmt auch zum Vergnügen da gewesen. Und da war wieder diese Neugier, die unbedingt wissen wollte, wie er sich sein eigenes, privates Reich eingerichtet hatte.
Voller Elan wusch ich das Geschirr ab, ich wusste zwar, dass es eine Spülmaschine gab, aber ich fand einfach, dass man das auch selbst erledigen konnte. Gedacht, getan. Es machte mir einfach nur Spaß. Nachdem ich die Teller, den Topf und die Pfanne, sowie Messer und Gabel abgetrocknet hatte, räumte ich besagte Sachen in die silbernen Schränke ein. Noch immer bewunderte ich den Stil von Tizian. Er wohnte dezent, aber dennoch elegant.
Nicht zu viel denken, ermahnte ich mich leicht lächelnd, sieh zu, dass du fertig wirst. Mein Tempo war einfach exzellent. Immer wieder begegnete ich auf meiner großen Putztour Tizi, der mich jedes Mal, staunend, aber auch anerkennend ansah und breit grinste. Das steigerte meine Motivation immens und ich legte noch einen Zahn zu, ohne mich dabei aber zu verausgaben.
Nach fast sieben Stunden hatten wir es geschafft: Die Villa glänzte geradezu nur so vor sich hin und es roch wunderbar nach Putzmittel, die den Duft von Zitronen hatten. Es war herrlich. Mittlerweile waren Tizian und ich in der Bibliothek gelandet. Sie war unsere letzte Station gewesen, denn dort gab es fast nichts zu tun. Nur die Regale und Bücher mussten vom Staub befreit werden.
Das war für uns kein Problem gewesen, denn wir waren quasi an der Quelle der Entspannung. Ich sah, wie Tizian sich ein Buch aus einem der vielen Fächer holte. “Du, Tizian?”, fragte ich und als sein Blick nun auf mich lag, beendete ich mich meine Frage: “Darf ich bitte den Code Napoléon noch einmal haben? Ich passe auch dieses Mal besser auf, dass er mir nicht aus den Händen gleitet”. Und siehe da: Tizi gewährte mir und so fing ich an, nach dem Buch zu suchen.
Ganz schön viele Regale, dachte ich, aber normal für eine Bibo. Lächelnd nahm ich die vielen Titel auf, die ich auf meiner Suche zu sehen bekam. Er hatte so ziemlich über alles Bücher, was ich sehr interessant fand. Plötzlich baute sich Tizian hinter mich auf. Ich erschrak und sah seine Hand, die schnurstracks zu einer der oberen Etagen glitt. Na da hätte ich bei meiner Größe lang suchen können.
Ich drehte mich um und sah zu ihm auf. Auch er sah mich nun an. In seinen Augen konnte ich Glanz erkennen, aber auch schien ihm etwas zu beschäftigen. Nur was? Allmählich merkte ich, wie ich unruhig wurde.
Was würdet ihr tun, wenn genau vor euch so ein attraktiver Mann wie Tizian stehen würde, der euch nebenbei beinahe die Luft zum Atmen nahm? Nur die Sonnenstrahlen, die durch die großen Fenster des Wohnzimmers Licht spendeten, ließen mich etwas sehen.
Noch immer stand Tizian vor mir, woraufhin ich mich an das Regal lehnte. Was hatte er nur vor? Sein Gesicht kam mir immer näher und ich dachte an einen bestimmten Gedanken. Würde er mich jetzt küssen? Doch zu meiner leichten Enttäuschung meinte er grinsend: “Du kleines Dummerchen. Ich habe die Bücher nach Alphabet eingeordnet. Ist dir das denn nicht aufgefallen?”.
Nach diesen Worten erschreckte ich mich etwas, denn ich hatte wie gesagt mit einem Kuss gerechnet. Daher wand ich mich aus dieser seltsamen Situation und meinte leicht beleidigt: “Nein, aber danke, dass du so freundlich warst und mir das Buch von da oben geholt hast”. Irritiert sah er mich daraufhin an, doch ich nahm ihm das kostbare Ding einfach aus der Hand und ließ mich auf einem der zehn Stühle nieder.
Tizian dagegen stand noch ein paar Sekunden vor dem Regal und starrte mich mit offenem Mund an. Schmunzelnd vergrub ich schon beinahe mein Gesicht in dem Code Napoléon, da mich dieses Buch wirklich interessierte. Dennoch ließ ich es mir nicht nehmen, ihn ab und zu deutlich von der Seite zu betrachten. “Willst du dich nicht auch wieder auf dein Buch stürzen? Was liest du da überhaupt?”. wollte ich wissen, woraufhin Tizi sich auf den Stuhl gegenüber von mir nieder ließ.
Eine kleine Weile blieb es still, doch dann antwortete Tizian: “Ich lese mir ebenfalls etwas über Geschichte durch. Nur bin ich schon in der Neuzeit, also dem zwanzigsten Jahrhundert, gelandet”. Danach sah er mich neckend an. “He, der war gemein! Nur weil Napoléon Bonaparte mein Lieblingsthema ist”, meinte ich leicht vor mich hin kichernd.
Er dagegen sagte: “Ich finde es übrigens toll, dass du dich so sehr für Geschichte interessierst”. Nach diesen Worten stoppte ich. Wieder musterte ich seine Augen, die nicht mehr glänzten, sondern mir tiefe und vor allem ehrliche Anerkennung zeigten. Nur leider sah er dann doch mehr auf sein Buch. “Danke … “, meinte ich langsam und überrumpelt, woraufhin er endgültig aufsah und sich unsere Blicke trafen.
Verlegen starrte ich daraufhin auf eine der vielen Uhren. Wir hatten es uns schon stolze zehn Minuten in die Bibliothek, die nahtlos die Mündung des Wohnzimmers war, bequem gemacht. Doch dann klingelte es an der Tür. Mit einem geradezu gequältem Seufzer raffte sich Tizi von seinem Platz auf und schlenderte Richtung Tür. Die Uhr zeigte Punkt zwanzig Uhr.
Kaum hörte ich das Echo der immer leiser werdenden Schritte von Tizian nicht mehr, machte ich mich auf den Weg. Langsam und leise ging ich Tizi hinterher, denn ich wollte unbedingt wissen, wer da vor seiner Türe stand und mir die schönen Momente von der Bibliothek zunichte gemacht hatte. Ich folgte ihm bis zu der scharfen Kurve, die zu der großen Treppe im Eingangsbereich führte. Dann blieb ich still.
Tizian öffnete mit einem gekonnten Ruck seine Eingangstüren und dann sah ich, wie ein Mann seine Villa betrat. Er war groß und blond, doch keine Konkurrenz für meinem Meister. Den einzigen Vorteil, den der Fremde verweise konnte, war der, dass er im Gegensatz zu Tizian überaus freundlich und charmant aussah. Also von der Mimik her. Ich hörte zwar die beiden ausgelassen reden, doch verstand ich kein Wort, da ich einfach zu weit weg war. Jedenfalls bildeten sich auf dem Gesicht des Mannes richtig süße Grübchen.
Die Männer umarmten sich sogar, doch dann erstarrte ich. Der Fremde sah mir genau in die Augen und ich wich zurück. Verdammt, dachte ich, er hat mich gesehen. “Du kannst ruhig herkommen”, hörte ich auf einmal Tizian laut sagen. Meinte er etwa mich damit? Klar, wen sonst? Was für eine dumme Frage. Ich wollte aber nicht und so hielt ich mich weiterhin zurück. Mir hätte aber auch klar sein sollen, dass das Tizian ebenfalls zu durchschauen wusste. Denn er meinte noch, dass das ein Befehl sei.
So trat ich also langsam und geradezu schüchtern hervor und sah, wie der Blonde neben ihn lächelte. Quatsch, der Kerl strahlte geradezu! Ich beachtete diesen aber nicht weiter, denn ich wurde das Gefühl nicht los, das Tizi mit seiner kleinen Aktion etwas bezwecken wollte. “Du verkaufst mich aber jetzt nicht, oder?”, keifte ich ihn schon leicht sauer an, doch beide Männer fingen an zu lachen. Sie wollten gar nicht mehr aufhören, was mich nur noch wütend schreien ließ.
In sekundenschnelle waren sie ruhig. Tja, so bekam Frau Mann ruhig. “Was wird das sonst?”, wollte ich wissen, woraufhin Tizian antwortete: “Das ist nur ein Freund von mir”. Dann sah ich zu den Blonden, der zu meiner immensen Überraschung vor mir einen Hofknicks mache. “Ich bin Justin”, stellte er sich vor und drückte mir einen sanften Kuss auf die Hand. “Wow”, sagte ich, “wie höflich! Du bist ja echt das komplette Gegenteil von Tizian”.
Ich war sofort beim Du, denn der Mann sah nicht sehr viel älter als Tizi aus, der uns nur schweigend beobachtete. “Ach und ich bin Krystal”, plapperte ich munter weiter, da es mir so was von egal war, was der Fremde, äh Justin, von mir hielt. “Schöner Name”, meinte dieser breit grinsend, was mich verunsicherte. Er war wirklich anders als Tizian, was mir sehr gefiel.
Apropos, Tizi war ja noch immer still, regte sich aber jetzt. “Ab ins Wohnzimmer”, sagte er und wir machten uns auf den Weg. Als wir in der Küche ankamen, befahl mir Tizian sofort, Getränke und etwas zu Essen zu besorgen. Hätte ich mir denken können. Vor seinem Freund musste er sich wie der Kaiser von China höchstpersönlich aufspielen und so fügte ich mich seinem Befehl. “Ich helfe dir dabei”, bot sich Justin an, woraufhin ich ihn mit großen Augen ansah. Leicht abwesend meinte ich: “Wenn das für Tizian in Ordnung ist, dann tu, was du nicht lassen kannst”.
Ja, ich war nach wie vor etwas distanziert, doch ich mochte ihn bereits. Er war einfach nur lieb und nett, wie ich so eben feststellte auch hilfsbereit. Tizi sagte einfach gar nichts dazu und so half Justin mir die Gläser und Limonade in das Wohnzimmer zu tragen. Danach waren Brot und verschiedene Belege dran.
Es war wirklich ungewohnt, hier mit zwei Personen zu sein, denn die meiste Zeit über war ich alleine oder nur Tizian bei mir. Jetzt aber saß hier außer Tizi und mir noch Justin, der mich immer wieder anlächelte. Ich hatte es mir auf den Sessel bequem gemacht, während die Männer sich die Couch teilten. Nachdem dies gesehen war, hauten wir alle rein, denn wir mussten auch etwas essen.
Nebenbei fingen wir ein Gespräch miteinander an. Wie unterhielten uns gerade über … Beziehungskisten. Besser gesagt erzählte Justin etwas über sich und Tizian hörte ihm zu oder sagte ab und zu dazu etwas. Ich aber blieb ganz still, denn ich hielt mich bei solchen Dingen lieber ganz raus. “Es ist wirklich nicht toll, jeden Morgen alleine aufzuwachen und jede Nacht alleine einzuschlafen”, seufzte Justin.
Armes Kerlchen. Er war also allein. So wie ich. Bei Tizian wusste man ja eh nicht, was er so tat. “Dabei bist du doch so ein toller Bursche”, meinte Tizi mit mit einem Hauch Sarkasmus und ich sah entsetzt zwischen den beiden. Immer wieder rollten meine Augen zwischen Blondie und Dunklie her. Ja, sie hatten einen weiteren Spitznamen von mir erhalten. Passte aber auch zu ihnen.
Was mich aber dann doch beunruhigte, war die Tatsache, dass niemand von den Männern lachte oder die Bemerkung von meinem Vorgesetzten kommentierte. “Ihr seid doch Freunde, oder?”, fragte ich, woraufhin mich beide leicht irritiert anstarrten. Jedoch bejahten sie, was mich wieder ruhig werden ließ. “Du hast mir gar nicht erzählt, dass deine Frau so liebreizend ist”, meinte auf einmal Justin und sah mich an.
Bitte? “Du hast… was?”, wollte ich entsetzt wissen. “Du kannst doch nicht einfach so erzählen, dass wir verheiratet sind!”, keifte ich Tizian wütend an, der nur ruhig meinte: “Damit meinte ich nur, dass du die Frau bist, die bei mir in der Villa lebt”. Ja klar, dachte ich, und ich bin Jesus. Ha ha. “Oh, dann ist sie also nur deine Freundin?”, harkte Justin nach.
“Was soll der Mist denn jetzt? Natürlich bin ich nicht seine Freundin! Also echt, er hat mich hier nur halb versklavt, sonst nichts”, blaffte ich Jus mit einem säuerlichen Blick auf Tizian an. “Entschuldige”, meinte der Blonde schon etwas kleinlaut, was mich zu ihm blicken ließ. “Schon gut”, nahm ich seine Entschuldigung müde lächelnd an.
Tizian dagegen sagte: “Ich habe nie behauptet, sie sei meine Frau oder Freundin”. Schon klar, dachte ich nur und schnaubte. “Seid ihr verwandt oder wie habt ihr euch kennengelernt?”, bohrte Justin weiter nach. Der war ja neugierig! Ich antwortete: “Nein, sind wir auch nicht. Er ist nur mal mit meiner kleinen Schwester in der Kiste gelandet und ich bin hier, weil ich seine eine Skulptur von ihm versehentlich kaputt gemacht habe beziehungsweise, ich ihn angerempelt habe und das Ding auf den Boden gefallen und in tausende von Scherben zerbrochen ist”.
Nach diesen Worten von mir hellte sich die Miene von Jus auf, er strahlte geradezu. Was war denn jetzt los? “Das heißt also, ihr seid weder irgendwie ein Paar oder verwandt?”, fragte er, woraufhin ich nickte. “Schon fast schade, wie so eine hübsche Frau wie du alleine sein kann”, machte mir Justin ein Kompliment, was mich leicht rot werden ließ.
Er fand mich hübsch? Völlig entgeistert starrte ich ihn an und wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Verlegen stammelte ich schließlich: “Ehm, danke”. “Umso öfter ich dich ansehe, umso weniger kann ich es verstehen”, beharrte Jus auf seine vorherigen Worte. Was sollte das denn? Mal sehen, wie er reagiert, wenn ich mich davon nicht beeindrucken lasse, dachte ich mir leicht schmunzelnd und sagte laut: “Schleimer”.
Daraufhin hörte ich ein Lachen. Es war nicht von das Justin, sondern das von Tizian. Der typische Spott lag nämlich darin. “Was ist daran so komisch?”, giftete ich, was ich bereute. Tizi war nämlich noch immer nett zu mir. Entschuldigend sah ich ihn an, was er aber nicht beachtete. Lieber entgegnete er: “Es ist nur immer wieder amüsant, dir beim Reden zuzusehen. Du hättest deine Blicke sehen müssen. Eigentlich freust du dich doch über die Komplimente, also zeige es auch”.
Beschämt schloss ich meine Augen. Das durfte wirklich nicht wahr sein! Jetzt bespannte er mich auch noch! “Du machst mich echt verrückt”, murmelte ich vor mich hin, doch sein Freund war lauter: “Schon gut, aber ich habe das ernst gemeint”. Nun sah ich auf und erblickte das lächelnde Gesicht von Justin. Unbehagen machte sich in mir breit, dieses Gespräch wurde mir irgendwie immer unangenehmer.
“Jetzt ist aber mal gut”, meinte ich fest entschlossen. “Warum?”, wollte Jus etwas perplex wissen, woraufhin ich antwortete: “Es gibt doch wohl noch andere Themen, als solch niederträchtiges Zeug”. “Hast du schlechte Erfahrungen gemacht?”, fragte er mit besorgter Stimme, was mir einen Stich mitten in mein Herz versetze. Nein, sagte ich zu mir, du bleibst jetzt ruhig, er kann ja nicht wissen, was passiert ist.
Ich sah ihn mit großen Augen an, da ich nicht in der Lage war, auch nur ein Wort zu sagen. “Nein”, sagte Tizian auf einmal, “Krystal hat nur einen speziellen Charakter, der an der Oberfläche für die Menschen abstoßend ist”. Was hatte er da eben von sich gegeben? Hatte ich da richtig gehört? Wie kam Tizi denn nur darauf? “Ehm,… ja”, machte ich und hätte mich am liebsten geohrfeigt. Ich war achtzehn und kein Kleinkind mehr. Und trotzdem stammelte ich wirres Zeugs. Ja, manchmal war ich wirklich seltsam.
“Wie wäre es denn, wenn wir mal eine Pause bei diesen Gespräch machen und uns einen Film ansehen?”, durchbrach Tizian diese unangenehme Stille, die uns alle erfasst hatte. Wir stimmten zu und der Herr des Hauses schaltete seinen Fernseher ein, der für die sonstigen Verhältnisse der Villa recht normal war.
“Du kannst übrigens abräumen, aber nur das Abendessen. Dann hast du die Ehre und darfst uns Snacks holen, wo diese sich befinden, weißt du ja. Ach und hole doch gleich neue Getränke”, gab mir Tizi lauter Befehle, denen ich mit einem leisen Schnauben nachging oder besser gesagt wollte. Jus hielt mich sanft am Arm fest, woraufhin ich ihn nur fragend anstarrte.
Er jedoch ging nicht darauf ein und fragte Tizian, warum er so gemein zu mir war. Dieser antwortete: “Du kennst sie nicht, Justin. Ich weiß schon, wie man mit ihr umgehen muss. Lehne dich zurück und lasse dich bedienen”. “Hey, ich bin nicht deine Sklavin! Also zumindest nicht eine, die man so derart schlecht behandeln kann!”, schrie ich ihn empört an. Gespielt verwundert und enttäuscht sah Tizi mich an und fragte: “Nicht?”.
Wollte er mich provozieren? Ich wusste nicht, ob das gewollt war, aber ich war schon leicht gereizt. “Tizian, jetzt sei doch nicht so. Sie ist doch total nett”, setzte sich Justin wirklich rührend für mich ein, woraufhin ich ihn leicht anlächelte. Er lächelte zurück. Tizian aber zerstörte diesen schönen Moment, in dem er sagte: “Du hast hier gar nichts zu machen und Krystal, ich warte nicht ewig”.
“Ja doch!”, keifte ich und ging los. Justin war nichts anderes übrig geblieben, als wieder auf dem Sofa neben Tizian Platz zu nehmen. Zuerst räumte ich das Zug vom Abendessen wieder in die Regale ein, was sich eher nach einem Akt der Auslassung meiner Wut anhörte, denn ich war schon recht laut. Na ja, danach packte ich das dreckige Geschirr in die Spülmaschine, denn ich wusste, wenn ich dieses Zeug abwaschen würde, würde ich garantiert etwas kaputt machen und ich verspürte nicht die Lust, noch länger hier bleiben zu müssen.
Danach kam ich zurück in das Wohnzimmer, in dem es still war. Die Männer sahen zum Bildschirm. Zum Schluss räumte ich das gesamte Fach, in dem die Snacks waren, aus und knallte diese auf den Tisch direkt vor Tizi, wobei Einiges auf seinem Schoß und auf dem Boden fiel.
Zum Schluss verschwand ich aus dem Wohnzimmer, denn ich konnte es gerade wirklich nicht ertragen, so behandelt zu werden. Nur die raschen Schritte, die mich verfolgten, reagierten auf das, was ich eben geschehen war. Wer würde mir wohl folgen? War es Tizian oder Justin?
Ich drehte mich nicht um. Das würde ich nie im Leben tun, denn mir war es so was von egal, wer mich da verfolgte. Insgeheim hoffte ich aber dennoch, dass es Tizian war, der mir nicht von der Seite wich. Ja, ich hatte wirklich etwas Vertrauen zu ihm aufgebaut, auch wenn ich mir gerade nicht mehr so sicher war, ob das einen Sinn besaß. Warum musste er auch immer so komisch zu mir sein?
Zuerst keifte er mich in einer Tour an und grinste mich dabei unverschämt an, aber wenn es mir hundsmiserabel ging, war er für mich da. Mir schoss so vieles durch den Kopf, dass ich gar nicht darauf achtete, dass jemand zu mir sprach. Ich war sogar schon leicht weggetreten, denn sonst würde ich hier bestimmt nicht im Halbdunklen - Fackeln an der Wand sei Dank! - herumstolpern.
Erst als ich in der kühlen Nacht ankam und mir die frische Luft nur über mein Gesicht und die Ohren strich, nahm ich eine Stimme wahr. “Verschwinde!”, schrie ich völlig von der Rolle und lief einfach weiter. Es ging sogar so weit, dass ich auf der Seite des Wohnzimmers war, wie ich später herausfand.
Zwei Arme, die sich um mich schlangen, konnten mich allerdings stoppen. Ich konnte einen starken und zugleich warmen Körper an meinem Rücken spüren. Es blieb still, denn ich konnte nichts machen. Mir war es absolut gleich, wer da hinter mir stand, ich genoss einfach diesen Moment. “Ganz ruhig, Krystal. Ich bin es nur, Justin”, hörte ich eine charmante Stimme zu mir sagen und obwohl es noch immer etwas windig war, konnte ich seinen warmen Atem auf meinen Kopf spüren.
Was sollte das denn? Eigentlich wollte ich das nicht, doch das tat einfach nur gut. Wie sonst hatte mich Tizian wieder total mies behandelt. “Warum seid ihr so verschieden?”, fragte ich leise, woraufhin mir Jus sanft antwortete: “Weißt du, Tizian ist einfach so ein Mensch, der die Kontrolle über alles und jeden braucht. Da passt es ihm natürlich überhaupt nicht, wenn man sich gegen ihn stellt”. “Ich hatte ihn nicht für so egoistisch gehalten”, gab ich hörbar angefressen zu.
Justin sagte dazu nichts mehr, sondern zog mich zu sich. “Hast du dir jemals die Sterne am Himmel angesehen?”, wollte er wissen, was mich leicht verunsicherte. Stammelnd sagte ich: “Ehm, … ja”. “Ich mache das total gerne, nur ist es mit einer Frau an meiner Seite viel schöner”, sprach der Blonde weiter und sein Blick ging zum dunklen, aber klaren Himmel. Wenigstens nannte er mich nicht Mädchen oder Göre oder wie auch immer.
Das mochte ich bereits jetzt schon an ihm. Er behandelte mich gut und respektierte mich. Ja, es schien so, als ob Jus und ich auf einer Wellenlänge waren. Und trotzdem fühlte es sich sowohl richtig als auch falsch an. Ich stand hier zusammen mit einem fremden Mann, der mich in seinen Armen hielt. Früher hätte ich ihn sofort von mir gestoßen und ihn angeschrien. Und jetzt? Jetzt genoss ich einfach diese schönen Momente, die man mir so selten gab und wünschte mir schon fast, dass diese nie enden würden.
Ich wand mich aus der Situation. Irgendwie kam ich mir ein wenig benebelt vor. Mein Blick glitt zu Justin, der schon seit einer Weile zu mir herabsah. Er lächelte. Ein leicht ungewohntes Gefühl breitete sich in mir aus. Wärme. Ich konnte nicht anders, als ihn auch anzulächeln. Jus dagegen ging mit seinem Gesicht immer näher zu mir und ja, ich wollte es. Daher stellte ich mich auf die Zehenspitzen und schloss meine Augen.
Bevor es aber zu einem Kuss kommen konnte - seine Lippen berührten schon meine - nahm ich die Stimme von Tizian wahr. “Wenn ihr hier weiterhin in meinem Garten steht, euch anstrahlt und nicht die Finger voneinander lassen könnt, dann werfe ich euch sehr gerne den Schlüssel zu meiner kleinen Laube hinunter!”, rief er uns zu. Erst da realisierte ich eigentlich, was ich fast getan hätte. Ich wich zurück.
Tizi hatte uns wohl schon eine ganze Weile beobachtet, denn als ich zu ihm sah, stand er ziemlich gelangweilt am offenen Fenster. Als ob das schon nicht genug wäre, hatte er Justin und mich problemlos hören können. Wir standen nämlich genau seitlich da. Wie peinlich! Beschämt starrte ich auf den Boden. Jus schien das aber egal zu sein, denn er meinte überaus gierig: “Liebend gern. Dann wirf den Schlüssel doch endlich zu mir und wir lassen dich in Ruhe!”.
Wie…? Ach, du meine Güte! “Stopp!”, schrie hysterisch, “Was soll das denn?”. Mit einem Lächeln antwortete er: “Ich dachte, dass wir zwei uns ungestört unterhalten wollen”. “Nichts da! Ich gehe nach oben!”, keifte ich völlig durcheinander und wollte schon los stampfen, doch er hielt mich fest. “Was ist?”, wollte ich wissen, woraufhin er meinte: “Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht bedrängen oder ähnliches, verstehe mich bitte nicht falsch, aber ich finde dich sehr sympathisch”.
Justin sah mich mit einem ziemlich traurigen Blick an. Oh man, das wollte ich nun auch nicht. “In Ordnung”, sagte ich, “aber tu mir den Gefallen und trete mir nicht noch einmal zu nahe”. Gegen Schluss klang meine Stimmer wieder so gleichgültig wie immer, was mich beruhigte. “Na los, schert euch hoch”, unterbrach Tizi das Gespräch zwischen Jus und mir überaus barsch.
“Krystal?”, fragte Justin leise, als ich schweigend ein Stückchen vor ihm herlief. “Was ist?”, wollte ich noch immer leicht durch den Wind wissen, woraufhin er meinte: “Ich hoffe doch, dass wirklich alles in Ordnung ist”. “Sagte ich doch”, erwiderte ich trocken. Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen blieb ich stehen und wartete, bis der junge Mann bei mir angekommen war.
Was Tizi nun tun würde? Würde er heute überhaupt noch mit uns sprechen? Ich hatte Angst. Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Vielleicht war das gerade ein großer Fehler gewesen. Ich nahm mir vor, mich bei ihm zu entschuldigen, denn sonst war ja alles ganz gut gewesen. Wir hatten Spaß gehabt und uns nett unterhalten. Nur als es um Justin ging, hatte Tizian ziemlich seltsam reagiert und so beschloss ich, ihn morgen, wenn Jus nicht mehr hier war, darüber auszufragen.
Mittlerweile waren wir bei der großen Tür angekommen. Tizi stand bereits da und sah mich mit einem vernichtenden Blick an. Was war denn nun wieder? Bevor ich etwas sagen konnte, unterbrach er mich. “Ins Wohnzimmer mit dir, ich muss dringend ein paar Worte mit deinem neuen Lover sprechen und da hast du nichts zu suchen. Wir kommen gleich zu dir hoch”, meinte er mit einem scharfen Unterton in seiner dunklen Stimme.
Schon wieder hatte er so eine spitze Bemerkung vom Stapel gelassen. Irgendetwas war faul. Außerdem verdrehte er eindeutig die Tatsachen. „Zwischen Justin und mir ist nichts!“, stellte ich eisern klar oder besser gesagt, ich versuchte es. Leider verdunkelte sich der Blick von Tizian noch mehr, woraufhin es mir eiskalt über den Rücken lief. Trotz allem bekam ich ein Nicken zustande, womit ich ihm signalisierte, seinen Befehl sofortige Folge zu leisten.
Mit wackeligen Beinen ging ich los und kam wieder bei den Fackeln vorbei. Sie wurden durch grünes Glas abgeschirmt, sonst wäre das Feuer ja auch zu gefährlich. Mein Blick heftete sich einen kleinen Augenblick auf ihnen - mich faszinierte das Grün total - bis ich schließlich doch weiter ging. Ein kleines bisschen war ich ja schon neugierig.
Trotzdem tat ich, was mir befiehlt wurde. Ich hatte ja auch keine andere Wahl und mir war es dann auch doch gerade egal, was die beiden zu besprechen hatten. Hauptsache sie hielten mich da raus. Mich beunruhigte nur, dass ich ihre Stimmen bis hier, zum Wohnzimmer, hören konnte. Leider verstand ich nicht, um was es ging, aber es war natürlich Tizian, der die Kontrolle über das Gespräch besaß.
Als sie zurückkamen, konnte ich überhaupt nichts in ihren Mienen lesen. Nur Justin lächelte mich breit an und setzte sich neben mich auf dem Sofa. Als ob gar nichts gewesen wäre! Tizi dagegen machte es sich auf den Sessel bequem, woraufhin sich ein dicker Kloß in meinem Hals bildete. Er hätte genauso gut rechts neben mir Platz nehmen können. Warum hatte er das nicht getan?
Ich traute mich absolut nicht, ihn das zu fragen, denn meiner Meinung nach war diese Frage komisch. Was würde er nun dann von mir denken? Er musste ja nicht neben mir sitzen. Hier gab es schließlich genug Plätze. Außerdem lag das ganze Zeug zum Knabbern auf den Tisch. Er würde sich also auch von dem Sessel aus etwas nehmen können.
Meine Stimmung war jedenfalls in den Keller gefallen. Wir alle schwiegen. Oh man, das war ja kaum auszuhalten! “Na?”, fragte ich daher, woraufhin mich Jus fragend ansah. “Ich dachte mal, dass ich etwas sage, sonst rosten noch unsere Stimmbänder von diesem eisigen Schweigen ein”, sagte ich. Justin neben mir lachte herzhaft und Tizi? Er blieb weiterhin ruhig und rollte mit den Augen.
Dabei wollte ich doch gerade ihn zum Reden bewegen. Plötzlich erblickte ich eine Hand genau vor meinem Gesicht. Es war der Blonde, der meinte: “Pass auf, dass du von dem vielen Gaffen nicht einschläfst”. Ertappt. Ich wusste zwar, dass er den Spruch nur aus Spaß gesagt hatte, doch kam ich mir ziemlich blöd vor. “Mh”, machte ich nur und griff nach einer Tüte Salzstangen.
Ich berührte etwas warmes, was natürlich auf keinen Fall Snacks sein konnten. Tizian hatte sich ebenfalls ausgestreckt und nahm mir die Salzstangen direkt vor meinen Augen weg. “Hey, das sind meine!”, sagte ich, doch er erwiderte nur: “Hier gibt es noch genug anderer Sachen zum Snacken”. Wieder machte er mich wütend und so keifte ich: “Du bist so was von unverschämt!”.
Nach diesen Worten ließ er die Tüte auf dem Sessel sinken und schnellte zu mir rüber. Den Griff kannte ich nur zu gut. Langsam aber sicher fragte ich mich, warum er es immer wieder auf meine Handgelenke abgesehen hatte. “Unverschämt sagtest du? Du willst dich also im allen Ernstes mit mir um Salzstangen streiten? Hast du noch nie etwas von `teilen` gehört? Meine Güte, du bist manchmal wirklich unausstehlich!”, raunte er mir verdächtig wütend ins Ohr zu und ich spürte nur, wie sich mein Puls verdoppelte.
Quatsch, da war mehr! Selbst mein Herz klopfte nun unruhig, was ich aber absolut nicht zu deuten wusste. Verunsichert zickte ich: “Lass’ mich los!”. Er lächelte mich aber nur süffisant an und daher blickte ich hilfesuchend zu Justin, der einfach nur still dasaß und zusah. Was lief ihr eigentlich? Erst redete er ununterbrochen mit mir und jetzt? Jetzt scherte es ihm nicht einmal, dass mich Tizi von oben herab behandelte!
Hatten sie etwa irgendetwas mit mir vor? Ich begann, mich hektisch zu bewegen und schlug um mich. Natürlich ließ Tizian das nicht durchgehen. Er drückte mich auf das Sofa, was mich an jener Szene im Auto erinnerte. Dieses Mal würde ich aber nicht so lahm reagieren. Ich war innerlich noch ziemlich geladen, was er auch zu spüren bekam. Nachdem ich ihm mein Knie zwischen die Beine gerammt hatte, fiel der ach so große Tizian seitlich auf den Boden.
Justin sah mich mit großen Augen an, aber ich beachtete ihn gar nicht mehr. Schnell richtete ich mich auf und sagte: “Das geschieht dir recht! Du müsstest mich gut genug kennen, um zu wissen, das ich so was absolut nicht leiden kann! Wir sehen uns morgen früh!”.
Als ich an seinem Sessel vorbeikam, meinte ich aber noch: “Die nehme ich aber trotzdem mit. Gute Nacht!”. Und schon hatte ich mir die Salzstangen gegriffen. Dann rannte ich auch schon n mein Zimmer und verschloss die Tür. Den schmerzverzerrten Blick von Tizian würde ich aber trotzdem nie vergessen.
Ich atmete schwer ein und aus, denn ich wusste, dass ich soeben einen großen Fehler begangen hatte. Nur sah ich einfach keinen anderen Ausweg. Wie sollte Tizian denn sonst verstehen, dass er nicht alles mit mir machen konnte? Irgendwie musste ich es ihm ja zeigen. Plötzlich rannen mir glühend heiße Tränen über die Wangen. Warum, wusste ich nicht.
Das schlechte Gewissen suchte mich wohl heim. Das war unfair gegenüber Tizi gewesen, vielleicht sollte ich mich dafür entschuldigen. Nicht heute, sondern morgen. Ja genau! Und dann würde alles gut sein.
Erst einmal wollte ich nichts anderes als schlafen. Ich war müde, verdammt müde. Nachdem ich mich entsprechend angezogen hatte, drehte ich mich auf das Bett und lag mit dem Rücken zur Tür. Mein über und über mit Tränen bedecktes Gesicht vergrub ich in die Decke. Schließlich musste niemand hören, dass ich weinte.
Meine Vorahnung, dass mir jemand hinterher kam, bewahrheitete sich nämlich. Wieder war es Justin, der schon fragte: “Krystal? Bist du hier?”. “Nein”, antwortete ich und biss mir auf die Zunge. Die dümmste Antwort des Jahrhunderts! “Ich wollte mich noch von dir verabschieden, wer weiß ob wir uns je wiedersehen und wann”, sagte Jus, als sei vorher nichts gewesen.
Seltsam. “Was ist mit Tizian?”, wollte ich wissen, woraufhin er unbekümmert meinte: “Der wird das schon überleben. Vergiss ihn”. Ihn vergessen? Niemals! “Nein”, sagte ich und fuhr fort: “Du hast dich nun verabschiedet, also geh”. “Ich kann das aber nicht einfach so, denn ich möchte dich noch einmal sehen”, blieb Justin hartnäckig und ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Dann schaltete ich das Licht an und sperrte die Tür auf.
Kaum war der Blonde im Raum, starrte dieser mich entsetzt an. Schnell schloss ich wieder ab. “Hast du geweint?”, fragte der Mann und ich schüttelte den Kopf. Lachend meinte ich: “Warum sollte ich? Mir geht es gut”. Skeptisch sah er mich an, doch ich behielt mein Lächeln. Es war so falsch.
Nachdem das erledigt war, nahm er eine Haarsträhne von mir in die Hand. Dann sagte er: “Dein Haar ist so schwarz wie das Nichts und das Schwarz, das du trägst, ist sehr faszinierend. Vielleicht sollte ich dir eines Tages schwarze Rosen schenken”.
Justin musterte mich und war mir noch immer so nahe. Was würde er nun tun? Die Frage beantwortete sich von selbst. Er wollte mich erneut küssen. Eigentlich hätte ich nichts dagegen gehabt, aber ich musste mir andauernd vorstellen, dass nicht er, sondern Tizian vor mir stand. Nein, das konnte ich nicht. Nicht er. Es wäre eine glatte Lüge, wenn ich abstreiten würde, dass ich mir zutiefst wünschte, dass es tatsächlich Tizi war, der mit so gut mit mir umging.
Kein Wunder also, dass ich auswich, woraufhin mich Jus verwirrt ansah. “Nein”, sagte ich mit fester Stimme. Er meinte: “Warum wehrst du dich so sehr dagegen? Innerlich willst du doch, dass ich dich küsse. Ich sehe es in deinen Augen”. Gutes Argument, das musste ich wirklich zugeben. “Weil das gegenüber Tizian nicht sehr fair ist”, flüsterte ich und setzte mich auf das Bett.
Justin sah mich jedoch völlig entgeistert und geknickt an. Dann aber funkelten seine Augen düster. “Was hat das mit ihm zu tun? Nur weil du für ihn arbeiten musst und durch ihn hier alles hast, heißt das noch lange nicht, dass das nicht fair ist”, grummelte er, was mich unruhig werden ließ. Daher antwortete ich, während ich mich wieder erhob, nur sehr lasch: “Ich weiß es nicht. Wenn ich mir vorstelle, dass er uns sieht, dann könnte ich zusammenbrechen”.
Diese Worte waren nicht nur einfach so gesagt. Sie stimmten. Jedes einzelne. Ich würde es einfach nicht ertragen, von Tizian erwischt zu werden, während ich mit seinem besten Freund knutschte. In letzter Zeit war ich sowieso enorm durcheinander. Wenn ich daran dachte, wie ich war, als ich Tizian das erste Mal traf, war ich jetzt schon fast ein komplett anderer Mensch.
Er machte etwas mit mir, was ich mir nicht erklären konnte. Nein, ich würde jetzt nicht schwach werden. Das war ich schon seit bald vier Jahren nicht mehr, also warum nun damit anfangen? Und trotzdem schämte ich mich für die Person, die ich früher einmal war. Meinen Gedanken wurden jäh ein Ende gemacht, als mich Justin gegen die Tür drückte und seine Lippen auf meine presste.
Ich erschrak fürchterlich! Wie lange war es her, dass ich das tat? Wochen, Monate, sogar Jahre! Daher zeigte ich meine übliche Reaktion, wenn mir jemand zu nahe kam. Klatsch! Schon war meine kleine Hand auf der linken Wange von Jus gelandet. Er sah mich mit einem Blick an, der mir schon fast das Herz brach, dennoch blieb ich hart und schloss die Tür auf.
“Raus!”, schrie ich ihn an und siehe da, er tat, was ich sagte. Seine letzte Worte waren aus Wut: “Wir werden uns wiedersehen!”. Dann blieb es still. Wie konnte er nur? Nun fühlte ich mich erst recht wie ein Häufchen Elend. Ich war alleine, hatte Tizian Unrecht getan und jemand Nettes eines Ohrfeige gegeben.
Es war schon fast zum Verrücktwerden. Ständig diese Stimmungsschwankungen! Wüsste ich es nicht besser, würde ich glatt denken, dass ich meine Tage hätte, schwanger wäre oder in meinem Wechseljahren wäre. Da ich das alles aber natürlich mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen konnte, ließ ich mich wieder auf das Bett fallen und vergrub erneut mein Gesicht in die Decke.
Nein, heute Nacht würde ich mit Licht schlafen, da ich es gerade absolut nicht ertragen konnte, alleine in der Dunkelheit zu sein. Irgendwie hatte ich Angst, dass mir jemand etwas tun könnte. Die Tür! Ich hatte sie nicht wieder abgeschlossen! Schon hatte ich das erledigt und ging zu dem begehbaren Kleiderschrank. Ich musste wissen, ob man auch durch ihn in das Zimmer gelangen konnte.
Eindeutig negativ. Gut. Da konnte ich ja beruhigt wieder zurück auf das Bett. Mit der Decke bedeckte ich mich. Mir war kalt und das obwohl wir fast Juli hatten. Sachen gab's. So aber konnte ich wenigstens einschlafen, nichtsahnend, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm war.
Der Sturm kam und wie er kam! So heftig, dass ich mich daran gar nicht mehr erinnern will. Eigentlich war alles normal. Ich wachte um kurz vor zehn auf, was meiner Meinung nach ganz passabel für mich war. Schlafen wollte ich nicht mehr, da sich Tizian darüber nur aufregen würde und außerdem konnte ich eh nicht mehr einschlafen, da es schon ziemlich hell und warm war.
Als ich in die Küche kam, war diese leer. Gut dachte ich, bereite ich eben noch etwas zu Essen vor. Für uns beide. Hier war eh alles aufgeräumt und so fand ich mich super gut zurecht. Schon sehr bald hatte ich ein hervorragendes Frühstück gemacht und den Tisch schön gedeckt.
Jetzt hieß es warten, aber dann fiel mir ein, dass ich ja die morgendliche Zeitung von Tizi holen könnte. Ja genau, das würde ich machen! Immerhin war er noch nicht da und er würde sich sicherlich darüber freuen, wenn er schon alles parat hätte. Nebenbei konnte ich etwas frische Luft schnappen und seinen prächtigen Garten bewundern. Die Arbeit hatte sich nämlich wirklich gelohnt.
Es blühte alles nur so vor sich hin und schien vor lauter Farben zu explodieren. Nur eine Sache war grotesk. Noch immer konnte ich kein Namensschild ausfindig machen. Wie bekam er dann bitte seine Zeitung und noch wichtiger, seine Briefe? Irgendetwas war hier wirklich faul und so nahm ich mir vor, ihn danach zu fragen.
Langsam wurde ich aber ungeduldig, denn noch immer war von Tizian nichts zu sehen und das obwohl ich wieder zurück von meinem klitzekleinen Spaziergang war. Die Ungeduld war sogar schon so groß, dass ich begann, seine Zeitung zu lesen. Es ging um alles Mögliche. Sport, Finanzen oder einfach das, was in unserer Umgebung so geschah. Sehr interessant.
Nur konnte mich das auch nicht davon abbringen, mit dem Essen anzufangen. Da kam dann doch wieder der kleine Vielfraß in mir durch und so aß ich, was es zu essen gab. Egal ob Marmelade, Schoko Creme oder Erdnussbutter - Tizi hatte so Vieles! -, ich schlug mir mächtig den Bauch voll.
Kaum war ich fertig, hörte ich die ersehnten Schritte. Nur erkannte ich an der Art und Weise, das etwas nicht stimmte. Als ich mich lächelnd umdrehte, stockte mir schon fast der Atem. Tizian sah überaus ernst, aber auch süffisant aus. Langsam und mit viel Stolz schritt er zu mir an den Tisch. Er setzte sich nicht. “Guten Morgen”, flötete ich dennoch gut gelaunt.
Er jedoch schien davon nicht beeindruckt zu sein und fragte nur gefährlich ruhig: “Du wagst es tatsächlich?”. Mein Lächeln erstarb. Ich blickte ihn fragend an, doch er sagte: “Tu nicht so!”. Noch immer verstand ich nicht, was er meinte und schüttelte irritiert den Kopf. “Das, was du dir gestern geleistet hast, kann und werde ich nicht dulden”, schrie er mich an. Ich zuckte zusammen und schwieg. Am Besten war es, dachte ich, wenn ich ruhig blieb.
Es war sogar schon so schlimm, dass ich ihm gar nicht mehr in die Augen sah, was er natürlich sofort bemerkte. “Du bist so erbärmlich!”, warf er mir an den Kopf und fuhr fort: “Sieh zu, dass du deine jämmerlichen Sachen packst und mir nie wieder unter die Augen kommst!”. Was war denn mit dem los? “Ich habe gar nichts getan, lediglich schon vorher gefrühstückt und deine Zeitung gelesen”, meinte ich mit einem Blick auf den Tisch.
Das schien ihn aber gar nicht zu interessieren, denn er sah mich nach wie vor hasserfüllt an und ich hatte das Gefühl, dass er mich mit seinen Augen zum Frieren bringen wollte. “Das meine ich auch nicht, denke mal nach, was du dir gestern Abend gelistet hast”, blieb er bei der Sache.
Ohne großartig nachzudenken, sagte ich: “Na ja, wir haben es uns mit Justin im Wohnzimmer bequem gemacht und alles war gut, bis du so gemein zu mir warst. Das habe ich nicht eingesehen und habe dir den verdienten Tritt…”, dann begriff ich.
Augenblicklich später wurde ich kreidebleich. Meine Güte, wie dumm war ich eigentlich? Ist doch sonnenklar, dass er das nicht so einfach durchgehen lassen wird! “Fahre ruhig fort”, forderte Tizian mich auf und diese Ruhe machte mir unheimliche Angst. Ich schwieg, woraufhin er meinen Part übernahm.
Wütend, aber dennoch ruhig, was mir nur noch mehr Unwohlsein bescherte, sagte er: “Du hast mit unfairen Mitteln gespielt. Ich dachte, dass du wenigstens noch so viel Anstand hast und es nicht wagst, den empfindlichsten Teil eines Mannes anzugreifen. Damit nicht genug hast du dir noch die Salzstangen geschnappt”. “Das brauchst du mir nicht sagen”, murmelte ich eher vor mich hin, doch Tizi hatte sehr wohl verstanden, was ich da eben von mir gegen hatte.
Er ging nämlich Auf und Ab. Mir kam es so vor, als ob er mich wie ein Hai, der nur darauf wartete, seine Beute zu erlegen, umkreiste. Da begriff ich, dass ich ziemlich erledigt war. “Ja, das war unfair von mir. Ich weiß”, gab ich zu, aber Tizian blieb hart und sagte: “Das kannst du ja jetzt der Straße sagen”. “Wie bitte?”, wollte ich völlig verdattert wissen, woraufhin er erwiderte: “Ich habe keinen Nerv mehr für dich. Du bist entlassen”.
Ich dachte, nicht richtig gehört zu haben! Er schmiss mich raus? “Aber…”, begann ich kleinlaut, wurde aber unterbrochen. Schon fast unberechenbar schrie Tizi: “Ich sagte, dass du gehen sollst! Packe deine sieben Sachen und sieh zu, dass du Land gewinnst!”.
Oha, er meinte das wirklich ernst! “Tizian, wir können doch über alles reden…”, versuchte ich es erneut. Wieder durchschnitt er mir das Wort. “Es gibt nichts mehr zu bereden, du hattest genügend Chancen, die du aber nicht genutzt hast!”, brüllte er mich an.
Was sollte ich nur dazu sagen? Es stimmte. Ich hatte es mir selbst mit ihm verscherzt, dabei hatte ich es allmählich geschafft, mich hier einzuleben. Trotzdem wollte ich nicht vor ihm das kleine schwache Mädchen sein und so fragte ich: “Was ist mit den Schulden? Die sollte ich schließlich hier abarbeiten und du weißt genauso gut wie ich, dass ich keinen einzigen Cent habe”. “Das Geld ist mir so was von scheißegal! Ich will dich einfach nie wieder sehen!”, erstickte Tizi meine kleine Hoffnung, doch noch bei ihm bleiben zu können, überaus barsch im Keim.
Verstehe einer mal die Männer! Zuerst wollten sie das und dann wieder das. “Ich will hier nicht weg”, flüsterte ich leise und meinte: “Es tut mir leid”. “Was tut dir leid? Dass du mit meinem besten Freund geflirtet hast? Mir Schmerzen der ganz fiesen Art zubereitet hast oder doch, dass ich dich ein halbes Jahr ertragen musste?”, redete sich Tizian weiterhin in Rage, was mich nur noch mehr verletzte. “Ich mache es wieder gut”, sagte ich, aber er entgegnete matt: “Nein, Krystal. Dafür ist es zu spät”.
Da begriff ich erneut etwas. Es war wirklich zu spät und so tat ich, was er zu mir gesagt hatte. Ich ging auf mein Zimmer und packte meine Sachen. Tizi wich mir dabei nicht von der Seite und beobachtete mich genau.
Dann dachte ich über seine Worte nach. Warum um alles in der Welt hatte er zuerst das mit Justin erwähnt? Täuschte ich mich oder war da wirklich ein Hauch von Eifersucht gewesen?
Was bildete ich mir eigentlich ein? Pah, er hasste mich doch und ihm machte es ja nach wie vor noch Spaß, mich zu quälen. Ich dachte ja schon fast wie ein kleines naives Mädchen, was ich aber nicht mehr war. “Du sollst hier nicht träumen, sondern zusehen, dass du so schnell wie möglich mein Grundstück verlässt!”, schrie Tizi mich an. Ich erschrak schon fast fürchterlich.
Trotzdem tat ich, was mir gesagt wurde. Dafür aber ließ ich mir viel Zeit, was der junge Mann hinter mir leider bemerkte. “Höre gefälligst auf, Zeit zu schinden”, zischte er und stopfte einige meiner kleinen Sachen wie Haarbürste oder Haargummis in meinen Rucksack. Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals, denn ich hatte keine andere Wahl, als mich zu beeilen.
“War es das wirklich?”, fragte ich, als wir in der Eingangshalle standen. Tizi sah mich verächtlich an und wollte wissen, von was ich sprach. Stammelnd antwortete ich “Das mit uns. Also, … na ja, das ich hier bin und für dich alles mache!”. “Natürlich, was dachtest du denn? Etwa, das ich Scherze mache?”, meinte er mit eiskalter Stimme. Mit einem Blick deutete er auf die mächtige Tür.
Da hatte es jemand wirklich eilig. “Tizian, bitte!”, fing ich tatsächlich schon fast schluchzend an, ihn anzuflehen. “Nein”, blieb er hart, woraufhin ich ihm in die Augen blickte. Ich wusste, dass er meine Trauer sehen konnte, die ich empfand. Da war nichts gespielt, denn es war wirklich so. Zu meinem Bedauern aber, wendete er seine dunklen Augen von mir ab.
“Es tut mir leid”, flüsterte ich leise und voller Aufrichtigkeit, doch er würdigte mich keines Blickes. “Wie kann man nur so hart sein?”, fragte ich und hatte das Gefühl, an diesen Worten zu ersticken. “Dort ist die Tür”, blieb Tizian dabei.
Ich öffnete diese mit einem kleinen Kraftaufwand, was dem Mann hinter mir überhaupt nicht interessierte. Dann ging ich. Ich drehte mich nicht mehr um, denn das würde mir nur noch mehr weh tun. Dennoch glaubte ich seine Stimme ein letztes Mal im Wind zu hören. “Auf Wiedersehen, meine Geliebte”.
Wehmütig drehte ich mich um, als ich die Tür in das Schloss fallen hörte und auch das mächtige Eingangstor zu seinem Garten verschlossen wurde. Scheiß Automatik. Jetzt konnte ich wenigstens meinen Tränen freien Lauf lassen, da Tizian im Inneren der Villa war und garantiert keinen Blick zu mir werfen würde, sofern er mich überhaupt von hier aus sehen konnte.
Wo sollte ich denn jetzt nur hin? Na klar, zu der alten Lagerhalle, auch wenn das dauern würde. Immerhin war es nicht kalt, eher warm oder heiß. Miese Hitze. Ja, meine Laune war ganz tief gesunken und meine Sicht von dem Tränenmeer, welches sich über mich ergoss, verschleiert.
Schon fast blind lief ich los und da fiel mir auf, dass ich noch Kleidung von Tizian an meinem Körper trug oder besser gesagt die, die in meinem ehemaligen Zimmer war. Stimmt, ich wusste gar nicht, wem sie einst gehörte. Das war aber jetzt auch unwichtig, denn ich würde dort nie wieder einen Fuß hinein setzen.
Es war nur zu traurig, nein, ich war traurig! Traurig darüber, Tizian nie wieder zu sehen und zurück zu meinem Leben, was ich so sehr hasste, gehen zu müssen. Er hatte aber Recht. Ich hatte mich gegenüber ihn einfach nur aufmüpfig und vor allem falsch verhalten. Warum tat ich das auch immer wieder? Ich war weder dumm noch wies ich durch irgendeinen Auslöser beeinträchtigte Eigenschaften vor. Bis auf die Tatsache, dass ich niemandem vertraute.
Nach zwei Stunden erreichte ich schließlich die Lagerhalle. Mittlerweile waren meine Tränen versiegt, denn vor meinen Kameraden würde ich bestimmt nicht weinen. “Du? Ich dachte, dass wir dich nie wieder sehen”, meinte auch schon Samuel, woraufhin ich sagte: “Nein, ich bin zurück. Ist noch ein Platz für mich frei?”. “Platz hätten wir, nur weiß ich nicht, ob die anderen davon begeistert sind, wenn du zum zweiten Mal zurückkehrst”, antwortete er ehrlich.
Das hielt mich aber nicht davon ab, in das Innere zu gehen. Schließlich war ich alt genug, um mit Diskussionen oder Ähnlichem umgehen zu können. Nur hatte ich keine Lust mehr, alles und jeden mit meiner Art zu nerven. “Willst du nicht hineingehen?”, wollte Samuel auf einmal von mir wissen. “Was…? Oh, ja, danke”, stotterte ich vor mich hin, als ich merkte, dass ich noch immer vor der Lagerhalle stand.
Samu sah mich daraufhin nur mit einem erstaunten Blick an. Ha ha, ja, ich hatte mich wirklich etwas verändert. Mit klopfenden Herzen öffnete ich schließlich dann doch die Tür und wünschte mir, dass ich es nie getan hätte. Kaum sahen mich die Jugendlichen, fielen sie schon fast über mich her. Ich wurde mit Fragen bombardiert, von wegen, was ich denn hier mache, wenn ich sie doch im Stich gelassen hätte.
Süß, sie hatten mich als einen Teil von ihnen angesehen und wenn ich auch darüber genauer nachdachte, war ich es auch gewesen. Pardon, ich wollte es ja wieder werden. Ich erklärte ihnen kurz und knapp, dass mich das schlechte Gewissen heimgesucht hatte, was natürlich eine Lüge war, aber etwas Besseres war mir auf die Schnelle nicht eingefallen. Und siehe da, sie gaben sich damit zufrieden.
Nur Samira nicht, was ich schon fast verstehen konnte. Während die anderen Jungen und Mädchen sich von mir entfernt hatten, stand sie mit einem säuerlichen, doch fragenden Blick vor mir. Jetzt war es an der Zeit, mit ihr über diese unangenehme Sache zu reden.
“Kommst du bitte mit? Ich möchte mir dir reden”, bat ich, doch sie wollte wissen, worüber ausgerechnet ich mit ihr reden wollte. Kaum meinte ich, dass es um Tizian ging, wurde sie hellhörig. Wir gingen auf die anderer Seite der Lagerhalle, da diese nach wie vor leer war. Somit war klar, dass ich mich hier wieder einnistete.
Ich atmete tief ein und aus, da ich nicht wusste, wie ich damit anfangen sollte. Als ich mich etwas gesammelt hatte, begann ich schließlich: “Ich weiß von der Affäre mit ihm”. “Das war keine Affäre, das war Liebe! Er hat mich doch nach drei Monaten fallen gelassen und so getan, als ob es nur etwas Kurzfristiges war”, bestand Mira gleich darauf.
Was sollte ich nur dazu sagen? Die Wahrheit, ja, die war angebracht. Ich sagte: “Er hat mir erzählt, dass er zu dir stets sagte, dass da nichts Ernstes ist und du ihm auch nicht gesagt hast, wie alt du bist”. “Warum sollte ich ihm auch sagen, dass ich erst sechzehn war?”, wollte sie wissen, woraufhin ich antwortete: “Der Kerl geht auf die dreißig zu, weißt du eigentlich, dass du ihn damit in richtige Schwierigkeiten gebracht hattest? Du kannst froh sein, dass das unter euch blieb!”.
Nein, ich wollte mich auf keiner Seite stellen, ich wollte ihr lediglich nur erklären, was sie damit angerichtet hätte, wenn das an die falschen Menschen gekommen wäre. “Na und? Ich liebe ihn, da ist mir das Alter egal!”, sah Samira ihren Fehler gar nicht ein. So konnte ich das nicht stehen lassen und daher meinte ich: “Ich spreche jetzt zu dir als große Schwester. Halte dich lieber von ihm fern, denn er möchte das nicht und ich will nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst”.
Nach meinen Worten brach sie jedoch in schallendes Gelächter aus. “Du und meine große Schwester? Krys, sei doch mal ehrlich, warst du je für mich da, als es mir schlecht ging? Die Antwort kennst du und ich weiß mittlerweile, was richtig und was falsch ist. Wahrscheinlich hast du dich selbst in ihn verliebt und er hat dich deswegen vor die Tür gesetzt, was du aber nicht einsehen willst und mich so sehr als Konkurrenz siehst, dass du das sagst”, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf.
Dafür bewunderte ich sie zutiefst. Ich könnte das nie, doch Samira redete sich einfach alles von der Seele. Jetzt tat sie mir jedoch leid, denn es stimmte, was sie sagte. Ich war nie für sie da gewesen. “Du hast ja Recht, also nur mit dem, dass ich nie für dich da war. Dennoch weißt du genauso gut wie ich, wie das damals war und das ich Gefühle für Tizian hege stimmt nicht”, sagte ich, doch auch sie blieb hart, was mich schon fast schmerzlich an ihn erinnerte.
Ich versuchte erst gar nicht, sie davon zu überzeugen, einen Neuanfang mit mir zu wagen, denn ich wusste, dass sie mein Angebot ablehnen und ich somit als schwach dastehen würde. Daher beließ ich es dabei, warnte sie aber eindringlich davor, mit Tizi Kontakt aufzunehmen. Natürlich zischte sie sauer ab, was mir jedoch egal war. Ich richtete mich wieder ein und dann machte ich mich auf den Weg.
Mein Weg führte mich in das Einkaufszentrum, denn ich brauchte Geld. Wie sollte ich sonst überleben? Außerdem konnte ich mich auch so von dem, was geschehen war, gut ablenken. “Haben Sie einen Euro oder ein paar Cent für mich?”, fragte ich eine Frau, die an mir vorbeiging. Skeptisch sah sie mich an, woraufhin ich meinen Hundeblick, den ich lange nicht mehr genutzt hatte, einsetzte. Es funktionierte. Schon landete ein Geldstück in meinem Becher. Es war sogar ein Zweieurostück. Mit einem Lächeln bedankte ich mich.
Für den Anfang war das schon ein guter Erfolg und so stieg mein Optimismus in einer unendlichen Höhe. Das man aber auch unmoralische Angebote bekam wusste ich auch, nur hatte ich bisher noch nie eins bekommen. Bis jetzt. Als nämlich ein junger Mann direkt auf mich zu kam, fragte ich auch ihn nach Geld. Doch dieser meinte, dass ich nur etwas bekäme, wenn ich mit ihm zu sich nach Hause gehen würde. Angewidert schrie ich ihn an.
Pfui, also was es für Menschen gab! Da könnte ich wieder kotzen. Trotzdem blieb ich an Ort und Stelle, denn ich wollte und brauchte mehr Geld. Nach vielen Stunden hatte ich stolze dreißig Euro und überlegte, ob ich jemals so viel an einem Tag erbetteln konnte.
Mein Blick glitt zu der großen Uhr vor dem Einkaufszentrum, es war halb acht abends. Aus einer spontanen Idee beschloss ich, heute Nacht nicht in der Lagerhalle zu übernachten. Etwas Anderes drängte sich mir auf und auch wenn ich wusste, dass ich Alkohol kaum vertrug, konnte ich nichts anderes tun, als in den Getränkemarkt zu gehen und mir Bier kaufen.
Ich wollte vergessen. Nein, ich musste vergessen und so nahm ich mir nicht nur einen, sondern zwei Sixpack. Zum Glück schmeckte mir Bier nämlich. Ich konnte mich noch ganz gut daran erinnern, wie ich in jenem Türkei-Urlaub von drei Bier angeheitert war. Ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht, wenn ich daran dachte, wie besorgt Jakob da schon um mich war. Es erstarb jedoch, denn auch das war nur gespielt gewesen. Einfach alles.
Wieder so etwas, an das ich nicht mehr denken wollte. Nachdem ich das Bier - natürlich musste ich aufgrund meiner geringen Größe meinen Personalausweis zeigen! - brav bezahlt hatte, ging ich zurück zu der Bank, die nach wie vor leer war. Außerdem schloss das Kaufhaus und so war ich ganz alleine. Acht Euro war ich soeben los geworden, aber das störte mich nicht weiter.
Vorsichtig stellte ich das Bier neben mir und öffnete die erste Flasche mit den Zähnen. Auf der Straße lernte man eben doch noch nützliche Dinge. Die ersten Schlucke waren noch ungewohnt, denn es war lange her, dass ich dieses Getränk zu mir nahm. Dennoch musste ich weiter machen. Ich wollte die Erinnerungen aus meinem Gedächtnis, gar aus meinem Herzen brennen. Ebenso wie die Gedanken an Tizian.
Was er wohl gerade machte? Dachte auch er nur ein kleines bisschen an mich? Schon wieder schossen mir diese Fragen durch den Kopf, so lange mein Gehirn also noch normal war, konnte ich nichts dagegen tun. Schneller trinken - so lautete meine Devise. Jedoch kamen mir nach einiger Zeit die Tränen. Ich wusste nicht warum, doch dann traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz.
Tizi hier, Tizi da - dieser Kerl hatte mich tatsächlich dazu gebracht, ihn zu mögen! Was für eine Niederlage! Na klar mochte ich ihn. Er konnte nämlich auch nett und sorgsam sein. Wenn er wollte. Eben nur wenn er wollte. Meistens war er einfach nur eiskalt und unausstehlich. Also warum um alles in der Welt - und vor allem seit wann! - mochte ich ihn?
Er brachte mich schon beinahe um den Verstand. Dummes Bier, dachte ich, wann wirkst du endlich? Es war doch nicht so schwer, besoffen zu werden, oder doch? Ich wusste gar nichts mehr, konnte kaum mehr klar denken, da ich nach wie vor an Tizian dachte. Natürlich konnte er mit dieser Situation umgehen, schließlich bekam er kaum Besuch in seiner großen Villa.
Seine Villa - das war auch so ein Mysterium. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass jemand wie er fast ganz alleine lebte. Einst hatte er mir auch erzählt, dass er studierte und eine eigenen Firma hätte. Da mussten doch bestimmt auch mal Akademiker oder Mitarbeiter von ihm vorbeikommen.
Ich wusste so gut wie gar nichts von ihm. Er hieß Tizian, doch ich konnte ihn auch Sir oder Lord nennen, was meiner Meinung nach von einem leichten Größenwahn zeugte. Zudem wusste ich sein Alter. Siebenundzwanzig. Wie sah es denn mit Familie aus? Waren seine Eltern bereits gestorben? Hatte er Geschwister, Onkel, Tanten oder andere Verwandte?
Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, denn sonst hätte er ja wohl öfters Besuch. Zudem würden dann auch bestimmt irgendwo Fotos von seinen Liebsten hängen oder stehen. In seinem Schlafzimmer vielleicht. Denn das war ja nach wie vor für mich Tabu gewesen. Was für Geheimnisse verbarg er eigentlich? Schade, dass ich das nun nicht mehr herausfinden konnte.
Mittlerweile war ich bei meinem fünften Bier und siehe da: Allmählich merkte ich, wie mein Gehirn benebelt wurde. Für mich war das schon fast erstaunlich, da ich damit gerechnet hatte, dass die Wirkung früher einsetzte. Vielleicht lag das ja auch daran, dass ich zu sehr grübelte. Was soll’s. Ob ich nun jetzt oder in ein paar Minuten vergaß, war völlig egal.
Zur Not trank ich einfach schneller, was ich auch tat. Dazu kam auch noch, dass ich den ganzen Tag - abgesehen von Frühstück - nichts gegessen hatte. Da meldete sich auch schon mein Magen zu Wort, was ich aber gekonnt ignorierte. Ich wollte jetzt nichts essen, denn das würde nur den Alkohol aufsaugen und außerdem würde ich nachher noch deswegen kotzen. Nein danke.
Die Hälfte des Bieres hatte ich immerhin schon geleert und das in knapp einer Stunde. Ich sah mich um. Die Sonne war schon kurz davor, unterzugehen und auch sonst war alles recht ruhig. Zum Glück war ich allein, denn ich konnte es gerade absolut nicht ertragen, von irgendjemanden angesprochen zu werden. Das war wohl noch immer so ein alter Fetisch von mir.
Darüber musste ich schon fast schmunzeln, nur fragte ich mich dann, warum ich Justin so vertraut hatte. Mir war klar gewesen, dass ich ihn nur diesen einen Abend sehen würde, doch das hatte mich früher auch nicht davon abgebracht, meine distanzierte Haltung gegenüber von Fremden zu bewahren. Wahrscheinlich war es einfach so gewesen, weil er so lieb gewesen war.
Von ihm sollte sich Tizian dringend mal eine Scheibe abschneiden oder zumindest etwas abgucken, dachte ich und hätte fast laut los gelacht. Nein, das würde nicht zu ihm passen. Er war nun einmal eine sehr … komplexe Persönlichkeit. Ihn musste man da nicht verstehen, sondern einfach nur mögen.
Als ich daran dachte, wurde mir ganz anders. In mir drehte sich alles und ich hatte das Gefühl, dass ich fliegen würde. Die Wirkung! Sie entfaltete sich vollständig. Das hinderte mich aber nicht daran, auch die anderen Biere zu entleeren. Es würde sowieso niemanden interessieren, also warum damit aufhören?
“Die Erlösung ruft, endlich”, lallte ich schon etwas vor mich hin und musste weinen. Mir bedeutete mein Leben nichts mehr, obwohl es mir besser ging. Das konnte aber auch nicht verhindern, dass ich mir nach wie vor vollkommen wertlos sah. Ja, ich war verzweifelt. Zutiefst. Ich konnte einfach nicht mehr.
Dazu kam auch noch, dass ich den miesen Alkohol unterschätzt hatte, denn schon bald fühlte ich mich einfach nur verdammt leer und müde. So unendlich müde. „Nein“, sagte ich, „nein, will nicht schlafen..“. Meine Stimme ließ jedoch nach und auch das Bild vor mich drohte sich erneut aufzulösen. „Hilfe…“, stammelte ich leise und versuchte aufzustehen, doch das hätte ich wirklich nicht tun sollen.
Ich kam mir so vor, als ob man mich von allen Seiten mit irgendetwas bombardierte, was konnte ich jedoch nicht erkennen. Dazu kamen auch noch diese kühlen Temperaturen. Von wegen Sommer. Die Sicht vor mir verdunkelte sich und da begriff ich, was ich aus meinem Frust heraus getan hatte. Ich hätte lieber beim Ritzen bleiben sollen, schoss es mir durch den Kopf, denn davon konnte ich nicht bewusstlos werden. Doch es war zu spät.
Ich war mir sicher, dass mich der Tod schon erwartete und nach mir die Hände ausstreckte, jedoch kam wieder alles anders als erwartet.
Tizian’s Sicht!
Mittlerweile waren ein paar Stunden vergangen. Nach wie vor war ich allein. Ich fragte mich schon, wo Krystal blieb, doch dann fiel mir die Situation am Morgen ein. Warum ich das getan hatte? Ich wusste ich nicht. Wie ich mich in diesem Augenblick gefühlt hatte? Gut. Wie ich mich jetzt fühlte? Schlecht.
Was hatte ich da nur getan? Was hatte ich ihr nur angetan? Verdammt, sie fehlte mir! Klar, ich war immens wütend auf sie gewesen, doch hätte ich mir eine derartige Reaktion nicht zugetraut. Wenn ich nur daran dachte, was ich heute Morgen am Liebsten alles mit ihr gemacht hätte. Nein, daran will ich nicht denken!
Allgemein verstand ich mich manchmal überhaupt nicht, dabei wollte ich nie so werden wie gewisse zwei Personen. Tiziano und Tatjana. Schon allein der Gedanke an sie machte mich rasend. Was war mit mir nur los? Ich wusste doch genau, dass Krystal jemand war, dem es egal war, was eine Person von ihr hielt.
Trotzdem wollte ich, dass sie erkannte, um was es wirklich ging. Wenn ich sie aber andauernd an mich heran ließ, um sie kurz darauf von mir zu stoßen, brachte mir das überhaupt nichts. Ob ich es je schaffen würde, meine inneren Dämonen zu besiegen? Da war ich mir nicht so sicher, dabei wollte ich nichts Sehnlicheres.
Damit kam auch Krystal ins Spiel. Sie war für mich kein Versuchskaninchen, sondern eher … ja genau. Eher so etwas wie Heilung. Jetzt war ich nämlich in der Rolle des Chefs. Nur hatte ich davon keinen Nutzen. Es brachte mir eher das Gegenteil. Diese ganze Geschichte basierte nur auf meine Vergangenheit. Mein Leben bestand nur aus vergangenen Zeiten.
In dieser Hinsicht war ich wohl genauso wie Krystal. Auch sie konnte ihr früheres Leben nicht vergessen. Im Gegensatz zu mir kam das aber bei ihr stärker zum Ausdruck. Hatte ich mich etwa umsonst meiner alten Heimtat entsagt? Wollte ich hier nicht einen Neuanfang wagen? Siebenundzwanzig Jahre lang hatte ich nach den Vorstellungen anderer Menschen gelebt.
Das machte mich schon fast schlimmer als Krystal, da sie nach fünfzehn Jahren begann, ihr eigenes Leben zu leben. Nur war das bei mir noch eine etwas andere Sache. Wäre ich wohl nicht so ein Genie und kaltblütig gewesen, hätte ich es nie geschafft. Mir war also vollkommen klar gewesen, was ich da anrichtete, aber es interessierte mich einen Dreck, was mit Tiziano und Tatjana war. Die kamen auch ohne mich zurecht, was auch kein Wunder war. Bei dem Vermögen.
Genug nachgedacht, ermahnte ich mich, es wird Zeit, den kleinen Giftzwerg zu suchen. Wahrscheinlich war sie wieder in der Lagerhalle. Also musste ich nur erneut dorthin fahren. “Audi R8, es freut mich, dass ich dich wieder benutzen darf”, sagte ich zu meinem schwarzen Flitzer, nachdem ich mich fertig gemacht hatte und vor meinem Lieblingsauto stand.
Die Fahrt war für mich sehr unruhig verlaufen, da ich Angst hatte, Krystal nicht zu finden. Meine Angst war auch nicht umsonst, denn man sagte mir dort unter einem misstrauischen und genervten Blick, dass sie zwar hier gewesen, jetzt aber unterwegs war. Niemand wusste, wann sie wieder kam.
Eigentlich wollte ich schon gehen, doch dann sah ich Samira. Jetzt würde ich meinen Charme spielen lassen. “Schön dich zu sehen” begrüßte ich sie mit einem Lächeln. Ich hatte erwartet, dass sie mir fast um den Hals fiel, doch blieb sie hinter dem Jungen, der das Tor nach wie vor bewachte und fragte: “Was willst du hier?”. “Ich suche mal wieder nach deiner Schwester”, antwortete ich.
Nach meiner Antwort rührte sich der Junge. Fassungslos wollte er wissen, ob Krystal wirklich ihre Schwester sei. Mist, das sollte ich ja für mich behalten! Na das hatte ich wieder toll hinbekommen. Mira ging daraufhin auf mich zu und nahm meine Hand. Was sollte denn das werden? Anders als gedacht zog sie mich einfach nur hinter sich her und als wir in einiger Entfernung von der Lagerhalle waren, fing sie tatsächlich ein Gespräch mit mir an.
Mürrisch meinte sie: “Also erst einmal muss ich dir sagen, dass die Verwandtschaft zwischen mir und Krystal unter uns bleibt. Davon weiß niemand und das soll auch so bleiben. Hast du denn schon mal daran gedacht, dass darunter vielleicht auch mein Ruf leiden könnte?”. “Immer noch die Egoistin wie im letzten Sommer”, bemerkte ich trocken, womit ich Samira sauer machte.
Sie war nicht sehr viel größer als ihre große Schwester und doch sah sie anders aus. Klar hatte sie das selbe schwarze Haar wie Krystal, aber ansonsten ähnelten sich die beiden Mädchen überhaupt nicht. Unglaublich, dass ich meine Zeit mit der Jüngeren verschwendet hatte.
Diese sagte: “Du hast mir mein Herz gebrochen und das verzeihe ich dir nie. Was willst du von Krys?”. “Ich will sie wieder bei mir haben”, antwortete ich wahrheitsgemäß, was ich vielleicht für mich behalten hätte sollen. Samira zischte nämlich: “Kein Wunder, dass sie aussah wie ein Häufchen Elend, als ich vorhin mit ihr sprach! Sieh dir mal den Himmel an, es ist schon so gut wie dunkel”.
Damit hatte sie leider recht, dennoch wollte ich nicht aufgeben. “Mir egal, ich werde sie finden. Also kannst du mir nun sagen wo sie ist oder sein könnte?”, blieb ich bei meinem Vorhaben. Um das zu unterstreichen zückte ich mein Portemonnaie und gab ihr zehn Euro. Ich wusste, dass ich sie damit zum Reden bringen konnte, denn so war sie schon immer gewesen. Ein geldgeiles Miststück.
Natürlich funktionierte das. Strahlend sagte sie: “Krystal hängt öfters bei dem großen Einkaufszentrum rum. Dort wirst du sie bestimmt finden”. “Kann ich bitte ihre Sachen mitnehmen? Sie wohnt nämlich bei mir”, fragte ich, woraufhin Mira meinte: “Klar, hier wird sie eh niemand vermissen, aber du kommst nicht mehr in unser Nest hinein. Warte hier”.
Schon war sie verschwunden, um keine fünf Minuten später tatsächlich mit dem Rucksack ihrer Schwester aus der Halle zu kommen. Da tat Krystal mir leid. Sie hatte wirklich keine einzige bedeutsame Person in ihrem Leben. Das musste ich ändern. “Danke”, meinte ich zu Samira und steckte ihr weitere fünf Euro zu. Danach stieg ich in mein Auto und brauste davon.
Das gute alte Einkaufszentrum. Das war gar nicht mal so dumm. Wenn ich genauer darüber nachdachte, war es geradezu brillant. Krystal war schließlich nicht umsonst einst ein Straßenmädchen gewesen. Sie kannte sich sehr gut aus und daher war es auch nur zu gut, dort betteln zu gehen.
Was mir aber gehörig durch den Strich ging, war die Tatsache, dass ich erneut Angst haben musste, sie nicht anzutreffen. So klein wie sie war, konnte ich sie auch sehr schnell übersehen. Daher betrachtete ich meine Umgebung aufmerksam. Nebenbei musste ich natürlich noch auf den Feierabendverkehr achten. Immerhin war es kurz vor halb zehn.
Endlich kam ich an meinem Zielort an. Nachdem ich mich fragte, was ich hier machte, obwohl das Einkaufszentrum schon seit zwanzig Uhr geschlossen hatte, wünschte ich mir, ich wäre nicht hierhergekommen. Ich sah sie vom Weiten. Sah, wie sie schon völlig neben der Spur vor sich hersah und sitzend torkelte. Neben ihr konnte ich Kartons und Flaschen ausmachen.
Mieser Alkohol. Dieses dumme Mädchen! Es machte mich einfach nur rasend. Wie konnte man nur so leichtsinnig sein und sich betrinken? Gerade Krystal, wo sie doch eh schon so klein und daher ein gutes Opfer für Alkohol war. Verstehe einer mal dieses Mädchen. Mein Mädchen.
Als ich jedoch sah, wie es sich hinlegte, schwante mir Übles. Schnellen Schrittes ging ich auf Krystal zu und sah, wie sie sich nicht mehr rührte. “Hey!”, sagte ich, bekam jedoch keine Antwort. Nun stand ich vor ihr und erkannte auch schon sofort, dass sie die Augen geschlossen hatte. Sie war wohl eingeschlafen - oder doch bewusstlos? Ich fühlte ihren Puls, um festzustellen, dass es doch nicht so schlimm war.
Natürlich überließ ich sie nicht dem Schicksal, sondern trug sie in mein Auto. Mit äußerster Vorsicht legte ich sie auf den Beifahrersitz und war froh, dass ich noch die Decke von Tabitha hatte. So würde mein kleiner Kristall nicht frieren. Während ich nach Hause fuhr, begriff ich, was ich getan hatte, als ich sie aus meiner Villa geworfen hatte.
Erneut machte ich mir Vorwürfe. “Ich Scheusal hätte die ganze Sache mit dir bleiben lassen sollen”, sagte ich vor mich hin, als ich auf meinem Sessel im Wohnzimmer saß. Krystal hatte ich auf die Couch gelegt. Zum Glück war ihr Zustand wirklich nicht so schlimm. Da hatte sich der Erste-Hilfe-Kurs, den ich vor nicht all zu langer Zeit ablegen musste, doch noch bezahlt gemacht.
Ich beobachtete schon fast jede Atmung von Krystal. Wenn sie doch nur endlich wach werden würde! Wenn ich sie mir jedoch genauer ansah, sah sie auch ungeheuer müde aus. Bei dem Tag, den sie hatte, war ihr das wohl kaum zu verübeln. Dennoch würde ich jetzt nicht schlafen gehen, nur weil es kurz nach dreiundzwanzig Uhr war. Das war ich mir - und vor allem ihr! - einfach schuldig.
Nebenbei konnte ich mir weitere Gedanken machen, was mir aber nicht gelang. Die Angst um Krystal war einfach zu groß, auch wenn das absolut lächerlich war. Sie war nicht allein und wenn ich einen Arzt aufsuchen würde, würde man mich wohl finden und das wollte ich nicht. Deswegen blieb mir nichts anderes übrig, als sie genauestens zu beobachten.
Für mich wurde dies eine schlaflose Nacht. Immer wieder ging ich auf und ab oder nahm mir ein Buch aus der Bibliothek, natürlich nicht ohne auch nur ein Auge auf sie zu haben. Ich würde jetzt nicht schwach werden und die schrecklichen Dämonen in mir die Oberhand gewinnen lassen. Dafür hatte ich mir dieses Ziel zu sehr in den Kopf gesetzt.
Aus meinem inneren Auge wollte nicht das Bild von Krystal, wie sie auf der Bank lag, weichen. Ich hatte keine Ahnung, welches Uhrzeit es war, aber der Himmel war bereits wieder hell erstrahlt, als ich in die Küche ging und Essen machte. Nicht für mich, sondern für das kleine Mädchen, damit es sofort eine Stärkung zu sich nehmen konnte, wenn es aus diesem tiefen Schlaf wieder erwachte. Natürlich durfte der Pfefferminztee nicht fehlen.
Eigentlich hätte ich auch gerne etwas zu mir genommen, doch ich konnte es nicht. “Wach einfach nur schnell auf”, murmelte ich vor mich hin und merkte, wie erschöpft ich doch war. Mir war es ein Rätsel, wie solche Ereignisse mich nur so fertig machen konnten. Schließlich kannte ich den Druck nur zu gut.
Immerhin konnte ich wieder nachdenken, was ich sehr gut fand, da somit die Zeit schneller verging. Oder zumindest theoretisch. Hatte ich ihr mit meinen Worten und meiner Tat gestern so sehr zu gesetzt, dass sie sich betrunken hatte? Ich konnte mir das beim besten Willen nicht vorstellen, denn eigentlich war Krystal eine Person, die nur für sich lebte.
Vielleicht hatte ich aber eben doch etwas in ihr ändern können, nur bekam ich davon leider nichts mit. Oder verschloss ich etwa meine Augen vor der Realität, wie es einst Tiziano tat? Ja, aber nur teilweise. Ich stützte meine Arme an meinen Oberschenkeln und faltete meine Hände schon fast fahrig ineinander. Den Kopf legte ich darauf und dennoch konnte ich meine Hände nicht ruhen lassen.
Ohne Krystal war alles einfach so leer und langweilig. Ihre große Klappe war zwar manchmal nervig, aber ebenso auch amüsant. Im ernsten Sinne. Wahrscheinlich war das auch so eine Sache, die sie absolut nicht verstand. Wie konnte ich ihr nur sagen und zeigen, dass ich sie als Mensch wahrnahm?
Ich blieb in meiner Position - und merkte nicht, dass sich gegenüber von mir etwas tat. Erst als Krystal zaghaft vor Schmerz flüsterte: “Autsch, … mein Kopf explodiert gleich”, realisierte ich, dass sie endlich aufgewacht war. Nun musste ich ruhig bleiben, denn ich wollte nicht, dass sie erkannte, wie besorgt ich um sie war. Verdammtes Männerego.
Mein Blick schnellte zu ihr und dann meinte ich: “Na, ausgeschlafen?”. “Ja, aber wie komme ich hierher. Ich meine, du hast …”, begann sie, doch ich unterbrach sie. “Ich wollte, dass du wieder zurückkehrst”, gab ich ehrlich zu. “Und warum?”, lautete ihre berechtigte Frage, woraufhin ich nur blöd mit den Schultern zucken konnte.
Ihre Augen füllten sich daraufhin mit riesengroßer Freude. Ja, auch wenn sie noch ziemlich verschlafen und müde aussah, konnte ich erkennen, wie sehr sie sich freute. Das brachte mich zum Lächeln. Es verschwand jedoch sofort wieder, da ich mir nicht verzeihen wollte, was ich gestern getan hatte.
“Was ist denn los? Warum siehst du so leer und voller Betroffenheit aus? Ist etwas passiert?”, bombardierte sie mich mit Fragen. Sie verstand also absolut gar nicht, dass ich mir Vorwürfe machte.
Dann endlich sah ich Krystal in die Augen. Augenblicke lang starrten wir uns einfach nur an, ehe ich antwortete: “Sei mir lieber dafür dankbar, dass ich dich zurückgeholt habe”.
Wieder hatte ich sie von mir gestoßen und das obwohl ich sie doch eigentlich an mich heranlassen wollte. Ich schüttelte mit dem Kopf und während ich den Raum verließ, meinte ich: “Ruhe dich ein wenig aus, du siehst nämlich ziemlich müde aus. Auf dem Tisch habe ich dir etwas zubereitet”. “Tizian. Warte”, sagte Krystal, obwohl sie mich fast nicht mehr sehen konnte.
Was wollte sie denn noch von mir? Sollte ich mich diesem Gespräch stellen oder nicht? Angst machte sich in mir breit. Dennoch konnte ich nicht anders und setzte mich an das andere Ende der Couch hin. Mit einem fragenden Blick, den ich auf sie gerichtet hatte, übergab ich ihr das Wort.
Im ersten Moment bekam sie aber keinen Ton raus. “Danke” flüsterte sie dann doch und ehe ich fragen konnte, was sie meinte, fuhr sie fort: “Danke, dass du dich um mich gekümmert hast. Das ist sehr lieb von dir”. Mir wurde ein wenig warm ums Herz, was ich jedoch verdrängte.
Nein, ich würde jetzt nicht so tun, als ob alles gute wäre. Dafür steckte ich schon viel zu tief in der Tinte. “Ist gut”, sagte ich und wandte mich erneut zum Gehen um. “Tizian”, sprach sie erneut meinen Namen aus, woraufhin es mir eiskalt über den Rücken lief. Dir Art und Weise wie Krystal dies tat, ließ mich unruhig und völlig besinnungslos werden.
Erneut hatte sie mich also aufgehalten. “Was ist denn noch?”, wollte ich schon leicht gereizt wissen, da mich diese Situation hier zu überrollen drohte. “Kannst du bitte noch ein wenig da bleiben? Ich möchte jetzt nicht alleine sein”, bat mich das zerbrechliche Mädchen und auch wenn ich ihren Wunsch gerne erfüllt hätte, konnte ich es nicht. “Nein, ich muss jetzt losmachen. Wir sehen uns später und da möchte ich keine Spur von Müdigkeit sehen. Das steht dir nämlich nicht”, meinte ich leicht barsch und sah die Enttäuschung, die sie heimsuchte.
Um nun doch nicht so hart zu sein, ging ich vor Krystal auf die Hocke, strich ihr zart über den Kopf und gab ihr einen zärtlichen, aber doch raschen Kuss auf das dunkle Haar und damit nicht genug, ich verharrte noch einige Sekunden so, bis mir schließlich klar wurde, was ich hier tat. Als ich mich im Bruchteil von weniger als einer Sekunde wieder gesammelt hatte, ging ich aber wirklich, denn sonst wäre ich wohl dieses Mal derjenige, der einen Nervenzusammenbruch erlitt und davon hatte ich gehörig die Schnauze voll.
Was war das denn gewesen? Es hatte sich seltsam gut angefühlt, von Tizian so liebevoll behandelt zu werden. Allein der Kuss auf mein Haar hatte mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Mir war so wohlig bei dem Gedanken an diese Szene. Es verwirrte mich aber auch.
Zuerst schmiss er mich raus, dann rettete er mich. Na ja, was hieß schon retten? Ach, wie ich es doch hasste, mich selbst zu belügen! Dennoch tat ich es immer wieder. Ich wollte mich nicht umbringen, sondern nur vergessen. Das Miese war jedoch, dass ich kaum Alkohol vertrug und so klein war.
Mein Blick glitt auf den Tisch. Mit einem Mal wurde mir warm um mein kleines, dunkles Herz. Das Tablett war so … liebevoll bestückt worden. Es erinnerte mich an jenes, als ich während der Arbeit im Garten bewusstlos geworden war. Neben dem Essen dampfte eine Tasse mit Pfefferminztee. Das roch ich bis hierher und auch die Kanne, die er mir hingestellt hatte, trug ihren Teil dazu bei.
Nun sollte ich mich aber wirklich stärken, denn wenn Tizian mir schon eine Pause gönnte, dann wusste ich schon mittlerweile, dass diese nicht von sehr langer Dauer sein würde. Es war immer dasselbe und doch hatte ich die leise Hoffnung, dass sich irgendwann etwas an unserer Situation ändern würde.
Das wird schon, machte ich mir selber Mut und biss in das erste Sandwich hinein. Es schmeckte einfach nur köstlich nach Lachs, Käse und Salat. Bei Gelegenheit musste ich Tizian fragen, was er genau für Marken benutze. Aber was dachte ich denn da? Das wusste ich doch mittlerweile selbst! Es waren einfach herkömmliche Produkte. Weder spottbillig noch schweineteuer.
Ich sah auf die Uhr. Es war kurz vor zwölf Uhr mittags. Komisch, dachte ich, eigentlich müsste der Raum doch von Licht nur so durchflutet sein. Das war doch die übliche Zeit für die Sonne. Sie müsste doch im Zenit stehen oder täuschte ich mich da? Müde und noch immer leicht fertig tapste ich aus dem Bett, um wenige Sekunden später aus einem der überaus mächtigen Fenster zu blicken.
Kaum hatte ich das getan, beendete ein gewaltiges Grollen die Ruhe. Das Beste daran war, dass ich davon ungeheuer erschreckt wurde! Eigentlich hatte ich überhaupt keine Angst vor Gewitter, doch ich war so eingeschüchtert davon, dass ich nur wie gebannt sah, dass der Raum - oder besser gesagt die zusammenhängenden Räume - hell erleuchtet wurde. Auch der Blitz tat also sein Bestes.
Meine Güte, das war so was von gruselig! Ich lief zurück zum Sofa und zog die Decke über meinen Kopf - also auch logischerweise über meinen gesamten Körper. Das war wiederum ein Vorteil für so kleinen Menschen wie mich. Wir konnten uns ganz doll in Decken einkuscheln, ohne Angst haben zu müssen, dass es irgendwo eine undichte Stelle gab und man so doch etwas fror.
Erst ein paar Augenblicke später traute ich mich wieder an das Fenster zu gehen. Der Anblick des Gewitters von diesem Fenster aus war einfach nur grandios und als ob das nicht schon genug wäre, fing es an zu regnen. Also klar hatte es vorher genieselt, doch hatten Donner und Blitz dominiert. Dafür gab es nun einen kräftigen Platzregen, der einfach nicht aufhören wollte. Konnte der Himmel weinen?
Ja, mir war wirklich so, als ob die dicken Regentropfen die Tränen des Himmels wären. Damit wurden all die vielen Pflanzen und Bäume sowie der Rasen reingewaschen. Der Wind tat auch sein Bestes, die Tropfen zu verteilen. Die Blätter der mächtigen Bäume wehten im geradezu sanften Taktes des Wissens umher. Wäre das Leben doch auch so einfach!
Mal wieder kam ich mir innerlich tot vor. Das war auch kein Wunder, schließlich lag ich im heftigen Krieg mit Tizian. Gut, das als Krieg zu bezeichnen war zwar weit hergeholt, doch schien es mir das richtige Wort zu sein. Wie sollte ich denn diese Distanz zwischen uns sonst beschreiben?
Das mit ihm machte mich verrückt. Er machte mich verrückt. Warum konnten wir nicht einfach friedvoll miteinander umgehen? Ich war mir sicher, dass auch er ein paar kleine Geheimnisse hatte. Ob er wohl dasselbe wie ich durchgemacht hatte? Mir fiel auf, dass er nie über seine Familie sprach.
Anderseits, wenn sie auch so waren wie er? Das würde ich nicht überleben. Noch mehr von der Sorte wären mir echt zu viel. Wie konnte man auch nur so grausam sein? Wie tickten eigentlich Sadisten? Nur zweifelte ich etwas an seiner Aussage, dass er so ein Mensch war. Vielleicht gehörte das alles aber auch nur zu seinem makaberen Spiel. Ich war mir so sicher, dass er seinen Spaß daran hatte.
Dem würde ich aber jetzt mal geschickt ausweichen. Lieber wollte ich in den Garten gehen und die Regentropfen auf meinem Körper - besser gesagt auf meinem Kopf - spüren. Außerdem roch dann immer die Luft so gut. Mir kam es so vor, als ob sie so rein wäre. Und so konnte ich vielleicht einen freien Kopf bekommen.
Nach gut fünf Minuten war ich bereits draußen. Noch war ich aber trocken, denn ich stand unter dem Dach des Eingangsbereiches. Das war gar nicht mal so eine dumme Idee von Tizian gewesen. Jedenfalls hatte ich ihn nicht gesehen, was ich sehr gut fand. Großartig umgezogen hatte ich mich auch nicht und auch einen Regenschirm erschien mir überflüssig. Schließlich wollte ich nur ein paar Runden gehen.
Mir war es egal, wenn Tizi mich tadeln würde, weil ich seine Villa nassgemacht hatte. Darauf bereitete ich mich nämlich innerlich schon vor. Ich durfte so oder so wieder putzen. Das Wetter war jedenfalls fantastisch! So frei hatte ich mich schon lange nicht gefühlt und so tänzelte ich sogar ein wenig in dem Gewitter rum. Angst verspürte ich keine. Nur wurde ich von dieser Witterung langsam aber sicher deprimiert.
Ich könnte ja meinen aufkommenden Schmerz mit der Klinge, die ich noch immer stets bei mir trug, betäuben, mir das Leben zu nehmen hatte ich aufgegeben. Das wollte ich nämlich nicht mehr, weil mir irgendetwas ganz tief in meinem Inneren sagte, dass ich dem lieber entgegen treten sollte. Außerdem war mir auch wegen Tizian unwohl bei diesem Gedanken.
Wie er mich deswegen immer anschrie! Meine Güte, warum regte er sich darüber überhaupt auf? Ihm konnte es doch eigentlich egal sein, was ich so alles machte. Wahrscheinlich genoss er lieber, wie ich Stück für Stück immer mehr zerbrach. Ich hatte gedacht, dass es nicht mehr schlimmer kommen könnte, doch seit ich ihn kannte, machte ich eine Achterbahnfahrt der Gefühle durch. Mal wollte ich, dass er mich in Ruhe ließ, mal wollte ich, dass er bei mir blieb.
Dieser Mann … Er war so unglaublich. Unglaublich paradox. Irgendwie musste ich mit ihm auskommen. Nur konnte ich es nicht. Noch nicht. Ich merkte aber dennoch, dass wir nicht mehr ganz so ruppig wie am Anfang miteinander umgingen. Da war etwas zwischen uns. Etwas undefinierbares. Ich konnte es nicht anders beschreiben, aber ja, das Schicksal hatte wohl noch Pläne mit uns.
Obwohl wir uns mal hassten, mal schon fast mochten oder ich versuchte, abzuhauen beziehungsweise Tizian mich rausschmiss, sorgte immer etwas dafür, dass wir uns wieder sahen. Langsam aber sicher sollte ich mich wirklich damit abfinden, über zehn Jahre bei ihm zu leben. Was war schon so schlimm daran? Ich werde in der Zeit ein Dach über den Kopf haben und mir wird es an nichts fehlen.
Falsch. Das hörte sich absolut falsch an. Ja, ich wollte, dass auch Tizian mich mochte. Nur wie sollte ich das anstellen? In solchen Dingen bekam ich doch so gut wie gar nichts auf die Reihe. Und davon jede Menge. Ich würde es nie schaffen, von ihm akzeptiert zu werden. Das machte ich traurig, so unendlich traurig.
Meine Hand ging in meine Hosentasche und schon hatte ich die Klinge in der Hand. Für den Notfall. Der war nämlich gerade eingetreten. Mal wieder kam ich nicht mit meinem Leben und vor allem mit mir selber klar. Wenn ich schon genauer darüber nachdachte, war Tizian schon fast so etwas wie eine Stütze für mich. Der berühmte Fels in der Brandung.
Und dennoch starrte ich auf das silberne Teil in meiner Hand. Es war durch den Regen schon ziemlich glitschig geworden. Ehe ich aber beginnen konnte, meinen Arm frei zu machen, nahm ich diesen unverkennbaren Duft wahr. Pfefferminze. Als ob das schon nicht genug wäre, schlangen sich zwei Arme zärtlich um meinen Körper.
“Du zitterst ja”, bemerkte Tizian und zog mich an sich. Mit einem leichten Schreck ließ ich die Klinge fallen. “Brav”, sagte er sanft, woraufhin ich nur wie betäubt nicken konnte. “Was machst du denn hier?”, fragte ich leise und war froh, dass mir die Worte nicht im Halse stecken geblieben waren. Er antwortete: “Ich habe meinen kleinen Kristall vermisst”.
Warum war er auf einmal so lieb? “Na ja, hier bin ich und ja, jetzt bist du auch ganz nass”, versuchte ich von dem Thema abzulenken. Tizian legte seinen Kopf kaum merkbar auf meinen und sagte: “Ist schon gut, lange habe ich nicht mehr so ein heftiges Gewitter gesehen. Mir war so, als ob der Himmel weinte. Er hat mir leid getan”. Ich erstarrte. Konnte er jetzt so etwas wie Gedanken lesen?
Dasselbe hatte ich nämlich auch gedacht. Daraufhin kicherte ich leicht los. Ehe mich der Mann fragen konnte, warum ich das tat, meinte ich: “Dasselbe ging mir auch durch den Kopf”. “Unsere Herzen scheinen manchmal im selben Takt zu schlagen”, äußerte Tizian. Nach diesem Satz schien mein Herz tatsächlich zu reagieren. Es schlug aber natürlich nicht im selben Takt wie das von ihm, mir kam es eher so vor, als ob es einen Schlag aussetzte.
Das wurde ja immer gruseliger. Wenn ich doch wenigstens wissen würde, was das zu bedeuten hatte! Dann wäre ich schon ein wenig schlauer. So musste ich weiterhin im Dunklen tappen. “Wie meinst du das?”, wollte ich abwesend wissen. Über mich war es still, das Einzige, was ich hörte, war den Regen, sowie den Donner und den Blitz. Es war einfach nur atemberaubend!
“Ach Krystal”, riss mich die Stimme von Tizian aus meinem Versuch, einen klaren Gedanken fassen zu können. “Irgendwann wirst du verstehen, was ich meine”, fuhr er sachlich fort, woraufhin ich mich umdrehte. “Es ist wirklich kalt”, wechselte ich abrupt das Thema, da ich sonst wieder zu viel grübeln würde. Kaum hatte ich das gesagt, war mir so, als ob sich eine gewisse Kälte um Tizian gelegt hatte.
Er entzog mich mir und meinte: “Dann lasse uns hinein gehen. Wir sind pitschnass, da kann es noch so warm sein. Machen wir es uns kurz vor dem Kamin gemütlich und dann sehen wir weiter”. Welchen Kamin? Etwas den, der in dem Gästezimmer im Erdgeschoss war? Ich war irritiert. Eigentlich diente der Eingangsbereich ausschließlich für Zeug zum Abstellen oder Ähnlichem.
Vielleicht aber gab es einen Raum, den ich noch nicht kannte. Natürlich! Wahrscheinlich meinte er den, an dem die Terrasse im hinterem Garten lag. “Da war ich noch nicht, oder?”, fragte ich. Tizian meinte: “Exakt, es ist für mich so etwas wie ein zweites Wohnzimmer”. Aha. Jetzt war ich schon fast restlos damit überfordert. Trotzdem liefen wir zurück in die Villa. Ich war gespannt, was mich dort so erwartete.
“Du hast das mit dem Kamin wirklich ernst gemeint”, staunte ich darüber, als ich mich doch tatsächlich mit Tizian wärmte. Wir hatten es uns auf dem schwarzweißen Teppich bequem gemacht. Anscheinend liebte er auch diese Kombination. Jedenfalls lachte er neben mir und beobachtete mich. Ich erkundete mit meinem Augen nämlich alles, was ich auch nur im kleinsten Detail erkennen konnte.
Eine Frage hatte ich aber dann doch, die ich ihm natürlich auch stellte: “Warum war ich bisher noch nie in diesem Raum gewesen? Ich meine, ich dachte wirklich, dass ich alle Zimmer, bis auf dein Schlafzimmer natürlich, schon gesehen hätte”. “Das liegt einfach nur daran, weil auch dieses Zimmer eine Art Ruheraum für mich ist. Sieh dich mal um, ich glaube, du findest hier nur Dinge, mit denen Frauen nichts anfangen können”, antwortete Tizian.
Ein Sofa, riesengroße Fenster - anscheinend stand er darauf, der Kamin, ein Bücherregal und noch vieles mehr konnte ich auf die Schnelle ausfindig machen. Ich fand, dass seine Aussage nicht ganz zutreffend war und sagte: “Na ja, für normale Frauen nicht. Du hast aber vergessen, dass ich unter deinem Befehl stehe und ich glaube kaum, dass du großartige Lust hast, hier zu putzen”. “Es geht, aber ich gebe dir schon Recht. Manchmal arbeite ich aber auch in diesem Raum”, meinte der Mann.
Das stimmte. Ich sah nämlich, dass es einen Schreibtisch gab, neben dem ein PC und alles, was dazugehörte, stand. Selbst einen Laptop. Dieser Kerl hatte Geld wie Bauern Heu. “Du scheinst wirklich reich zu sein”, sprach ich laut aus, woraufhin Tizi nur geradezu müde den Kopf schütteln konnte. “Manchmal bin ich es wirklich leid, dass die Menschen denken, mein Leben bestünde ausschließlich aus Scheinen”, gab er zu, was mich ein wenig traurig werden ließ.
Hatte ich ihn damit verletzt? In der Tat schien er mir nämlich leicht verändert. Ehe ich etwas erwidern konnte, fuhr er fort: “Ich gebe zu, dass ich nicht gerade arm bin und auch absolut keine Angst haben brauche, es zu werden, aber ich habe schon so oft erlebt, dass man nur darauf reduziert wird. Die Menschen glauben wirklich, man könnte mit Geld alles kaufen”. “Inwiefern?”, harkte ich interessiert nach.
Ich war einfach nur überrascht, dass er weiterhin so mit mir redete und wollte daher mehr über ihn herausfinden. Tizian meinte: “Alles mögliche. Die neuste Technik, die prunkvollsten Häuser, Frauen und sogar Liebe”. Mir wurde leicht warm um das Herz, denn wie er das alles betonte, ließ mich wissen, dass er nicht so ein Mann war. Er würde wohl niemals sich einen Vorteil aus seinem Reichtum machen.
Das schätzte ich sehr an ihm. So mies er auch zu mir war, nie hatte er vor mir damit angegeben oder ähnliches. Er bildete sich wirklich nichts darauf ein, wahrscheinlich ging er nur mit mir überheblich um, weil er Macht über mich hatte. Daran lag es wohl. Vielleicht aber war ich auch schuld, da ich nicht aufhören konnte, so … egoistisch zu sein. Ja, egoistisch schien das richtige Wort zu sein, denn mir war es egal, was ich so machte, denn es ging nur mich etwas an.
Für mich war es wieder Zeit für einen Themenwechsel. Solch schon fast sentimentales Zeug war echt nichts für mich. “Sag mal, was sind für Bücher?”, fragte ich. Tizian antwortete: “Das alles hängt mit meiner Familie zusammen”. “Wie bitte? Aber ich … du, du hast sie eigentlich noch nie so richtig erwähnt, aber bewahrst Bücher über sie auf? Das verstehe ich nicht”, redete ich völlig durcheinander daher.
Der Mann, der noch immer neben mir saß, stand auf. Wie erwartet ging er zu dem Regal und nahm ein Buch in die Hand. Er schlug es auf und blätterte belanglos darin herum. Dann meinte er: “Du hast mich auch nie nach meiner Familie gefragt”. “Ja, weil du immer abgeblockt hast oder mich eh abgewürgt hättest”, erwiderte ich schon fast belustigt.
Tizian blieb aber ernst, dennoch wusste ich, dass ich ihn damit nicht verärgert hatte. “Meine Familie hat einen recht bekannten Ursprung. Viele Gestalten kommen in der Geschichte vor”, klärte er mich auf und ich fragte mich, ob er vorhatte, mir ernsthaft seine Geheimnisse zu offenbaren. “Wow”, konnte ich nur atemlos hauchen und ehe ich mich versah, stand er neben mir. Ohne das Buch, denn das hatte er wieder sorgfältig zurückgelegt.
Das war schon leicht gruselig. Tizian sagte: “Ich habe nicht vor, dir viel zu erzählen, denn ich habe mit meiner Familie schon längst abgeschlossen. Unsere Wurzeln liegen aber in Italien”. “Deswegen bist du also so”, entfuhr es mir. “Nicht wirklich, aber das tut nichts zur Sache. Genug aufgewärmt, ich merke schon, dass die Zeit ziemlich schnell vergeht, wenn wir reden. Jetzt wird mal wieder etwas getan”, beendete der Mann das Gespräch und hielt mir helfend eine Hand hin, die ich ergriff.
Als ich Tizian hörte, wie er sagte, dass wieder etwas getan werden sollte, hätte ich nicht gedacht, dass das sein Ernst war. Mir war klar gewesen, dass ich wieder etwas zu putzen bekam, aber das, was er sich nun leistete, war alles anderes als das, was ich dachte. “Du bist nicht hier, um dich auszuruhen, was du ja schon getan hast. Ich verlange von dir, dass du Villa wieder auf Vordermann bringst”, sagte er, woraufhin ich die Augenbrauen hochzog.
Was sollte ich denn nun tun? Natürlich wollte ich nämlich wissen, was nun wieder mit ihm los war. Ich nahm all meinen Mut zusammen und meinte: “Da hast du es. Zuerst bist du total nett zu mir und dann wieder … so kalt!”. “Krystal, so ist das Leben”, erwiderte Tizian nur kühl. Ich fragte: “Ja, aber was soll das? Ich meine, du … ich verstehe dich einfach nicht!”.
Dieses Mal war er es, der sich wunderte. Irritiert wollte er nämlich wissen, was denn so schlimm daran sei, wenn man wieder zum Ernst des Lebens kam. Ich antwortete, dass es nicht schaden konnte, wenn man mal normal miteinander umging. “Das willst ausgerechnet du mir sagen? Wer war es denn, der bei unserer ersten Begegnung nur am Motzen war?”. Seine Stimme klang einfach nur eisig!
Mich fröstelte es leicht und das obwohl es draußen Temperaturen gab, die locker über dreißig Grad waren! Ich rieb mir über die Arme, zudem überkam mich Übelkeit. Was sollte das denn? Nein, das konnte ich ihm unmöglich sagen! Nur warum fühlte ich mich dann so miserabel? Weil er Recht hatte. Ja, verdammt! Betreten sah ich auf den Boden und traute mich nicht, auch nur irgendetwas zu sagen.
Erst als ich hörte, wie der Mann vor mir nur ungeduldig auf und ab ging, ergriff ich wieder das Wort. “Ja, das stimmt. All das, was du sagtest, ist wahr”. “Sehr schön, dann wäre das wohl geklärt”, meinte Tizian nur schroff. “Das kann ich aber nicht so stehen lassen”, murmelte ich vor mich hin, doch er hatte mich gehört.
Im nächsten Moment stand er nämlich dicht vor mir und flüsterte schon leicht bedrohlich: “Ach, auf einmal?”. “Tizi”, sagte ich, doch als ich ihn scharf die Luft einatmen hörte, fügte ich noch ein “an” dazu und fuhr fort: “Tizian. Ja, in der Tat. Ich habe meine Fehler eingesehen”. “Nach einem halben Jahr?”, wollte er noch immer leicht barsch wissen, woraufhin ich nur nicken konnte.
Schweigen. Eisiges Schweigen. Das machte mich noch verrückt! Erwartungsvoll sah ich zu ihm auf und erkannte, dass er mich still musterte. Mir tat es absolut nicht gut, die ganze Zeit zu stehen und so setzte ich mich einfach auf dem Boden oder besser gesagt auf die Treppenstufen. Wir waren nämlich in der riesigen Eingangshalle und ja, die müsste auch mal dringend wieder gesäubert werden.
Mit einem Ruck wurde ich hochgezogen. Natürlich kreischte ich wild rum, da ich mich sehr erschrocken hatte. “Was sollte das denn? Dieses Mal bin ich es, die auf dich zugeht und dann das!”, gab ich durcheinander von mir. Tizian meinte: “Hast du dich mal umgesehen? Hier ist es verdammt dreckig und ich erwarte von dir, dass du das alles bis heute Abend erledigt hast!”.
Wie bitte? Er gab mir mehr als fünf Stunden für die gesamte Villa? “Erst einmal sollst du dich um den rechten Flügel kümmern, mein Schlafzimmer ist nach wie vor tabu und bevor ich es vergesse, die Eingangshalle wird natürlich auch geputzt”, lautete eine genauere Auskunft. Aha. Unschlüssig stand ich da, denn ich wusste nicht, mit was ich anfangen sollte.
“Gar nicht gut, mir ist gar nicht gut”, murmelte ich vor mich hin und setzte einen Schritt nach vorn. “Was hast du gesagt?”, wollte Tizian wissen, doch ich schüttelte mit dem Kopf und meinte, dass ich nichts gesagt habe. Im nächsten Augenblick war er mir jedoch wieder so nahe. Schon fast bedrohlich flüsterte er: “Lüge mich nie wieder an!”. Gänsehaut durchfuhr mich! Warum musste dieser Kerl so skurril sein?
Aus ihn wurde ich einfach nicht schlau. “Hast du verstanden?”, fragte mich Tizian und um seine Worte zu unterstreichen, sah er mir ganz tief in die Augen. So tief, dass mir schon fast schwindelig wurde und ich das Gefühl hatte, in eine komplett neue Welt zu versinken. Entsetzt wich ich zurück und schüttelte mich. “Was ist los?”, wollte er auf einmal wieder sanft wissen.
Unruhig fuhr ich mir durch die Haare, bevor ich mich zu einem Lächeln zwang. “Nichts, mit was soll ich denn anfangen?”, fuhr ich dann sogleich fort und versuchte von dem Thema abzulenken, da ich keine Antwort auf seine Frage hatte. Schließlich fühlte ich mich in seiner Gegenwart nicht seit heute so seltsam wohl. Mit neuer Motivation blickte ich zu ihm auf und wartete auf seine nächsten Worte.
Er jedoch zog es vor, mich stumm zu mustern, was mich schon fast erzittern ließ. Meine Güte, konnte er nicht einfach damit aufhören, mich so ungeheuer nervös zu machen? “Nun”, sprach er endlich mit einem süffisanten Grinsen auf den Lippen, “das überlasse ich dir, aber natürlich werde ich dir nicht von der Seite weichen”. Kaum hatte er das gesagt, schoss mir das Blut nur so in die Wangen.
Was hatte er nur vor? Sein Verhalten konnte ich absolut nicht deuten oder war es etwa so klar, dass ich zu blind war, um es nicht zu merken? Ich sah mich schließlich um, denn ich war mir sicher, dass er nicht so lange warten würde. Die Eingangshalle hatte eine gläserne Kuppel, durch die das gewaltige Sonnenlicht schien. Hatte ich das noch nicht erwähnt? Dann tut es mir wirklich leid, denn von hier aus hatte man einen tollen Ausblick auf den Himmel.
Apropos Himmel. Er weinte nicht mehr, was so viel hieß, dass die Sonne wieder da war und sich von ihrer schönsten Seite zeigte. “Hast du es bald?”, riss mich die dunkle Stimme von Tizian aus meinen Gedanken. Erschrocken starrte ich nun zu ihm, war es mir doch tatsächlich seine Anwesenheit missfallen, da ich mich der Glaskuppel gewidmet hatte! “Ähm, ja!”, antwortete ich völlig verdattert.
Ich ging ein paar Schritte, blieb aber dann stehen, da ich nach wie vor nicht wusste, mit was ich anfangen sollte. “Wie wäre denn, wenn du dich von den hinteren Zimmern zur Eingangshalle arbeitest?”, gab mir Tizi einen Rat. Oh, also wusste er genau, dass ich mir völlig unklar über den Auftrag war. Sehr schön, so musste ich wenigstens nicht weiter nachdenken. Natürlich nahm ich seinen Vorschlag an.
Unsicher begann ich also mit dem Putzen. Als wir schließlich bei meinem Zimmer waren, sah ich ihn erwartungsvoll an. “Wie bitte?”, fragte mich Tizian, doch ich wusste genau, dass er mich verstand. Schon fast peinlich berührt meinte ich: “Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich nicht dabei beobachten würdest, wie ich mein Zimmer mache. Das ist mir … unangenehm”.
Danach prustete er laut los, nur um mir dann eiskalt zu sagen: “Tja, leider leider hast du hier gar nichts zu sagen. Das ist meine Villa, mein Zimmer, also auch meine Sache, ob ich dir dabei zu sehe oder nicht. Außerdem möchte ich dir nur ein wenig über die Schultern gucken, um nicht einen Schreck zu bekommen, dass du es vielleicht doch nicht hinbekommen hast”.
Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals. Jetzt zeigte er sich also wieder von seiner Arschloch-Seite. Na gut. Dann eben so. Werde ich eben auch so. Kämpferisch blaffte ich: “Ich bitte dich! Sag bloß, du bist doch so ein perverser Spanner?”. “Nicht wirklich, du weißt doch, dass ich es mag, dich zu quälen”, erwiderte er nur gelassen, was mich traf. Ich fragte ihn nach den Grund.
Wartend blieb ich also vor der Tür stehen, die Hand schon auf der Klinke. Tizian blieb ruhig und so sagte ich: “Findest du denn nicht, dass ich das Recht dazu habe?”. “Du sollst arbeiten und nicht solche blöden Fragen stellen. Ich habe dich nicht hier, um mit dir ein Kaffee-Kränzchen du machen, sondern, weil ich viel mit dir vorhabe”, antwortete er ganz nüchtern, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre, so etwas zu einem Menschen zu sagen.
Mich fröstelte es, trotz der hohen Temperaturen. Damit nicht genug, spürte ich, wie eine eiskalte Hand auf meiner lag und die Türklinke herunterdrückte. Betreten sah ich zu Tizian, der mich aber wohl wieder mit seinem Blick durchbohren wollte. Und das gelang ihm natürlich mit Bravour. “Warum tust du das?”, flüsterte ich, woraufhin er leise meinte: “Weil ich es muss”.
Schon waren wir in meinem Zimmer. Was er dazu sagen würde? Schließlich war er hier kaum, denn ich wusste, dass er dann doch Wert auf Privatsphäre legte. Und das nicht nur auf seiner. “Warum hast du mir nicht gesagt, dass du dich gut um deinen Raum kümmerst?”, wollte er ernst wissen. Was sollte ich dazu sagen? Die Wahrheit natürlich.
Also antwortete ich: “Weil ich Angst hatte, dass du es nicht für gut heißt, dass ich mein Zimmer etwas umgeräumt habe”. Sofort schweifte sein Blick durch meine Räumlichkeit. Nach einer kleinen Pause sagte er: “Das ist okay so. Ist der hintere Teil auch so?”. Ich nickte, um ihn das zu beweisen, führte ich ihn dorthin. Das war dann wohl auch erledigt, denn auch damit war Tizian zufrieden. Mittlerweile kam ich mir schon fast vor wie ein kleines Kind, bei dem man alles kontrollieren musste. Was für ein Kontrollfreak!
Im Wohnzimmer ging es aber dann richtig los oder besser gesagt in der Bibliothek. Ich musste nämlich seine ganzen Bücher aus dem Regal räumen. Das waren mit sehr großer Wahrscheinlichkeit mehr als hundert Stück! Freundlicherweise hatte mir Tizian eine Leiter geholt, wie gnädig! Jedenfalls bedankte ich mich und er? Er setzte sich wortlos auf das Sofa und sah mir wirklich dabei zu!
Das ging mir schon an die Substanz, doch wusste ich, wenn ich mich beschweren würde, dass es eh sinnlos wäre. So gab ich mich meinem Schicksal hin und schwieg eisern, während ich die Fächer des Regals sorgfältig von Staub befreite. Irgendwie machte mir das schon Spaß, doch es ging mir immer schlechter.
Tizian schien davon nichts zu bemerken, was mich beruhigte. Ja, ich war nun einmal nicht freiwillig hier, um mich auszuruhen oder wie auch immer, sondern etwas zu tun. Nicht umsonst hatte ich diese Million Euro Schulden. Wie viel ich wohl schon abgearbeitet hatte? Ich fing an zu rechnen und kam auf mehr als dreiundvierzigtausend. Das klang gar nicht mal so übel.
Plötzlich tauchte neben mir etwas Dunkles auf. Tizian. Was wollte er denn nun? Ach so, er überprüfte, ob ich richtig gewischt hatte. Nebenbei konnte ich das erste Mal von oben auf ihn herabblicken, auch wenn er nur ein paar Zentimeter kleiner als ich auf der Leiter war. Das tat ich dann doch nicht, lieber sah ich auf seinen Kopf. Diese kürzeren Wuschelhaare waren einfach nur zu schön! Sein Haar glänzte, als ob es aus Diamanten war.
Im nächsten Moment spürte ich etwas auf meinen Kopf. Verwirrt blinzelte ich auf, nur um zu merken, dass mir Tizi durch die Haare gewuschelt hatte. “Du Doofi!”, gab ich lachend von mir, doch seine Miene war stahlhart. Mein Lachen erstarb auch schon und er sagte: “Danke, dass du mir mal zuhörst. Du solltest gründlicher vorgehen. Die Ecken hast du kaum beachtet. Noch mal!”.
Mich hatte die harte Realität eingeholt. Mal wieder. Schmollend gab ich dem nach, denn ich wollte nicht, dass er ungemütlich wurde. Wie das endete, wusste ich bereits. Am Ende war ich diejenige, die aufgab und ziemlich eingeschüchtert war. “O-Okay. Wie sieht es denn jetzt aus?”, meinte ich, als fertig war. Nachdem er darüber sah, meinte er: “Sehr gut, jetzt kannst du die Bücher wieder einräumen. Danach machst du den Tisch und dann die Möbel. Zum Schluss den Boden kehren, wischen brauchst du nicht, der Boden ist ansonsten sauber genug”.
Wie viel denn noch? Was machte ich mir da vor, es war doch klar gewesen, dass das Arbeit wurde. Und was für eine! “Ich rede da sowohl von der Bibliothek als auch von dem Wohnzimmer”, wies mich Tizian zu. Stumm kam ich seinen Befehl nach. Zum Glück war ich so schnell, denn nach einer Stunde hatte ich die beiden Räume im Eiltempo erledigt. Mit Zufriedenheit von meinem Meister.
Jetzt kam aber die Küche dran. Wieder durfte ich alles ausräumen. Hier war die Sonne besonders heftig. Schon bald klagte ich bei Tizian über Schwindel und Unwohlsein. Seine Reaktion war alles andere als schön. Feixend meinte er: “Na das tut mir aber leid. Du wirst arbeiten, ist das klar?”. Mutlos wischte ich wieder die Möbel und sagte: “Mir geht es aber wirklich nicht gut!”.
Es ein Lachen, was ich deutlich vernehmen konnte. Blitzschnell drehte ich mich um, was mich leicht benebelt werden ließ. “Argh..”, gab ich von mir und hielt mir den Kopf. “Du armes Ding, leidest du schön?”, fragte mich Tizian, der wie aus heiterem Himmel genau vor mir stand. Ich wollte zurückweichen, doch leider war die Ablage für das dreckige Geschirr im Weg.
Leichter Schmerz durchfuhr mich, erst Recht, als der Mann nach wie vor nicht von mir weichen wollte. Hatte er etwa gerade Lust mir auf die Pelle zu rücken? Anscheinend schon, denn er nahm meine Handgelenke. Sein Gesicht kam dem meinen immer näher. “Was … was hast du vor?”, flüsterte ich. Er sagte nichts, sondern machte einfach weiter.
Als ich schon seinen frischen - daran war nur Pfefferminz Schuld! - Atem auf meiner Haut spüren konnte, was mir eine immense Gänsehaut bescherte, hauchte er an meinem rechten Ohr: “Nichts, ich liebe doch nichts mehr, als dir zu zeigen, wer hier der Chef ist”. Er verharrte genau vor mir und ich war mir sicher, dass ich schon fast seine Lippen auf meine spüren konnte, als … als ich meinte: “Ja, Meister”.
Im nächsten Moment brach er in schallendes Gelächter aus. Schließlich ließ er mich los und da erkannte ich, dass er mich nur mal wieder verspottet hatte. Warum war mir das nicht vorher klar gewesen? Wie dumm war ich eigentlich? Als ob er mich je küssen würde! Gott, das war so peinlich! Dabei wünschte ich es mir schon fast sehnlichst. Peinlich berührt ging ich an ihm vorbei und ging der Arbeit weiter nach.
“Mir ist wirklich nicht gut”, murmelte ich nachdenklich vor mich hin, aber natürlich musste mich dieses egoistische, arrogante und ignorante, aber auch verdammt gutaussehende Arschloch verstehen! „Na so ein Pech aber auch“, konnte ich seine Stimme nur so vor Vergnügung wahrnehmen. Ich fragte: „Macht es dir Spaß mich so anzugehen?“. „Krystal, das ist doch alles nur ein Spiel“, meinte er süffisant und ich hätte ihn am Liebsten den Kopf mit einem der scharfen Messer, die ich gerade säuberte, abgehackt.
Es dauerte nicht lange, da tadelte er auch schon: “Aber, aber, mein Kristall. Pass auf dich auf, ich möchte doch nicht, dass du eines meiner geliebten Messer fallen lässt”. “Weißt du, das ganze Leben ist ein Spiel. Wer es mitspielt hat verloren, so wie du”, sagte Tizian, als ich nichts erwiderte. Es tat weh, dass er mich so derartig angriff, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte, als zu sterben.
Warum verletzte er mich mit Absicht? Verletzen? Wer? Er mich? Du meine Güte! Wieder hatte ich so eine Erkenntnis, die mich schwer traf. Ja, er verletzte mich mit seinen Worten ungeheuer. Hätte ich aber da gewusst, was passierte, als und nachdem ich die Eingangshalle kehrte und wischte, dann hätte ich mir vielleicht wirklich gewünscht, mir hier in der Küche die Pulsadern aufzuschlitzen.
Es war eher eine weitere Erkenntnis, die mich verdammt hart treffen sollte. Ich machte einfach mit meiner Arbeit weiter und ignorierte stur die hämischen Einwände von Tizian. Was sollte ich auch anderes tun? Wenn ich mich darüber aufregen würde, würde es eh nur wieder in einem Desaster enden. Also stellte ich mir vor, dass ich ganz alleine in der Küche war.
Nur leider klappte das nicht so gut, wie ich es mir erhofft hatte. “Hey, vergiss nicht, die Lebensmittel wieder einzuräumen!”, ermahnte mich Tizi, da ich dabei war, die Küche zu verlassen. “Ich darf doch wohl auf die Toilette und mich frisch machen!”, keifte ich und fand ihn einfach unverschämt. Mit einem Knurren, was sich meiner Meinung nach auch irgendwie ganz süß anhörte, gab er mir zu verstehen, dass ich mich zu beeilen hatte.
Ich ging in das Gemeinschaftsbad und natürlich musste ich nicht auf die Toilette. Mir war noch immer nicht gut und so blickte ich in den Spiegel. Vor mir sah ich ein Mädchen, das ziemlich fertig mit der Welt war. Die Haare waren spröde und die Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Außerdem konnte ich nur zu deutlich die düsteren Augenringe erkennen.
Um nicht noch zu riskieren, dass Tizian auftauchte, beendete ich mein kleines Blickduell mit mir selbst und bespritzte mich mit kaltem Wasser. Wenigstens das ist schön, dachte ich mir und erschrak. Als ich nämlich wieder aufsah, konnte ich eine weitere Gestalt ausfindig machen. Oh oh, das würde Ärger geben.
Kraftlos stützte ich mich an das Waschbecken ab und starrte auf den Boden. “Sieh’ mir in die Augen”, bat er leise, was ich langsam tat. Ich sah wohl ziemlich mies aus, denn seine Pupillen weiteten sich schlagartig und im nächsten Moment blickte er zu den Spiegel. “Entschuldige, ich brauchte nur eine kleine Pause und wollte mich frisch machen. Ich wäre gleich wieder von selbst aufgetaucht”, flüsterte ich.
Abwartend stand ich da und wusste nicht, was ich tun sollte. Daher ging ich mit tief gesenktem Kopf an ihm vorbei. “Schon gut”, sagte er und wollte mich am Arm festhalten, doch er streifte ihn nur, da ich zu schnell war. Erstaunt drehe ich mich um, da diese kleine Berührung in mir eine ungeheure Unruhe auslöste. Tizi sah mir in die Augen. Dieses Mal wollte er mich mit seinem Blick nicht durchbohren, sondern … aufhalten?
Er sah mich schon fast flehend an, was ich mir bestimmt nur einbildete. Ja, langsam würde es wohl wirklich ernst zwischen uns werden. Da war dann nichts mehr übrig von den bissigen Wortgefechten. Nur was wollte er von mir? “Ich mache dann weiter”, ließ ich ihn mit gebrochener Stimme wissen und ja, nebenbei ließ ich ihn noch stehen. Mitten in seinem prächtigen Badezimmer.
Hastig rannte ich zurück in die Küche. Na ja, rennen war übertrieben, ich lief schnellen Schrittes. Tizian war es bestimmt nicht gewohnt, eine Abfuhr erteilt zu bekommen. Ich musste meiner Arbeit nachgehen und sortierte alle Lebensmittel in die entsprechenden Fächer der Regale ein. Wieder empfand ich Spaß daran, aber natürlich war ich auch nachdenklich.
Nach ein paar Minuten war Tizi wieder bei mir, was mich schon etwas freute. “Ich bin hier fertig, was nun?”, wollte ich sachlich, aber mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen wissen, um damit zu erreichen, dass er nicht ahnte, dass sich meine Gedanken nur um die vorherigen Szenen drehten. Leicht abwesend sagte er: “Eingangshalle. Geländer und alles, was da steht vom Staub befreien. Kehren. Wischen”. “Alles in Ordnung?”, fragte ich vorsichtshalber nach, was er mir nur mit einem schwachen Nicken bestätigte. Jetzt war also der letzte Teil an der Reihe.
Das stellte sich als ziemlich anstrengend heraus. Ich fing zuerst damit an, die Treppen zu kehren, denn mir war klar, dass er auch die meinte. Von oben nach unten kehrte ich den immer größer werdenden Haufen. Haufen war übertrieben, denn da war kaum Dreck. “Ganz schön kräftezehrend”, bemerkte ich, als ich ganz unten war. Tizi sagte: “Dafür warst du aber ziemlich schnell und gründlich”.
Hatte er mir da gerade eben zwei Komplimente gemacht? Ich sah ihn an und musste einfach nur lächeln. Auch auf seinen Lippen stahl sich ein kleines Lächeln. Mir entblößten sich zwei Reihen schneeweißer Zähne. Und da fiel mir nebenbei auf, dass er sich umgezogen hatte. Nicht nur das, sein Haar war nass. War er etwa duschen gewesen?
“Dein Haar, es ist nass. Warst du unter der Dusche?”, fragte ich und wünschte mir im nächsten Moment, dass ich ihm diese Frage nie gestellt hätte. Er lächelte noch immer, als er meinte: “Kleine Krystal ist ja völlig rot angelaufen. Wie süß”. “Wie bitte? Ich … nein!”, stammelte ich und drehte mich von ihm weg. “Hey, das war wirklich schön anzusehen”, sagte Tizian schon fast ein wenig traurig.
Konnte mir mal jemand sagen, was mit dem los war? Ich sah ihm wieder in die Augen, die dieses Mal nicht kalt waren, sondern voller Wärme. Mir schien es fast so, als ob er mir genau das sagen wollte. Das ist doch nicht nötig, dachte ich, ich mag ihn doch schon so ziemlich sehr. Da konnte er noch so gemein zu mir sein.
Doch jetzt konzentrierte ich mich lieber dabei, meiner Arbeit nachzugehen. Die Möbel hatte ich schon sehr bald gesäubert. Jetzt war das Kehren dran. In einem gemütlichen, aber dennoch nicht zu langsamen Tempo lief ich hin und her. Mittlerweile war es mir egal geworden, ob ich dabei beobachtet wurde oder nicht.
Ab und zu gab mir Tizian sogar etwas zu trinken. Zwischen uns gab es aber auch viele Blickkontakte. Diese hatte meiner Meinung nach eine gewisse Magie, die ich nicht zu deuten wusste. Jedenfalls wurde mir davon schwindelig, aber ich fühlte mich dennoch sehr wohl. Sorgfältig fegte ich den Dreck auf die Müllschippe und beförderte ihn in den Eimer, der in der Ecke direkt neben der Abstellkammer stand. Ein kalter Schauer durchfuhr mich, was ich gekonnt ignorierte.
Lieber holte ich einen Eimer, in dem ich warmes Wasser füllte. Putzmittel durfte natürlich nicht fehlen, ha ha. Tizian war währenddessen auf den Treppen gegangen. Es klappte ganz gut, bis ich an der schönen Wanduhr ankam. Direkt davor war nämlich ein riesiger Fleck, den ich nicht weggewischt bekam.
Es ging sogar schon so weit, dass ich laut fluchte. “Du dämlicher Dreck, geh weg!”, brüllte ich. Wie eine Wahnsinnige fuhr ich immer wieder mit dem Schrubber über die klebrige Masse. “Was hast du da überhaupt verschüttet? Das war da vor kurzer Zeit noch nicht!”, schimpfte ich weiter vor mich hin. Im nächsten Moment fuhr ich aber herum, denn zwei Hände umschlossen den Schrubber. Natürlich berührte er auch meine Hände, denn sie befanden unter seinen.
Der Körper von Tizian war nur Millimeter von mir entfernt. Es tat mir weh. Mein Herz schien in die Höhe zu schlagen und sich gewaltig zu verkrampfen. Was …? Und da traf mich diese bittere Erkenntnis. Ich wich zurück und rutschte auf den glitschigen Boden aus. Unsanft landete ich auf meinen Hintern. Na vielen Dank auch, das war also der Dank für das Putzen. “Nein”, meinte ich aufgebracht, “das kann und darf nicht wahr sein!”. “Was meinst du?”, wollte er nüchtern wissen.
Nichts, dachte ich, außer das ich mich in dich verliebt habe. Mir wurde in wenigen Sekunden klar, warum ich immer so auf ihn reagierte. Warum ich über seine schroffen Worte immer wieder verletzt war. Warum ich nicht gehen wollte, als die Sache mit Justin war. Und schließlich auch das schlechte Gewissen, was ich gegenüber Tizi hatte, als ich mir vorstellte, Jus zu küssen. Ich sah auf und erkannte, dass Tizian mir die Hand reichte. Die konnte ich unmöglich annehmen!
Nicht, nachdem ich nun wusste, was mit mir los war. Leider hatte ich das nicht zu entscheiden, denn Tizi regelte das auf seiner Art und Weise. Mit einem Ruck - Gott, wie ich es liebte, wenn er das tat! - hatte er mir aufgeholfen. Nur hätte er das vielleicht nicht so schwungvoll machen sollen, denn ich stieß genau gegen ihn. “Ah!”, machte ich, da mich diese Nähe überrascht hatte.
Ich wollte nicht, dass er mich berührte, obwohl sich das so verdammt gut anfühlte. “Alles in Ordnung, Krystal?”, fragte er mich mit so einer Zärtlichkeit in der Stimme, dass es mir schon fast das Herz brach und nahm mein Gesicht in seine Hände. Der Schrubber knallte direkt neben uns auf den glänzenden Boden. Die Sonne schien, als wir uns direkt in die Augen sahen und ich kein Wort herausbrachte.
Mir war abwechselnd heiß und kalt. Ich fühlte mich schon fast fiebrig und doch zitterte ich. Daran war nur er oder besser gesagt seine Berührung Schuld. Und auch noch sein Blick! Diese Magie war einfach nicht von dieser Welt. “Bitte sieh’ mich nicht mit diesem Blick an, wenn du nicht in der Lage bist, mich zu mögen”, flüsterte ich mit bebender Stimme und spürte Wärme auf meinen Wagen. Das lag aber nicht daran, dass er mir nach wie vor nicht von der Seite wich.
Lange betrachtete er mich und meinte: “Weine nicht, du hast schon so viel Leid in deinem Leben erfahren müssen”. Ich weinte? Erst da nahm ich wahr, dass es glühend heiße Tränen waren, die sich den Weg über meine Wangen bahnten. Sanft wischte Tizian mir sie weg. Ich liebte diesen Mann. Und umso mehr ich daran dachte, umso heftiger schlug mein Herz.
Was sollte ich denn nun machen? Wieder war ich einem Menschen verfallen, der es nicht gut mit mir meinte. Bei ihm war das so offensichtlich, dass ich mich dafür ohrfeigen könnte, jetzt genau vor ihm zu stehen und zu weinen. Ich schluchzte nicht einmal und Tizi nahm mich auch nicht in den Arm. Wenn er das tun würde, würde es mich wahrscheinlich zerreißen.
Ich musste hier weg, wollte nicht, dass er mich noch mehr innerlich berührte, als er es ohnehin schon getan hatte. “Außerdem könnte ich dich nie mögen, geschweige denn hübsch finden. Geh’ dich ausruhen, ich kümmere mich um den Rest”, hauchte er mir leise entgegen und sein Blick glitt zu dem Schrubber. Und ich? Ich stand stocksteif da, hatte seine ersten Worte kaum realisiert und war erst recht nicht in der Lage mich zu rühren. “Das war ein Befehl, den du lieber ausführen solltest”, meinte er schmunzelnd und da erst konnte ich reagieren.
Langsam ging ich die Treppen hinauf. Immer wieder sah ich hinunter zu Tizian, der sich wirklich um den Boden kümmerte. Mich erinnerte diese Szene an ein Portrait. Der einzige Unterschied lag darin, dass es für mich lebendig war. Den Mann, den ich liebte, die Sonne, die durch die riesige Glaskuppel diese Eingangshalle in strahlendes Licht tauchte und schließlich die überaus kräftigen Farben, die dadurch kaum an Leuchtkraft zu übertreffen waren.
Als ich in meinem Zimmer ankam, warf ich mich erst einmal auf mein Bett und vergrub mein Gesicht in mein Kissen. Am Liebsten würde ich lauthals los schreien, doch dann würde Tizian wohl denken, ich würde irgendetwas Unmögliches machen. Also beließ ich es bei meinen Tränen, die einfach nicht versiegen wollten.
Erst jetzt dachte ich über seine Worte, die in der Eingangshalle gefallen waren, nach. Mein Herz verkrampfte sich dabei schmerzlich. Natürlich war mir klar gewesen, dass er mich nicht mochte und dass ich seinen Ansprüchen vom Aussehen her nie gerecht werden könnte, dennoch tat diese Erkenntnis weh. Wenigstens brauchte ich keine Beweise mehr. Ja, jetzt war es endgültig. Wie kam ich auch nur auf die absurde Idee, dass Tizi mich mochte? Ich musste wohl in einer Art Traumwelt abgedriftet sein, denn sonst hätte ich das wohl kaum gedacht.
Die beiden Frauen, die vor längerer Zeit da waren - ich glaubte sie hießen Tara und Tabitha - entsprachen wohl eher seinem Geschmack. Das war auch absolut kein Wunder, denn sie waren verdammt hübsch! Zudem waren sie keine Zwerge so wie ich. Bei ihnen waren keinerlei Spuren von Trauer oder Zurückhaltung zu sehen gewesen. Sie waren selbstbewusste junge Frauen, die ich auf Anfang bis Mitte Zwanzig, also eher in dem Altersbereich von Tizi, schätzte.
Wenn ich doch nur so aussehen könnte wie sie! Wobei mir die Dunkelhaarige dann doch lieber war. Blond erinnerte mich zu sehr an Jakob. Was er wohl gerade so machte? Einst hatte er mir prophezeit, dass ich mit meiner Naivität immer wieder nur ein Spielzeug für die Männer werden würde. Damals konnte ich doch nicht ahnen, dass er eines Tages damit Recht haben würde!
Wieder war ich jemanden verfallen, dieses Mal einem echten Mann. Jakob war mit seinen achtzehn Jahren vor drei Jahren bestimmt kein Mann gewesen. Nein, wenn ich so daran dachte, wie er sich verhalten hatte, dann hätte er glatt als Zwölfjähriger durchgehen können. Mit Tizian war ich nicht nur an einem waschechtem Mann geraten, nein, es kam noch schlimmer, an einem Sadisten.
Bei diesem Wort dachte ich an seiner verdammt üblen Seite. Konnte man das schon so bezeichnen? Ich war mir da nämlich nicht so sicher. Klar, er war fies und auch überaus unverschämt, aber so dumm war ich auch nicht. Er hatte nämlich auch eine nette Seite an sich, die in letzter Zeit ziemlich häufig in Erscheinung getreten war.
Was würde passieren, wenn ich ihm bedingungslos gehorchen würde? Vielleicht wäre ich dann doch etwas für ihn. Wenn er wirklich so ein Kontrollfreak war, dann würde er darauf anspringen, da war ich mir sicher. Nur, was wäre, wenn er sich dadurch mir gegenüber noch schlimmer verhielt?
In jedem steckte ein Monster, auch in ihm. Ich war mir nicht sicher, ob ich es lieben könnte, obwohl ich es bereits tat. Schlimmer konnte es doch gar nicht mehr werden! Dann dachte ich aber wieder an die Frauen. Die hatten sich ihm doch auch nicht unterworfen! Was war da nur los? Da war eine Lücke. In welcher Beziehung standen sie dann zu ihm, wenn sie keine Sklavinnen von ihm waren?
Vielleicht waren sie es ja, die ihn in der Hand hatten. Nur stellte sich mir dann wiederum die Frage, wie sie ihn unter Druck setzen konnten. Waren das vielleicht gefährliche Kriminelle? Immerhin hatte ich mal den Verdacht gehabt, dass Tizian etwas mit der Mafia zu tun hatte. Seine Wurzeln lagen in Italien und die waren dafür ja schließlich bekannt.
Anderseits könnte ich auch mal die Bücher, die sich in dem Zimmer befanden, das direkt zu der Terrasse unweit des Gartenhäuschens führte, lesen. Da fiel mir auch gleich auf, dass ich den Raum vergessen hatte zu putzen. Morgen, dachte ich mir, morgen würde ich dem auf die Spuren gehen. Kleine Krystal spielte Detektivin, das wäre doch mal etwas anderes, oder nicht?
Immerhin eine Sache hatte ich mir schon vorgenommen. Ich würde Tizi bedingungslos gehorchen, egal um was ging. Selbst wenn ich wieder an meine Grenzen kommen würde oder diese sich um einen endlosen Horizont erweitern würden, ich würde es tun. Für Tizian, den Mann, den ich liebte.
Natürlich wollte ich auch Taten sprechen lassen, schließlich wollte ich mir nicht umsonst geschworen haben, für Tizian alles zu tun. Was er wohl gerade machte? Ich wollte es ehrlich gesagt nicht wissen, denn als Erstes wollte ich etwas Verbotenes tun. Nicht, weil das Geheimnisvolle so verlockend war, sondern weil ich Tizi etwas Gutes tun wollte.
Wahrscheinlich war er eh noch in der Eingangshalle, ach was wusste ich schon? War mir auch egal, denn ich musste mich beeilen. Wie gut, dass unsere Zimmer so gut wie gegenüber voneinander lagen. In mir wuchs dann doch die Neugier. Was würde mich erwarten? Vielleicht hatte er ja da … Nein, ich wollte nicht daran denken, wie er sich mit anderen Frauen vergnügte.
Wie aufs Stichwort spürte ich einen heftigen Stich in meinem Herz. Ich blieb auf halbem Weg stehen und legte meine Hand über besagtes Organ. Meine Güte, es schlug verdammt unregelmäßig, es spielte gar verrückt! Konnte denn nicht alles so wie früher sein? Dafür war es einfach viel zu spät. Ein Blick hatte ausgereicht, um mich sprachlos zu machen und ja, da wurde es mir klar.
Wenn der erste Blickkontakt schon ausgereicht hatte, mich so dermaßen durcheinander zu bringen, dann war ich mir sicher, dass man das schon fast als Liebe auf den ersten Blick bezeichnen konnte. Dabei hatte ich keinerlei Ahnung! Tizian hatte davon bestimmt Ahnung. So wie er aussah und sich verhielt…
Am Liebsten würde ich ihn fragen, was er schon so alles in der Liebe erlebt hatte, doch dafür fehlte mir der Mut. Bestimmt würde er dann sofort wissen, was ich für ihn fühlte. Ich schüttelte mit dem Kopf. Das war absolut keine gute Idee, ich sollte mich lieber auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
Die Tür von seinem Zimmer sah aus wie meine, doch ich wusste, dass sich dahinter noch viel mehr verbarg, denn dafür war es einfach zu groß. So kam es mir jedenfalls vor und ich sollte auch Recht behalten. Kaum öffnete ich die Tür, offenbarte sich vor mir ein schmaler Gang. War ich hier etwa in einer Höhle gelandet? Mal wieder verblüffte mich mein Meister. Wieder waren dort Fackeln, dieselben wie an den Gemälden bei den Treppen der Eingangshalle. Nur waren diese hier von allen möglichen Farben umgeben. Hatte er etwa ein Kind? Normalerweise war das nämlich eher etwas für Bälger. Ich hasste sie, denn sie kreischten einfach nur wild rum und hatten keinen Respekt mehr vor den Älteren, dazu zählte ich auch Jugendliche.
Gut, ich war auch nicht besser gewesen, doch bemühte ich mich, nicht mehr so schnell auszurasten. Das war schon komisch genug, aber Tizian schoss den Vogel ab! Warum um alles in der Welt diese Farben? Ich setzte meinen Weg fort, denn der Gang war in Wahrheit nur eine Art Schleichweg. Vor mir sah ich erneut eine Tür. Zum Glück erleuchteten die Fackeln alles, denn sonst wäre ich wirklich im geliefert!
Das sollte mich aber nicht aufhalten. Im nächsten Moment wäre ich fast auf den Boden gefallen. Oder eher auf Treppen. Treppen, die nach unten führten. Langsam aber sicher dachte ich, dass er dort unten einen Bordell oder einen Swingerclub betrieb. Irgendetwas in der Art, denn die Wände waren nun rot.
Wie skurril war dieser Kerl eigentlich? Ich musste wissen, was sich hier verbarg. Nur so konnte ich lernen, den Mann, dem ich mein Herz und meine Würde geschenkt hatte, zu verstehen. Das wollte ich. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Quatsch, ich wollte ihn. Nur ihn. Ich könnte auf alles verzichten, aber nicht auf Tizian.
Mittlerweile spürte ich wieder normalen Boden unter meinen Füßen. Gott sei Dank! Ich hatte schon leicht Angst, dass ich bis an mein Lebensende Treppensteigen musste. Hallo Tür Nummer drei! Bevor ich da durchgehen würde, sah ich mich um. Wieder war die Dekoration eine andere. Dieses Mal dominierten nicht warme Farben, sondern kalte. Ich war mir so verdammt sicher, dass sich hinter dieser Tür das Schlafzimmer von Tizian befand.
Ich hatte die Türklinke schon fast hinunter gedrückt, als sie sich öffnete. Ich stieß einen spitzen Schrei aus - und sah in das Gesicht von keinem Geringeren als Tizi. Was mich aber stutzig machte, war die Tatsache, dass er nicht einmal eine Augenbraue hob. Da war doch etwas faul! “Du willst tatsächlich in meiner Vergangenheit herum wühlen? Nur zu, wenn du durch diese Tür gehst, dann kann ich mich nicht mehr herausreden”, hauchte er mir schon fast bedrohlich ins Ohr.
Schwindel überkam mich und ich stützte mich an dem Türrahmen ab, glitt gar zu Boden. Ich wagte es nicht, ihn dabei anzusehen, denn das konnte ich dann doch nicht. Tizian dagegen stellte sich genau vor mich, wobei ich mich wunderte, wie er das konnte, denn bei seiner Größe war er schon ein kleiner Brocken. Und er war … nur in Boxershorts bekleidet.
“Ha - Hast du denn nicht schon geduscht?”, fragte ich und musste mich darauf konzentrieren, seinen verdammt gut gebauten Körper nicht zu bestaunen. Dieser war einfach nur perfekt! Man konnte sehr deutlich Muskeln sehen, doch war es nicht zu übertrieben. “Kleine Krystal macht wohl schon wieder schlapp”, neckte er mich überaus kalt und ging in die Hocke.
Musste das denn wirklich sein? Ich schreckte hoch und da nahm er mich doch tatsächlich bei meinen Füßen! “Lass das!”, kreischte ich schon fast, aber der Mann hörte nicht auf mich. Er meinte: “Weißt du, was ich am Liebsten mit dir machen würde? Das willst du gar nicht wissen, denn dann würdest du erst recht bereuen, dich auf den Deal mit mir eingelassen zu haben”.
Okay, das war jetzt schon fast obszön. “Kannst du mich mal bitte wieder auf den Boden stellen? So hohe Luft bin ich nicht gewöhnt und du machst mir Angst!”, keifte ich schon fast panisch. Natürlich hörte er nicht auf mich. Lieber ging er mit mir auf seinem Rücken in sein Zimmer. Was war denn hier los? Im nächsten Moment landete ich auf etwas weichem. Sein Bett.
Ich begann zu zittern und wollte gar nicht wissen, was er mit mir anstellen wollte. Lieber wollte ich wieder aufstehen, doch Tizian warf sich schon fast auf mich. Mit geweiteten Pupillen sah ich ihn an. Auch sein Blick lag auf mich, sein dichtes Haar war ihm dabei ein wenig in das reine Gesicht gefallen. Und dieser Duft nach Pfefferminze, den er immer an sich hatte, war so stark wie nie zuvor. “Was hast du mit mir vor?”, wollte ich wissen, während ich begann, wild um mich zu schlagen.
Zwar war es eigentlich war, doch jagte mir die Kälte von Tizian ungeheure Schauer über meinen gesamten Körper. “Nichts”, antwortete er monoton und drückte meine Handgelenke mit so einer Kraft auf den weichen Stoff des Bettes, dass ich nicht in der Lage war etwas zu tun. Zudem war eines seiner Beine … zwischen meinen. Das erinnerte mich an den Abend, an dem ich ihm wehgetan hatte.
Das Licht in diesem Raum war gedämpft, doch konnte ich Tizian sehr gut sehen, der mich wortlos anstarrte. Ich versuchte, irgendetwas in seinen Augen zu lesen, doch es wollte mir einfach nicht gelingen! “Du machst mich mit deiner überaus grotesken Art wahnsinnig!”, flüsterte ich unter dieser in mir aufgekommenen Leidenschaft. Dabei dachte ich natürlich nicht an Sex.
Für mich kam das nur in einer Beziehung in Frage. Dennoch wollte ich, dass Tizi mich berührte und nie wieder losließ. “Was erwartest du von einem Sadisten?”, hauchte er mir entgegen, was mich die Augen schließen ließ. Sein Gesicht kam mir wieder so nahe, dass die Luft zum Atmen ungeheuer knapp wurde. Um auf seiner defensiven Frage zurückzukommen, sagte ich: “Genau das hier. Unberechenbarkeit”.
Ein heiseres Lachen drang durch seine Kehle und sein Körper bebte über mich. Er sah mich genau an, als er noch näher kam. “Tu das nicht”, flehte ich schon fast, woraufhin er flüsterte: “Ich kann nicht. Ich kann mich bei dir nicht beherrschen. Du weißt gar nicht, wie es ist, wenn du so viel Kontrolle über einen Menschen hast”. Darum ging es ihm also.
Tiefe Enttäuschung machte sich in mir breit und ich lenkte mein Augenmerk auf etwas anderes. “Dein Lieblingshemd?”, wollte er wissen. Erst da realisierte ich, wo ich hingesehen hatte. Auf einem Stuhl, der an einem Tisch stand, lagen ein paar Hemden, unter anderem das schwarz-rot karierte. Mehr als ein schwaches Nicken brachte ich nicht zustande. Wider Erwarten ließ er von mir ab und ging zielstrebig auf den Schreibtisch zu. Schwer atmend beobachtete ich ihn bei seinem Vorhaben.
Er nahm besagtes Hemd in die Hand und zog es an, nachdem er sogar ein paar Knöpfe zugemacht hatte. Was sollte das denn nun? Danach griff er nach einer herumliegenden Jeans. Wie betäubt lag ich auf seinem Bett und starrte ihn an. “Ist es nicht das, was du wolltest?”, fragte er mich matt. “Wie… Was? Ich… nein!”, stammelte ich wild durcheinander und setzte mich hin.
Wieder musste er lachen und stand direkt vor mir. “Warum siehst du dich nicht um?”, lautete seine nächste Frage. Ich antwortete: “Weil ich möchte, dass du mir freiwillig von dir erzählst”. “Und das obwohl ich dich halb dazu zwinge, es aber noch mehr bei dir tue?”, widersprach er mir. Als ich nicht antwortete, gab er mir einen Kuss auf die Stirn. Ich spürte ungeheure Kälte, die mich schon fast erzittern ließ.
Nein, das durfte ich nicht so offen stehen lassen! “Warum … Warum hast du das getan?”, wollte ich wissen. Fragend blickte er mir in die Augen, woraufhin ich meine Frage ausformulierte. “Erst das in der Eingangshalle, dann erwischst du mich dabei, wie ich in dein Schlafzimmer will, zuvor du nebenbei immer etwas dagegen hattest, dann nimmst du mich bei meinen Füßen und wirfst mich auf dein Bett. Auf dein Bett!”.
Freudlos lachte Tizian auf und meinte, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre: “Ich hatte dazu eben Lust”. “Ach ja? Damit nicht genug haltest du mich hier halb fest!”, redete ich mich schon fast in Rage. Das schien ihn aber kalt zu lassen, denn er zuckte nur gelangweilt mit den Schultern. “Krystal, du wirst es nie schaffen, meinen Charakter zu ergründen. Nie. Außerdem weißt du ganz genau, dass es mir Spaß macht, so mit dir umzugehen”, ließ er mich emotionslos wissen.
Tränen stahlen sich in meinen Augen. Wieder einmal war ich nur sein Spielzeug gewesen. Dieses Mal brachte ich kein Wort heraus, sondern starrte den Boden an. Er war wie der aus der Eingangshalle aus Marmor. Wenigstens kann ich mich nun mal umsehen, dachte ich und hob dann doch meinen Kopf oder besser gesagt, ich wollte es. Anscheinend hatte sich Tizian es doch anders überlegt.
“Es wird Zeit, dass wir hier hinaus gehen”, sagte er und schlenderte auch schon Richtung Tür. Ich durfte mich nicht betroffen zeigen und daher meinte ich: “Gut, dann kann ich ja endlich das Abendessen machen”. “Endlich? Seit wann willst du denn etwas freiwillig machen?”, wunderte er sich offensichtlich, was mich zum Lächeln brachte. Ja, ich würde aufholen!
So lässig wie möglich meinte ich: “Ach, das gehört doch mittlerweile dazu und so wie ich dich kenne liebst du es doch, wenn die Menschen dir gehorchen. Das tue ich doch nun nur, also lehne dich zurück und entspanne dich”. Im nächsten Moment hörte ich ein Knurren, was mich zum Lachen brachte.
Das hätte ich lieber nicht tun sollen, denn blitzschnell presste mich Tizi gegen die Tür - mittlerweile waren wir nämlich schon so weit. “Ich bin derjenige, der sich über dich lustig macht und nicht umgekehrt!”, sagte er scharf und nahm mein Kinn etwas grob in seine Hand. “Haben wir uns verstanden?”, wollte er wissen, woraufhin ich nur kleinlaut nicken konnte. Das war ihm wohl nicht genug, denn er fragte dieses Mal lauter.
“Ja doch, mein Meister!”, schrie ich schon fast unter Schmerzen und blinzelte vereinzelte Tränen weg. “Brav”, amüsierte er sich über mein Verhalten und schubste mich vor sich her. Ich sprach kein Wort mehr mit ihm. Anscheinend gefiel ihm mein Vorhaben überhaupt nicht, doch ich würde es trotzdem durchziehen. Nur machte es mich verdammt traurig, dass er wieder solche Stimmungsschwankungen hatte. Der war doch echt nicht mehr normal!
Jedenfalls setzte ich meinen Weg in die Küche fort. “Wohin willst du?”, fragte Tizian sofort und ich antwortete: “Na, ich sagte doch, dass ich Essen machen will. In der Zeit, in der ich hier bin, habe ich das mittlerweile gelernt und durch deine Ratschläge bin ich sogar schon besser, als die meisten”. “Mich wirst du aber nie übertreffen”, meinte er barsch, woraufhin ich sagte: “Das möchte ich auch gar nicht”.
Nach diesen Worten hörte ich ihn - wie so oft, wenn ihm etwas nicht passte - scharf die Luft einatmen. “Aha”, machte er nur. “Ja, was willst du denn essen?”, blieb ich überaus sachlich. Als Tizian mir nicht antwortete, blieb ich stehen und sah mich um. Fast schon gedankenverloren sah er eine seiner Fackeln an, die entlang der Wand standen, die wiederum bei den Gemälden anfing und das Mittelstück der Villa einkreisten. Also da, wo sich sein Zimmer befand
Langsam aber sicher kam ich durcheinander, aber ich würde das Kind schon schaukeln, da war ich mir sicher. Ich sah weiterhin zu Tizi, der mit starrem Blick dem Feuer seine Aufmerksamkeit widmete. “Alles in Ordnung?”, wollte ich wissen. Immer noch keine Reaktion. “Hallo?”, fragte ich leicht gereizt. Ignorierte er mich etwa? Das würde ich nicht auf mich sitzen lassen!
Ich sprang auf seinem Rücken, wobei er sich erschreckte und schon fast um sich schlug. So was kannte ich gar nicht von ihm. Zum Glück konnte ich ihm gerade noch rechtzeitig ausweichen, denn sonst hätte ich wohl ein blaues Auge. “Was sollte das denn?”, fragte er mich und versuchte mich wütend anzufunkeln, doch das gelang ihm nicht. Mir war eher so, als ob er ungeheuer durcheinander war.
Um ihn nicht noch wütender zu machen, rappelte ich mich schnell auf und sagte: “Es tut mir leid, aber du hast gar nicht reagiert, als ich dich fragte, was du essen möchtest. Da dachte ich, dass du mich ignorierst und ja deswegen habe ich dich angesprungen”. Im nächsten Moment wurde seine Miene gleichgültig. Er meinte: “Na dann. Was hast du denn von mir schon so gelernt?”.
Wie konnte er nur jetzt so sachlich bleiben? Ich verstand ihn überhaupt nicht. “Ähm, schlage du etwas vor und ich sage dir, ob ich das kann”. “Nun, wie wäre es mit einem schmackhaften Sauerbraten?”, antwortete er mit einem süffisantem Grinsen. Ha ha, dachte ich, wahrscheinlich denkst du, dass mir jetzt die Augen ausfallen. Na warte, dir werde ich es zeigen!
Lächelnd, ja geradezu strahlend, sagte ich: “Ja, das ist kein Problem für mich. Ich möchte dich nur daran erinnern, dass das seine Zeit braucht”. “Das war Ironie”, wies er mich hin. Täuschte ich mich oder schien er tatsächlich erstaunt darüber zu sein? “Nichts da! Na los, ich fange an”, widersprach ich ihm und zog ihn von den Fackeln weg.
Wie ein lebhaftes Kind tänzelte ich zur Küche, wobei Tizi nur immer wieder genervt meinte, ich solle damit aufhören. Mir war klar, dass ihm meine gute Laune und diese immense Einsatzbereitschaft, die ich gerade an den frühen Abend legte, nicht gefielen. Das war auch sozusagen mein Ziel. Ich würde den Spieß umdrehen und außerdem hatte ich dabei wirklich Spaß. Also bei dem Ausführen seiner Befehle.
Voller Tatendrang holte ich die Zutaten aus den entsprechenden Regalen, wobei Tizian gelangweilt am Tisch saß. “Du kannst aufhören damit!”, meinte er barsch. Sofort erstarrte ich halb. “Warum?”, wollte ich wissen, woraufhin er antwortete: “Du hattest vorhin Recht, es ist schon viel zu spät dafür”. Oh, jetzt wollte er mich wohl ärgern, aber nicht mit mir!
Ich lächelte ihn kurz an, packte die Lebensmittel zurück und sagte: “Gut, dann wasche ich eben Wäsche. Ach ja, ich habe dein Zimmer der Vergangenheit vergessen zu putzen, das muss ich auch noch machen”. Ich wollte schon an ihm vorbeigehen, doch er holte blitzschnell mit seinem Arm aus. Grob hielt er mich fest und ich sah erneut zu ihm auf.
Warum musste er nur so verdammt gut aussehen? Die obersten Knöpfe seines Hemdes hatte er nämlich nicht zugemacht und so hatte ich einen kleinen Ausblick auf seinem muskulösen Oberkörper. Die Arme waren bis zu den Ellen hochgekrempelt. “Sag mal, was bildest du dir überhaupt ein?”, fragte er, was mich gehörig stutzig machte. Was sollte das denn?
Irritiert starrte ich ihn weiterhin an, woraufhin er nur noch wütender wurde. “Nur weil du meine Sklavin bist, heißt das noch lange nicht, dass du …!”, schrie er mich an, was mich geschockt zurückweichen ließ. Seine Laune war mal wieder so wechselhaft. “Ich … ich”, stotterte ich, doch dann brüllte er: “Was denn? Rede doch und stammele hier kein wirres Zeug!”.
Diese Augen! Sie waren so dunkel wie noch nie. “Du solltest lieber deinen Satz zu Ende führen!”, gab ich von mir. Im nächsten Moment war er wieder bei mir. Er hielt mich an meinen Armen fest und flüsterte: “Du wagst es tatsächlich? Das hat dich nicht zu interessieren!”. Er war eindeutig auf 180.
Ich schluckte schwer. Dann sagte ich: “Kannst du mich bitte los lassen? Und ja, entschuldige, dass ich mich dafür interessiere, was du sagst”. “Das tut hier wirklich nichts zur Sache! Hüte dich!”, gab er säuerlich zurück, aber immerhin ließ er von mir ab. Danach rauschte er schnellen Schrittes davon und ich blieb noch immer nicht ganz erholt allein zurück.
Dennoch wollte ich nicht einfach so in mein Zimmer gehen. Ich kochte doch etwas. Es war komisch, alleine zu essen, denn normalerweise legte Tizian darauf großen Wert. Aber wenn er so wütend war, dann wollte ich lieber nicht mit ihm an einem Tisch essen und so stellte ich ihm sein Essen nur hin. Vorsichtshalber wickelte ich darüber Alufolie, damit es nicht zu sehr an die Luft kam.
Zu meiner Freude kam er aber doch noch, nur schwieg er beharrlich. Ich beließ es dabei, ihn nicht anzusprechen, denn ich wusste, dass das nur diese verdammte neue - und doch so vertraute! - Situation verschlimmern würde. Diese Kühle, die von ihm ausging, verletzte mich dennoch sehr. Guten Hunger!
Als Tizian fertig mit dem Essen war, ging er wortlos. Ich blieb alleine zurück, denn ich hatte mir extra viel Zeit gelassen, um die Nähe zu ihm genießen zu können. Davon konnte ich aber auch nicht reden, denn was war das schon? Schweigen am Tisch. Das tat einfach nur weh. Dennoch war es für mich immer wieder schön, mit ihm zu essen. Mir machte das sogar nichts mehr aus.
Was sollte ich denn jetzt machen? Ich ertrug schon jetzt nicht mehr diese frostige Stimmung. Was war auch nur in ihm gefahren? So kannte ich Tizian überhaupt nicht. Natürlich kannte ich seine unbeherrschte und vor allem seine kühle Seite, doch so hatte ich noch nie erlebt. Das machte mir Angst, sehr große Angst. Wer wusste schon, wohin das noch führte.
Es könnte alles so schön sein, wenn … wenn was? Das war hier die Frage. Was war dafür nur verantwortlich, dass Tizian und ich uns mal wieder so nahe und doch so fern waren? Erst jetzt wurde mir klar, wie nah diese beiden Dinge doch lagen. Nähe und Distanz. Wie Feuer und Wasser. Wie Zucker und Salz. Tag und Nacht - ein sich wechselnder und doch wiederholender Kreislauf.
Ich war mir sicher, dass sich daran auch nichts ändern würde, schließlich konnte man sich weder die ganze Zeit anschreien noch nett zueinander sein. Das ging nicht. Und es würde auch nie funktionieren. Schon fast verloren saß ich noch immer an dem Esstisch und starrte den Rest meines Essens an. Mir war der Appetit gründlich vergangen.
Voller Frust schaffte ich es dann irgendwann doch noch, den Tisch abzuräumen und kümmerte mich sofort um den Abwasch. Es tat gut, dass schon fast heiße Wasser an den Händen zu spüren, denn es erweckte mich leicht aus der Trance. Bestimmt waren meine Augen leer und glasig. Ich war nicht den Tränen nahe, sondern einfach nur am Grübeln.
Erst als ich merkte, dass mich etwas berührte schreckte ich auf, doch dummerweise fiel mir die Tasse, die ich gerade mit dem Lappen säuberte, aus der Hand. Sie zerbrach in tausende von Scherben, was mich an die erste Begegnung mit Tizian erinnerte. Jetzt aber konnte ich mir keinen Fehler mehr erlauben, denn besagter Mann stand vor mir und starrte auf den Boden.
Sofort bückte ich mich, um die großen Scherben in meine Hand zu horten. Nebenbei murmelte ich etwas von einer Entschuldigung. Wider erwarten aber sagte Tizian: “Schon gut. Lasse das liegen, du kannst gehen”. “Wie jetzt?”, fragte ich sehr verwirrt, woraufhin er antwortete: “Mache, was du willst”. Was war das denn nun wieder? “Äh …”, machte ich, aber er unterbrach mich. “Du kannst tun und lassen, was du willst, aber die verbotene Tür ist nach wie vor Tabu”.
Damit sprach er eindeutig sein Schlafzimmer - oder sollte ich schon Kammer sagen? - an. “Okay”, wisperte ich und murmelte vor mich hin, dass ich mich nach ein paar Minuten Ausruhen dem Zimmer an der Terrasse widmen wollte, was Tizian mit einem leisen Knurren zur Kenntnis nahm.
Natürlich fragte ich mich, warum er so reagierte, doch das beantwortete sich von selbst. Erst jedoch begab ich mich auf mein Zimmer, damit ich über den heutigen Tag, der noch gar nicht geendet hatte, nachdenken konnte. Was für ein Wechselbad der Gefühle! Mal war Tizian mir so nahe, dass ich schon dachte, dass er irgendetwas vor hatte. Am Ende war er aber dann doch wieder so distanziert.
Dieser Kerl war schlimmer als ich zu meinen besten Zeiten. Kaum waren diese in meinen Kopf gekommen, ließen sie mich nicht mehr los. Sie schienen mich zu verfolgen, denn ich konnte mich keinen anderen Themen mehr widmen. Manchmal wünschte ich mir, dass ich meinem alten Ich gegenüberstehen konnte, nur um zu sehen, wie sehr ich mich schon verändert hatte.
Natürlich wusste ich, dass das nicht ging, so sehr bin ich dann doch nicht von der Realität abgedriftet, dennoch interessierte mich das brennend. Vielleicht würde mich mein altes Ich anschreien, was denn nur aus mir geworden war, da ich so verletzlich war. Was würde ich nur antworten?
Darauf wusste ich auf Anhieb keine Antwort, was vielleicht auch besser war. So schnell konnte ich mich auch nicht mehr verändern, schließlich hatte ich über ein halbes Jahr gebraucht, um zu merken, dass ich mich im Prinzip auf dem ersten Blick in Tizian verliebt hatte. Zum Glück wusste er nichts davon, denn sonst würde er mich wohl hochkantig auf die Straße setzen.
Daher beschloss ich, seine Nähe aus der Ferne zu genießen. Mir war klar, dass mir dennoch etwas fehlte, aber seine Worte, die in der Eingangshalle gefallen waren, kurz nachdem mir klar wurde, dass ich mich in ihn verliebt hatte, machten meine kleinen Hoffnungen zunichte. Er konnte mich nie mögen geschweige denn hübsch finden. Das war nur allzu deutlich gewesen.
Irgendwie musste ich damit leben, doch es schmerzte total, wenn ich daran dachte. Ich konnte doch gar nichts dafür, dass ich so war und aussah wie heute. Oder? Vielleicht machte ich mir da nur etwas vor. Im Lügen war ich schließlich gut genug. Ich gestand mir so Einiges ein. Ja, ich versteckte mich hinter einer kühlen Fassade und ja verdammt, ich war eine Marionette meiner Selbst.
Wie Tizian das so schnell bemerken konnte, war mir ein Rätsel. Vor ein paar Monaten kannte er mich überhaupt nicht. Machte ich denn wirklich so einen schwachen Eindruck? Das wollte ich nämlich nicht. Ich wollte als tough gelten, was mir auch immer gelungen war. Die Jugendlichen in der Lagerhalle hatten immerhin nichts davon mitbekommen.
Tizi brauchte mich wohl nur anzusehen, um schon zu wissen, dass ich überhaupt nicht das Mädchen war, welches ich zu sein schien. Anscheinend hatte er eine brillante Kombinationsgabe, denn sonst hätte er mich nicht so schnell enttarnt. Wie auch immer, ich hatte es abgestritten und bestimmt dachte er auch nicht mehr daran.
Jetzt war es aber an der Zeit, das schöne Zimmer herzurichten. Wie ich mich auf das Putzen freute! Hoffentlich wurde ich davon so müde, dass ich in mein Bett fiel und sofort einschlafen konnte. Ich war nun einmal nicht perfekt, damit müsste Tizian auskommen und wenn nicht, dann wusste ich auch nicht weiter. Ich atmete tief durch und dann machte ich mich auf den Weg. Ich war froh, dass ich dem Mann, den ich liebte, nicht begegnete, fragte mich aber gleichzeitig, was er gerade so tat.
Schneller als ich dachte, wusste ich auch, womit Tizian sich beschäftigte. Als ich mit Eimer und Schrubber das Zimmer betreten hatte, sah ich, dass die Terrassentür offen stand. Tizian hatte es sich auf einem Liegestuhl bequem gemacht und blicke den dunklen Nachthimmel an. Einen Moment galt mein Blick nur ihm, denn auch diese Szene hatte etwas faszinierendes an sich.
In diesem Augenblick kam mir alles so ruhig und schön vor, als ob ich im siebten Himmel wäre. Wie absurd, dachte ich, denn so würde es nie sein. Dafür waren wir einfach zu verschieden. Auf Dauer würden wir uns wieder halb die Köpfe einschlagen. Mit einem schmerzhaften Ende für mich. Es war schon irgendwie besser so, wenn Tizi und ich nur Meister und Sklavin waren.
Das mit uns würde niemals funktionieren. Er sah mich nur als Putze an. Mehr war ich doch gar nicht für ihn, außer eine nervtötenden Zicke. Die nervtötende, zickige Putze. Hörte sich doch gut an, nicht wahr? Jedenfalls widmete ich mich nun lieber dem Putzen, denn Tizian hatte sehr wohl bemerkt, dass mein Blick an ihn klebte. Ich schüttelte mit dem Kopf und begann, die Regale auszuräumen.
Ich fing mit dem Bücherregal an. Wäre Tizi nicht in meiner Nähe, hätte ich einen Blick in die dicken Wälzer geworfen. Er wusste ganz genau, dass mich Geschichte brennend interessierte und die begegnete uns immer. Was könnte er schon großartig mit Italien zu tun haben? Gut, wenn ich genauer über sein Äußeres nachdachte, konnte man schon kleine, feine, italienische Züge erkennen, doch sah er mir eher nach Deutsch aus.
Immerhin hatte er den Charakter eines Italieners. Sein Temperament stach förmlich aus ihm hervor. Vielleicht kamen aber auch nur seine Eltern aus Italien, immerhin hatte er von da auch Vorfahren. Wobei, das hieß es noch lange nicht. Auch hatte er nicht das typische Verhalten, was mich an Männern aus Italien erinnerte. Täuschte ich mich oder waren die nicht eher Machos?
Da fielen mir wieder die beiden Frauen ein. Woher kamen die überhaupt? Ich glaubte, dass sie Schwestern waren, denn vom Gesicht her waren sie sich sehr ähnlich. Das Einzige, was sie mit Tizian gemeinsam hatten, waren diese feinen, italienischen Gesichtszüge.
Dann waren sie eben alle aus dem Land der Römer. Mir egal, das Einzige, was mich dann doch etwas nachdenklich stimmte, war die Tatsache, dass Tizian mit ihnen total lieb umging. Vielleicht hatten sie ihn ja wirklich in der Hand. Diese Gedanken hatte ich schon einmal. Es könnte aber auch sein, dass sie seinen überaus teuren Lebensstandard finanzierten.
Mittlerweile war ich mit dem Zimmer fertig, jetzt fehlten nur noch die Fenster und dazu gehörte natürlich auch die Terrassentür, von der Tizian nicht sehr weit weg vor sich hin starrte. Wie gerne würde ich gemeinsam mit ihm zu den Sternen blicken, die sich heute von ihrer schönsten Seite zeigten. “Wolltest du nicht putzen?”, riss mich seine Stimme aus der schönen Vorstellung.
Die konnte er mir nicht nehmen! “Ja, das tue ich doch”, antwortete ich, woraufhin er nur meinte: “Seitdem du mit dem Innenteil fertig bist, hast du mich nur angestarrt und dir deinen Teil gedacht”. Wie direkt er schon wieder war! Manchmal war das bei ihm wirklich zum Verzweifeln. Ich meinte: “Entschuldige, aber dieser Anblick hat mich nur an etwas erinnert”.
Kaum hatte ich das gesagt, ging ich kurz zu dem Wasserhahn, der schlauerweise an dem Gartenhäuschen angeschlossen war und wechselte das Wasser. Dann begann ich, die Scheiben zu säubern. “Und an was?”, fragte Tizi mich. Ich schluckte schwer. Sollte ich oder sollte ich nicht? Was konnte mir da schon großartig passieren?
“Ich … Ich hatte auch einmal Träume gehabt und was für welche!”, platzte es dann doch aus mir heraus und im nächsten Moment hätte ich mir am Liebsten auf meiner schnelle Zunge gebissen. Da hatte ich mich wohl wieder in etwas hinein geritten. Mal sehen, in was und wie sehr.
“Aha”, sagte Tizian zu meinem Erstaunen aber nur. Davon ließ ich mich aber nicht beirren, denn wenn ich schon einmal damit angefangen hatte, konnte ich ihm gleich mein Puzzle der Träume offenbaren.
Nachdenklich wie eh und je starrte ich auf die glänzende Scheibe, die ich zuvor sauber gemacht hatte und sagte: “Man mag es nicht glauben, aber auch ich hatte mich früher Träumen hingegeben”. Das Einzige, was ich vernehmen konnte, war der ruhige Wind. Gut, wenn es ihm nicht interessiert, führe ich eben Selbstgespräche, dachte ich, das musste einfach mal raus.
“Weißt du, mein Leben war nicht immer so wie es jetzt ist. Früher einmal war ich ein wirklich lebhaftes Mädchen gewesen, dem es an nichts fehlte”, begann ich schließlich, was Tizian mit einem kleinen Nicken abtat. Ich fuhr fort: “Ich habe mein Leben geliebt, denn ich hatte alles, was ich brauchte. Eine Familie, die mich so nahm wie ich bin und gute Freunde, auf die ich mich verlassen konnte. Damals brauchte ich keinen Freund, denn mir reichte das Leben, was ich führte, völlig aus”.
Ich machte eine kleine Pause, in dem ich die nächste Scheibe wischte. Nachdem ich tief eingeatmet hatte, flüsterte ich: “Als das mit Jakob anfing, änderte sich mit einem Schlag alles. Ich veränderte mich, wurde blind vor Liebe und den Rest kennst du ja schon. Dennoch gab ich Anfangs meine Träume nicht auf”. Mein Blick glitt zu Tizian, der überaus nachdenklich zu dem Nachthimmel sah.
Schon leicht bitter lachend meinte ich: “Früher einmal versprach mir dieser Mistkerl, dass er mir einen Stern vom Himmel holen würde. Natürlich nur im übertragenen Sinne. So naiv war ich dann doch nicht gewesen. Ich verstand das so, dass er mich auf Händen tragen wollte”. Nach diesem Worten sprach Tizian endlich etwas. Leise meinte er: “Ach Krystal, in dem Alter meint es doch kaum ein Junge ernst”. “Warst du etwa genauso?”, wollte ich wissen, woraufhin er mit dem Kopf schüttelte. “Das konnte ich mir da bestimmt nicht erlauben”.
Dieser Satz löste in mir etwas aus. Ihm musste seine Jugend also auch irgendwie geprägt haben. “Warum?”, fragte ich, doch er meinte nur: “Rede weiter”. Wie …? Ach so, er meinte mich. Anscheinend interessierten ihm doch meine Träume, auch wenn er nicht so viel dazu sagte. Na ja, vielleicht konnte ich ihm so die Langeweile stehlen, falls ihm das passte.
Jedenfalls machte ich weiter. “Gut, also … ich habe davon geträumt, mit Jakob mein Leben zu verbringen und als ich schließlich sein Lügennetz aufdeckte, brach alles in sich zusammen. Dazu kam auch noch der Stress mit meiner Familie. Meine Träume habe ich aber nie aufgegeben”. “Armes Mädchen. Irgendwie hast du das ja schon”, bemerkte Tizian.
Das versetzte mir einen kleinen Stich, denn es stimmte. “Du hast Recht, ich gab mich schließlich auf. Insgeheim träume ich aber noch immer von einem anderen, viel besseren Leben, denn das, was ich hier führe, ist schon lange kein Leben mehr”, stand ich ihm bei, auch wenn es komisch war. Zu meiner Verwunderung wollte der Mann auf der Liege wissen, wie ich das anstellen wollte.
Darauf wusste ich keine Antwort. Ich war fertig mit meiner Arbeit und setzte mich einfach auf die andere Liege. Sie sah einfach nur zu einladend aus. “Das ist die Frage. Ich weiß es nämlich nicht”. Tizian sah noch immer stumm zum Himmel und ich fragte mich, was er wohl so dachte. “Ich hatte einfach den Drang gehabt, es Jakob recht zu machen, was sich auf alles andere in meinem Leben übertragen hatte. Heute weiß ich, dass das einer meiner größten Fehler war”.
Dieses Mal war es Tizian, dem ein Laut entkam. Er hüstelte amüsiert auf und auch wenn ich mir leicht vorgeführt vorkam, blieb ich ruhig. “Das kannst du laut sagen”, meinte er nur. “Das Einzige, was ich will, ist glücklich werden. Mit einem Mann an meiner Seite, mit dem ich vielleicht eine eigene, intakte Familie gründen kann und einem anständigen Job als Architektin”, gab ich meine sehnlichsten Wünsche vor ihm Preis.
Der Mann vor mir richtete sich auf und sah mir genau in die Augen. Zum Glück gab es hier genügend Licht, denn sonst hätte ich schon ein bisschen Angst vor ihm gehabt. “Du willst eine eigene Familie? Das wundert mich jetzt schon etwas. Und wie kommst du auf Architektin? Das hätte ich nämlich von dir jetzt auch nicht gedacht”. Das war es also, er war erstaunt darüber. Ich wollte ihm eine ausführlichere Antwort geben, doch da wusste ich noch gar nicht, das ich auch ein wenig über ihn erfahren würde.
“Warum sollte ich das nicht alles wollen?”, fragte ich schon leicht empört, woraufhin Tizian nur schmunzeln konnte. Ich verstand, jetzt hatte er wohl wieder etwas bessere Laune, als bei dem Abendessen, was mich freute. “Verstehe mich bitte nicht falsch, aber du machst nicht gerade so einen Eindruck”, antwortete er ehrlich. Das konnte ich in seinen Augen sehen, die mich unentwegt fixierten.
Leicht betrübt meinte ich: “Das kann man dir sogar nicht verübeln. Ich bin einfach nur schrecklich …”, doch er unterbrach mich. Der Mann stand auf und setzte sich zu mir und nahm mich einfach nur in den Arm und strich beruhigend über mein dunkles Haar. Gerührt davon merkte ich, wie mir schon fast die Tränen kamen, doch ich konnte sie tapfer zurückhalten. Wieder fühlte ich mich leicht wie ein Häufchen Elend und schon wieder war Tizian für mich da. Das rechnete ich ihm sehr hoch an.
Ich wollte aber nicht zu sehr vom Thema abkommen, ich war mir nämlich sicher, dass er eine Antwort auf seine Frage haben wollte und so antwortete ich: “Weißt du, ich beneide glückliche Familien und daher möchte ich wissen, wie es ist, selbst in so einer zu sein. Da das bei mir nicht geht, muss ich eben eine eigene gründen. Außerdem ist es bestimmt sehr schön, wenn man einen Partner hat, der einen über alles liebt und dann noch hinreißende Kinder hat, die einem zwar schon mal auf die Nerven gehen können, aber man doch froh ist, sie zu haben”.
Nach diesen Worten hielt Tizi inne. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Bevor ich mir darüber weiter Gedanken machen konnte, flüsterte er: “Da bist du nicht die Einzige”. Wie bitte? Also das erstaunte mich jetzt wirklich! Tizian dachte genauso? Er ging doch auf die dreißig zu, also müsste sein Leben soweit in Ordnung sein. Nicht umsonst kam er auf diesem riesigen Grundstück zurecht.
Wieder fiel mir auf, dass ich noch nie seine Eltern gesehen hatte oder zumindest Verwandte. Da waren nur Tabitha, Tara und Justin. “Verstehe”, murmelte ich, da es mir dämmerte. Er war ganz alleine und hatte niemanden, außer die drei genannten Personen. Armer Tizian, dachte ich und empfand ehrliches Mitleid für ihn. “Es tut mir leid”, murmelte ich und sah zu ihm auf, “es tut mir so leid für dich”.
Tizian starrte mich nur perplex an. Was war denn jetzt schon wieder? “Und warum das mit der Architektur?”, wollte er wissen und nun war ich es, die ihn völlig verdattert anstarrte. Schon wieder überraschte er mich. Ich dachte, dass er dazu Stellung beziehen würde, aber nein, er fragte mich lieber weiterhin aus. Wahrscheinlich wollte und konnte er nicht darüber reden.
Dann musste ich eben den Part übernehmen. “Du weißt ja, dass ich mich sehr für Geschichte interessiere und da gibt es auch viele Baustile. Da habe ich mich in der Schulzeit, als wir das durchgenommen hatten, gefragt, wie es wohl aussehen würde, wenn man alle oder zumindest viele Baustile miteinander kombinieren würde”, antwortete ich ihm. Und wieder sah er mich überaus erstaunt an.
Im nächsten Moment konzentrierte er sich aber, um dann zu sagen: “Jetzt, wo du es sagst. Das hört sich ziemlich interessant an”. Er zeigt Interesse? Wow! Das fand ich wirklich toll und so stieg ich vollends darauf ein. “Es gibt so viele Bauarten. Gotik, Barock, Rokoko, Renaissance und wie sie alle noch heißen mögen. Nur leider wird dieser Traum nie in Erfüllung gehen”, meinte ich und senkte meine Stimme von anfänglicher Begeisterung zu einem trüben Seufzen.
Ganz kurz war es still, ehe Tizi behutsam fragte, warum. “Geld, mir fehlt es an dem nötigen Geld. So ein Haus ist schon richtig teuer und Entwürfe müsste ich natürlich auch entwerfen. Außerdem müsste ich eh noch Architektur studieren, da ich aber seit über drei Jahren nicht in die Schule gegangen bin, wird das wohl nichts”, antwortete ich. “Ich denke, du solltest dich eher um eine vernünftige Ausbildung kümmern, als Absicherung”, sagte Tizian.
Ich wusste genau, dass er Recht hatte, dennoch machte es mich schon etwas sauer, dass er … dass er einfach so reagierte! Daher stand ich auf, doch sofort wollte der Mann wissen, was denn los sei. “Ich muss noch das Gartenhäuschen putzen”, gab ich ihm eine knappe Antwort. “Ich wollte dich nicht verärgern”, entschuldigte er sich sofort, was mich wunderte.
Egal, dachte ich, das Gartenhäuschen muss so oder so noch gemacht werden und bat ihm deshalb um den Schlüssel. Nachdem ich diesen hatte, gingen wir - er fragte erst gar nicht, ob ich das überhaupt wollte! - in besagtes Häuschen. “Hier scheint wirklich lange nichts mehr gemacht worden zu sein”, bemerkte ich, da es im Inneren wirklich staubig war und der Innenbereich auch so ziemlich verlassen aussah, woraufhin Tizian leicht peinlich berührt meinte: “Das stimmt, um ehrlich zu sein, habe ich mich dem kaum gewidmet”. Ehe ich dazu etwas erwidern konnte, fragte Tizian: “Du willst also wirklich Architektur studieren?”.
Wie kam er denn nun darauf schon wieder? “Ja, denkst du, dass ich das sonst erwähnt hätte? Außerdem liebe ich es, Räume zu gestalten”, sagte ich, nebenbei kehrte ich den Dreck von dem Boden. Zum Glück stand hier nicht so viel rum. Bis auf den Herd, einen kleinen Schrank mit Lebensmitteln, einem Tisch und ein Sofa. Ich musste zugeben, dass es hier bestimmt sehr gemütlich sein konnte.
Als ob Tizian meine Gedanken erahnt hätte, meldete er sich zu Wort. “Was würdest du davon halten, wenn ganz alleine du das Häuschen gestaltest? Ich lasse dir wirklich freie Hand und meckere nicht”, schlug er mir vor, woraufhin ich mit meiner Arbeit stoppte. Ungläubig fragte ich: “Ist das dein Ernst?”. “Ja, du werkelst hier rum und ich, ja und ich mache es mir erneut auf der Liege bequem. Wenn du fertig bist, holst du mich und dann sehe ich mir dein Werk an”, blieb der Mann doch tatsächlich dabei.
Wahnsinn, das hätte ich nun wirklich nicht von ihm gedacht! “Jetzt?”, fragte ich leicht gespannt. Daraufhin nickte mich Tizian an. “Gebongt!”, schrie ich vor lauter Freude fast auf und machte mich sofort daran. Tizi hielt sogar Wort und machte es sich wieder auf seiner Liege bequem. Der späte Abend - es war schon halb zehn - war also doch noch für etwas gut.
Mir war es egal, dass diese Zeit eigentlich unüblich für großartiges Aufräumen war, denn ich hatte meinen Spaß, auch wenn es mich schon Einiges an Kraft kostete. Die Möbel mussten schließlich auch umgestellt werden. Jedenfalls sah mein Werk ganz passabel aus, dafür das ich so gut wie keine Dekoration hatte.
Ich rief Tizian zu mir, der sich ein wenig über mein Tempo wunderte. Als er sein umgestaltetes Gartenhäuschen interessiert begutachtete, sah ich ihm seine bescheidene Begeisterung förmlich an, auch wenn ich wusste, dass er das eigentlich nicht zeigen wollte. “Interessant. Du hast die Couch mit dem Tisch, auf dem du frische Blumen aus dem Garten gelegt hast, in die ruhige Ecke gestellt”, stellte er schon fast bahnbrechend fest, woraufhin ich meinte: “Wenn du noch einen Fernseher hättest, könnte man den hier hinstellen”.
Nebenbei hatte ich auf den Tisch gezeigt, in dessen Nähe eine Steckdose war. Mein Vorschlag stieß bei ihm sogar auf eine Überlegung an. Tizi ließ sich davon nicht weiter beeindrucken, denn er fuhr mit der kurzen Kontrolle fort. “Der Herd ist weg vom Eingangsbereich, warum das denn?”, fragte er leicht kritisch. Ich antwortete: “Es kann immer sein, dass etwas passiert und ich fände es äußerst unklug, wenn das direkt vor der Türe stattfinden würde”.
Danach hörte ich ihn etwas von schlau murmeln, was mich etwas lächeln ließ. “Dafür hast du den Schrank an der Tür gleich platziert”, sagte er. “Ich kann froh sein, dass die Möbel nicht allzu groß sind, denn sonst wären sie noch schwerer gewesen”, meinte ich. Dann meinte Tizian: “Ach, deswegen also dieser Krach”, woraufhin wir beide lachen mussten.
Es war schon recht spät geworden, daher wollte ich schlafen gehen, doch Tizi hielt mich auf. “Was haltest du davon, wenn wir uns Getränke holen und noch ein wenig hier draußen bleiben? Der Sommer neigt sich schon bald dem Ende zu, daher wäre es doch schön, wenn wir die letzten warmen Abende genießen würden”, schlug er mir überaus freundlich vor, was ich nicht ablehnen konnte.
Also lagen wir nun auf die Liegestühle, zwischen denen wir einfach den Tisch aus dem Gartenhäuschen platziert hatten, um die Getränke darauf zu stellen und schwiegen. Das war mir schon leicht unangenehm, denn immerhin war es Tizian gewesen, der diesen Vorschlag gemacht hatte. Warum sagte er dann nichts? Wie aufs Stichwort rührte er sich: “Sieht übrigens nicht schlecht aus”.
Was meinte er damit? Ach so, meine kurze Umstellaktion. “Danke”, murmelte ich vor mich hin. Ich hätte mit allem gerechnet, aber nicht mit folgenden Worten. “Sieh dir mal diesen wunderbaren Himmel an, ich finde ihn wunderschön”, hauchte Tizian und uns umgab eine leichte Sommerbrise. Sein Blick lag nun auf mich, klar, er erwartete Stellungnahme von mir.
Einen Moment dachte ich darüber nach, ehe ich sagte: “Da hast du Recht”. “Es tut einfach gut, mal Ruhe bewahren zu können und all die Sterne zu betrachten”, meinte Tizi und verwickelte mich immer mehr in dieses skurrile Gespräch. was mich immer mehr verwirrte. Wie kam er nur wieder auf so ein Thema?
“Ist das ein Hobby von dir?”, fragte ich, woraufhin Tizian antwortete: “Wenn man es so nennen kann, ja. Ich bin nun einmal ein Tänzer der Dunkelheit. In meiner Jugend hatte ich für solche Dinge nie Zeit”. Er war ein Tänzer der Nacht? Damit konnte ich nichts anfangen, aber immerhin mit dem Satz, den er danach gesagt hatte. Irgendetwas in seiner Stimme klang überaus traurig und so wagte ich es. “Was war denn in deiner Jugend?”. Kaum hatte ich das wissen wollen, bereute ich es. Ich wollte ihm nicht auf den Schlips treten.
Kein Wunder also, dass er die Frage einfach überging und vorerst schwieg. Erst nach ein paar Sekunden meldete er sich zurück zu Wort. “Ich mag die Nacht aber nicht nur wegen der Dunkelheit und Sterne, nein, ich finde es auch sehr schön, wenn der Mond einem geradezu anstrahlt. Und wenn man ruhig ist, hört man sogar den Wind und die Tiere”, blieb er sachlich.
Ich hätte zwar lieber gewusst, was es mit seiner Zeit als Jugendlicher auf sich hatte - denn da würde er bestimmt auch mal seine Eltern erwähnen! -, aber ich beließ es dabei, denn das Gespräch war so sanft wie noch nie. “Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich in meinem Zimmer saß und mich danach gesehnt habe”, seufzte er. Wie bitte? “Du hast hier nicht schon einmal in deiner Kindheit gelebt, oder?”, wollte ich völlig durch den Wind wissen.
Im nächsten Moment aber lachte Tizian und meinte: “Sei nicht immer so neugierig”. “Hey!”, machte ich, doch er sagte: “Lasse uns lieber auf diesen schönen Abend anstoßen”. “Ja, mit Cola und Sprite”, amüsierte ich mich, woraufhin Tizi meinte: “Ich weiß, das macht man eigentlich mit Alkohol”. Mein Lächeln, welches sich eben gezeigt hatte, erstarb sofort.
Sofort musste ich an jene Nacht vor über drei Jahren denken. Die Nacht des Bruches. “Habe ich etwas Falsches gesagt?”, fragte mich Tizi auf einmal und ich schreckte leicht auf. Mittlerweile hatte er sich zu mir gesetzt, unsere Knie berührten sich schon fast, obwohl wir so unterschiedlich groß waren. “Nein”, meinte ich abwesend, “nein, hast du nicht. Manchmal wollen die Erinnerungen einfach nicht weichen”.
“Es gibt da noch mehr in deinem Leben, nicht wahr?”, wollte er wissen. Ich wich seinem Blick aus und starrte das Glas mit der Cola an. Sie war so dunkel, so dunkel wie ich. Darüber konnte und wollte ich nicht mit ihm reden, denn das, was ich damals erlebte, war so prägend für mich, dass ich es eigentlich vergessen wollte, was mir bis jetzt prima gelungen war.
Doch Tizian hatte das längst Vergessene wieder an die Oberfläche geholt und das ohne es zu wissen. Ich war mir sicher, dass er das absolut nicht gewollt hatte, denn das konnte er schließlich nicht wissen. “Ja”, antwortete ich stumpf und an der Art und Weise, wie ich dieses Wort aussprach, merkte er, dass ich darüber nicht reden wollte. Er akzeptierte das sogar. Im nächsten Moment stand Tizi aber auf. Einen Moment lang betrachtete er mich eindringlich und hielt mir eine Hand hin.
Was sollte das denn jetzt werden? Irritiert blickte ich zu ihm auf, was er abwartend, aber lächelnd, erwiderte. Aus reiner Neugier, was als Nächstes passieren würde, nahm ich seine Hand dann doch an. Lange liefen wir nicht, nur ein paar Schritte. Da verstand ich auch, was er wollte. Er hatte mich mit seiner Hand zu einem Tanz aufgefordert. Das hatte er also mit Tänzer in der Dunkelheit gemeint. Er tanzte gerne, wenn es dunkel war.
Obwohl auch das düstere Erinnerungen in mir auslöste, besinnte ich mich. Schließlich hatte ich zuvor keinen Alkohol zu mir genommen und war Herr meiner Sinne, wie man so schön sagte. “Du, sind wir dafür nicht ein wenig zu verschieden?”, fragte ich und sprach unsere Größe an. Tizian lachte leise vor sich hin und meinte: “Du kannst es ja gerne mit Absätzen versuchen, nur bezweifle ich, dass du auf zwanzig Zentimeter gehen kannst”.
Darauf musste ich lachen und schon war meine Laune wieder besser. Ich stieg drauf ein, in dem ich meinte, dass das schon ein großer Fortschritt für mich wäre. Tizian sagte, während er mich überaus sicher durch den Tanz - wo hatte er bitte nur so gut tanzen gelernt? - führte: “Nein, du bist nun einmal so wie du bist”. “Schon, ich frage mich dennoch, warum du mich nie mögen kannst”, flüsterte ich. Der Mann stoppte und musterte mich erneut stumm.
Er atmete ein wenig angespannt ein und aus, ehe er ebenso ruhig hauchte: “Krystal, bitte nicht jetzt. Ich werde dir schon noch eine Antwort liefern, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist”.
Dieser Mann brachte mich wirklich um den Verstand! Nein, er paralysierte mich und das als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre! “In … in Ordnung”, brachte ich mühsam hervor, nicht in der Lage, meinen Blick von ihm zu nehmen.
Einen Augenblick starrten wir uns noch intensiv an, ehe es Tizian war, der sich aus dieser Situation wand und mit erhobenem Haupt zu seinem Glas ging. Als er gerade daraus trinken wollte, sagte ich: “Ehm, du hast mein Getränk in der Hand”. Im nächsten Moment sah er mich leicht irritiert an, bis er auf sich herabsah und sich seine Pupillen weiteten. Meiner Meinung nach viel zu weit.
Unschlüssig sah er auf die Cola, ehe er meinte: “Das weiß ich selber. Stört es dich, wenn ich daraus trinke?”. Welch eiskalte Lüge! Dachte er denn wirklich, dass ich nicht gemerkt hätte, wie überrascht er war? “Nein”, antwortete ich dennoch so normal wie möglich, da ich diesen wunderbaren Abend einfach nur ebenso sanft ausklingen wollte, wie er inzwischen gewesen war.
Zu meinem Bedauern aber machte sich Ernüchterung breit. Tizian schwieg beharrlich, was ich so verstand, dass er seine Ruhe haben wollte. “Ich gehe dann mal schlafen”, meinte ich und stand auf. Dann sah ich zu ihm. Er wollte gerade etwas sagen, doch ich unterbrach ihn einfach. Um genau zu sein, hatte ich noch gar nicht fertig gesprochen gehabt. “Gute Nacht”, sagte ich und drehte mich um. “Krystal, warte”, hörte ich ihn sagen, als ich schon fast wieder in der Villa war.
Obwohl ich wusste, dass sein Blick förmlich auf meinen Rücken brannte - auch die Art und Weise wie er meinen Namen ausgesprochen hatte trug seinen Teil dazu bei - drehte ich mich nicht um, sondern schüttelte einfach nur mit dem Kopf. “Krystal”, flüsterte er, “bleibe einfach hier”. Was war denn jetzt wieder mit ihn los? Ich konnte nicht. “Ich bin müde”, murmelte ich so laut, dass er es hören konnte. “Krystal”, hauchte er, was ich nur ganz leise verstehen konnte, da ich ins Innere seiner Villa verschwand.
Als ich ihn nicht mehr sehen konnte, rannte ich schon fast hastig in mein Zimmer. Ich schloss die Türe ab und warf mich auf mein Bett. Wieder hatte Tizian es geschafft, mich komplett zu verwirren. Dennoch war ich überglücklich. Ein breites Lächeln zierte mein Gesicht, was einfach nicht gehen wollte. Na gut, dachte ich, du bist ja alleine und schrie freudig auf.
Es tat gut, zu zeigen, wie und was ich fühlte. Vor Tizian konnte ich das schlecht tun, wahrscheinlich würde ich dann wieder auf der Straße landen. Das wollte ich natürlich nicht. Das, was ich wollte, war mein Leben mit ihm zu verbringen und nie wieder ohne ihn zu sein. Das klang so was von kitschig! Meine Güte, das war es auch. Immerhin hatte ich mich damit abgefunden.
Mir ging es so gut wie schon lange nicht mehr. Ich war mir sicher, dass alles gut werden würde. Endlich war ich einen riesigen Schritt weitergekommen. Langsam aber sicher konnte ich das Ziel schon sehen. Vielleicht könnte ich durch Tizi wieder zu einer Schule gehen und mein Abitur nachholen. Ich war zwar über drei Jahre nicht mehr in der Schule gewesen, aber das hieß noch lange nicht, dass ich nicht mehr für diese Art von Bildung geeignet war.
Wenn ich so darüber nachdachte, gab es schon ziemlich viele Jugendlich in der tristen Lagerhalle, die mich immer wieder als Streber bezeichneten, weil ich ziemlich viel wusste. Was für Neider, ging es mir durch den Kopf, ihr hindert mich bestimmt nicht daran, meine Träume zu verwirklichen!
Träume - das war ein gutes Stichwort. Vor ein paar Minuten war auch ein kleiner Traum wahr geworden, nämlich der, sich mit Tizian ruhig zu unterhalten. Damit nicht genug, er hatte sich mir gegenüber von einer ganz neuen Seite gezeugt. In ihm steckte ein kleiner Romantiker. Es war wirklich schön gewesen, mal einen Einblick hinter seiner kühlen Fassade zu bekommen.
Mit ihm könnte ich vielleicht meinen Traum von einem eigenen Haus verwirklichen. Dafür müsste ich ihn nur davon überzeugen, mir das Geld zu geben. Das konnte ich aber auch nicht bringen, denn schließlich war ich noch immer nur seine Sklavin oder Putzfee. Wie auch immer, mein Traum müsste noch ein wenig warten. Bis es soweit sein würde, musste ich durchhalten.
Erst einmal würde ich aber schlafen, denn ich war wirklich ausgepowert. Auch wenn es recht warm war, die dünne Decke, die ich mittlerweile zu meiner Lieblingsdecke auserkoren hatte, zog ich trotzdem über meinen Körper. Tizian machte es mir echt schwer. Er war für mich wie ein Lottogewinn. Der Unterschied lag darin, dass meine Chancen, ihn für mich zu gewinnen, noch geringer waren, als das große Geld.
Heute hatte er sich mal wieder so wechselhaft verhalten. War das überhaupt noch ein Wunder? Es gab Momente, in denen ich das ertrug, aber wiederum auch welche, in denen mich das ziemlich fertig machte. Gerade war ich aber viel zu glücklich, um mir meine Laune davon vermiesen zu lassen.
Ich ließ den gesamten Tag in meinem Kopf noch einmal passieren. Mir wurde davon abwechselnd heiß und kalt. Wie sollte ich das Verhalten von Tizi nur deuten? Mir war klar, dass er mit mir nur spielte, dennoch wurde ich das beklemmende Gefühl nicht los, dass er damit noch mehr erreichen wollte. Viel mehr.
Nur was war es, das ihn lenkte? Oder wer? Hass und Liebe lagen so nah beieinander, dass es mich noch mehr durcheinander brachte. Tizian war eindeutig der, der hasste, ich dagegen war diejenige, die liebte. Wenn ich so darüber nachdachte, war ich es einst, die hasste. Natürlich dachte ich dabei an die Zeit, bevor ich den Mann, dem ich mein Herz vermachtet hatte, kennengelernt hatte.
Es tat aber gut, mal die Fassade des kalten Mädchens fallen zu lassen und sich normal zu verhalten. Wobei ich davor auch normal gewesen war. Nur anders. Normal halt. Anders. Wie auch immer, dank Tizian war ich nicht mehr die, die ich einmal war. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte. Schließlich war ich nun auch sensibel. Und wie! Aber ich war glücklich. Glücklich darüber, dass ich einem Menschen ein Stück Vertrauen geschenkt hatte.
Der nächste Morgen brach an - halt, ich wurde aus meinem Schlaf gerissen! Und das ohne Grund. Keine Ahnung, wie viel Uhr es genau war, jedenfalls erschreckte ich mich fürchterlich, als Tizian die Tür zu meinem Zimmer eingetreten hatte. Obwohl es total lächerlich war, drehte ich mich zu der Wand und machte mich ganz klein. Dazu kam, dass ich die Kuscheldecke erst recht über mich zog.
Mit einem Ruck aber war sie wieder weg. Erschrocken sah ich zu Tizi, der mich nur überaus wütend ansah. Was hatte ich denn jetzt schon wieder getan? Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es erst kurz vor zehn Uhr war, also einen Vorwurf konnte er mir deswegen nicht machen. “Bitte tu mir nichts!”, wisperte ich ängstlich, woraufhin der Mann vor mir nur freudlos auflachen konnte.
Damit war ich wieder in die Realität zurückkehrt. “Was soll ich dir denn tun?”, wollte er bitter wissen. Was sollte ich denn nun sagen? Leise antwortete ich: “Ich … ich weiß es nicht. Umsonst trittst du sicherlich nicht die Tür ein”. Mein Blick glitt zu der Tür und dem kaputten Schloss, welches auf dem Boden lag. “Das habe ich schneller repariert, als du denkst. Wobei, so kannst du mir nicht mehr entkommen”, raunte er mir zu.
Tizian war so schnell zu mir gekommen, dass ich es gar nicht bemerkt hatte. Erst als ich seinen frischen Atem wahrnahm, schrie ich auf. “Was willst du dann von mir? Ich habe dir nichts getan, gestern war doch alles in Ordnung”, brachte ich überaus mühsam heraus. Vor mir wurde gelacht und als Nächstes meinte Tizian: “Du hast nicht richtig sauber gemacht. Du wirst alles noch einmal machen, aber dieses Mal werde ich dir wirklich nicht von der Seite weichen!”.
War ich etwa in einem falschen Film? “Aber … aber wir hatten uns doch gestern prächtig verstanden und amüsiert!”, versuchte ich zu argumentieren, was aber sogar stimmte. “Das glaubst auch nur du”, ließ er mich mit geradezu bösartiger Stimme wissen. “Wir bekommen schon bald Besuch und da muss alles super aussehen, also schere dich aus dem Bett und fange an. Sofort!”, schrie er mich an.
Widerstandslos machte ich, was er mir befahl. Ich konnte es aber nicht lassen und erhob erneut meine Stimme. “Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?”, hörte ich mich fragen und hätte mich im nächsten Moment am Liebsten erschießen können. Ihn noch mehr zu reizen war äußerst unklug von mir gewesen, da ich nur zu gut wusste, wie das endete.
Das bekam ich auch jetzt wieder zu spüren, wenn auch nur eher mental. “Die einzige Laus, die mir über die Leber gelaufen ist, bist ganz alleine du, Krystal Knight!”, brüllte er mich in so einer Lautstärke an, dass ich mir die Ohren zu halten musste. Im nächsten Moment blinzelte ich aber verwirrt auf. Warum zog er mich denn in eine Umarmung? Die konnte ich aber auch nicht richtig genießen, denn woher wusste er bitte meinen Nachnamen?
Da fiel mir wieder die Sache mit meinem Hab und Gut ein. Das war doch schon so lange her, dachte ich, den konnte er sich unmöglich gemerkt haben! “Ähm, woher um alles in der Welt weißt du meinen Nachnamen?”, entfuhr es mir. Blitzschnell entzog sich Tizi mir und war wieder ganz der Alte. Säuerlich säuselte er dich an meinem Ohr: “Das, Liebes, liegt in meiner Vergangenheit und wenn du das wissen würdest, würdest du dir nichts sehnlicher wünschen, als mich nie kennengelernt zu haben”.
Bitte? Das konnte doch nicht wahr sein! Da musste etwas wirklich Schlimmes vorgefallen sein, dass er das unbedingt vor mir geheim halten wollte! Wenn ich darüber nachdachte, wollte ich es absolut nicht wissen. Anderseits, was konnte schon so Grausames gewesen sein, dass ich ihn dafür hassen sollte? “So wie du? Du hasst mich doch, also kann es dir verdammt noch mal egal sein, ob ich mir wünsche, je von deiner Existenz zu wissen!”, blaffte ich ihn ungehalten an.
Ja, ich verlor langsam die Geduld. Er machte mir nämlich Angst damit. Das wollte ich nicht. “Du weißt gar nicht, wie gleichgültig mir meine Existenz eigentlich ist”, gab er überaus geknickt von sich. In mir machte sich ein schlechtes Gewissen breit. War es meine Schuld, dass er sich wieder so komisch benahm? “Und ich bin einfach nur zum Scheitern verurteilt”, murmelte ich vor mich hin.
Das schien ihn aber nicht weiter zu interessieren, denn Tizian meinte: “Ist jetzt auch egal, was früher ein mal war. Sieh’ zu, dass alles blitzt und glänzt!”. Noch immer war er so was von finster und so tat ich auch, was er wollte. Widerstand wäre eh zwecklos gewesen, dennoch ließ ich es mir nicht nehmen, nach einem Frühstück zu fragen. “Ich gebe dir fünfzehn Minuten und dann bist du fertig. Mit allem aber”, sagte er und ließ mich einfach stehen.
Oh man, musste er nun wieder so streng sein? Konnte er mich denn nicht einfach in Ruhe den Tag beginnen lassen? Ich verstand ihn gerade überhaupt nicht mehr. Lag wohl an der Natur von Mann und Frau, dass sie nicht dauerhaft normal miteinander umgehen konnten. Egal, dachte ich, jetzt wird erst einmal etwas gegessen.
Nachdem ich mich schnell angezogen hatte, ging ich auch schon in die Küche. Dort war der Tisch leer. Mieser Egoist. Wenigstens hatte er es geschafft, das benutzte Geschirr in die Spüle zu tun. Mir war klar, dass er mir eine viertel Stunde für alles gab. Also für das Zubereiten des Essens, dann für das Essen an sich und schließlich dem Aufräumen. Der Kerl hatte sie echt nicht mehr alle.
Natürlich konnte ich das Essen nicht genießen, denn ich hasste es, wenn man mich zu sehr zu etwas drängte. Jedenfalls blieb ich dennoch unter der besagten Zeit. Ich ließ es mir aber nicht nehmen, das Geschirr abzuwaschen und in die entsprechenden Fächer zu sortieren. Das würde zwar nur noch mehr Ärger geben, aber ich ging schließlich auch nur meiner Arbeit nach.
Tizian ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte gerade damit begonnen, das Geschirr in dem warmen Wasser zu säubern, als er wütend fragte: “Was machst du da? Habe ich dir nicht gesagt, dass du fünfzehn Minuten für das Essen hast?”. Dieses Mal war ich es, die nur bitter lachen konnte. Ebenso freudlos antwortete ich: “Das siehst du doch. Du legst doch immer so großen Wert darauf, dass ich sofort abwasche und das mache ich nun”.
Selbstverständlich hatte ich ihn mit diesen Worten wütend gemacht. “Das kannst du auch später machen, du vorlaute Göre! Schere dich endlich mal in den linken Flügel!”, schrie er mich an, was mich leicht zusammenzucken ließ. Aber nur ganz leicht. Im nächsten Moment wurde ich aber stutzig.
Im linken Flügel? Was wollte er denn da? Überhaupt, den hatte ich gestern gar nicht sauber gemacht. Jetzt verstand ich auch teilweise, warum Tizi so wütend war, doch hätte er meiner Meinung nach mich schon gestern darauf hinweisen können. Er schien mein Grübeln aber bemerkt zu haben und sagte amüsiert: “Na so was, jetzt hast du wohl wieder Angst vor mir. So ist es brav, meine kleine Sklavin”.
Okay, er hatte er mein Zusammenzucken wahrgenommen. Musste ich mir das ernsthaft gefallen lassen? “Nein, habe ich nicht”, sagte ich seelenruhig, während ich das gesäuberte Geschirr abtrocknete und setzte noch einen drauf: “Manchmal tust du mir einfach nur leid”. “Wie bitte?”, fragte er nun völlig verdattert, woraufhin ich mich umdrehte. Meine Augen blitzten nun belustigt auf und ich meinte: “Du willst mich immer wieder in die Ecke treiben, dabei bist du derjenige, der einfach nichts auf die Reihe bekommt”.
Ich wusste, dass das ein verbaler Angriff höchsten Niveaus war, aber das musste einfach mal gesagt werden. Wenn er mich los haben wollte, dann konnte er mir das auch direkt sagen. “Du lenkst mit deinen gesamten Aktionen nur von dir selbst ab”, fuhr ich fort, was dem Mann gar nicht gefiel. “Was weißt du schon von mir! Du hast keinerlei Ahnung, wen du eigentlich vor die stehen hast!”, flüsterte er mir bedrohlich zu, sodass mir dann doch ein wenig unwohl wurde.
Nein, dieses Mal würde ich nicht schwach werden. Gefühle hin oder her, jetzt würde ich meinen Standpunkt verteidigen. Und zwar erfolgreich. “Wen ich hier vor mir habe? Dich, Tizian, von dem ich keinerlei Ahnung habe. Da hast du Recht, aber wer sagt auch, dass ich mehr über dich wissen will? Ich meine, in deinem Bunker, das ein Schlafzimmer sein soll, aber nicht einmal ein Fenster hat, war ich schon einmal”, ließ ich ihn matt wissen.
Der Mann, der direkt vor mir stand, fluchte nur überaus verbittert vor sich hin und legte seine Hände auf meine Schultern. Den Teller, den ich gerade abtrocknete, ignorierte er dabei gekonnt. Wenigstens konnte das Ding uns trennen. “Dir ist gar nicht klar, was du da gerade eben gesagt hast! Ich warne dich nur einmal und wenn du diese Warnung nicht akzeptierst, dann ist es dein Problem, was hier so passiert! Haben wir uns verstanden?”, verlor er sich langsam aber sicher in seiner Wut.
Ich hob meinen Kopf und reckte mein Kinn, dann wies ich ihn auf Folgendes hin: “Du hast die Bedingung vergessen. Was soll ich denn lassen?”. “Du brauchst nicht so tun, als ob du mutig oder stark wärst, denn das nützt dir absolut nichts”, hauchte Tizian mir zu, ehe er meine Frage beantwortete: “Du sollst aufhören, mit allen Mitteln auf den Spuren meiner Vergangenheit gehen zu wollen”.
Täuschte ich mich oder bebte bei diesen Worten sein Körper tatsächlich ein wenig … respektvoll? Anders konnte ich es nicht beschreiben. “Das, mein lieber Tizian, lasse mal meine Sorge sein”, ließ ich ihn monoton wissen und um die Situation zu entschärfen, fragte ich ungerührt: “Kann ich dann endlich mal mit meiner Arbeit fortfahren? Du wirst mir nicht umsonst gesagt haben, dass ich die Gästezimmer herrichten soll”. Ich ließ meinem Mundwerk freien Lauf, daher war es kein Wunder, dass mich Tizian total perplex anstarrte, ehe er sich schweigend von mir entfernte.
Endlich konnte ich damit beginnen, den linken Flügel seines Anwesens zu putzen. Tizi machte seine Worte wahr und wich mir wirklich nicht von der Seite. Wir schwiegen, bis ich es schließlich brach. “Sag mal, warum muss ich eigentlich auch hier putzen? Du sagtest, dass wir Besuch bekommen, etwa heute schon?”, fragte ich. Er antwortete mir ruhig: “Nein, erst in ein paar Tagen”. Als ob nichts geschehen wäre. Pah. Männer. “Ehm und warum soll ich das heute schon machen? Bis dahin dürfte es wieder etwas staubig sein”, meinte ich leicht verwundert.
Hoffentlich sah Tizian das nicht als Provokation an, denn das wollte ich nun wirklich nicht. Das von eben reichte mir. Ich hatte vorerst genug davon. “Sei froh, dass ich dich nun doch nicht das von gestern noch einmal machen lasse”, sagte er spitz. Oh oh, seine Laune war wohl noch immer leicht mies. “Das wundert mich einfach nur. Warum hast du dann das zuerst gesagt?”, wollte ich wissen. “Ich habe einen Anruf bekommen, als du gegessen hast”, sagte er nur trocken.
Umso mehr Zimmer, die ich zu putzen hatte, kamen, umso staubiger wurde es. “Pfui Teufel, sag mal, sollte das eigentlich eine Höhle werden?”, fragte ich voller Ekel, als wir im letzten Raum waren. Der war mit Abstand der Schlimmste! Tizian lachte herzhaft, woraufhin mir warm um das Herz wurde. Warum lachte er nicht immer so? “Nicht wirklich. Es ist nur so, dass ich dieses Zimmer verabscheue”, antwortete er und wurde wieder ernst.
Da fragte ich lieber nicht weiter nach, doch fielen mir merkwürdige Dinge auf. Warum um alles in der Welt waren hier bitte Ketten an einer Wand montiert? “Ähm, Tizian. Sage mir bitte nicht, dass du hier irgendwelche kranken Spielchen treiben willst”, stammelte ich total entsetzt vor mich hin. Schließlich könnte es auch mich treffen, denn nicht umsonst war ich sein Lieblingsopfer.
Neben mir konnte er aber nur auf besagte Ketten starren. Langsam ging er zu der Wand und strich langsam über die verrosteten Teile. “Nein, so etwas Schlimmes will ich niemanden antun. Davon habe ich genug”, flüsterte er und war erstaunt, als ich noch immer bei ihm stand. Anscheinend hatte er jemanden ziemlich übel mitgespielt und war sich dessen nun bewusst. Oder es vor längerer Zeit geworden.
In diesem Zimmer war aber nicht nur das skurril, sondern viel mehr. Beispielsweise war das Licht total gedämpft, was mich an sein Schlafzimmer erinnerte. Ebenfalls nicht normal war die Peitsche, die in einer Ecke lag. Neben ihr lagen auch noch einige Bambusstecken, von denen manche echt heftig zerbrochen waren. “Sag mal, wer hat hier vor dir eigentlich gewohnt? Das muss ja schon eine Weile her sein”, machte ich einen Schritt auf ihn zu, doch er hob abwehrend beide Hände.
Was sollte das denn? “Ich bin hier weg. Mache du das hier fertig und sage mir Bescheid, wenn du das erledigt hast. Dann werde ich mir dein Werk ansehen, aber tue mir bitte den Gefallen und schaffe den ganzen Krempel weg”, wich er mir überaus finster aus, doch es kam mir eher so vor, als ob er völlig durch den Wind war. “Ähm, wie soll ich die ganzen Ketten denn von der Wand herausbekommen?”, wollte ich stotternd wissen und hatte das Gefühl, in einer Wunde herumzustochern, da er es gar nicht mehr wagte, in die Richtung, in der die Ketten hingen, zu blicken.
Diese Wunde musste wohl ziemlich tief sein, denn Tizian antwortete erst nach einer gefühlten Ewigkeit. “Mir egal. Stelle ein Regal davor oder reiße meinetwegen die Wand ein”, stammelte er und bevor ich auch nur zu einem Widerspruch ansetzen konnte, verschwand Tizian.
Besorgt sah ich ihm hinterher. Ich wurde einfach das beklemmende Gefühl nicht los, dass da viel mehr dahinter steckte. Nachdenklich ging ich seinem Befehl nach. Er wollte nichts mehr von all diesen Dingen sehen. Klar, denn sie waren zur Folter da. Nur hätte ich ihn gerne zur Hilfe gehabt, denn manche Möbel waren schon recht schwer. Die ganzen Ketten, die ich so abmontieren konnte - schließlich waren die an der Wand nicht die Einzigen gewesen - verstaute ich in eine alte Kiste, in der mir noch mehr grausame Dinge in die Augen traten, aber auch ein altes Foto.
Es starrte nur so vor Dreck. Die Aufnahme musste wohl einige Jahre alt sein, denn sie war schwarzweiß. Auf dem Foto waren fünf Menschen zu erkennen. Drei kleine Kinder und zwei Erwachsene, die überaus streng aussahen. Wahrscheinlich eine Familie. Den Hintergrund kannte ich nicht, obwohl ich mir sicher war, dass das Foto aus der Villa stammte. Er sah für ein normales Haus einfach zu prunkvoll aus.
Sollte ich Tizian vielleicht nach der ganzen Aktion darauf ansprechen? Ich wusste es nicht. Vielleicht würde ich alles nur noch schlimmer machen. Dennoch war ich total neugierig. Wer war diese Familie? Könnte es sein, dass es sich um seine handelte? Ich sah mir die Kinder haargenau an. Zwei Mädchen und ein Junge, der der Älteste zu sein schien. Ihn schätzte ich auf ungefähr zehn Jahre.
Ihm sah ich genau in die Augen. Ich erschrak leicht. Sie waren so verloren. Sollte man nicht in seiner Kindheit strahlen oder zumindest freundlich in eine Kamera blicken? Ich konzentrierte mich ganz fest auf die Augen. Ein kleiner Schauer rann mir über den Rücken. Ja, das war ohne Zweifel Tizian. Niemand sonst konnte solche finsteren Augen haben.
“Du solltest arbeiten”, hörte ich ihn auf einmal sagen. Ertappt fuhr ich herum und ehe ich mich versah, nahm er mir das Foto aus der Hand. “Du kannst mir sagen was du willst, aber ich erkenne dich auf diesem Bild nur zu gut”, ließ ich ihn wissen, doch er meinte nur matt: “Schön. Lege das bitte auch in die Kiste”. Sein Blick lag nun auf die recht große Kiste, in der ich schon ziemlich viel verstaut hatte. Ohne Widerspruch tat ich, was er mir sagte.
“Kannst du mir nicht vielleicht doch bitte helfen, das Regal hier vor die … Ketten zu stellen? Das ist mir leider zu schwer”, bat ich ihn, woraufhin er schweigend meiner Bitte nachkam. “Die Seite tust du aber schon noch voll stellen, oder? Ich will davon nichts mehr sehen”, flüsterte er überaus ernst. Ich sah ihm in die Augen und erkannte so etwas wie Leid. Sehr großes Leid.
Mit gemischten Gefühlen stellte ich die Kiste, die schon ein ordentliches, aber nicht zu schweres, Gewicht hatte, hochkant neben den Regal hin. Zum Glück musste ich nicht die andere Seite auch noch abdecken, denn dort war eine Ecke. “Geht es so?”, wollte ich sanft wissen, woraufhin Tizian nur zaghaft nicken konnte.
Immerhin war er nun wieder ganz der Alte. Jetzt machte es ihm nämlich nichts mehr aus, in diesem Raum zu sein. Er fühlte sich deutlich besser, denn nun schikanierte er mich nach Strich und Faden. “Das nennst du gesäubert? Du wirst das noch einmal machen und zwar so lange, bis ich kein bisschen mehr Staub auf meinem Fingern habe, ist das klar?”, hielt er mir eine kleine Standpauke, die ich schweigend über mich ergehen ließ. Schließlich wollte ich ihn nicht reizen.
Wahrscheinlich würde ich ihn nämlich wütend machen, wenn ich ihn darauf hinweisen würde, dass ich dort noch gar nicht geputzt hatte. Seine Nähe tat gut, auch wenn es gleichzeitig etwas schmerzte. Er demonstrierte mir, wer der Chef war nur zu gerne und das in einer Tour, die nicht enden wollte. “Kannst du vielleicht damit mal aufhören? Es ist total demotivierend, wenn man immer wieder auf seine Fehler hingewiesen wird”, sagte ich irgendwann dann doch. Tizian lachte aber nur fies.
“Nicht doch, du sollst schließlich auch etwas lernen”, meinte er überaus vergnügt. Ich schüttelte leicht verletzt den Kopf. Wieso benahm er sich mir gegenüber nur wieder so unverschämt? Mal wieder verstand ich ihn überhaupt nicht. Ich war froh, als ich nach einigen Minuten endlich fertig war. Tizi entließ mich dann auch von der Arbeit. “Wenn du mich suchst, ich bin in meinem Zimmer”, sagte ich.
Der Mann aber rührte sich nicht. Hatte ich mich etwa geirrt, als ich dachte, dass ihm dieses Zimmer nicht so geheuer war? Genau er vertrieb den Gedanken sofort, als er seine Stimme erhob. “Ja, ich weiß. Ich muss nachdenken. Alleine. Wir sehen uns später”, murmelte er und ließ mich unmissverständlich wissen, dass ich gefälligst gehen sollte.
Während ich schon fast ziellos den linken Flügel überquerte, wurde mir zunehmend schlechter. Immer wieder musste ich daran denken, was gerade geschehen und gesagt worden war. So schockiert hatte ich Tizian noch nie gesehen. Es entsetzte mich. Okay, auch mir war dieses Zimmer nicht ganz geheuer, aber er lebte doch etwas länger in der Villa als ich. Ich wusste zwar nicht, wann genau er eingezogen war, aber als ich das erste Mal hier war, war vieles noch nicht ausgepackt und gestaltet gewesen.
Was tat Tizian eigentlich, wenn ich nicht in der Nähe war? Sah er sich in den Räumen, in denen wir kaum bis gar nicht waren, um oder war er stets in seinem Schlafzimmer? Irgendetwas stimmte hier gewaltig nicht. Nur was? Mir ging dieses Foto nicht mehr aus dem Kopf. Ich war mir so verdammt sicher, dass er dieser Junge war, aber er hatte mir keinerlei Antwort gegeben. Er fand es sogar schön.
Wie abgebrüht war dieser Kerl eigentlich? An ihm ging das alles nicht spurlos vorbei, dennoch war er total hart zu mir gewesen. Warum konnte Tizi mir nicht einfach sagen, was in ihm vorging? War das so schwer? Ich musste lachen, da ich auch nicht besser war. Immerhin musste er mir die halbe Geschichte von Jakob schon fast aus der Nase ziehen. Die andere Hälfte kannte er dagegen nicht.
Unruhe machte sich in mir breit. Daran wollte ich nie wieder denken. Ich verwarf diese düsteren Gedanken so schnell wie sie gekommen waren und hoffte, dass sie so schnell nicht wiederkommen würden. Das war Vergangenheit. Wahrscheinlich war Jakob noch immer in der Türkei, er konnte mir also nichts mehr anhaben.
Themenwechsel. Damit so etwas wie mit Jakob nicht mehr passieren konnte, würde ich einfach wieder eiskalt sein und dann wäre wieder alles gut. Schließlich wurde ich nicht umsonst einst auch als Eiskönigin betitelt. Wenn ich so darüber nachdachte, passte der Kosename doch wirklich gut zu mir. Ich würde Tizian - oder besser gesagt niemanden! - nie mehr an mich heranlassen.
In Zukunft müsste sich mein Meister damit zufrieden geben, dass ich seine Befehle einfach stumm ausübte. Oder zumindest ohne jeglichen Widerstand. Ich musste eh zu so ziemlich allem meinen Senf dazugeben. Also von daher. Nur, was sollte ich jetzt tun? In meinem Zimmer konnte ich auch nicht die ganze Zeit bleiben. Mein Blick glitt zu der Uhr. 17:03 Uhr. Zeit für das Abendessen, schoss es mir durch den Kopf. Zeit, ihm wieder gegenüberzutreten.
Auf dem Weg in die Küche ging mir erneut so vieles durch den Kopf. Wen wunderte das schon noch ernsthaft? Tizian wies so viele und derartige Ungereimtheiten auf, dass ich nicht anders konnte. Ich begann heftig zu zittern, da ich ganz tief in meinem kalten Unterbewusstsein ihm bereits erneut gegenüberstand.
Nach diesem Vorfall in dem skurrilen Zimmer traute ich Tizian so ziemlich alles zu, was ich schon fast ein bisschen schade fand. Schließlich war ich nicht umsonst in diesem Mann verliebt, denn ich kannte auch seine warme Seite.
Als ich endlich an meinem Ziel war, war ich erleichtert. Tizi war nicht da, daher ging ich davon aus, dass er noch immer in diesem Gruselraum war. Sorgen kamen in mir auf, denn ich hatte einfach kein gutes Gefühl dabei, ihn in so einem schrecklichen Ort alleine zu lassen. Und das obwohl er im selben Haus war wie ich.
Davon durfte ich mich aber nicht aus der Ruhe bringen lassen. Eigentlich ging es mich überhaupt nichts an. Warum musste ich mich auch in Tizian verlieben? Hätte mir das denn nicht erspart bleiben können? Warum jemand wie er?
Wir beide waren doch komplett verschieden. Mein Herz klopfte bei diesen Gedanken überaus unruhig, aber auch, weil ich seine Anwesenheit deutlich spüren konnte, obwohl es in der gesamten Villa mucksmäuschenstill war.
Diese dunkle Aura, die stets von Tizian ausging, konnte ich nie und nimmer ignorieren. Es fröstelte mich leicht. Langsam rieb ich mir die Arme und atmete gelassen. Zumindest versuchte ich es. “Zitterst du immer so schnell?”, fragte er mich, woraufhin ich antwortete: “Kann schon sein”. Ich würde es durchziehen. Von nun an würde er mich innerlich nie mehr berühren können.
Stur tischte ich auch auf. Ich vermied es zu reden und starrte auf mein Essen. Es gab Nasi Goreng. Der gelbe Reis war für mich immer wieder das Highlight. Dennoch stocherte ich schon fast lustlos darin rum. “Trübsal blasen bringt dir auch nichts”, ergriff Tizi erneut das Wort. “Aha”, machte ich nur, was ihn zum Schmunzeln brachte. “Was ist daran so lustig?”, wollte ich leicht gereizt wissen.
Herausfordernd sah ich ihn an. Und was machte er? Er blieb nur entspannt und sagte: “Weißt du, ich vermisse es, von dir Lord oder Sir genannt zu werden. Als ich dir das am Anfang sagte, hast du das viel öfters gesagt”. Wie bitte? Er wich mir einfach nur aus! Theatralisch sog ich die Luft ein. “Wenn das deine einzige Sorge ist”, erwiderte ich monoton und schob noch ein “Lord” hinterher.
Wieder grinste Tizian mich an, was mich ziemlich sehr provozierte. Ich ermahne mich innerlich. Mehr wollte er doch nicht. Er wollte, dass ich mich über ihn aufregte, ihn anschrie. Und das nur, damit er mich wieder unterdrückten konnte. Nein, so würde das Spiel, wie er es einst nannte, nicht mehr weiter gehen. “Wenn du nur wüsstest”, hörte ich betreffenden Mann sagen.
Dieser Satz traf mich aber dann doch, denn mir entging nicht dieser merkwürdige Ton in seiner Stimme. Sie klang leidvoll und müde. Ich sah zu ihm auf und erkannte, dass er noch immer ziemlich durch den Wind war.
Noch nie waren ihm seine sonst eher harten Gesichtszüge so derart entgleist, dass ich Angst hatte, dass er jeden Moment zusammen brechen könnte. Er tat mir schon fast leid, aber dann setzte Tizian wieder sein gewohnt unergründliches Pokerface auf.
Glücklicherweise war ich nach kurzer Zeit fertig mit dem Essen und wollte auch schon abwaschen, doch dann hielt Tizi mich auf. “Was haltest du davon, wenn wir in den Garten gehen?”, fragte er mich doch tatsächlich! Mich traf fast der Schlag. Beinahe ertappt stotterte ich: “Wie bitte? Ich … äh, ja!”. Verdammt, dachte ich, das wollte ich doch gar nicht.
Zu spät, denn auf das Gesicht von ihm breitete sich ein kleines Grinsen aus. “Zuvor wasche ich aber noch ab”, beschloss ich und ohne auf eine Antwort von Tizian zu warten, ging ich dem nach.
Keine halbe Stunde war ich auch schon fertig, da ich nicht viel zu tun gehabt hatte. In der Zeit hatte sich Tizian fertig gemacht und sah einfach nur perfekt aus! Er trug ein kurzärmliges schwarz-grün kartiertes Hemd, was ihm sogar noch besser stand als das schwarz-rote. Dazu trug er eine weiße kurze Hose und … Flip Flops. Als ich die schwarzen Dinger sah, musste ich laut los lachen.
Die passten absolut nicht zu seinem Outfit! Überhaupt, das war einfach viel zu normal. Dennoch musste ich zugeben, dass er verdammt gut aussah. Mich wunderte es nur, dass Tizian nicht fragte, weshalb ich diesen kleinen Lachkrampf hatte. Egal, dachte ich, das war nur umso besser.
Schweigend liefen wir also umher, immer wieder staunte ich darüber, wie schön sein Garten aussah. Im Hochsommer kein Wunder, auch wenn man merkte, dass dieser dann doch allmählich zu Ende ging. Die Sonne strahlte ungeheure Wärme aus, die ich auch dringend nötig hatte.
“Hier ist es atemberaubend”, entging es mir überaus verträumt, woraufhin Tizian neben mir stehen blieb. Ich wollte ihn schon fragen, was los war, doch er starrte mich einfach nur an. “Deine Augen - sie sind wie früher voller Eis”, bemerkte Tizi überaus traurig und mir war mal wieder zum Heulen zumute. Warum sagte er das? “Weil ich auch eine Eiskönigin bin”, erwiderte ich dennoch unbeeindruckt.
Ich konnte nicht anders. Es war besser so. Lieber würde ich ihn - und schließlich mich selbst - belügen, um nicht verletzt zu werden. Zumindest sollte er davon nichts wissen. Das erschien mir als beste Möglichkeit. “Meine kleine Eiskönigin, ich bitte dich, mache dir doch nichts vor”, hauchte er mir entgegen und nahm noch immer nicht seinen Blick von mir. Es war mir unangenehm. Ich musste - trotz seiner wunderschönen Augen, in denen Besorgnis standen - stark bleiben!
Nachdem ich leicht hart schlucken musste, widersprach ich ihm. “Höre mal, du Lord, glaubst du im allen Ernst, dass ich mir etwas vormache? Wenn ja, bist du noch viel dämlicher als ich dachte”, wollte ich möglichst unbekümmert sagen, doch es klang eher wie ein verzweifelter Versuch, meine Stimme zu erheben.
Wissend blitzten seine dunklen Augen auf, dann flüsterte er: “Vielleicht bin ich dämlich, aber vielleicht bist du wieder drauf und dran, deine eisblauen Augen vor der bitteren Wahrheit zu schließen”. Das hatte gesessen.
Schwer getroffen sah ich ihn an und ohne es so wirklich zu wollen und kontrollieren zu können, legte ich meine Hände auf beide Seiten seines Hemdes an der Brust und lehnte mich gegen ihn. Ich brauchte diese Nähe gerade mehr als alles andere. Mir war es egal, was er davon hielt, doch wider Erwarten legte er seine beiden Armen um mich und sein Kinn auf meinen Kopf.
Dann herrschte eiserne Stille. Erst als ich auf einmal ein Geräusch wahrnahm, erkannte ich, was ich da eigentlich tat. Bevor ich aber reagieren konnte, hörte ich eine fremde Stimme etwas sagen. “Sie sind wirklich hier!”, kreischte eine etwas jüngere Frau, die neben uns mit einer großen Kamera in der Hand aufgetaucht war, geradezu freudig, woraufhin ich mich erschrocken zu ihr auf die Seite drehte. Tizian tat es mir mit ebenso einer Verwunderung gleich und fragte: “Wer sind Sie und was machen Sie hier?”. “Ist das Ihre Freundin? Mensch, die ist ja hübsch!”.
Ehe Tizian und ich uns versahen, schoss die Fremde ein Foto von uns. Entsetzt und voller Röte im Gesicht löste ich mich aus der Umarmung. “Woher wissen Sie, dass ich hier wohne?”, knurrte Tizi sie leicht an, doch das schien ihr total egal zu sein. “Wie wäre es denn, wenn wir uns hineinsetzen und uns in Ruhe unterhalten?”, schlug die Frau vor. Sofort schüttelte Tizian heftig mit dem Kopf.
Das schien der Braunhaarigen, die einfach weiter Bilder machte, gar nicht zu gefallen, denn sie sagte schon leicht eingeschnappt: “Nun seien Sie doch nicht so, Sie müssten es doch gewohnt sein, im Rampenlicht zu stehen und außerdem ist mein Team schon in Ihrer Villa, um auch dort einige Schnappschüsse zu machen”.
Wie bitte? Was sollte das denn? “Verlassen Sie sofort mein Grundstück!”, schrie Tizian sie auf einmal total wütend an, woraufhin wir - also die Frau und ich - ihn entsetzt anstarrten. “Ich kann mir schon denken, wer Sie geschickt hat, aber ich werde der Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich sein!”, polterte der Mann einfach weiter.
“Ich warne Sie ein einziges Mal: Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei und dann haben Sie schon sehr bald eine saftige Anzeige wegen Hausfriedensbruches und Störung der Privatsphäre in Ihrem Briefkasten!”, ging Tizian schon fast auf die Barrikaden, woraufhin mein Mund weit auf klappte..
Jetzt schien auch der Frau allmählich der Kragen zu platzen, denn sie sagte etwas lauter: “Wir haben darüber eine Verfügung, direkt von Signore Di Falcenstein und wenn ich mich richtig erinnere, gehört Ihnen die Villa noch nicht ganz! Wie Sie wollen, dann ziehen wir wieder ab, wir haben sowieso schon alles, was wir brauchen!”.
Dann stampfte sie auch schon wütend davon und ich war mir sicher, dass sie das machte, was Tizian ihr gesagt oder eher befohlen hatte, denn sie rannte schon fast und rief aufgebracht nach ihren Kollegen. Tizian und ich blieben alleine zurück.
“Was war das denn?”, fragte ich leicht empört. Der Mann neben mir antwortete jedoch nicht. Ich wollte wissen, was hier los war und so löcherte ich ihn mit Fragen. “Was war das für eine Fotografin? Hast du mich deshalb gefragt, ob ich mit dir in den Garten gehe? Wolltest du mich für irgendwelche Pressezwecke missbrauchen? Warum überhaupt Presse? Und wer ist Signore Di Falcenstein?”. Tizian schwieg weiterhin, was mich nur noch wütend machte.
Ich ging direkt auf ihn zu und schlug auf ihn ein, da mich das alles ziemlich verwirrt hatte. Zu meinem Erstaunen tat er nichts, sondern sah nur auf mich herab. “Ich weiß nicht, was das sollte”, sagte er schließlich nach einer halben Ewigkeit und klang in der Tat ebenfalls nicht ganz bei der Sache. Wortlos wandte sich Tizian auch schon von mir ab.
Natürlich wollte er nachsehen, ob noch alles so wie vorher war und ob das Team von der Frau in sein Schlafzimmer gewesen war. Zum Glück nicht, denn sonst wäre er wohl komplett durchgedreht. Ansonsten sah alles noch wie immer aus. Trotzdem wollte ich nach wie vor wissen, was es mit der Situation von eben auf sich hatte.
Vielleicht war Tizian ja mal ein Star gewesen und daher das mit dem Rampenlicht und dieser Signore Di Falcenstein sein Manager, der früher einmal in der Villa gelebt hatte. Dieser wollte Tizi wohl dazu drängen, wieder in das Showbusiness zu gehen.
Wenn ich aber gewusst hätte, wie sehr ich mich in allem täuschte und das alles so tief miteinander vernetzt ist, dann hätte ich mir wohl sofort die Kugel gegeben.
Es war genau eine Woche später. Müde war ich aus meinem kuscheligen Bett getapst und wollte das Frühstück - mittlerweile hatte sich das Verhältnis zu Tizian wieder gut entspannt - zubereiten. Alles war so wie immer, wir aßen in Ruhe und dann gönnte er mir sogar etwas Freizeit. Ich beschloss - fatalerweise - in den Garten zu gehen. Hier war es nämlich immer noch am schönsten.
Ich lief durch das große Gelände, als ich auf einmal ein Flattern hörte. Es kam direkt von der Hauptstraße. Schnell hastete ich dorthin und sah, dass ein Magazin in das Grundstück von Tizian gelandet war. Eigentlich wollte ich es wegschmeißen, doch dann stutzte ich. Im nächsten Moment erschrak ich sogar. Auf dem Deckblatt war niemand geringeres als Tizian und … ich. Wie wir uns umarmten.
Was um alles in der Welt sollte ich darauf denn? “Tizian von Falkenstein und seine Freundin”, las ich laut die dicken Buchstaben der Überschrift vor. Was sollte dieses von Falkenstein? Mir wurde klar, dass es sich um eine Adelsfamilie handelte, aber warum wurde dann bitte Tizi erwähnt? Ich blätterte in der Zeitschrift etwas herum und sah Bilder. Bilder von seiner Villa und da dämmerte es mir.
Tizian war ein Adeliger! Man schätzte sein Vermögen auf etwas dreieinhalb Milliarden Euro. Deswegen waren auch die Fotografen vor einer Woche da gewesen. Kein Wunder, er war kein Star, sondern stinkreich. Deswegen hatte er auch so komisch reagiert, als ich sagte, dass ich Adelige verachtete. Er war selbst einer von ihnen.
Damit nicht genug, ich kam mir total belogen und betrogen vor. Dieser Mann hatte so getan, als ob er einer von der bürgerlichen Schicht wäre. Wie konnte er nur?! Dabei hatte ich ernsthaftes Vertrauen zu ihm aufgebaut und wollte sogar mein altes Leben hinter mir lassen. Doch dann das! “Dieser Lügner, er ist genauso wie die anderen und ich dumme Kuh habe ihm echt vertraut oder es zumindest versucht”, murmelte ich wie betäubt vor mich hin.
Dennoch wollte, nein musste ich herausfinden, was es noch so über ihn zu lesen gab. Es kam mir sogar vor wie eine Pflicht. Immer wieder sah ich Bilder von ihm, die aber auch älter zu sein schienen. Man sah ihm zwar seine siebenundzwanzig Jahre nicht an, doch sah er auf den Fotos jünger aus als jetzt.
Danach fiel mir ein Interview mit einem werten Herrn Signore Di Falcenstein auf. Das war der Name, den die Frau fallen gelassen hatte. War das vielleicht sein Vater? Die Ähnlichkeit zwischen den Nachnamen war nämlich nicht zu übersehen, wobei dieser aus Italien kam. Schließlich war ich nicht dumm.
Es könnte aber auch genauso gut sein, dass dieser Mann nur ein Verwandter von Tizian war, was sich schnell als richtig entpuppte. Es war wirklich sein Vater. Selbst die Mutter von Tizi wurde in diesem Magazin erwähnt, jedoch nur im Hintergrund. Also hatte der Mann das Sagen im Hause Di Falcenstein oder wie auch immer.
Das einzige Foto, was seine Eltern zeigte, war eher klein gehalten worden. Dennoch erkannte ich dieselbe Strenge, die die Erwachsenen an den Tag legten. Es erinnerte mich total an das verstaubte Foto. Ich hatte keine Zweifell mehr, das war seine Familie. Wer die Mädchen, von denen ich dachte, es seien seine Schwestern, waren, würde ich auch noch herausfinden. Da war ich mir sicher.
Ich blätterte weiter, woraufhin sich meine Pupillen weiteten. “Die Sache mit Jonathan Knight”. Mein … Vater? Was hatten die beiden denn miteinander zu tun? Umso mehr ich von diesem Artikel las, umso mehr wünschte ich mir, es nicht getan zu haben. Einst führten der Vater von Tizian und meiner eine eigene Firma, die sie sich aufgebaut hatten, zusammen, waren sogar richtig gute Freunde gewesen.
Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen, doch es erstarb jedoch schneller als ich dachte. Viel zu schnell. Niemand Geringeres als Tizian war dafür verantwortlich, dass mein Vater die Firma verloren hatte! “Durch einen geschickten Geniestreich gelang es Tizian von Falkenstein vor fast vier Jahren, die gewinnbringende Firma seines Vaters und Jonathan Knights zu übernehmen”.
Tränen traten mir in die Augen. Wieso hatte er das getan? Die Angabe der Zeit ließ meine kleine Hoffnung, dass Tizian es doch nicht war, im Keim ersticken. Allein seinetwegen war meine Familie letztendlich auseinander zerbrochen. Ich erinnerte mich daran, wie Dad mir sagte, seine Firma sei pleite gegangen.
Das war sie nicht, wahrscheinlich war es für ihn total bitter gewesen, dass der Sohn seines engsten Freundes ihn in den Ruin getrieben hatte. Damit nicht genug, selbst vor seinen Vater hatte Tizi keine Skrupel gehabt.
Wahrscheinlich war ihm das alles egal gewesen, denn seine Familie hatte schon genug Geld gehabt. Sie entstammte nämlich aus einer reichen Adelsfamilie aus Italien, die dort für ihren Reichtum ziemlich bekannt war. Mittlerweile also auch in Deutschland.
Was für ein mieser Egoist! Nein, das würde ich nie und nimmer ertragen können. Mir wurde klar, dass ich ihm nicht mehr unter die Augen treten konnte. Dem Mann, der meiner Familie das angetan hatte.
Ich würde Rache nehmen! Wut und Trauer machten sich in mir breit. Das konnte doch wirklich nicht wahr sein! Wieso? Wieso hatte er das getan? Machte es ihm ernsthaft Spaß, andere Menschen leiden zu sehen? Nur warum war er dann manchmal so … weich gewesen? Er wollte eindeutig genau dieses Detail aus seinem Leben vertuschen. Anders konnte ich es mir nicht erklären.
Da hatte er aber nun Pech gehabt. Nun wusste ich, was Sache war. Wenn er das aber herauskriegen würde, dann würde er mich bestimmt damit in den Wahnsinn treiben und mir das immer wieder unter die Nase reiben. Wollte ich das ertragen? Konnte ich das überhaupt? Nein.
Verdammt, dachte ich, ich muss hier weg! Ich werde gehen, schoss es mir durch den Kopf, wegrennen und zwar für immer. Er würde mich nie wieder sehen. Jawohl, ich würde schon irgendwo in seiner riesigen Villa Geld finden und dann verschwinden. Züge fuhren in unserer Stadt schließlich genug und das nicht gerade langsam.
Anderseits könnte ich mich eventuell mit Samira verbünden und es ihm heimzahlen. Die Frage war nur, ob sie mir das glauben würde. Nicht, wenn ich das Beweisstück - die Zeitschrift - nicht mitnehmen würde.
Meine Schwester war auch nicht dumm und dann würden wir ihn auseinander nehmen oder besser gesagt sein Leben. Er wird sich nach unser Aktion nichts sehnlicher wünschen, als unsere Familie nie in den finanziellen und sozialen Ruin getrieben zu haben.
Fix ging ich in mein Zimmer, nahm einfach meinen Rucksack, in dem eh noch die meisten meiner Sachen verstaut waren und machte mich aus dem Staub. Mit dem dicken Magazin in der Hand stampfte ich wütend und traurig zugleich zu der muffigen Lagerhalle. Samuel, der an der Tür stand, stellte sich mir sofort in de Weg. “Du hast hier nichts mehr zu suchen”, sagte er.
Ich wollte grade etwas sagen, als er fragte: “Weinst du?”. “Lass’ mich sofort durch, ich muss mit meiner Schwester reden!”, schrie ich ihn an und schubste ihn einfach aus dem Weg. Mir doch egal, wenn ich weinte. “Samira!”, schrie ich einfach quer durch die Lagerhalle. Mira nahm mich wirklich wahr und ehe sie reagieren konnte, zog ich sie einfach aus dem Gebäude.
Natürlich verstand sie gar nichts, doch ich drückte ihr einfach das Magazin in die Hand. “Da hast du es. Sieh mal, wer für unsere Misere verantwortlich ist! Der ach so tolle Tizian von Falkenstein!”, redete ich mich schon in Rage. Meine Schwester war zu meiner großen Überraschung ruhig und nahm sich viel Zeit, das Ding zu durchblättern. Für meine Verhältnisse viel zu viel Zeit.
Dann aber sah sie mich mit ihren großen blauen Augen an. “Rache, ich möchte Rache!”, kam ich ihr zuvor und ballte meine Hände zu Fäusten. “Was willst du dann hier?”, fragte sie mich weiterhin ruhig. Meine Pupillen weiteten sich erneut.
“Was ich hier möchte? Dich mitnehmen und ihm zusammen mit dir zeigen, dass wir zurecht unseren überaus ruhmreichen Nachnamen tragen!”, antwortete ich ihr kämpferisch. Dieser bedeutete nämlich nichts anderes als Ritter und die waren nicht umsonst bekannt für ihre Kämpfe gewesen.
Zu meinem Erstaunen schüttelte sie aber heftig mit dem Kopf und sagte: “Nein, Krystal. Das möchtest du doch nur machen, weil du dich von ihm ausgenutzt fühlst. Du liebst ihn doch, ich sehe es in deinen Augen. Aus lauter Jähzorn erhoffst du dir, dass du mich auch gegen ihn aufbringen kannst”.
Wie bitte? “Nein! Verstehst du es denn wirklich nicht? Wenn er nicht gewesen wäre, dann wäre unser Leben wahrscheinlich noch immer so schön, wie es einst war!”, versuchte ich sie umzustimmen.
Samira blieb bei ihrer Meinung. Sie wollte mir nicht helfen. Bestimmt war sie noch immer so geblendet von Tizian, dass sie sich nicht einmischen wollte oder es war ihr total gleichgültig, was er getan hatte. “Dann eben nicht”, fauchte ich sie an, während ich ihr zugleich das Magazin aus der Hand riss und stampfte wütend zur Lagerhalle.
Sie hielt mich aber auf. “Also doch?”, fragte ich sie grinsend, doch ihre Miene war noch immer ernst. “Was willst du hier noch? Denkst du, du kannst kommen und gehen wann du willst? Verschwinde doch endlich von hier!”, herrschte sie mich an. Ich dachte, nicht richtig gehört zu haben! “Samira, ich …”, versuchte ich es, doch sie unterbrach mich sofort und mit großer Wirkung, in dem sie schrie: “Du hast hier nichts mehr zu suchen, geh!”.
Getroffen von ihren Worten machte ich, was sie sagte. “Lasse es einfach bleiben”, meinte Samuel, als ich mit gesenktem Kopf das Gelände der Lagerhalle verließ. Ich sagte einfach gar nichts und musste aufpassen, nicht sofort loszuweinen.
Dann, als ich alleine irgendwo im Nirgendwo war, ließ ich meinen Tränen freien Lauf.
Wieder wurde ich also verstoßen. War ich denn wirklich so schlimm? Klar, die Fehler, die ich begangen hatte, konnte man auch nicht mehr rückgängig machen, aber mir gab keine einzige Menschenseele die Chance, sie zu korrigieren. Mehr wollte ich doch nicht. Die Menschen urteilten immer über einen, obwohl sie nicht deren Geschichte kannten.
Ich hatte niemanden. Ich war alleine. Es war schade. Es war traurig. Die Tatsache, dass selbst Tizian mich hintergangen hatte, schmerzte immens. Wahrscheinlich war es totale Absicht gewesen, dass das Magazin genau dann in sein Grundstück fiel, als ich in der Nähe war. Bestimmt war er nun überglücklich. Jetzt, wo er mir sein wahres Gesicht gezeigt hatte und ich völlig neben der Spur weggerannt war.
Dafür musste ich auch einen gewissen Tribut zahlen. Ich hatte nämlich keine Ahnung, wo ich übernachten sollte. Die Zeit, in der ich hier herumgeirrt war, war so schnell vergangen, dass ich erst jetzt mitbekam, dass längst die abendliche Dämmerung eingesetzt hatte. Das klang schon fast romantisch und doch war es für mich wie die Hölle auf Erden.
Klar, ich kannte mich auf der Straße aus, doch war mir die Lagerhalle am liebsten gewesen. Dort konnte mir nämlich nichts passieren und ich mit meiner Größe war da bestimmt ein gefundenes Fressen für irgendwelche Verbrecher. Schlimmer wie Tizian konnten die nicht mehr sein, dachte ich. Dieser Raum, in dem er so in sich gekehrt war, war bestimmt für irgendwelche kranken Spielchen gedacht.
Komischerweise war aber nirgends Blut zu sehen gewesen. Dabei sah dieses Zimmer so aus, als ob es jahrelang nicht genutzt worden war. Da wären doch dann immerhin Spuren zu sehen gewesen oder täuschte ich mich da? Die Ketten waren immerhin nur rostig. Was hatte Tizian dort wirklich zu suchen gehabt?
In mir machten sich die skurrilsten Szenarien breit. Wie Tizi Frauen quälte und ihnen ins Gesicht grinste. Schließlich war ich in so einer ähnlichen Situation gewesen.
Zum Glück hatte ich da noch nichts von seinen kranken Neigungen gewusst. Für mich stand fest, dass Tizian einen psychischen Schaden hatte. Nur warum war er auch ganz lieb zu mir gewesen? Gehörte das auch zu seinem teuflischen Plan?
Vielleicht brachte er zuerst die Frauen dazu sich in ihm zu verlieben und ihm komplett zu verfallen. So sehr, dass sie kaum mehr wussten, wie ihnen geschah und dann war es schon zu spät. Tizian hatte die armen Frauen angekettet, nachdem er sie ausgezogen hatte oder sie hatten es freiwillig getan, da sie dachten, er würde sie verwöhnen. Konnte ja auch sein. Man wusste schließlich nie.
Nun weiter mit meiner Theorie. Wenn sie erst einmal bewegungsunfähig waren, dann peitschte er sie bestimmt aus und erfreute sich an ihren Schreien. Nebenbei lädierte er ihre Handgelenke, denn manche Handketten waren auch mit Dornen versehen, wie mir eben einfiel. Vielleicht schlug er aber auch mit seinen Fäusten zu. Einen recht muskulösen Körper hatte Tizian immerhin.
Gänsehaut durchfuhr mich und im nächsten Moment spürte ich Erleichterung. Ganz große Erleichterung. Da hatte ich wirklich Glück gehabt, dass Tizian mit mir solche kranken Spielchen nicht gespielt hatte. Wobei, ich hatte mich ihm nie so richtig ergeben. Vielleicht wollte er noch abwarten und weitermachen.
Ich musste aus dieser flüchten. Irgendwo hin, wo er mich nicht vermutete. Wahrscheinlich suchte er schon nach mir. Ich stellte mir sein Gesicht vor, dass wieder einer Bestie glich. Doch wo sollte ich hin? Ganz schnell hatte ich einen Geistesblitz. Dort würde er mich nie vermuten. Es verschlug mich zu einem ganz bestimmten Ort. Zu dem Ort, an dem wir uns das erste Mal begegnet waren.
Ich lief langsam und im Gedanken versunken zum Park. Es war ein recht mühsamer Weg, denn ich war irgendwie ganz weit weg davon. Daran sah ich erst einmal, was Tizian da wieder angerichtet hatte. Da konnte er ganz schön stolz auf sich sein, was er bestimmt auch war. Mieser Mistkerl.
Mit ihm wollte ich nie mehr etwas zu tun haben. Die Enttäuschung stand mir wohl selbst in der Dunkelheit ins Gesicht geschrieben. Das war mir egal, denn ich hatte es so satt, meine wahren Gefühle zu verbergen und außerdem sah mich eh niemand. Falls das doch der Fall sein sollte, würde ich sowieso mit niemanden reden.
Mir war alles egal. Meinetwegen konnte ich getötet, entführt oder sonst was werden - es interessierte mich nicht. Die Enttäuschung über Tizian saß so dermaßen tief, dass mir unentwegten Tränen über die Wangen liefen. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie bereits gefroren. Daran merkte man erst recht, dass die Temperaturen allmählich zurückgingen.
Im Winter war ich wohl im Arsch. Wo sollte ich nur hin? Jetzt ging es noch, doch ich hatte gar nichts. Nichts und niemanden. Ich kam mir so verloren vor und so … allein. Die Tatsache, dass ich endlich in dem wunderschönen Park ankam, änderte auch nichts daran.
Mein Ziel hatte ich aber noch nicht ganz erreicht. Langsam und voller Schwermut ging ich schließlich zu jener Stelle. Jener Stelle, an der ich mit Tizian zusammengestoßen war. Ich erkannte sie schon vom Weiten, denn es waren noch recht viele Diamanten auf dem feinen Kies zerstreut. Diese glänzten in der Dämmerung wie die wunderschönen braunen Augen von Tizian.
Verdammt! Warum nur musste ich andauernd an ihn denken? Das musste aufhören! Es machte mich noch kaputt, wenn es das nicht schon bereits tat. Konnte er mich denn nicht einfach in Ruhe lassen? Musste dieser Mann stets in meinen Gedanken sein? Und ich war mir so sicher, dass er es auf ewig tun würde.
Mittlerweile kniete ich vor den Diamanten. Mit ihnen könnte ich doch eigentlich gutes Geld machen, oder nicht? Vor mir lagen bestimmt noch hundert der kleinen Teile. Als ich sie mir genauer ansah, erkannte ich, dass sie noch ganz gut aussahen. Also täuschte das Glänzen nicht. Mühsam sammelte ich sie auf und steckte sie in meinem Rucksack, der noch immer etwas Platz hatte.
Mir kam die Idee, heute Nacht hier zu schlafen. Dieser Ort bedeutete mir nämlich sehr viel. Wahrscheinlich hatte ich hier bereits mein Herz an Tizian verloren. Liebe auf den ersten Blick. Wie lächerlich das doch klang. Gab es das überhaupt? Ich war mir sicher, diese Frage mit einem klaren Nein beantworten zu können.
Ich sah mich um und erkannte in der Dunkelheit, dass sich ganz in der Nähe eine Bank befand. Die würde also mein Bett sein. Auch gut, dachte ich und freundete mich im Gedanken schon mal damit an.
So schlimm war das nämlich auch nicht. Eigentlich lag ich ganz bequem, nur war es doch etwas kalt und außerdem flossen mir unentwegt Tränen über das gesamte Gesicht. Schlafe schnell ein, dachte ich mir, und vergesse diesen Tag. Den Tag, an dem das Unglück seinen Lauf genommen hatte.
Ich lauschte schläfrig meiner Umgebung. Leise pfiff der Wind und ich merkte, wie selbst mein dunkles Haar davon herumgewirbelt wurde. Dabei wollte ich aus ihnen einen Teppich machen, damit es nicht so kalt war! “Krystal?”, hörte ich auf einmal eine geschmeidige Stimme in die Dunkelheit flüstern. Ich dachte, dass das nur eine Einbildung war und reagierte gar nicht darauf.
Erst als die Stimme fragte, ob ich weinte, wurde mir klar, dass jemand mit mir sprach. Nicht nur irgendjemand, sondern Tizian. Was machte er hier? War er tatsächlich mich suchen gegangen? Und vor allem: Wie war er nur auf die Idee gekommen, dass ich ausgerechnet hier war?
Überrascht schreckte ich hoch. “Nein”, antwortete ich schniefend auf seine Frage, ob ich weinte und wischte mir über die Augen. “Deswegen fährst du dir auch mit deinem Arm über die Augen, die nebenbei ziemlich rot angeschwollen sind und schluchzt”, bemerkte er trocken.
Wollte er mich auch noch auf den Arm nehmen? “Schlaues Kerlchen”, flüsterte ich nur. “Kannst du mir mal bitte sagen, was das soll?”, fragte er mich sichtlich wütend und ich hätte ihm am Liebsten dafür umgebracht. Was für eine dumme Frage war das denn? Klar, ich bin einfach so abgehauen, schon klar.
Nein, ich wollte nicht mit ihm reden und doch musste ich es. “Was das soll? Das könnte ich dich fragen!”, schoss es schließlich aus mir heraus. Er sah mich verwirrt an, was mich nur noch wütender machte. Kurzerhand griff ich in meinen Rucksack und holte das Magazin heraus.
Dann stand ich ihm gegenüber und donnerte es ihm entgegen und schrie: “Das könnte ich dich wirklich fragen, Tizian von Falkenstein!”. Seine Pupillen weiteten sich daraufhin geradezu dramatisch. Er ging gar nicht auf mich ein, sondern kümmerte sich darum, nicht von der Zeitschrift zu sehr getroffen zu werden, da ich diese recht kräftig auf ihn geworfen hatte.
Danach bückte er sich und musterte das Magazin. Dabei beobachtete ich ihn genau. Ich musste zugeben, dass seine Augen immer wieder hin und her schnellten. Er war verwirrt, das konnte ich ihm ansehen und doch zweifelte ich an der Echtheit seiner Reaktion.
Ganz bestimmt würde ich ihm nicht das Feld überlassen und so hielt ich ihm eine kräftige Standpauke, oder versuchte es zumindest. “Du mieses Arschloch wusstest von Anfang an, dass ich, Krystal Knight, die Tochter von Jonathan Knight bin, den du in den finanziellen Ruin getrieben hast! Du bist so ein Egoist, ich wünschte, ich hätte dich nie kennengelernt! Ich wünschte, du wüsstest nur ansatzweise, was ich für Qualen wegen dir durchleiden musste! Ich wünschte, du ..”, weiter kam ich nicht, da Tizi die Zeitschrift achtlos auf den Boden schmiss und seine Arme um mich legte, da ich ziemlich wacklig auf den Beinen war.
Dafür hatte er noch Nerven? “Lass mich los, du …!”, begann ich, doch mir versagte die Stimme und ich brach noch mehr in Tränen aus als ohnehin schon. “Ganz ruhig”, sagte er. “Höre mir einfach nur zu, du brauchst auch kaum etwas sagen”, fuhr er fort. Wie konnte er nur so eine Ruhe haben?
Ich sagte dazu nichts, lieber schluchzte ich vor mich hin. “Weißt du, ich wusste nicht von Anfang an, wer du genau bist”, meinte er, was ich ihm nicht glauben konnte. Das merkte er daran, dass ich mich aus der Umarmung befreien wollte, doch er hielt spielend dagegen. “Ich kann mir vorstellen, dass das unglaubwürdig klingt, aber so war es”, blieb er bei seiner Aussage.
Er erstaunte mich. Ja, dieser Mann erstaunte mich. Er wusste ganz genau, dass in meinem Inneren ein gewaltiger Sturm tobte und dennoch war er einfach nur da. Tizian sprach weiter: “Glaubst du wirklich, dass ich das mit Absicht gemacht habe? Glaubst du wirklich, dass ich dich deswegen so behandle, wie ich es nun mal tue?”. “Ja”, brachte ich mit zittriger Stimme rasch hervor.
Dieses Mal überließ ich ihm nicht das Wort, sondern mir. “Du hast selbst gesagt, dass du ein Sadist bist, der es liebt, seine Opfer zu quälen. Ich möchte ehrlich gesagt nicht wissen, was du mit deinen bisherigen Opfern in diesem Raum gemacht hast. Ich jedoch scheine für dich sehr speziell zu sein, denn immerhin hast du meine Familie zerstört”, hauchte ich ihm beinahe atemlos entgegen.
Da ich nach wie vor von ihm festgehalten wurde, merkte ich die Anspannung, die ihn mit einem Mal überkam, sofort. Das machte mir zwar schon Sorgen, doch würde ich nicht schwach werden. Nicht jetzt. “Hast du überhaupt eine Ahnung, was du da gerade von dir gegeben hast?”, fragte er mich überaus geknickt, aber ebenso kühl.
Das verunsicherte mich dann doch. “Na und? Dich hat es damals doch auch nicht interessiert, was du meinem Vater und letztendlich auch meiner Familie angetan hast. Allein deinetwegen ging doch alles dem Bach hinunter. Allein deinetwegen hat er mit dem Trinken angefangen”, machte ich ihm trotzdem weitere Vorwürfe. “Wenn du nur wüsstest”, brachte Tizian mit fast erstickter Stimme hervor, was mich erschrak.
So hatte ich ihn noch nie erlebt. “Dann erzähle es mir doch”, ging ich auf Angriff, doch Tizi schüttelte nur den Kopf. Das merkte ich daran, da ich seine Haare rascheln hörte. “Noch nicht”, meinte er. “Und wann dann? Was ist nur los mit dir, verdammt? Macht es dir Spaß, mich so derartig mit deinen Füßen zu treten?”, redete ich auf ihn ein. Tizian flüsterte: “Ich kann nicht, aber ich kann dir auf jeden Fall sagen, dass es nicht so ist, wie du denkst”.
Daraufhin schwieg ich nur. “Komme zu mir zurück”, hauchte er. Erstaunt sah ich ihn an, nicht fähig auch nur ein Wort herauszubringen. “Bitte, komme zu mir zurück und lasse mich nicht alleine”, wisperte er geradezu ängstlich in die Dunkelheit. Ich wurde immer hellhöriger. Hatte er gerade wirklich bitte gesagt? Hatte er gerade wirklich gesagt, dass ich ihn nicht alleine lassen sollte?
Noch immer leicht in Tränen aufgelöst, meinte ich: “Du weiß nicht, was du mir damit angetan hast”. Nach diesen Worten war es dieses Mal er, der still war. “Ich habe dir vertraut. Ich dachte, dass du eigentlich ein ganz netter Mensch bist, doch dein einziges Talent besteht wohl nur darin, anderen Menschen Leid zuzufügen. Tut mir leid, aber du bist für mich nur noch ein Monster, Lord”, kam es mir langsam über die Lippen und dabei betonte ich das letzte Wort besonders.
Daraufhin geschah etwas, womit ich nie gerechnet hatte. Schon fast weinend - ja, er war wirklich kurz davor, Tränen zu vergießen! - nuschelte er vorsichtig: “Du kennst meine Vergangenheit nicht, worüber du eigentlich sehr froh sein solltest. Eines Tages aber werde ich dir davon erzählen, dafür musst du mir nur eine Sache versprechen”. Aha, auch noch Ansprüche stellen, dachte ich.
Genervt gab ich schließlich nach. Vielleicht sagte er ja die Wahrheit und würde es wirklich eines Tages tun. “Versprich mir, dass du nie wieder gehen wirst, aber dieses Mal wirklich”, brachte er nach einer halben Ewigkeit hervor. Anscheinend nahm auch Tizian dieses Gespräch besonders schwer mit.
Was sollte ich denn nun tun? Er war es doch gewesen, der mit daran Schuld war, dass mein Leben solche Wege eingeschlagen hatte. “Ich weiß es nicht”, gab ich leise zu. Er war still, einfach nur darauf wartend, dass ich endgültig eine Entscheidung traf. Als ich noch immer nichts sagte, meinte er: “Du hast die Wahl. Du kannst gehen und dein Leben leben oder du entscheidest dich für die Arbeit bei mir”.
Arbeit? Wie kam er denn nun darauf? Allein, dass er mich vor die Wahl stellte, brach mir fast das Herz. Er war schon so weit, dass er mich freilassen würde? Irgendetwas stimmte doch gewaltig nicht mit ihm und er klang noch immer so fertig! Sollte ich dem nicht lieber auf den Grund gehen? Meine Gefühle für ihn, die natürlich nach wie vor da waren, brachten schließlich die Entscheidung.
Mühsam sagte ich: “Ja, verdammt”. “Du bleibst?”, fragte er ungläubig und sah mich mit seinen noch immer glitzernden Augen an. “Ja”, antwortete ich nur. Aus Liebe, dachte ich. Mir war klar, dass noch ein weiter Weg vor mir lag, wenn ich wirklich seine Geheimnisse wissen wollte, doch ich würde ihn gehen. Egal, was für Qualen ich noch zu durchleiden vermochte, ich würde durchhalten.
Stille umgab uns. Jeder hing seinen eigenen Gedanken hinter. Und noch immer umarmten wir uns. Es war schön, auch wenn es gleichzeitig weh tat. Daher fragte ich: “Wie hast du mich überhaupt gefunden?”. Davon kaum merklich erschrocken antwortete er: “Ich habe es gespürt”.
War das sein Ernst? Wollte er mir das wirklich weismachen? Irgendwie glaubte ich ihm sogar. “Du zitterst schon wieder”, bemerkte er und riss mich damit aus den Gedanken. Ich zuckte nur mit den Schultern. Daraufhin zog er seine Jacke aus und legte sie mir über die Schultern. “Jetzt frierst du aber bestimmt”, flüsterte ich ziemlich verlegen. “Das ist mir egal”, erwiderte er.
Gerührt mied ich seinen Blick, mit dem er mich bedachte. Meine Güte, er konnte so süß sein, wenn er wollte! Ihm war gerade mein Wohl wichtiger als seines. Das rechnete ich ihm sehr hoch an.
Es würde wohl noch Jahre dauern, bis ich ihn endgültig einschätzen konnte. Heute war er gut gelaunt und morgen wieder ganz anders. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich mit ihm eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte. Nun war es aber zu spät. Ich hatte ihm nicht umsonst ein Versprechen gegeben und daran würde ich mich halten. Weil ich ihn liebte und an ihm hing. Außerdem brach man Versprechen nicht.
Niemand wusste, wie viele solcher heftigen Stürme die Zeit uns noch bescherte. Wir würden sie schon überstehen. Irgendwie. Da war ich mir dann doch sicher. Ganz so fremd waren wir uns nämlich auch nicht mehr. Das konnte man mit großer Sicherheit sagen. Und auch wenn er meiner Familie etwas angetan hatte, was man nicht verzeihen wollte und konnte, liebte ich ihn.
Diese Gefühle konnte mir niemand nehmen. Sie waren einfach da, so wie die Luft zum Atmen. “Ich danke dir”, sagte auf einmal Tizian. Perplex starrte ich ihn an. “Wofür?”, wollte ich wissen. “Einfach nur dafür, dass du da bist und mich nicht alleine in der tiefen Dunkelheit lässt”, antwortete er. Zwar fand ich seine Worte schon etwas schockierend, doch war ich eher beruhigt, da Tizian sich schon fast wieder normal anhörte.
“Wir müssen reden”, sagte der Mann, der mich fest in seinen Armen hielt. “Worüber denn?”, fragte ich leicht verunsichert. Tizi räusperte sich leicht und meinte ganz behutsam: “Über den Adel oder besser gesagt, darüber wie ich damit umgehe”. “Du, das ist glaube ich eine ganz schlechte Idee. Ich werde einfach nicht darüber fertig, dass du einer von denen bist”, gab ich nach einer Pause zu.
Daraufhin blickte er mir ganz sanft in die Augen. Dann flüsterte er: “Ich weiß. Gerade deswegen. Vielleicht merkst du dann, dass es auch unter dem Adel sehr deutliche Unterschiede gibt”. Schon allein am Klang seiner Stimme merkte ich, dass er das total ernst meinte und von der Wahrheit sprach. Also willigte ich ein.
Ich musste zugeben, als ich mit Tizian zu dessen Auto ging, dass mich der pure Schwindel überkam. Wie würde das bevorstehende Gespräch verlaufen? Oder hatte er das nur gesagt, um mich zurück zu sich zu locken? Nur warum hatte ich dann das Gefühl, dass er das mehr als ehrlich meinte?
Er legte einen Arm um mich, was ich als Wärmen deutete, denn ich musste zugeben, dass ich schon etwas sehr fror. “Danke”, flüsterte ich leicht verlegen und sah zu ihm auf, woraufhin er mich leicht schief anlächelte. Das hatte er noch nie getan. Mich gequält angelächelt. Wieder überkam mich diese leichte Angst vor dem, was mich in seiner Villa erwartete.
Die Fahrt verlief ruhig, meine Hände krallten sich schon förmlich in den Sitz, da ich so nervös war. Immer wieder legte Tizian wortlos seine rechte Hand auf meine linke und streichelte aufmunternd darüber. Es war einfach zu süß! Ich wusste diese Geste auch vor ihm zu schätzen und blickte ihn dankend an. Er jedoch lächelte unbekümmert, als ob das, was in der Vergangenheit geschehen war, in einem kompletten Widerspruch zu der Realität stand.
Immerhin kamen wir schon bald endlich an der Villa an. Mein Blick glitt sofort zu der mächtigen Standuhr in dem Eingangsbereich und ich stellte erstaunt fest, dass es erst kurz nach Mitternacht war. “Gute Nacht”, sagte ich zu Tizian, während ich die letzten Treppenstufen ging, doch er hielt mich auf. “Krystal, ich meinte eigentlich, dass wir das sofort klären”.
Das wiederum klang gar nicht gut. Ich schluckte schwer, woraufhin der Mann meinte, dass ich keine Angst haben bräuchte. Gut, dachte ich, ich habe so oder so keine andere Wahl. Schweigend ging ich ihm zu dem Wohnzimmer hinterher, wo er mir sofort einen Platz neben sich auf dem Sofa anbot.
Abwartend sah ich ihn an und erkannte, dass er nicht so recht wusste, was er sagen sollte. “Warum hasst du den Adel so sehr? Ich bin mir schon fast sicher, dass du mir nicht alles darüber erzählt hast”, begann Tizian endlich das klärende Gespräch überaus zögerlich. “Da täuschst du dich”, log ich ihn an und sah ihm in die Augen. Tizi sollte bloß nicht denken, dass er mit seinem Verdacht richtig lag.
Er schien mir zu glauben, dafür war er aber wieder ganz der Alte. “Gut”, fuhr er fort und machte weiter: “es ist aber nicht so wie du denkst”. “Was soll ich denn sonst von euch Adeligen halten?”, fragte ich, doch er stellte mir eine Gegenfrage. “Warum habe ich dir nichts von meiner Herkunft erzählt?”.
Das überraschte mich dann doch und ich sah ihn leicht perplex an. “Vielleicht genießt du es einfach nur, mich zu erniedrigen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass du immer wieder gedacht hast, was für ein dummes Mädchen ich doch bin, da ich nichts davon wusste, dass du zu diesem Abschaum gehörst”, antwortete ich dann doch etwas bitter, dennoch vorsichtig genug, um ihn nicht wieder zu reizen.
Schließlich wollte ich ihn wirklich nicht provozieren und zu meiner Überraschung nahm Tizian das so hin. “Verstehe, dazu muss ich mich nicht äußern. Denkst du etwa, dass ich mir etwas einbilde, nur weil ich eine Villa habe?”, blieb er überaus sachlich, was ich schon fast bewunderte. “Nun ja, nicht so wirklich, aber … warum um alles in der Welt kommandierst du mich dann so derartig rum? Etwa, weil du für mich keinen Lohn zahlen musst?”, bohrte ich nach.
Tizian atmete leicht überfordert ein und aus, was mich leicht erschaudern ließ. “Das denkst du also? Meine Güte, Krystal, ich bitte dich! Du weißt ganz genau, warum du hier bist. Hättest du meine Skulptur nicht kaputt gemacht, dann müsstest du das auch nicht tun. Und du kostet mir sehr wohl Geld, schließlich benutzt du so ziemlich alles, was hier ist, sei es nur Wasser für das Duschen oder Lebensmittel”, konnte Tizi nur bitter sagen. Es stimmte sogar, was er sagte. Ja verdammt, es stimmte. Das hätte ich wissen müssen.
Ich wollte grade etwas erwidern, als Tizian sich erneut zu Wort meldete. Er meinte: “Ja, ich habe ein Vermögen von über dreieinhalb Milliarden Euro, das ist richtig. Nur arbeite ich dennoch für mein Geld”. “Ja, das Geld, das eigentlich meiner Familie zustehen würde”, konterte ich noch bitterer.
Mit dieser Aussage hatte ich den Mann gegenüber von mir eindeutig getroffen. Betreten, gar schon erschrocken, sah er mich an. “Nein”, sagte er, “nein, so war das nicht! Und darum geht es auch gerade nicht. Es geht um den Adel und ich wollte dir damit nur sagen, dass ich ebenso wie die normalen Bürger - ich sehe mich übrigens selbst auch als so einer - für mein Geld arbeite”, fuhr er fort.
Das machte mich so wütend! Nein, er machte mich wütend! Schon fast in Rage meinte ich: “Ach so, dass du indirekt für den Zusammenbruch meiner Familie verantwortlich bist, ist egal? Du bist so ein mieser Egoist! Du bist so was von kaltherzig und …”, dann wurde ich unterbrochen. Leise flüsterte Tizian: “Ich weiß, es wurde mir schließlich nicht anders gelehrt”.
Musste er nun wirklich wieder so … zerbrechlich sein? Eben hatte ich ihn noch als einen rücksichtslosen Menschen bezeichnet und prompt bewies er mir das Gegenteil! Nur wollte ich gerade nicht schwach werden, also machte ich weiter. “So? Gibt dir das das Recht, so zu sein?”, fragte ich unverblümt, woraufhin der Mann antwortete, dass ich selbst nicht besser sei.
Wollte er mich reizen? Anscheinend schon, doch dieses Mal würde ich nicht darauf eingehen. “Der Schaden ist bei mir wohl nicht so irreparabel wie bei dir, denn immerhin bin ich eher für mich”, sagte ich. Nach meinen Worten wollte Tizian wissen, woher ich denn wissen wollte, dass er viel mit Menschen zu tun hatte. Darauf meinte ich: “Du hast eine eigene Firma und bist ein Adeliger, ich denke mal, da steht man öfters in der Öffentlichkeit oder hat zumindest viele Menschen um sich”.
Der Schwarzhaarige lachte. Freudlos. Bitter böse. “Ich bin hier nur hingezogen, um endlich meine Ruhe vor dem ganzen Trubel zu haben. Nur leider wird daraus wohl nichts mehr”, erwiderte er monoton. Irgendwie tat er mir ja doch leid. Wie er sich nun von seinem Platz erhob, um schon fast völlig neben sich nur nachdenklich aus dem Fenster sah. “Deine Welt scheint in ziemlicher Dunkelheit getaucht zu sein”, entfuhr es mir überaus mitleidig aus meinen Gedanken heraus.
Hatte ich das gerade eben wirklich laut gesagt? Oh nein, was dachte er wohl nun von mir? Ich wusste doch nur zu gut, dass ihm solche melancholischen Töne überhaupt nicht lagen und doch sagte mir etwas in meinem tiefsten Inneren, dass auch er solche Gedanken hegte.
Er blickte von dem Fenster zu mir und meinte nach einer kleinen Pause: “Ziemlich? Ich möchte ehrlich sein, ich verabscheue schon immer das Leben, welches ich führen musste”. Wollte er etwa nun über seine Vergangenheit reden? Verdammt, ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte.
Bevor ich aber darauf reagieren konnte, übernahm Tizian erneut das Wort. “Ich bin ganz gewiss nicht so wie diese Bonzen, wie du sie bezeichnest. Meiner Meinung nach ist das noch nett. Für mich zu nett. Viel zu nett. Solche Menschen sind Monster, einfach nur wahre Monster”, hörte ich ihn mit so einer Bitterkeit in der Stimme sagen, dass es mir eiskalt über den Rücken lief.
Er bezeichnete Adelige - ihn mit einbezogen - als Monster? Ich war mir sicher, dass man jemanden nicht noch herablassender beschreiben konnte. “Dir ist schon klar, dass du auch von dir gesprochen hast?”, fragte ich ihn, da ich nicht glauben konnte, dass er das tatsächlich gesagt hatte. Tizian sah mich schon fast herausfordernd, aber auch überaus überzeugt, an und sagte: “Mir ist sehr wohl bewusst, dass auch ich zu diesen Monstern gehöre. Nur ist das bei eine etwas andere Sache”.
Nach diesen Worten stand auch ich auf. Sie hatten mich überaus nervös gemacht, denn natürlich fragte ich mich, was denn bei ihm anders war. Oder sein sollte. Denn ein bisschen zweifelte ich schon. Ratlos lief ich hin und her. Die Antwort lieferte mir Tizian von alleine. Voller Verachtung meinte er: “Du ahnst nicht, wie gleichgültig mir mein Adelstitel ist. Den habe ich doch eh nur von meinem Erzeuger und eines seiner Betthäschen oder Bitches, wie du sie nennst”.
Auweia. Das klang ganz und gar nicht gut. Seine Familie schien ebenso zerrüttet zu sein, wie meine. Wahrscheinlich sogar noch mehr. Schlimmer war aber noch die Tatsache, dass ich ihm sogar ein wenig Glauben schenkte. In der Tat schien Tizi mir so ein Mensch zu sein, der wahrhaftig einen Scheiß auf Adelige gab. Nämlich gar nichts. “Meinst du das ernst?”, fragte ich und hätte mich im nächsten Moment am liebsten selbst gelyncht.
Warum, wusste ich gar nicht. Wahrscheinlich war ich einfach so durcheinander in der letzten Zeit, dass ich kaum mehr wusste, wer oder was ich war. Schon fast schüchtern starrte ich Tizian an, dessen Augen sich im nächsten Moment geweitet hatten. Keinen Augenblick später waren sie aber dunkel geworden, aber irgendwie auch weich. Leere durchflutete mich, da ich mich so kraftlos fühlte.
Tizian trat auf mich zu. Anscheinend hatte er bemerkt, wie sehr mich das gesamte Gespräch mittlerweile mitnahm. Kein Wunder also, dass ich mich sofort an ihn lehnte. “Glaube mir einfach. Bitte”, murmelte er leise und mir kam es so vor, als ob er das gar nicht laut hatte sagen wollen. “Ein Teil von mir tut das bereits”, gab ich schließlich vor ihm zu und wischte mir aufkommende Tränen aus dem Gesicht.
Ich liebe dich, dachte ich, ich liebe dich einfach so sehr. Und doch durfte der Mann, der in diesem Moment über mich wachte, nichts von meiner Gefühlsduselei wissen. “Meine Krystal”, riss mich die Stimme von Tizian aus meinen Gedanken und ich sah völlig von der Rolle zu ihm auf. Hatte er mich gerade als Seins bezeichnet?
Fragend sah ich ihn an, woraufhin er sagte: “Von uns Adeligen kann man wirklich falsch denken. Kein Wunder, wenn man auf die Geschichte zurückblickt. Die Zeiten haben sich aber wirklich geändert”. Seine Stimme klang dabei so voller Trauer, dass ich nicht anders konnte. “Du bist aber nicht so wie die Normalen!”, widersprach ich heftig und hätte die Worte am liebsten sofort zurückgenommen.
Nun war es aber zu spät und ich schloss meine Augen. Eine unerträgliche Stille war entstanden und das nur wegen mir. Langsam blinzelte ich auf und sah, wie Tizi mich mit offenem Mund anstarrte. Es war kein staunender Blick, sondern ein prüfender. Wie lange ich dem wohl stand halten würde? Lange hielt ich es nicht aus. “Vielleicht hast du wirklich Recht und ich lag falsch mit meinen Vorurteilen gegenüber von Adeligen, aber das alles hat einen bestimmten Grund!”, versuchte ich mühsam bei der Sache zu bleiben und hoffte nichts mehr, als dass er darauf einging.
Wider Erwarten tat Tizian es sogar. “Das hast du schon selbst eingesehen”, war alles, was er dazusagte. “Wie bitte?”, wollte ich verwirrt wissen, woraufhin er meinte, dass ich das mit den Vorurteilen sonst nicht erwähnt hätte. “Mich würde es aber schon interessieren, was für ein Grund dahintersteckt, dass du uns Adelige so hasst”, fuhr er mit so einer Arroganz fort, dass ich mich ihm entzog.
Während ich zurück zu der Couch ging, schüttelte ich heftig mit dem Kopf. “Das kann ich dir nie und nimmer erzählen. Also eigentlich schon, aber dann würdest du wohl erst recht auf mich herabblicken”, brachte ich beinahe atemlos und mit erstickter Stimme hervor. “Ich habe andere Motive”, ließ Tizian mich sofort wissen.
Seine unbarmherzige Kälte ließ mein Herz schon fast gefrieren. “Warum muss alles immer so kompliziert sein? Kann das Leben nicht einmal einfach sein?”, murmelte ich vor mich hin. Plötzlich hörte ich Schritte und schon spürte ich einen kühlen Atem an meinem Hals, was mir Gänsehaut bescherte. Tizi hatte sich klein gemacht und eine Hand auf meine Schulter gelegt. Dann meinte er: “Das hat jeder selbst in der Hand. Auch du”.
Dabei betonte er das letzte Wort so sehr, dass ich zusammenzuckte. “Kann sein, aber ja, ich versuche dir wirklich, zu glauben, dass nicht alle Adelige so schei … solche Monster sind!”, wisperte ich und musste gähnen. “Gehe lieber schlafen, mein Kristall”, riet mir Tizian und ging gar nicht darauf ein, was ich zuvor gesagt hatte. “Wieso hast du mich schon wieder als Dein bezeichnet?”, wollte ich wissen.
Ohne diese eine Frage beantwortet zu bekommen konnte ich eh kein Auge zu bekommen. Lange sah er mich stumm nach einer Antwort suchend an, ehe Tizian antwortete: “Ganz einfach, weil du meine Sklavin bist”. Wie gemein er doch wieder war! Ich wollte mich gerade lautstark darüber aufregen, als er noch lächelnd hinzufügte, dass ich hinreißend aussähe, wenn ich verwirrt war.
Keine Ahnung wieso, aber im nächsten Moment musste ich ihn einfach nur anstrahlen. “Danke”, sagte ich, da ich merkte, dass das sein voller Ernst war. “Nun aber wirklich ab ins Bett, ich werde mich auch hinlegen”, kam er zurück auf das, was er am Anfang gesagt hatte. Ich nickte ihn an und dann meinte ich: “Klar, gute Nacht”. Tizian erwiderte das sogar und so ging ich mit einem Lächeln auf den Lippen schlafen. Ja, nicht alles im Leben war mies und das würde ich noch früher mitbekommen, als mir lieb war.
Die Nacht verlief traumlos, doch als ich aufwachte, merkte ich, dass ich mich wie neugeboren fühlte. Lächelnd dachte ich an den gestrigen Abend. Dabei musste ich immer wieder einen Freudenschrei unterdrücken. Es war herrlich gewesen, mit Tizian gut auszukommen und dennoch hatte ich Angst vor dem Frühstück. Was war, wenn er sich mir gegenüber wieder so distanziert verhielt?
Meine Sorgen waren aber völlig überflüssig. Tizi ließ sich das erste Mal an diesem Tag blicken, während ich den Tisch deckte. “Guten Morgen”, sagte er und aus seiner Stimme konnte ich heraushören, dass er gute Laune hatte. Verdammt gute. Unsicher nuschelte ich dasselbe. Meiner Arbeit ging ich aber trotzdem nach, denn er sollte bloß nicht denken, dass mich irgendetwas davon abhalten konnte.
Ich beeilte mich und war auch rasch fertig. Somit aßen wir zusammen. “Das hast du wirklich schön gemacht”, meinte Tizian sofort zu mir, was mich unwillkürlich lächeln ließ. Die Ehrlichkeit in seiner Stimme war dabei einfach nicht zu überhören. Du meine Güte, wenn das so weiter ging, würde ich mich bestimmt noch verplappern und ihm sagen, was ich für ihn empfand!
Glücklicherweise trat dies aber nicht ein. Mit großer Mühe behielt ich den Überblick und freute mich über seine Komplimente. Es folgten nämlich noch einige und ich wusste, dass Tizian diese ebenfalls ernst meinte, denn für Heucheleien war er einfach nicht der Typ.
Nach dem Frühstück wollte ich auch sofort mit dem Abwasch beginnen, was ich auch tat, doch zu meiner Verwunderung half mir Tizi dabei. “Du wäscht das Zeug ab, welches ich dann abtrockne und einräume. Abgemacht?”, schlug er mir vor und ich fühlte mich wie auf Wolken schwebend. “Ja”, ging ich darauf ein, klang dabei aber so, als ob ich mit mir selber redete. Zu meinem Glück aber verstand er mich nur zu gut.
Abwesend wie eh und je spülte ich alles ab und stellte es neben der Spüle. Immer wieder berührten Tizian und ich uns dabei, was mir einen Hitzeschlag nach dem andere bescherte. “Vielen Dank”, sagte ich, als wir fertig waren und vermied es, ihm dabei in die wunderschönen dunklen Augen zu blicken. Lächelnd erwiderte Tizi, dass er mit gern geholfen habe und wir ruhig noch mehr putzen könnten. Das sah ich nicht als Angriff an, sondern als Mitarbeit oder besser gesagt Zusammenarbeit.
“Wo willst du anfangen?”, wollte ich von Tizian wissen, als ich ihm in einigen Metern Entfernung hinterher lief. “Mit der wunderschönen Eingangshalle, die magst du doch so sehr, nicht wahr?”, antwortete er mir mit einer Gegenfrage und blieb oberhalb der Treppen stehen. Wollte er mich etwa nun wieder erniedrigen?
Ich schluckte schwer. “Wie … wie meinst du das?”, wollte ich völlig durcheinander wissen, als ich daran dachte, dass mir hier, an jenem Ort, klar wurde, dass ich mich in einen Sadisten verliebt hatte. Süffisant, aber auch lächelnd witzelte er: “Ich hatte den Eindruck, dass es dir letztens sichtlich Spaß gemacht hat, mit dem Schrubber hin und her zu rennen”.
Das war es also, was er meinte. “Das ist dir aufgefallen?”, stammelte ich sichtlich verlegen, woraufhin Tizian sagte: “Natürlich, so hinreißend und ruhig wie du dabei aussahst, war das wirklich faszinierend”. Er hatte die Worte ohne Scheu ausgesprochen, als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre. Wieder zog mich dieser Mann in seinen Bann und wieder war ich ihm treu ergeben.
Einige Sekunden blickten wir uns in die Augen, ehe ich den Blickkontakt abbrach. Betreten sah ich zu den Treppen. Warum machte er mir so viele Komplimente? Hatte er eine Wette am Laufen oder etwas auszufressen? Oder hatte ich meinen eigenen Geburtstag vergessen? Da fiel mir sofort ein, dass es noch drei Monate dauerte, bis ich ein Jahr älter wurde. Und schließlich wurde mir auch klar, dass ich gar nicht wusste, wann Tizi geboren wurde und vor allem wo.
Das musste ich unbedingt wissen! Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und fragte ihn danach. “Das, Liebes, ist ein Treffer genau ins Schwarze”, hauchte er mir entgegen und ich konnte dabei sehr deutlich seine vor Vergnügung blitzenden Augen sehen.
“Du meinst heute? Also am … “, begann ich, doch er unterbrach mich. “Richtig, der zwanzigste September gehört mir”, gab er unter einem Grinsen zu. “Oh … dann, dann …”, begann ich wild stotternd, wurde aber erneut unterbrochen. “Später, später kannst du mir sehr gerne gratulieren, wenn du dazu gewillt bist. Zuvor sollten wir allerdings noch die Villa etwas aufräumen und in die Stadt fahren”, sagte er und sein entschlossener Blick ließ mich nicht einmal in einem Traum von rosa Elefanten daran denken ihm zu widersprechen.
Wir machten auch sofort weiter, erst nach einigen Minuten fragte ich wie aus dem Nichts, wer ihn denn besuchen wollte. Mir war sofort klar gewesen, dass er Personen zu sich eingeladen hatte, musste wohl in seinen Kreisen normal sein. “Niemanden, wieso?”, lautete seine etwas überraschende Gegenfrage. “Na ja, ähm … weil wir deine Villa herrichten und das haben wir doch erst getan”, sagte ich leicht verunsichert und wollte schon weiter gehen, doch Tizian hielt mich auf.
Sanft hielt er mich am Arm fest und meinte: “Ich habe das Gefühl, dass ich all die Spuren meiner Vergangenheit niemals verwischen kann und deswegen würde ich am liebsten das ganze Gebäude neu bauen”.
Seine Stimme klang dabei so voller Trauer, dass es mir schon fast das Herz brach und ich leise schluchzen musste. “Das … das wusste ich nicht, entschuldige”, flüsterte ich betreten. “Es gibt so vieles, das du nicht weißt”, hauchte er leise, was mich aufsehen ließ.
Ich musterte meinen Meister genau. Er sah so müde und fertig aus. Einfach komplett kaputt. Auch wenn mich brennend interessierte, was ich alles nicht wusste, so fragte ich nicht weiter nach, sondern lenkte das Gespräch auf den Ursprung zurück.
Das war auch keine schlechte Idee gewesen, denn zusammen erledigten wir die gesamte Arbeit innerhalb von ein paar Stunden und es blieb wirklich noch Zeit, um in die Stadt zu fahren. Ich hatte zwar keinen blassen Schimmer, was er mit mir da wollte, doch ließ ich mich einfach überraschen.
“Sind wir bald da?”, fragte ich leicht mürrisch, da die Fahrt in die Stadt schon ein paar Minuten dauerte. Lange. Zu lange. Viel zu lange. Viel zu lange für meinen Geschmack. Das machte mich etwas misstrauisch, obwohl ich mittlerweile schon fast wusste, dass Tizian im Grunde gar nicht so schlimm war, wie er immer tat. Angesprochener lachte gerade herzhaft, was mich leicht zusammenzucken ließ.
Warum tat er das gerade? Er beantwortete meine Frage von selbst. “Das war gerade wirklich sehr süß von dir, du hast dich angehört wie ein kleines Kind”, meinte er noch immer kichernd und musste sich sogar leicht anstrengen, um nicht einen Unfall mitten auf der Straße zu bauen. Wieder brachte er mich aus der Fassung. Leicht verlegen nuschelte ich: “Danke, lieb von dir”.
Wir fuhren noch etwa zehn Minuten, bis wir in einem Nobelviertel der Stadt fuhren. Dem Nobelviertel schlechthin. “Was wollen wir denn hier? Ich habe gehört, dass es hier ganz viele Boutiquen gibt, mehr aber auch nicht”, fragte ich verwirrt, woraufhin sich ein kleines, aber amüsiertes Lächeln auf die Lippen von Tizian schlich. Was um alles in der Welt hatte er nur mit mir vor?
Sein Wagen kam zum Stehen. Durcheinander stieg ich aus und ging mit ihm in eines der zahlreichen Bekleidungsgeschäft. Kaum hatten wir es betreten, kam auch schon eine Frau auf uns zu oder besagt zu Tizian. “Signore von Falkenstein, welch eine Ehre! Ich freue mich, Sie wiederzusehen”, sagte eine ältere, aber doch nette Stimme. Tizi lächelte besonnen und erwiderte charmant wie eh und je: “Die Freude liegt auch auf meiner Seite, Miss”.
Bei dem letzten Wort bekam ich eine kleine Gänsehaut, so formal hatte ich ihn nämlich noch nie reden gehört und wenn ich ehrlich war, machte mir das auch ein bisschen Angst. Schließlich passte ich absolut nicht in seine Welt und ich würde ganz bestimmt nicht so reden wie er. “Und Sie? Sind Sie Fräulein Knight?”, wandte sich die Frau an mich und ich wurde kreidebleich. “Woher …?”, setzte ich an, doch Tizian machte eine Handbewegung, womit er mich zum Schweigen brachte.
Was sollte das denn? “Ich habe hier lediglich einen Termin für dich gemacht”, sagte er und klang versöhnlich, da er schon an meinem Blick merkte, dass mir das absolut nicht passte, was hier gerade geschah. “Für … mich? Wieso das denn?”, brachte ich atemlos hervor. “Sieh dich mal um, hier gibt es nur Kleider. Suche dir eins aus”, meinte Tizi und sein herrischer Ton verriet mir, dass das ein Befehl war.
Betreten ging ich zum nächstbesten Kleiderständer und erschrak. “Hast du dir mal die Preise angesehen? Das kann ich nie und nimmer bezahlen!”, platzte aus mir heraus. Tizian dagegen lachte. “Du Dummerchen, das bezahle natürlich ich”, teilte er mir mit. “Ja, damit ich noch mehr bei dir abarbeiten kann und länger bleiben muss”, meinte ich und hielt mir die Hand vor dem Mund.
Wie peinlich! Die Frau war nämlich nach wir vor da, guckte aber überhaupt nicht überrascht über unser kleines Wortgefecht. Seltsam. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinen Kopf, die meine Haare leicht durcheinander brachte. Tizi. “Hey! Du zerstörst meine Frisur!”, schrie ich ihn an, was ihn nur noch mehr zum Lachen brachte.
“Wenn das für dich so schlimm ist, dann können wir noch sehr gerne zum Friseur gehen und wenn wir schon einmal in der Nähe sind, kaufe ich dir noch Make Up und alles, was dazugehört. Kann ja sein, dass danach etwas mit deinem Gesicht nicht stimmt”, feixte er, meinte es aber dennoch sehr ernst.
Peinlich berührt ließ ich von einem orangefarbenen Kleid - ich musste sie mir einfach alles ansehen, da sie so unfassbar schön waren! - ab und gesellte mich wieder zu ihm. “Was hat das damit zu tun? Du müsstest doch wissen, dass ich nicht viel davon halte”, erwiderte ich und bereitete mich innerlich schon auf eine kleine Diskussion vor.
Tizian winkte aber lässig ab, in dem er entgegnete: “Das stimmt schon, dennoch sehe ich dich trotzdem selten mit etwas Schminke, die im übrigen Tabitha und Tara gehört. So hättest du deine eigene, mit der du dich schön machen kannst, falls du irgendwann einmal denken solltest, dass du von Natur aus nicht schön genug bist”, argumentierte er mit einer gewaltigen Wirkung auf mich.
Mit offenem Mund starrte ich ihn an. “Sie sind öfters hier, nicht wahr?”, fragte ich im nächsten Moment und musste mich bemühen, nicht verletzt, traurig, geknickt oder wütend zu klingen. “Wer?”, wollte er überaus verwirrt wissen.
“Die Frauen. Tabitha und Tara”, half ich ihm auf die Sprünge und wendete den Blick von ihm zum Boden, der mit schwarzem Samt ausgelegt war. “Natürlich”, sagte er und brach abrupt ab. Dabei hatte ich das Gefühl, dass noch mehr dahintersteckte.
Aus Angst, irgendetwas Unfassbares zu erfahren, fragte ich nicht weiter nach. Ich wollte nämlich nicht, dass das in einer Streiterei endete. Dafür verstanden Tizian und ich uns in diesem Moment einfach zu gut.
Lieber widmete ich mich wieder meiner kleinen Aufgabe. Die war aber auch nicht gerade einfach. Hier waren so viele schöne Kleider, dass es mir schier den Atem raubte.
Tizian, der mich noch immer anschaute, beachtete ich gar nicht mehr. Warum auch? War ja meine Sache, was ich mir so ansah. “Das sieht ganz gut aus”, sagte die Frau hinter mir.
Oh, die hatte ich ganz vergessen. Bestimmt war sie dazu da, mich zu beraten, dabei blieb es so oder so mir überlassen, was ich für ein Kleid wählte. “Meinen Sie? Ich weiß nicht so recht”, gab ich unter Skepsis zu.
Wenn sie schon einmal da war, konnte sie mich vielleicht wirklich gut beraten. Mal sehen. “Nun, Ihre Figur passt wirklich gut zu dieser aufflammenden Optik”, fuhr die Frau fort und sah abwechselnd zu mir und dem Kleid.
Eingeschüchtert von ihrem doch sicheren Auftreten meinte ich: “Ich weiß Ihre Bemühung sehr zu schätzen, doch gefällt es mir nicht. Ich bin nicht so der farbenfrohe Mensch”.
Nach meinen Worten sah sie mich etwas gekränkt an, was mir ein schlechtes Gewissen bescherte. “Entschuldigen Sie, aber ich denke, ich sollte lieber mal hier nachsehen”, murmelte ich und ging zu der edlen Auswahl. Ich wusste zwar nicht, was Tizian genau mit mir vorhatte, doch war ich mir sicher, dass es besser wäre, wenn ich mich in einem Fummel aus Samt zwängte.
Manche Kleider gefielen mir sogar. Beispielsweise fand ich so ein silbernes echt schön. Es hatte einen Ausschnitt, ließ aber einen nicht zu tiefe Einblicke gewähren. Zudem waren die ein oder anderen Edelsteine darin verarbeitet.
Ja, es war schon seriös, wirkte aber dennoch schlicht. Das müsste zu Tizian passen. Wenn ich doch nur wüsste, was er vorhatte! Aber umsonst würde er mich sicherlich nicht in so eine Luxusboutique schleppen.
Jedenfalls verschlug es mich in die Umkleidekabine, denn das Silberkleid ließ mich nicht mehr los. Als ich heraustrat, um die Meinung der Frau zu hören, sah ich den doch erstaunten Blick von Tizian. Fand er das etwa schön? “Krystal, was soll das?”, fragte er mich leicht angesäuert. Oh Gott, hatte ich es kaputt gemacht? Dabei hatte ich es doch mit äußerster Vorsicht angefasst!
Versteinert blickte ich zu ihm und betrachtete mich im Spiegel. Nein, schien alles in Ordnung zu sein. Was war nur dann mit ihm los? “Du weißt ganz genau, dass dieser Stil nicht zu dir passt”, ließ er mich wissen, was wie ein Pfeil war, der mich mitten in mein Herz traf. Ja natürlich dachte er so und das nur weil ich ein Straßenmädchen war. “Schon gut”, murmelte ich und fragte die Frau, ob es hier auch etwas Unauffälligeres gab.
Eigentlich wollte sie etwas sagen, doch das Schnauben von Tizi ließ sie erst gar nicht zu Wort kommen. “Sieh dich mal bitte in dem Spiegel an und frage dich, ob du das wirklich willst. Ob du das wirklich bist”, sagte er. Ich tat, was er sagte und … fühlte mich unwohl.
Das schien er bemerkt zu haben und näherte sich mir. Als er ganz dicht hinter mir stand, hauchte er mir in mein linkes Ohr: “Hier gibt es auch etwas düsteres oder für Menschen mit tiefschwarzer Seele und hell aufloderndem Herz”.
Sofort bekam ich eine unglaubliche Gänsehaut. Ich hätte nicht gedacht, dass er mir in diesem Laden so nahe kommen würde. Und seine Worte erst! Diese hatten so poetisch geklungen und seine düstere Stimme erst!
Paralysiert davon ließ ich mich von ihm in besagte Abteilung führen und staunte nicht schlecht. Ja, das passte wirklich zu mir! Und es gab auch vieles in meiner Größe.
Mir wurde auch klar, was es mit seinem Hinweis, dass das silberne Kleid, welches ich zuvor noch angehabt hatte, auf sich hatte. Es passte wirklich nicht zu mir. Mehr und nicht weniger hatte er mir mitteilen wollen, was ich sehr lieb von ihm fand.
Nun konzentrierte ich mich auf die Kleider, die ich zuvor noch nicht betrachtet hatte. Doch dann vergaß ich alles um mich herum. Es sah perfekt aus! Da wusste ich, was ich wollte. Meine Beine trugen mich ohne Umschweife dorthin, wo es ganz unauffällig hing. Alles andere blendete ich komplett aus.
Die Grundfarbe war edles Weinrot, an dem Rock ab der Taille ging schwarzes, transparentes Satin durch. Der Ausschnitt war genauso wie der bei dem silbernen edlen Kleid. Doch dieses Kleidungsstück, was ich hier sah, hatte nur dünne Träger. An dem Oberkörper waren feine Rosen in klitzekleinen Edelsteinen geformt, die quer von rechts oben nach links unten bis zu den Knien verliefen, wo das Kleid auch endete.
Mein Herz schlug immer lauter und mit halboffenem Mund fuhr ich über den feinen Stoff. “Das passt doch schon viel besser zu dir”, nahm Tizian hinter mir meine Wahl zufrieden zur Kenntnis und klang dabei ein wenig bewundernd, was mich völlig aus der Bahn warf.
“Es … es ist wunderschön. Kann … darf ich es anprobieren? Bitte?”, fragte ich völlig durch den Wind und war keine Minute später wieder in der Umkleidekabine verschwunden.
Tizian hatte ohne Zweifel recht gehabt. Es sah wirklich sehr gut aus und auch die Frau fand es schön. Als ich auf den Preis sah wurde mir aber schlecht. “Sieh mich nicht so an, ich habe gesagt, dass ich dir das bezahle und das meinte ich ernst”, hörte ich Tizi sagen.
“Du spinnst”, hauchte ich atemlos, “du spinnst, aber so was von!”. “Ganz ehrlich? Du wirst genau wissen, dass siebzehntausend Euro für mich ein Nichts sind”, ließ der Mann leicht das arrogante Arschloch heraushängen.
Komischerweise störte mich das nicht, denn es stimmte, was er sagte. Also nahmen wir auch besagtes Kleid und fuhren davon. “Willst du nun deine Haare schneiden lassen?”, fragte Tizian mich, als wir an einer Ampel standen. “Wenn es dir nichts ausmacht, die gehen mir nämlich schon bis zum Po”, antwortete ich und errötete leicht, als er mich angrinste.
Auch das war schnell erledigt und im Nu hatte ich stufige Haare, die mich wieder flotter aussehen ließen. Besonders meine Spitzen sahen wieder ganz gesund aus. Das mit dem Make Up war ebenfalls kein Problem für uns gewesen.
Nach etwa insgesamt drei Stunden waren wir wieder zurück in seiner Villa. Mich interessierte brennend, warum das ganze Getue überhaupt stattgefunden hatte, doch Tizian sagte mir lediglich nur geheimnisvoll, dass ich um einundzwanzig Uhr in dem Kleid - und somit auch gestylt! - in der Eingangshalle zu sein hatte.
Sofort glitt mein Blick zu der mächtigen Standuhr in der Eingangshalle, in der ich auf Tizian warten sollte. Es war kurz vor neunzehn Uhr. Meinem Meister, der schon fast in dem rechten Gang oberhalb der Treppen verschwunden war, fragte ich, was ich für das Abendessen herrichten sollte. Zu meiner Verwunderung antwortete er mir, dass das gar nicht nötig wäre.
Eigentlich wollte ich etwas protestieren, denn mein Magen gab eindeutige Geräusche von sich, doch ich ließ es einfach bleiben. Dafür war ich im Moment viel zu glücklich über die Tatsache, dass Tizian und ich uns so derartig gut verstanden. Ein wahres Dreamteam. Das wollte ich auf gar keinen Fall zerstören. Wenn ich nur daran dachte, brach es mir schon fast mein kleines Herz.
Ich war schon etwas traurig, dass wir nicht zu Abend aßen, aber so hatte ich immerhin etwas mehr Zeit, um mich fertig zu machen. Erst einmal würde ich mir eine ausgiebige Dusche gönnen. Dafür war der Tag dann doch etwas anstrengend gewesen und auch wenn es schon Ende September war, ließ die Sonne sich trotzdem noch sehr häufig sehen. Ich hoffte nur, dass mit dem Winter meine Welt nicht wieder in pure Kälte getaucht werden würde.
Als ich schließlich vor meinem begehbaren Kleiderschrank stand, überlegte ich schon fast fieberhaft, was für Unterwäsche ich unter dem Kleid anziehen sollte. Tizian war zwar so lieb gewesen und hatte mir noch andere Klamotten gekauft, doch ich war mir nicht sicher, ob ich davon schon etwas anziehen sollte. Anderseits … warum nicht? Ich entschied mich für schwarz, denn das passte auch zu dem wunderschönen Kleid.
Das warme Wasser ergoss sich wie ein sanfter Sommerregen über mich und ich überlegte noch immer, was Tizi mit mir vorhatte. Mir war das nämlich nicht so ganz geheuer. Natürlich könnte das auch nur an meiner immensen Neugier liegen. Oder an meiner Unsicherheit. Ich hoffte nur, dass es nichts Schlimmes war. Meine Angst steigerte sich bis ins Unendliche und schon bald liefen mir die ersten Tränen über die Wangen.
Zum Glück konnte Tizian mich weder hören noch sehen, denn das würde mir wohl noch den Rest geben. Ich wollte nie wieder mehr weinen. Jedenfalls nicht vor ihm. Das war einfach nur peinlich. Gefühle, wer brauchte die schon? Was wollte ausgerechnet so jemand wie ich damit? Die Antwort auf diese Frage blieb mir zu diesem Zeitpunkt noch verwehrt. Lieber riss ich mich unter Dusche zusammen und stieg nach einer halben Stunde aus der Kabine.
Nur mit einem Handtuch bekleidet ging ich zurück in mein Zimmer und schloss die Tür ab. Dann ging ich wieder zu meinem begehbaren Kleiderschrank und suchte nach passendem Schmuck. Ob ich davon etwas tragen durfte? Mir war klar, dass dieses Zimmer eigentlich Tabitha und Tara gehörte - oder zumindest einer von den beiden wunderschönen Frauen.
Noch immer wusste ich nicht, in welcher Beziehung sie zu Tizian standen. Nein, dachte ich mir, das ist jetzt Nebensache. Ich sollte mich lieber auf mein Styling konzentrieren. Davor cremte ich mich aber mit Körpermilch ein, die mich schon bald wie Kokosnüsse durften ließ. Immerhin hatte Tizian nie dazu etwas gesagt, wenn ich sie einmal genommen hatte. Als das erledigt war, schlüpfte ich in das wunderschöne Kleid hinein. Der erste Teil wäre schon einmal erledigt.
Plötzlich hörte ich ein Klopfen. Erschrocken drehte ich mich zu der Tür und fragte, was denn los sei. Tizian meinte nur, er hätte noch Schuhe für mich. Ich sagte zu ihm, dass er diese bitte hinstellen sollte, da ich noch nicht fertig war. Sein Lachen hörte ich bis zu dem Spiegel in dem begehbaren Kleiderschrank, was mich vergnügt lächeln ließ. Mit der Schminke, die mir Tizi noch großzügiger weise gekauft hatte, machte ich mir Smokey Eyes. Im Großen und Ganzen sah ich danach wirklich toll aus.
Danach sperrte ich ganz kurz die Tür auf, um mir die Schuhe zu nehmen, die mein Meister mir hingestellt hatte. Ich staunte nicht schlecht. Sie waren passend zu meinem Kleid weinrot und besaßen schwarze Steine. Und der Miniabsatz sah einfach nur zu süß aus! Mir gefielen sie sehr und mir kam es schon fast so vor, als ob sie mit dem Kleid ein Set gewesen waren. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es viertel nach acht war. Also hatte ich noch etwas Zeit für meine Haare, die ich mir nach dem Duschen sofort geföhnt hatte.
Apropos, diese hatte ich ja kürzer schneiden lassen. Zu kurz waren sie aber nicht geworden. Nur im Gegensatz zu vorher, denn gut die Hälfte hatte ich bei dem netten Friseur gelassen. Sanft fuhr ich mir durch die flotten Stufen. Meine Haare sahen durch den Schnitt gesund und lebendig aus. Ich hatte nichts Großes vor, ich wollte sie mir lediglich mit einer Spange hochstecken und einige stufige Strähnen an der Seite hängen lassen. Mit etwas Haarspray sprühte ich mir die übrigen Haare zurecht, nachdem ich meine leicht gewellten Haare geglättet hatte.
Danach sah ich mich in dem Schmuckkästen, das direkt an dem Spiegel war, um. Auch wenn ich mich fast wie eine Diebin fühlte, legte ich das schwarze Collier um meinen Hals. Dazu gab es noch ein Armband, welches zu dem Collier passte. Kein Wunder, war ja auch ein Set. Zuletzt widmete ich mich dem Spiegelcheck. Ich musste zugeben, dass ich wirklich gut aussah. Voller Vorfreude lächelte ich mein Spiegelbild an und sah, dass es an der Zeit war in den Eingangsbereich zu gehen, denn es war bereits kurz vor einundzwanzig Uhr. Eine kleine Tasche mit Kram für unterwegs nahm ich dennoch mit.
Langsam machte ich einen Schritt nach dem anderen. Erst als ich im Begriff war, die große, ungeteilte Treppen nach unten zu gehen, sah ich ihn. Ihn, der mich nur mit geweiteten Augen und offenem Mund anstarrte ohne ein einziges Wort zu sagen. “Ich … ähm, ich passe auf den Schmuck schon auf, keine Sorge”, stotterte ich wild herum. Und was machte der Mann? Nichts, er sagte stets kein Wort, lieber blickte er mich weiterhin an, was mich sehr nervös machte.
Dafür nutzte ich die Zeit, um auch ihn zu mustern. Ich musste zugeben, dass er einfach nur umwerfend aussah! Seine Haare waren ganz leicht gegellt, sodass ihm einzelne dichte Strähnen über der Stirn fielen und sein schwarzer Anzug mit den glänzenden ebenfalls schwarzen Schuhen passte perfekt zu mir mit dem ebenfalls recht dunklen Styling. Sein schneeweißes Hemd blitzte unter dem Sakko hervor, wodurch seine muskulöse Brust leicht betont wurde. Meine Güte, er sah so gut aus!
Als ich bei ihm ankam, reichte er mir die Hand, um mir die letzte Stufe zu erleichtern. “Danke”, murmelte ich verlegen und konnte nicht den Blick von ihm nehmen. Erst als ich durch seinen Griff merkte, dass es in seinem Inneren heftig brodelte, sah ich zu seiner Hand und gleich darauf in sein Gesicht, aus dem ich nichts herauslesen konnte. “Du … “, setzte er an, endlich etwas zu sagen und brach verdutzt ab. “Was ist?”, fragte ich mit einem Lächeln auf dem Gesicht, woraufhin er stotterte: “Du siehst wahnsinnig toll aus!”.
Durch die Ehrlichkeit seiner Stimme errötete ich und merkte, wie alles in mir zu kribbeln begann Mit zittrigen Beinen ging ich schließlich mit ihm zu seinem Auto - es war sein geliebter Audi R8! - und dann fuhren wir los.
Anfangs sagte ich einfach gar nichts, denn ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Erst als wir im Inneren der Stadt - erneut im Nobelviertel! - waren, regte ich mich. “Wohin geht es denn dieses Mal?”, fragte ich vorsichtig. Meine kleine Frage war gar nicht so schlecht gewesen, denn Tizian lachte erfreut darüber auf und meinte spitzbübisch: “Du bist ja wirklich sehr neugierig. Das wirst du gleich sehen”.
Na super, dachte ich vergnügt, er ließ mich schon wieder im Dunklen tappen. Ein kleines Kichern entwich mir dann aber doch und ich witzelte: “Du bist echt fies, willst mir nie sagen, was als nächstes passiert”. “Ja, weil du so neugierig bist”, feixte Tizi, sagte aber dann: “So, wir sind da”. In der Tat hatte er den Wagen zum Stehen gebracht und den Autoschlüssel herausgezogen.
Er stieg aus und ehe ich die Tür aufmachen konnte, hielt er sie mir auf. Ganz der Gentleman reichte er mir eine Hand, die ich mit einem Lächeln annahm. Und dann sah ich es. Wir standen vor einem Restaurant und um uns herum waren lauter schicke Wagen. Die Menschen sahen einfach super aus. Für mich war es bereits jetzt schon so, als ob ich in eine neue Welt eintauchen würde. Was mich dann wohl im Inneren erst erwarten würde?
Es war … umwerfend! Mir gingen langsam die Worte aus, denn immer wieder wurde ich überrascht. Das Restaurant war sehr hell und edel eingerichtet. “Darf ich?”, fragte er und nahm mir meinen Mantel ab, ehe ich etwas dazu sagen konnte. Dabei musste ich mich sehr zusammenreißen, denn sonst hätte ich mich ihm womöglich noch an den Hals geworfen. Sofern das überhaupt möglich war.
Wir standen keine halbe Minute am Eingang des noblen Saals, schon kam ein Kellner auf uns zu. “Signore von Falkenstein, ich freue mich sehr, Sie hier nach all der Zeit wieder begrüßen zu dürfen”, sagte der Mann. “Es ist in der Tat lange her, seitdem ich hier war und doch ist der Standard noch immer so edel wie früher”, meinte Tizian mit einem süffisanten Unterton. Der Herr, dessen Haare in dem Licht fast so weiß wie Schnee waren, führte uns zu einem Tisch leicht Abseits des Restaurants.
“Danke”, sagte ich, als der Kellner mir den Stuhl zurecht schob und mich mit Tizi alleine ließ, nachdem er die einzelne Kerze, die auf dem Tisch stand, angezündet hatte. Ich musste zugeben, dass die Karten ziemlich groß waren und die Preise erst! Zu Tizian sagte ich allerdings kein einziges Wort, denn er würde mit seinen sieben … äh achtundzwanzig Jahren wissen, was er sich leisten konnte und was nicht. Zudem würde darunter sein Vermögen sicherlich nicht leiden.
Langsam ging ich die Gerichte durch und hatte kaum eine Ahnung von dem, was so auf der Karte stand. “Hast du schon einen Wunsch?”, fragte mich Tizian und spielte damit wohl auf Getränke an. “Ich bin mir nicht sicher und du?”, antwortete ich mit einer Gegenfrage. “Also ich würde uns schon ein Gläschen Champagner gönnen”, gab er ehrlich zu.
Skeptisch sah ich ihn an. Alkohol. “Wie sollen wir dann zu deiner Villa kommen?”, wollte ich wissen, woraufhin er meinte: “Von dem einen Glas werde ich schon nicht betrunken, da brauchst du dir wirklich keine Sorgen machen und wenn das für dich so schlimm ist, rufe ich uns einen Chauffeur”. Er dachte auch wirklich an alles! “Also gut”, gab ich schließlich nach und Tizian rief den Kellner zu uns, der unsere Bestellung aufnahm.
Eine Frage blieb allerdings noch, nämlich die, was ich nun essen sollte. “Du, ich habe überhaupt keine Ahnung, was ich für das Essen nehmen soll. Kannst du mir vielleicht einen Tipp geben, was besonders gut schmeckt?”, wandte ich mich an Tizi, der mich über das Feuer der Kerze hinweg angrinste. Er brauchte gar nicht lange überlegen, denn er meinte relativ schnell: “Sushi, das Sushi ist hier wirklich gut. Am Besten mit Kaviar, Seezunge, Steinbutt, Lachs und Garnelen”. Ich stimmte ihm zu, aber auch nur, weil ich Sushi mochte. Er nahm dasselbe.
Gut eine halbe Stunde später waren die Getränke und das Essen da. Zu dem Fisch gab es noch Gemüse und Salat, alles von höchster Qualität. “Und?”, fragte mich Tizian, als ich die ersten Bisse nahm. “Das”, sagte ich, während ich den Rest kaute, “ist wirklich köstlich!”. Er musste lachen, doch dann meinte er: “Übrigens kommt es nicht so gut an, wenn man mit halbvollem Mund spricht”.
Nach dieser Aussage schluckte ich den Rest in einer Tour herunter und sagte: “Ups, das hatte ich in der Tat vergessen”. Danach lächelte er mich an. Hach, er hatte so hinreißendes lächeln, wenn er wollte. Einfach zum Verlieben. Kein Wunder, dass ich ihn liebte. Um meinen klitzekleinen Fehler wieder wett zu machen, erhob ich mein Glas, woraufhin er seines ebenfalls nahm. “Alles Gute zu deinem Geburtstag, ich hoffe für dich, dass sich all deine Wünsche erfüllen und du gesund bleibst. Auf dich”, sagte ich und unsere Gläser klirrten leise aneinander.
Wir beide tranken einen Schluck mit einem Lächeln auf dem Gesicht. “Danke, das freut mich wirklich sehr”, gab Tizian unter einem Strahlen zu. Die Aufrichtigkeit war so intensiv, dass es mir für einen kurzen Moment völlig die Sprache verschlug. “Hey, guck nicht so!”, meinte er auf einmal frotzelnd, was mich zum Lachen brachte. “Idiot”, gluckste ich.
Während diesem Abend wurde mir klar, dass er und ich uns eben doch dauerhaft super verstehen konnten. Beide lachten wir viel und konnten uns schon fast gar nicht mehr zurückhalten. Das Essen wurde auch nach und nach an unserem Tisch gebracht. Zusammen speisten wir fünf Gänge und ich war danach einfach nur pappsatt. Dafür war das Essen einfach nur zu gut gewesen. Noch nie hatte ich so derart gut gegessen. Aus dem Gläschen Champagner wurden bei mir mehrere, bis ich schließlich zu Rotwein überging, der es mir besonders angetan hatte.
Nach meinen dritten Glas fragte mich Tizian, ob wir nicht in den Tanzbereich gehen wollten. Erstaunt darüber frage ich ihn, ob es denn wirklich einen gäbe und ob man da gut tanzen konnte.
Daraufhin führte er mich in den hinteren, kleinen Teil des Restaurants und siehe da, tatsächlich gab es einen kleinen Parkettboden, der nur so zu einem Tanz einlud. So glücklich - und bereits angetrunken! - wie ich war, hatte ich keinerlei Scheu davor. Also sagte ich ihm zu.
Während wir tanzten, hielt mich Tizian sicher fest, denn er hatte sehr wohl bemerkt, dass ich nicht mehr ganz nüchtern war. Ich musste zugeben, dass er unglaublich süß zu mir war, denn auch wenn ich nur ein bisschen außerhalb des Taktes der langsamen Musik kam, hielt er mich so sicher fest, dass ich gar nicht umkippen konnte. “Du kannst wirklich gut tanzen”, lallte ich etwas, woraufhin er schmunzeln musste.
Natürlich fragte ich dem Mann nach den Grund und er antwortete: “Kleine Krystal ist ja wirklich ein wenig angeheitert”. “Passiert, aber ich fühle mich gerade einfach so gut, dass ich Bäume herausreißen könnte”, meinte ich und kicherte leise. Zum Glück sahen uns die Leute nicht an. “Wenn es dir zu viel wird, sage es mir ruhig und dann fahren wir nach Hause”, bot mir Tizi an.
Da war ich mir sicher, dass er ein guter Kerl war. “Danke, ich werde darauf zurück kommen, wenn es soweit ist”, sagte ich und fragte ihn, ob es so eine Art Außenbereich gab, da mir schon ein klein wenig schwindelig war. Natürlich bejahte der Mann mir und so gingen wir zusammen hinaus.
Hand in Hand - warum wir das taten wusste ich gar nicht! - schlenderten wir zu dem Geländer, an dem wir einen Ausblick über die Stadt hatten, denn der Außenbereich befand sich auf dem Dach des Gebäudes.
Mir raubte es schier dem Atem. “Hier ist es wunderschön”, gab ich staunend zu und konnte nicht aufhören mir alles anzuschauen. “Und du erst”, hörte ich Tizian hinter mir sagen und merkte, dass er dicht hinter mir stand. Seine Hände hatte er neben meinen auf dem Geländer abgestützt. “Geht es dir besser?”, fragte er mich besorgt, woraufhin ich nickte. Schließlich kam es nicht so oft - eigentlich nie! - vor, dass ich Alkohol zu mir nahm.
Wir waren alleine auf diesem Dach. Armes, einsames Dach. Jetzt hatte es Gesellschaft bekommen. Von Tizian und mir. Dem Lord und der Sklavin. Jener Mann stand noch immer hinter mir und ich hatte das Gefühl, dass er mit mir in eine neue Welt eintauchen wollte, obwohl er das bereits war. Zumindest ging es mir so.
Schweigend lauschte ich dem Wind und war dankbar für die kühle Luft, die meine Gedanken wieder klarer werden ließ. Erst da dachte ich wieder an seine Frage. “Ja”, sagte ich schließlich wie aus dem Nichts und wand mich aus der Situation. “Können wir gehen? Ich bin müde”, stammelte ich, als ich ihn kurzzeitig ansah. “Gerne”, meinte er mit einem charmanten Lächeln auf den Lippen und fügte hinzu, dass er noch die Rechnung bezahlen wollte.
Nachdem Tizian die Rechnung bezahlte, gingen wir zu seinem Auto. Wieder verhielt er sich wie ein Gentleman, in dem er mir erneut die Tür auffielt und mich darum bat, in den Wagen zu steigen. Noch leicht durcheinander bedankte ich mich bei ihm. “Wie spät ist es eigentlich?”, fragte ich ihn, da es stockdunkel war und auch sonst nichts auf den Straßen los war. “Viertel nach zwölf”, antwortete er mir.
Die Fahrt verlief ebenso ruhig und lustig wie das Essen zuvor. “Schlafe bloß nicht ein”, ermahnte mich Tizi und wollte mir erneut durch meine Haare fahren. “Fass’ meine Haare an und du bist tot!”, meinte ich gespielt hysterisch, doch natürlich merkte Tizi, dass ich noch sehr angeheitert war. Daher konnte ich mir einen Lachanfall nicht länger verkneifen. “Hey, werde mir bloß nicht frech”, tadelte mich der Mann in einem belehrenden Ton. “Dann was?”, provozierte ich ihn gespielt. “Dann … dann dann!”, platzte es aus ihm heraus.
Kichernd sagte ich: “Ätsch, du weißt nämlich nicht, was dann ist”. Dabei streckte ich ihm die Zunge raus, woraufhin er eine beleidigte Schnute zog. Wie süß! “Na warte, du freche Göre”, erwiderte Tizi lachend, als wir an einer Ampel standen und drohte mir aus Spaß damit, meine Haare zu tätscheln. Schützend hob ich meine Hände, um mich zu schützen. Glücklicherweise kitzelte er mich nur.
Schon fast sterbend vor lachen prustete ich: “Lass das! Die Ampel ist grün”. Das war meine Rettung! Denn in der Tat konnten wir nun weiter fahren, was wir auch taten. “Du Scherzkeks”, sagte Tizian nur und unterdrückte Gelächter. “Hier, sofort zur Stelle”, meldete ich mich.
Nach gut einer halben Stunde waren wir wieder in der Villa oder besser gesagt, wir standen vor dem Eingang. Tizian, der Chaot fand seine Schlüssel nicht auf Anhieb und sagte: “Tja, dann müssen wir heute draußen übernachten”. “Pff, nicht mit mir”, spielte ich dieses Mal die beleidigte und lachte laut los. Auch Tizi lachte und wedelte vor mir mit dem Schlüsselbund.
So so, er hatte sie also in der Zwischenzeit gefunden. “Wenn du brav bist, dann sperre ich sogar auf”, witzelte er und während ich mich an der Wand lehnte - daran war allein dieser mieser Alkohol Schuld! - meinte ich: “Oh bitte bitte, großer Meister”. Beide prusteten wir los und siehe da, er sperrte tatsächlich auf. Kurze Zeit später hing mein Mantel in dem Eingangsbereich und auch Tizian hing sein Sakko achtlos dorthin. Unsere Schuhe hatten wir unter dem Kleiderständer gestellt. Jetzt war es an der Zeit schlafen zu gehen. Ein wenig erschöpft sagte ich: “Der Abend war toll gewesen, dafür danke ich dir zutiefst”.
Schon war ich auf dem Weg in mein Zimmer und im Begriff, die ersten Treppenstufen hochzugehen, als ich auf einmal ein kräftiges Ziehen an meiner Hand bemerkte. Tizian. Als ich mich überrascht umdrehte, stolperte ich die Treppen herunter und fand mich genau vor ihm wieder, da er mich aufgefangen hatte. “Was…?”, setzte ich an, brach dann aber ab, als ich sah, dass mich der Mann stumm musterte.
In seinen Augen sah ich etwas aufblitzen. War es Lust, Begierde oder doch nur ein Mustern? Ich stand zitternd da und sah schließlich, wie er sich immer mehr zu mir bückte. Dann ließ er mein Handgelenk los und nahm mein Gesicht in beide seiner Hände. Mein Herzschlag beschleunigte sich daraufhin ins Unermessliche. Was hatte er nur vor? Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen, als er meine Unsicherheit bemerkte und er sich mir immer mehr näherte.
Langsam, aber mit vollstem Gefühl wurde die Distanz zwischen uns geringer. Sanft hielt er mich nach wie vor fest, während ich mich auf die Zehenspitzen stellte, um ihm noch näher zu sein. Uns trennten nur noch weniger Zentimeter, als ich sah, wie seine Augen zuckten, nur um auch die letzten Millimeter, die noch zwischen uns lagen, zu überbrücken.
Seine Lippen legten sich auf meine und mir war so, als ob alles in mir zerbrach. Nicht im negativen Sinne, sondern im positiven. Ich war ihm so nah, wie nie zuvor. “Du siehst einfach nur umwerfend aus”, hauchte er mir entgegen, ehe er seine Zunge in meinem Mund schob. Natürlich gewährte ich ihm Einlass, denn endlich geschah das, wovon ich immer geträumt hatte.
Tizian küsste mich. Weder verlangend noch stürmisch. Unsere Zungen trafen sich. Erst sanft, dann immer fordernder. Ich nahm nur seinen Geruch nach Pfefferminze wahr. Er drückte mich an sich und mir war so, als ob er nur Angst hatte, dass ich geschockt von dem, was sich hier soeben abspielte, zurückweichen könnte, doch um nichts auf dieser Welt würde ich das jetzt tun. Nein, denn mir fiel es schwer mich zurückzuhalten.
Seine eine Hand glitt von meinem Gesicht zu meinem Schulterblatt, während die andere auf meiner rechten Wange ruhte. In diesem kleinen Moment, der schon eine Ewigkeit andauerte, schaltete sich mein Gehirn vollkommen aus und ich gab mich den Gefühlen hin, die mich mit einem Mal überfluteten.
Er konnte so verdammt gut küssen! Und auch er war nervös. Oder stand zumindest unter Strom. Ich wusste es ganz und gar nicht, denn es war mir auch egal. Meine komplette Umgebung schien sich aufzulösen, da waren nur noch er und ich, wie wir uns in seiner Eingangshalle küssten.
Dann, ganz plötzlich, löste sich Tizian zaghaft von mir. Er legte seine Stirn an meine und flüsterte: “Wenn der Abend für dich so schön war, können wir ihn gerne noch schöner gestalten, wenn du dazu gewillt bist”. Nach diesem Satz gefror mir beinahe das Blut in den Adern, denn mir war sehr wohl klar, dass das ein eher unmoralisches Angebot war.
Zumal er mir genau in die Augen sah, was mich nur noch mehr aus dem Gleichgewicht brachte. Doch ich wollte ihn. Ja, ich wollte ihn. Jetzt. Sofort. “Ja”, antwortete ich, “Küsse mich und lasse mich nie wieder los!”.
Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, verlor Tizian sprichwörtlich die Beherrschung und küsste mich erneut. Dieses Mal war da nichts von Herantasten oder Zärtlichkeit, nein, dieses Mal war es Begierde und pure Lust. Das war mir egal, denn mir erging es nicht anders. Je mehr und intensiver er mich berührte, umso mehr traf mich ein Stromschlag nach dem anderen.
Zusammen stolperten wir immer mehr die Treppen hoch, bis ich erneut fast mein ohnehin schon wackeliges Gleichgewicht verlor. “Hiergeblieben”, raunte er mir zu, da zwischen uns für einen Augenblick wieder diese unendliche Distanz, die schon fast wie eine Mauer war, entstanden war. Er zog mich erneut zu sich, aber nur um mich dann auf seinen starken Armen zu tragen.
Daraufhin schlang ich meine Arme um seinen Hals, um ihn zu küssen. Ich spürte, wie der Mann immer mehr die Kontrolle über sich selbst verlor, was mir gefiel. “Du bist unglaublich”, sagte er, während ich ihm zart auf die Unterlippe biss.
“Und du erst”, entfuhr es mir und zuckte im nächsten Moment leicht zusammen. Tizian hatte sich nämlich gegen die erste Tür gedrückt, die in den Gang zu seinem Zimmer führte. Er wollte wirklich mit mir schlafen?
Anscheinend schon, denn er bahnte sich immer weiter und schneller einen Weg durch sein unterirdisches Wirrwarr. Als auch die letzte Tür aufsprang legte er mich zärtlich auf sein Bett ab und schloss ab.
Von dem Eingang aus sah er meinen Schatten und schaltete schließlich das gedämpfte Licht ein. Ich stand mittlerweile neben seinem Bett und sah ihn lächeln.
Mit eben diesem einen Lächeln stürzte er sich auf mich, da er sah, dass ich ihn bereits erwartete. Zuvor hatte er mir noch vorsichtig die Haarklammer von meinem Haar entfernt und sie auf die Kommode neben seinem Bett gelegt.
Wild knutschten wir dort herum, während seine Hand zu dem Reißverschluss auf dem Rücken meines Kleides glitt. Ich dagegen knöpfte ihm n das weiße Hemd auf, was er mit einem Drängen quittierte.
Als es endlich offen war, konnte ich zum ersten Mal einen eindeutigen Blick auf seinen muskulösen Oberkörper werfen. Ich hatte mich also nicht getäuscht. Er sah gut aus, ziemlich gut aus und stand ihm ausgezeichnet!
Doch im nächsten Moment weiteten sich meine Pupillen. Was um aller Welt machte die riesige Narbe, die sich quer durch seinen Oberkörper zog, dort? Zumal sich da auch kleinere, kaum erkennbare Narben befanden. “Oh mein Gott, Tizian…?”, begann ich, doch er drückte seinen rechten Zeigefinger auf meinen Mund und befahl mir mit seinem Blick, nicht weiter nachzufragen.
Er hatte recht, denn wir waren hier, um etwas ganz anderes zu machen. Daher sah ich zu seinen Armen, die zum Glück nicht mit irgendetwas gezeichnet waren. Konzentriert verdrängte ich die Narben auf seinem Oberkörper.
Währenddessen glitten seine Hände zu meinem Hals, an dem ich noch immer das Collier trug. Zärtlich entfernte er es und legte es zu der Haarspange auf die Kommode. Danach zog er flink, aber ebenso fordernd die Träger meines Kleides von meinen Schultern und im Nu stand ich nur in Unterwäsche bekleidet vor ihm da.
Wartend auf eine Reaktion von dem Mann, dem ich mein Herz geschenkt hatte, starrte ich ihn an. Schweigend betrachtete er mich, ehe sich ein vielsagendes Grinsen in sein Gesicht gebildet hatte.
“Sexy”, kommentierte er vor Lust schon fast stöhnend, was für mich der Startschuss war, den Gürtel seiner feinen Anzughose, die er noch immer trug, aufzumachen. Sekunden später sah ich ihn nur mit seiner Boxershorts bekleidet. Mir war klar, dass es jetzt kein Zurück mehr geben würde, erst recht nicht, als mich Tizian sanft auf sein Bett drückte.
Jetzt würde also richtig losgehen. Gespannt darauf wartete ich auf ein Zeichen von ihm. Als er meinen BH öffnete und ihn sofort neben mir auf den Boden gleiten ließ, wusste ich, dass es spätestens jetzt zu spät war um umzukehren, auch wenn ich es vielleicht eines Tages bereuen würde, genau das erlebt zu haben. Als Nächstes zog er mir meinen Slip aus und legte ihn neben meinem BH. Danach lag auch seine schwarze Boxershorts auf dem weichen Boden.
Mit angehaltenem Atem sah ich ihn dabei zu, wie er meinen Körper anstarrte. Dann hörte ich ihn schlucken. “Unglaublich, einfach nur zum Anbeißen!”, entfuhr es ihm und mir war so, als ob er das eigentlich nur in seinen Kopf hatte sagen wollen.
“So? Dann vernasche mich doch endlich!”, ging ich zu einem Angriff über und dieses Mal war ich es, die sich in ihrer mentalen Unruhe auf ihn stürzte. Überrascht davon landete er auf seinem Bett, ich auf ihn drauf.
Knutschend erkundeten wir erst einmal jede einzelne Körperstelle des anderen. Von meinem Rücken aus fuhr Tizian sanft über meinen Beinen herab, woraufhin mir ein kleiner lustvoller Laut entwich. “Du machst mich so wahnsinnig!”, hauchte ich und er meinte flüsternd: “Und du mich erst”. Meine Hand glitt zu seinem Penis und ich nahm die Erektion deutlich wahr.
Mir wurde aber auch klar, dass er sich zurückhielt. Warum nur? Die Antwort bekam ich sofort geliefert, ohne dass ich ihn überhaupt danach gefragt hatte. “Ich will all das mit dir machen, was ich schon immer wollte”, flüsterte er mir in mein eines Ohr zu, was mir eine unglaubliche Gänsehaut bescherte und ehe ich mich von seinen Worten erholen konnte, wand er sich mit einem Mal. Somit lag ich mit dem Rücken auf seinem Bett. Er meinte es also wirklich ernst.
Tizian legte seine Lippen auf meine und seine Hände tasteten sich von meinen Beinen über meinen Bauch zu meinen Brüsten. Sie waren mittelgroß, aber dafür auch prall. Er würde also damit schon seinen Spaß haben. Außerdem gefiel es mir, wie er mich berührte. Er wusste genau, wie man Frauen um den Finger wickeln konnte, das merkte ich an seinen Griffen.
Von meinem Mund küsste er mich auf die Stirn. Danach glitten seine Lippen zu meiner Wange und zu meinem rechten Ohr. Er knabberte daran, was mir einen Schauer nach den anderen durch den Körper jagte.
“Mehr”, stöhnte ich und merkte, wie er begann, meine Brüste zu massieren. Unterdessen begann ich seinem Penis leicht zu streicheln. Auch ihm entwich ein Stöhnen, was mir gefiel.
Es war ein Auf und Ab der Gefühle, denn wir befanden uns in einem Strudel aus Gefühlen. “Du machst mich so an!”, gab er unter einem heftigen Stöhnen zu, was mich nur noch mehr auf Touren brachte.
Tizian aber stoppte zu meiner leichten Überraschung, aber nur um mich zu verwöhnen. Er verteilte nämlich nun Küsse auf meinen Hals und kam schließlich mit dem Mund an meinen Brüsten an. “Unglaublich”, flüsterte er und begann diese zu liebkosen.
Zärtlich, aber auch mit einer unüberhörbaren Lust biss er mir in die Brustwarzen und strich manchmal auch darüber. Immer wieder musste ich mich zusammenreißen, um mich nicht komplett dem Strudel aus Gefühlen hinzugeben.
Dafür sorgte Tizian aber ganz schnell. Seine Hand begann sich auf Erkundungstour zu begeben, während er mich ansah. In dem gedämpften Lichte seines Zimmers sah ich ihn lächeln. Ich lächelte zurück, um im nächsten Moment aber laut aufzustöhnen.
Seine Hand befand sich zwischen meinen Beinen an jener Stelle, wo er meine Lust nur zu deutlich spüren konnte. Erst da dachte ich an Kondome. Nie würde ich ohne Schutz mit einem Mann schlafen! So angeheitert war ich dann doch noch nicht.
Daher war es kein Wunder, dass ich ihn danach fragte. Sofort glitt seine Hand zur Kommode, in der er welche deponiert hatte. Als das erledigt war, wartete ich sehnsüchtig darauf, dass es endlich passieren würde. Dass ich endlich mit ihm schlafen würde. Vorsichtig drang er schließlich in mir ein, was mich nur noch mehr stöhnen ließ.
Und dann legte er los. Immer schneller bewegte er sich, er verstand wirklich davon etwas, eine Frau zu befriedigen. “Oh Tizian!”, entfuhr es mir und ich krallte mich in seinen Haarschopf fest, was auch ihn nur noch mehr antrieb.
Beide stöhnten wir immer lauter und erlebten alles intensiver als zuvor und vergaßen alles um uns herum. Nichts zählte mehr, nur die Lust, die uns wie die Luft zum Atmen umgab.
“Weiter”, stöhnte ich flüsternd, aber ebenso fordernd, “gib’ mir mehr davon und lass’ mich bloß nicht alleine!”. “Niemals”, sagte er und hauchte mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Der Orgasmus kam und wie er kam! Er überflutete uns förmlich mit all seiner Kraft und mit einem triumphalen Stöhnen von beiden Seiten war der Höhepunkt vorbei.
Schwer atmend lösten wir uns schließlich voneinander und legten uns in sein Bett, nachdem wir immerhin unsere Unterwäsche wieder angezogen hatten. Zärtlich deckte er mich mit seiner Decke zu und zog mich zu sich heran.
Dann gab er mir einen kleinen Kuss auf mein dunkles Haar. Ich kuschelte mich daraufhin an ihn, was er sogar zuließ. Vielleicht war er aber auch nur zu erschöpft, ich wusste es nicht.
Eine Weile lagen wir einfach nur schweigend da und hingen unseren eigenen Gedanken hinterher. “Du bist unglaublich”, hörte ich ihn auf einmal noch immer nicht ganz zu sich gekommen in die Stille hinein sagen.
Wenn du wüsstest, dachte ich ein klein wenig aufgeregt, wenn du wüsstest, dass das mein erstes Mal war. Wie gut, dass jener Mann, dem ich meine Unschuld geschenkt hatte, nichts davon wusste.
Dieser legte lieber seine Arme um mich und schien sich langsam, aber sicher zu beruhigen. Mittlerweile war ich wieder halbwegs normal, doch ich fragte mich, ob er den Vulkan, der in mir brodelte, spüren konnte.
“Bist du eingeschlafen?”, hörte ich Tizi plötzlich fragen und da erst rührte ich mich. “Nein nein, entschuldige, ich bin nur aus der Puste”, sagte ich, was ihn kichern ließ.
Dann aber drehte er sich etwas auf die Seite, sodass er freie Sicht auf meinen Rücken hatte. Danach presste er sich ganz dolle an mich, als ob er wirklich Angst hätte, dass ich jeden Moment aufspringen und davon laufen könnte. “Und ich erst”, gab er dann zu, was mich ziemlich stolz machte.
“Was haltest du davon, wenn wir morgen richtig schön ausschlafen?”, fragte er mich, ehe ich etwas erwidern konnte. Ich antwortete ihm, dass das eine ziemlich gute Idee sei. Wenn ich mir nur vorstellte, um zehn Uhr wieder aufstehen zu müssen, standen mir meine Haare schon fast zu berge. Nein, das wollte ich wirklich nicht.
Im Laufe dieser Nacht wurde ich immer schläfriger, aber doch konnte ich Tizian noch sehr gut hören. Daher entging mir auch seine aufkommende Müdigkeit nicht. Ich war schon fast eingeschlafen, als er mir erneut einen Kuss auf mein tiefschwarzes Haar gab.
Davon total überrumpelt murmelte ich kaum merklich vor mich hin: “Ich liebe dich so sehr und wünschte, du würdest dasselbe für mich fühlen”. Dann driftete ich in einem tiefen Schlaf ab, während ich noch ganz leise seine flüsternde Stimme wahrnahm, aber leider nicht verstehen konnte, was er sagte.
Müde und mit leichten Kopfschmerzen wachte ich auf. Mir wäre fast mein Herz stehen geblieben, als ich bemerkte, dass ich nicht alleine in meinem Zimmer war, da jemand beide Armen um mich geschlungen hatte und mir so war, als ob diese Person mich nicht loslassen wollte.
Ich drehte mich ganz leicht und sah, wer neben mir lag. Fast wäre hätte ich vor lauter Schreck geschrien. Was machte Tizian denn hier? Was machte ich in seinem Zimmer? Das gedämpfte Licht befand sich schließlich nur in seinem Schlafzimmer. Und dann fiel mir alles wieder ein, einfach alles. Wie Tizian und ich in der Eingangshalle standen, uns küssten und … schließlich miteinander in seinem Bett gelandet sind…
Vorsichtig befreite ich mich aus dieser Umarmung und setzte mich an den Rand. Wie konnte das nur passieren? Mir war sofort klar, dass ich damit einen schweren Fehler begangen hatte, als ich mich ihm endgültig treu ergeben hatte. Wie sollte ich ihn denn jetzt noch unter die Augen treten? Ich hatte keinerlei Ahnung.
Nein, das konnte ich wirklich nicht! Ich muss hier weg, schoss es mir durch den Kopf, doch dann sah ich über meine Schulter und erstarrte.
Tizian lag friedlich schlafend in seinem Bett, er sah so süß dabei aus! Sofort schossen mir Tränen in die Augen. Wahrscheinlich hat er meine Angetrunkenheit nur ausgenutzt, um mich flachzulegen, dachte ich und spürte ein stechendes Gefühl in meinem Herz.
Konnte das wirklich sein? Konnte jemand, der so ruhig schlief, so ein herzloser Mensch sein? Langsam stand ich schließlich auf und sah auf mich herab. Wenigstens trug ich Unterwäsche! Mein geliebtes düsteres Zeug.
Leise sammelte ich meine Sachen zusammen und war schon im Begriff zu gehen, als ich hörte, wie Tizi sich rührte. Er wird doch nicht etwa aufwachen? Oh Gott, bitte alles nur nicht das!
Zu meinem Glück aber drehte er sich nur, dennoch sah ich, wie er im Schlaf über die leere Bettseite strich. Suchte er mich etwa in seinem Schlaf? Das alles konnte ich mir nicht länger mit ansehen, ich musste weg. Nach einem letzten Blick zu dem Mann schloss ich schließlich die Tür hinter mir. Das Licht ließ ich aber trotzdem an.
Erst als ich in meinem Zimmer wieder war, traute ich mich auf die Uhr zu sehen. Ich hatte Angst, dass es schon früh am Morgen war und er durch meine ganze Aktion aufwachen würde.
Die Uhr zeigte 04:53 Uhr an. Lustlos ließ ich mich in mein Bett fallen. Im nächsten Moment musste ich aber leicht bitter lachen. “Von wegen, er wollte mich nur ins Bett bekommen”, sagte ich und fuhr in der Stille fort: “Ich wollte es doch selbst”.
Dann aber drehten sich meine Gedanken um etwas ganz anderes. Seine Narben. Woher stammten sie? Und warum befanden diese sich nur auf seinem Oberkörper? Das alles ergab doch kaum einen Sinn.
Klar, wenn man jünger ist, dann prügelt man sich öfters, doch das sah meiner Meinung nach nicht aus wie eine einfache Prügelei. Da muss noch etwas in seiner Vergangenheit gewesen sein, vor allem wollte er nicht darüber reden, schoss es mir durch den Kopf.
Ich hätte sehr gerne weiterhin darüber nachgedacht, da mich das sehr beschäftige, leider war ich aber dann doch recht schnell in das Land der Träume angekommen.
Gegen zehn Uhr begann der Tag für mich aber endgültig. Eigentlich wollte ich ja noch so lange wie möglich in meinem Bett liegen bleiben, doch ich wusste, dass ich mich Tizian so oder so stellen musste. Umso früher, umso besser.
Also zog ich mir eine Jogginghose und ein T-Shirt an, damit müsste ich lässig genug aussehen, er würde schon nicht auf die Idee kommen, noch einmal mit mir Sex haben zu wollen. Hoffte ich jedenfalls.
Als ich in der Küche ankam, war er schon da. “Morgen”, nuschelte ich. Der Mann, der das Frühstück zubereitete grummelte nur irgendetwas vor sich hin. Natürlich hatte ich recht gehabt, als ich dachte, dass die Nacht, die wir sozusagen zusammen verbracht hatten, Konsequenzen mit sich tragen würde.
Das Schweigen am Tisch war einfach nur so was von eisig, dass es mich überaus sehr fröstelte. Daraufhin stand Tizian auf und schloss wortlos das Fenster, welches offen gewesen war. Ich wagte es erst gar nicht, mich bei ihm dafür zu bedanken.
Er sprach erst ein Wort mit mir, als er fertig mit dem Essen war. “Abwaschen und danach sofort einräumen. Ich wünsche, dass es um Punkt zwölf Uhr Mittagessen gibt”, begann er sofort, mich wieder herumzukommandieren. “Und was?”, fragte ich leise und obwohl er bemerkt hatte, dass es mir nicht so wirklich gut ging, erwiderte er kaltschnäuzig: “Ist mir egal”. Danach ging er einfach aus dem Raum.
Warum auch immer musste ich dabei an jene Briefe von Jakob denken. Sie sind im Prinzip genauso kalt gewesen. Da war nichts von Wärme drin gewesen. Ich hatte gehörige Angst davor, wieder so derartig schwer verletzt zu werden, dass ich Hals über Kopf beschloss, mir die Schriftstücke später durchzulesen.
Und als ich schließlich dieses heftige Stechen in meinem Herzen spürte, ja genau da wusste ich, dass es bereits zu spät war. Ich war verletzt worden. Von niemand Geringerem als Tizian, den ich zu allem Überfluss so sehr liebte, wie keine andere Person zuvor.
“Du sollst nicht träumen, sondern arbeiten!”, befahl mir Tizi auf einmal von der Seite überaus barsch. “Was?”, fragte ich völlig verdutzt, woraufhin der Mann giftete: “Du brauchst erst gar nicht an die Nacht denken, das war ein einmaliger Ausrutscher!”.
Nach diesen Worten blieb mir beinahe das Herz stehen. „Sieh mich nicht so geschockt an! Denkst du wirklich, dass mir das auch nur etwas bedeutet hat? Hast du vergessen, dass es völlig normal ist, dass Menschen miteinander Sex haben?”, stichelte er weiter auf mich herum.
Jetzt reicht es, dachte ich, ich habe genug! “Nicht schon wieder!”, schrie ich ihn an, aber nur, um nicht loszuweinen. Gelassen meinte Tizian: “Du bist ziemlich gutgläubig, weißt du das? Dachtest du denn wirklich, dass wir das öfters machen oder du mir auch nur irgendetwas bedeutest?”. “Ist schon gut, ich erledige schon die Arbeit!”, sagte ich den Tränen nahe und räumte wie von einer Tarantel gestochen den Tisch ab.
Hinter mir lachte Tizian mich bitterböse aus. Ich hatte mit Bravour schon vergessen, dass er ein Sadist war und diese traurige Szene, die sich soeben abspielte, holte mich wieder zurück in die jämmerliche Wirklichkeit.
“Jetzt lügst du aber mit all dem, was du gerade sagtest”, entfuhr es mir flüsternd, doch mein Meister hatte mich sehr wohl verstanden. Ich vergaß, er hatte ja verdammt gute Ohren.
Jedenfalls schlug er urplötzlich mit der Faust auf die Keramikplatte seiner überaus edlen Einbauküche. Vor Schreck ließ ich das Besteck, welches ich in der Hand zum Abtrocknen hielt, fallen.
Warum war er denn nun schon wieder so aggressiv? “Wenn ich wollte, könnte ich jede Frau haben, die ich möchte und das weißt du auch nur zu gut! Du warst die Einzige, die gerade da war und außerdem ist es ein Leichtes für mich, irgendwelche Frauen zu verführen, nur um sie dann wieder fallen zu lassen”, zischte er laut, gar schon fast schreiend.
Seine Worte hatten eine gewaltige Wirkung auf mich gehabt, vor allem aber die Art und Weise wie er diese ausgesprochen hatte. Ich versuchte mich krampfhaft daran zu erinnern, wann er je von so einer Kälte umgeben war, dass es mich glatt erzittern ließ.
Ich sollte nicht schwach sein, dachte ich und meinte möglichst monoton: “Ach so ist das also? Ja? Wäre ich bei klarem Verstand gewesen, hättest du mich überhaupt nicht ins Bett bekommen!”.
Das müsste gesessen haben, denn für einen Moment sah mich Tizi schon etwas perplex an. Ich musste zugeben, dass das auch ziemlich gemein war, denn ich stellte ihn schon fast als eine Art Vergewaltiger dar. Die Worte musste er wohl erst noch sacken lassen.
Erst nach wenigen Augenblicken hatte er seine Sprache wieder gefunden. “Das ist dann allein dein Pech, nicht meins. Passe lieber auf, dass du nicht wieder so viel trinkst, denn sonst werde ich noch viel Schlimmeres mit dir machen”, erwiderte er so unbeeindruckt, dass mich das nur noch streitlustiger machte.
“Was dann? Verschleppst du mich etwa in diesem komischen Raum, um mich zu foltern?”, lenkte ich bewusst auf dieses heikle Thema ab.
Immerhin hatte ich die erwünschte Reaktion bekommen, auch wenn es mir sehr leid tat. Mit überaus geweiteten Pupillen näherte sich Tizian mir und drückte mich gegen seine Einbauküche.
“Was ist?”, fragte ich leise weiter. “Habe ich etwa genau den Nagel auf den Kopf getroffen? Ich wette, dass davon deine vielen Narben, die sich auf deinen Oberkörper nur zu deutlich befinden, sind!”, holte ich fürs Erste zu einem letzten Angriff aus.
Etwas gespannt auf das, was als nächstes passieren würde, sah ich ihm genau in die Augen. Sein frischer Atem, der nach Pfefferminz roch, streifte mein Gesicht. Es war Segen und Fluch zu gleich.
“Hat es dir die Sprache verschlagen, hm?”, fragte ich ihn spitz, doch aus seinem Mund kam kein einziger Laut. Auch wenn er eigentlich die Oberhand hatte, fühlte ich mich so stark, dass ich meinte: “Damit hattest du anscheinend echt nicht gerechnet, denn sonst würdest du mich nicht so dämlich anstarren!”.
Als er noch immer still war, wollte ich mich aus dieser seltsamen Situation befreien, doch zu meiner Verwunderung ließ Tizian mich nicht gehen. Er war wütend, ziemlich wütend, das erkannte ich an seinem Griff, der sich verstärkt hatte. Als er sich ruckartig von mir löste und einen Schritt zurück ging, rechnete ich schon mit dem Schlimmsten. Ich dachte, dass er mir eine Ohrfeige geben würde oder sonst was mit mir anstellen wollte.
Mit dem, was er machte, hätte ich allerdings nicht gerechnet. Ebenso schnell wie er vor mir zurückgewichen war, war er wieder bei mir. Er drückte mich mit roher Gewalt erneut gegen seine Küche und hielt mich fest. Dann drückte er seine Lippen auf meine.
Was sollte das denn? Tizian war sauer, wollte er damit etwa Schlimmeres verhindern? Ich konnte mir keinen Reim daraus machen, doch er hatte mich schon wieder da, wo er mich haben wollte.
Wieder versank ich zwischen Raum und Zeit, nur um dieses Mal heftig zurück in die Realität geholt zu werden. Mittlerweile hatte ich nämlich die Augen geschlossen, doch dann lachte Tizi süffisant auf. Als ich meine Augen wieder aufmachte, tauchte sein hämisch grinsendes Gesicht direkt vor meinem auf und schon frotzele er: “Siehst du. Ich kann dich haben, wann immer ich will”.
Hatte er mich etwa nur geküsst, um mir das zu beweisen? Was sollte das denn nun schon wieder? Ich wurde einfach nicht schlau aus ihm. “Was?”, fragte ich verdattert, was ihn nur noch mehr zum lachen brachte.
Dann sagte er: “Du bist jämmerlicher als ich je dachte. Ich merke schon, wir werden noch sehr viel Spaß haben, besonders ich”. Nach diesen Worten verließ er erneut wortlos die Küche und ließ mich dieses Mal wirklich allein zurück. Völlig geschockt stand ich da und sah ihm hinterher. Wieder war ich gescheitert. Und das mit Bravour.
Dennoch übte ich seinen Befehl aus. Was sollte ich denn sonst machen? Mich gegen ihn aufzulehnen brachte mir auch nichts. Darauf war ich nämlich mittlerweile von selbst gekommen.
Jetzt quälte mich jedoch die Frage, was ich für das Mittagessen kochen sollte. Ich hatte davon nämlich keine Ahnung. Vielleicht könnte ich das Wissen, was dank Tizian ziemlich groß war, mir zu Nutze machen und ihn überraschen.
Gedankenverloren beschloss ich Lachs mit einer Kräutersauce und Kartoffeln zu machen. Wenn es Tizian nicht passte, dann sollte er doch kochen.
Schließlich konnte er es im Gegensatz zu mir. Bestimmt meckert er wieder rum, dachte ich und war schon im Begriff zu grinsen, doch dann fiel mir ein, dass unser Verhältnis in diesem Moment alles andere als gut war.
Jedenfalls schaffte ich es das Essen bis um Punkt zwölf Uhr Mittags fertig zu machen und auch aufzutischen. Natürlich durfte ich alles selbst machen. Auch Tizi ließ sich pünktlich sehen.
Ich hatte zwar keine Ahnung, was er zuvor gemacht hatte, doch sah er mir etwas gestresst aus. Auch er war im Gedanken. Auf seiner Stirn hatten sich Falten gebildet, die normalerweise nicht da waren.
Sein Blick war starr auf die Decke der Küche gerichtet. Ich wagte erst gar nicht nach seinem Gemütszustand nachzufragen, sondern blickte nur ab und zu von meinem Essen auf, um zu sehen, wohin er sah.
Was mich jedoch freute war die Tatsache, dass er nichts an meinem Essen auszusetzen hatte. Wahrscheinlich realisierte er gerade überhaupt nichts, denn ich musste mich selbst ermahnen, ihn nicht andauernd anzugaffen.
Urplötzlich begann aber etwas zu klingeln. Es klang ziemlich fetzig. Tizian erschreckte, doch dann glitt seine Hand sofort in seine Hosentasche. Sein Blick glitt zu dem Display seines Handys. “Kann man denn nicht einmal mehr in Ruhe zu Mittag essen ohne gestört zu werden?!”, fluchte er, während er sich erhob und abnahm.
Da er in seiner Muttersprache italienisch sprach, - das verstand ich dann doch, dass es sich darum handelte - konnte ich leider nicht verstehen, was er sagte.
Jedenfalls schien er noch mehr gestresst sein, denn umsonst würde er nicht in so einem genervten Ton reden. Auch, so dachte ich, als er die Küche verließ, schwang ein wenig Respekt in seiner Stimme mit. Wie so oft seit unserer gemeinsamen Nacht blieb ich allein zurück.
Meine Gedanken waren mit einem Mal wieder voll von den unmöglichsten Dingen. Mit wem er wohl redete? Könnte ich doch bloß lauschen! Könnte ich doch bloß seine Sprache!
Dann wäre wohl alles viel einfacher. Dennoch gefiel mir es, wie er italienisch sprach. Es klang schon ziemlich sexy, das musste ich dann doch zugeben. Diese heißen Italiener!
Auf einmal spürte ich einen leichten Schlag auf dem Hinterkopf. “Was…?”, fragte ich und drehte mich um, ehe ich verstummte. Was sollte das denn? Zuerst ging er ohne ein kleinstes Wort zu mir zu sagen und dann schlich er sich an und gab mir auch noch einen Schlag! “An was auch immer du gedacht hast, höre auf zu sabbern!”, schleuderte mir Tizian entgegen.
Wie bitte? Oh, er hatte recht. In der Tat sabberte ich etwas. Wie peinlich! Das einzig Gute daran war, dass Tizian nicht wusste, dass ich eben an ihn gedacht hatte. Das war auch gut so.
Eigentlich wollte ich darauf etwas erwidern, doch der Mann ging zu einem der Fenster und kippte es. Dann zündete er sich eine Zigarette an. Daraufhin sah ich ihn erstaunt an.
Eine kleine Weile ruhte sein Blick auf mich, doch dann sagte Tizian: “Was ist? Das ist nur eine Menthol-Zigarette”. “Seit wann rauchst du?”, fragte ich dann doch und wurde unruhig. “Das geht dich gar nichts an. Du solltest lieber abwaschen, außer du isst noch fertig”, wich mir Tizi leicht aggressiv aus.
Wie konnte ich das nur vergessen? Wir waren auf Kriegsfuß! Nichtsdestotrotz war ich leicht darüber beunruhigt, dass es nicht bei der einen Zigarette blieb. Kaum war die erste aus, zündete er sich noch eine an. Immerhin waren es wirklich welche mit Menthol. Die grünschwarze Verpackung verriet nämlich nichts anderes.
Ich wusste gar nicht, wie viele er letztendlich geraucht hatte, doch der Geruch danach war so intensiv, dass ich dachte, dass ich unter Drogeneinfluss stand. Wobei Zigaretten im Prinzip auch Drogen waren.
Jedenfalls durfte ich wieder die ganze Drecksarbeit machen, schließlich hatte ich auch keine andere Wahl. Es schmerzte einfach so sehr, dass ich für Tizian nicht mehr als nur eine kleine Bettgeschichte war, dass ich selbst bei der Arbeit meine aufkommenden Tränen immer wieder unterdrücken musste.
Den ganzen Tag über sprach der Mann mit mir kein Wort, was mich nur noch mehr verletzte. Gestern war er noch so nett zu mir gewesen, ein wahrer Gentleman und jetzt? So konnte es doch nicht weitergehen! Ich liebte ihn so sehr, auch wenn ich nur zu gut wusste, dass Tizian nie genauso wie ich fühlen würde.
Das Abendessen verlief ebenso ruhig wie das Mittagessen. Schweigend aßen wir auf und ehe mir Tizi danach den Befehl geben konnte abzuwaschen, war ich schon dabei. Leider sagte er dazu gar nichts, sondern ging schweigend aus der Küche.
Was er wohl nun vorhatte? Ich wusste es natürlich nicht. Vielleicht war es auch besser so. Wer wusste schon, was dann nun schon wieder wäre.
Die Nacht war für mich ziemlich ermüdend, da ich schon wieder kaum ein Auge zu bekam. War das wirklich noch ein Wunder? Ich war schließlich alleine, im Gegensatz zu letzter Nacht.
Ob ich bei ihm vorbeischauen sollte? Als ich genauer über diesen doch absurden Gedanken nachdachte, traute ich mich nicht mehr.
Die Stille, die mich umgab, machte mir Angst. Durch ihr fühlte ich mich irgendwie nackt. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, da ich es gestern wirklich war oder heute, wie auch immer. Ich hatte Tizian damit schon fast mein Innerstes offenbart.
Fehlte nur noch, dass ich redete. Über meine Vergangenheit, was mich beschäftigte und zu guter Letzt die intensiven Gefühle, die ich für ihn hegte. Sie wollten mich einfach nicht los lassen.
Zu was sollte das alles eigentlich noch führen? So konnte es doch wirklich nicht weitergehen. Meine selbstsichere Art war enorm ins Wanken geraten und ich wusste gar nicht mehr, was ich denken sollte.
Außerdem ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich mich Tizian sofort unterordnete. Wo war die aufbrausende Kratzbürste namens Krystal Knight von Anfang dieses Jahres hin?
Weg. Fortgetragen von dem Sturm, der mich vor Monaten heimgesucht hatte. Tizian. Dieser eine Mensch hatte mich verändert. Mit seiner sadistischen, aber doch liebevollen Art.
Seltsamerweise fühlte ich mich gerade durch diese skurrile Kombination ein wenig geborgen. Und gerade durch dieses Gefühl, welches ich gerade empfand, schlief ich doch noch ein.
Ein dumpfes Geräusch weckte mich. Was war das denn? “Ich will schlafen”, murmelte ich vor mich hin, doch als ich auf die Uhr starrte, war meine Müdigkeit mit einem Mal verschwunden.
Es war kurz vor halb elf. Oh nein, Tizian würde mich umbringen! Mit schnellen Handgriffen war ich angezogen und hastete zu der Küche.
Tizi schien mich schon ein wenig ungeduldig an dem Küchentisch, der bereits gedeckt - auch an meinem Platz stand ein Teller! - zu erwarten, doch was war das?
Mitten auf dem Tisch lag ein Strauß schwarzer Rosen. Wunderschöner, schwarzer Rosen, die an dem Höhepunkt ihrer Blüte waren. Etwas irritiert nahm ich schließlich Platz.
Er wird die Blumen wohl kaum für mich gekauft haben, dachte ich und nahm mir eine Scheibe Brot, auf dem ich Nutella strich. “Willst du nicht nachsehen?”, riss mich die Stimme von Tizian aus meinen trüben Gedanken.
“Was denn?”, fragte ich, woraufhin er meinte, dass ihm die düsteren Rosen bestimmt nicht gehörten. “Für … für mich?”, stotterte ich wild herum, woraufhin er mich mit einem Nicken wissen ließ, dass das der Wahrheit entsprach.
Mit klopfendem Herzen ließ ich von meinem Frühstück ab und nahm die Blumen das erste Mal in die Hand. Während der Mann, der genau gegenüber von mir saß, mich genauestens beobachtete, hielt ich den Strauß vor meinem Gesicht und roch daran.
Ihr Duft war einfach nur betörend! Und ihr Zustand war erstklassig. Die mussten wohl wirklich teuer gewesen sein.
Mein Blick glitt über die überaus zarten Blätter, über denen ich langsam mit meinem rechten Zeigefinger strich. “Hauchdünn und so zart wie Samt”, sagte ich vor mich hin.
Tizian meinte, dass da noch ein Schild wäre, welches ich nach einigem Suchen fand. Schweigend las ich die Botschaft, die in einer wunderschönen Schrift geschrieben war:
Liebe Krystal,
wie findest du die zehn schwarzen Rosen?
Also ich finde, dass sie die einzig wahren Blumen sind, die zu Dir passen.
Sie sind genauso schwarz wie Du.
Ich erwarte Dich an diesem wunderschönen Septembertag um Punkt 15:00 Uhr im Park.
Bitte erscheine bei der überaus imposanten Statue.
Ich würde mich sehr freuen, Dich dort zu treffen.
Dein Unbekannter
Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Wow, da wollte mich wirklich jemand treffen! Ich musste einen Freudenschrei unterdrücken, denn mir entging nicht, dass ich ziemlich genau beobachtet wurde.
“Ähm … ähm, Tizian?”, fragte ich und wagte es nicht, ihm in die Augen zu blicken. “Ähm … ähm, Krystal?”, äffte er mich mit einem klitzekleinen Grinsen nach.
Könnte es sein, dass die Botschaft von niemand Geringerem als ihm höchstpersönlich war? Denn eigentlich war er mal wieder genervt von mir. “Äh, entschuldige. Ich wollte dich fragen, ob du mich heute zum Park fahren kannst? Ich werde nämlich dort um drei Uhr erwartet”´, fragte ich ihn und versuchte Fassung zu bewahren.
Sofort änderte sich etwas in seinen Augen. Mir kam es so vor, als ob sie wieder stahlhart geworden waren. Dennoch meinte er: “Meinetwegen. Wenn es sein muss”.
Seine Antwort bestätigte meinen Verdacht und lächelnd dankte ich ihm. Wahnsinn, er wollte mich also in dem Park sehen! Wie süß, denn dort waren wir das erste Mal aufeinander getroffen.
Bis fünfzehn Uhr waren es nicht einmal mehr vier Stunden, daher überlegte ich schon eifrig, was ich dazu anziehen könnte.
Hier stand ich also. Vor meinen Kleiderschrank, der mit der Zeit eine beachtliche Menge an Kleidung inne hatte. So viele schöne Teile - ich wusste absolut nicht, in was ich zu diesem Treffen gehen sollte. Zuvor sollte ich aber duschen gehen. Das war eine super Idee!
Danach konnte ich mir immer noch Gedanken darum machen, anderseits gab es um Punkt zwölf Uhr schon Mittagessen. Okay, dachte ich, dann stelle ich mich halt danach unter die Dusche.
Daraus wurden dann doch nichts, denn ich wartete lieber auf das Mittagessen. Das zweite Essen an diesem Tag verlief ebenso schweigsam wie das erste vor anderthalb Stunden. Tizian gab sich völlig seinen Gedanken hin. So grübelnd hatte ich ihn noch nie erlebt.
Manchmal sah er mich wortlos an und mir war dann so, als ob er mich warnen wollte. Vor was? Es war doch alles in Ordnung! Ich verstand ihn nicht, traute mich aber genauso wenig nachzufragen. Immerhin konnte er sich auch von selbst rühren.
Jetzt, da das Essen vorbei war und ich auch sofort abgewaschen hatte, zog es mich wirklich unter die Dusche. Das warme, schon fast heiße Wasser ergoss sich über mich und war wundervoll.
In solchen Momenten fühlte ich mich immer frei, als ob das mit Tizian gar nicht existieren würde. Ein klein wenig wurde ich sentimental, denn ich war trotz allem sehr froh ihn überhaupt je kennengelernt zu haben. Das mochte und konnte ich nie missen.
Nach einer halben Stunde stieg ich aus der Duschkabine und stand erneut vor meinem begehbaren Kleiderschrank. Einiges Hin und Her später, um kurz vor zwei Uhr war ich endlich bereit für das Treffen!
Wurde auch mal Zeit. Ich fand, dass mir die weiße Hose und der schwarze Pullover ziemlich gut standen. Darüber zog ich noch die blaue Jacke an, die mir Tizian einst gegeben hatte.
Während ich in der Eingangshalle auf ihn wartete, erinnerte ich mich daran, dass er den Kauf damit begründet hatte, dass er mehr Farbe in mein Leben bringen wollte.
Was er wohl dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass er mehr als nur über das Ziel hinaus geschossen war?
“Wo genau musst du überhaupt hin?”, fragte mich Tizi, als wir aus seiner Villa fuhren.
“Zu dem Park, sagte ich doch bereits”, antwortete ich sichtlich nervös, woraufhin der Mann, der völlig entspannt mit seinem Auto fuhr, meinte: “Ja, das weiß ich auch, aber vielleicht hat der Absender einen bestimmten Platz in die Nachricht erwähnt. Du weißt ganz genau, dass unser Stadtpark ziemlich groß ist”.
Damit hatte er ohne Zweifel recht und daher war es kein Wunder, dass ich ihn ehrlich entschuldigend ansah. Er erwiderte meinen Blick mit Anflug eines Lächelns.
Da ich so rot wie eine Tomate wurde, sah ich verlegen in eine andere Richtung. Dann nuschelte ich: “An der Statue, wenn du verstehst welche ich meine”. “Jene, an der sich unsere Wege kreuzten?”, fragte er hörbar erstaunt.
Als ich das bestätigte, bremste er mitten auf der Straße. Was war denn nun? “Du solltest dort auf keinen Fall hingehen!”, warnte mich Tizian eindringlich. “Warum das denn? Die Nachricht war doch für mich”, fing ich an mich ihm zu widersetzen.
“Nein, Krystal. Also doch, du hast recht, aber … tu es einfach nicht”, ließ Tizi nicht locker, doch darauf wollte ich nicht hören.
Energisch meinte ich: “Nein, hör auf damit. Bitte. Du hast mir schon genug wehgetan, also lass mich doch gehen”.
Eigentlich wollte ich stark sein, doch letztendlich waren diese Worte nur durch ein Flüstern über meine Lippen gekommen. Immerhin hatte es gewirkt: Tizian fuhr weiter. Wortlos.
Schweigend fuhren wir zu dem Park, doch er ließ es sich nicht nehmen, mich bis zu der Statue zu bringen. “Es tut mir leid”, sagte er überaus traurig.
“Wie bitte? Was tut dir leid?”, wollte ich wissen, doch er meinte nur kopfschüttelnd: “Schon gut, konzentriere dich lieber auf dein Treffen”. Nach diesen Worten entfernte er sich von mir und ich blieb alleine zurück.
Was sollte das denn? Ich war nicht dumm. Da steckte mehr dahinter. Ahnte er, wer mich erwarten würde? Ich sah mich um und nirgendwo konnte ich auch nur eine einzige Person ausfindig machen.
Daher fiel mir auf, dass das Wetter nicht mehr das Schönste war. Im Gegenteil, der Himmel war grau, als ob er kurz vor dem Weinen wäre. Geräusche rissen mich aus meinen Gedanken. Ein Teil des Gebüsches, wovon es hier nur so wimmelte, raschelte.
Jetzt würde es also definitiv kein Zurück geben. Er war da. Nur um mich zu sehen. Lächelnd, geradezu strahlend, drehte ich mich um, doch dann erstarb mein Lächeln so schnell wie es gekommen war.
Vor mir stand ein Mann mit blonden Haaren. Er erinnerte mich leicht an Justin, doch ich war mir ziemlich sicher, dass er es nicht war, denn er würde mich sicherlich nicht so herablassend ansehen. Nein, Jus war ziemlich nett zu mir gewesen. Trotz allem war mir so, als ob ich diesen Mann kennen würde. Er war jünger als Tizian, da war ich mir sicher.
Wartend sah ich zu dem Fremden auf, denn natürlich war er größer als ich. “So sieht man sich wieder”, sagte eine ziemlich hämische Stimme zu mir. Was sollte das denn? “Wer … wer bist du?”, fragte ich leicht verunsichert, da mir dieses Gespräch schon jetzt nicht ganz geheuer war. “Hast du mich etwa so schnell vergessen, Krystal?”, antwortete der Mann mit einer Gegenfrage.
Mein Mund klappte auf und ich setzte zum Reden an, doch es wollte einfach kein Laut über meine Lippen kommen. Woher wusste dieser Kerl, wie ich hieß? Der Mann näherte sich mir, was mir Angst einjagte. Ich wich zurück, nur um gegen den Rand der Statue zu stoßen. “Setz dich”, befahl er, kam zu mir und drückte mich auf den kalten Stein. Ich ließ es über mich ergehen, aber nur, um schlimmeres zu verhindern. Kurz darauf saß er neben mir.
Mir war ganz komisch zumute. Dieser Mann kam mir so vertraut und doch gefährlich vor. “Woher kennst du meinen Namen?”, wollte ich wissen, als ich endlich meine Sprache wieder gefunden hatte, obwohl mir sehr wohl bewusst war, um wen es sich handelte.
Ein Lachen drang aus seiner Kehle, doch es war kein sehr schönes Lachen. Es war eher eins von der Sorte, die dem völlig ahnungslosen Gesprächspartner unmissverständlich wissen ließ, dass etwas ganz und gar nicht Tolles folgte.
Er ließ sich Zeit für eine Antwort, als ob er die richtigen Worte suchen würde. Ich wusste aber, dass dem gar nicht so war. “Findest du nicht auch, dass es Zeit ist, in Erinnerungen zu schwelgen?”, fragte er und umging damit eine Antwort. “Nein”, antwortete ich sofort und hoffte, er würde mich in Ruhe lassen. “Warum denn nicht?”, ließ er enttäuscht nicht locker. Gespielt natürlich.
Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Nicht umsonst spielte er mit mir wie … wie … nein! “Was ist los? Ist dir nun klar, wen du da vor dir hast?”, flüsterte der Mann mir überaus bedrohlich zu. Damit spielte er darauf an, dass ich zitterte.
“Ich … ich, ich kann nicht. Erzähl schon”, forderte ich ihn wie in Trance auf. Ich musste so schnell wie möglich wissen, wer er war. Diese quälende Ungewissheit, die schon jetzt an meinen Nerven zerrte, war mit diesem unglaublichen Verdacht verbunden. Das vertrug sich überhaupt nicht. Zumal mein Instinkt mir sagte, dass ich die bittere Wahrheit schon längst kannte.
Immerhin ließ er sich meine Aufforderung nicht zweimal sagen. “Also gut, es war einmal der schöne Junge und das naive Mädchen”, fing er schließlich an und fuhr ohne auf eine Reaktion von mir zu warten fort: “Der Junge hatte neben dem dummen Weib noch zig andere. Sie merkte gar nichts davon und erst im Urlaub, nach zwei Jahren sagen wir mal Beziehung, merkte das Weib, dass es nur eine von vielen war”. Ein überaus hinterlistiges Lächeln umspielte seine Lippen, was nur für mich bestimmt war.
Im Bruchteil von weniger als einer Sekunde wurde mir schwindelig. Das war nicht nur von kurzer Dauer, denn mir wurde mit einem Mal so derartig schummrig, dass ich sogar mein Bewusstsein verlor. So geschockt war ich also.
Als ich wieder aufwachte, lag mein Kopf auf den Schoß eines Mannes, der mich mit besorgten Augen, aber auch abfällig, musterte. So viel konnte ich noch erkennen, denn ich fühlte mich nach wie vor komisch.
Was sollte das denn? “Geht es dir gut, mein Askim?”, fragte er mich doch tatsächlich. Zumal ich keinerlei Ahnung hatte, was das letzte Wort bedeutete, obwohl es mir so bekannt vorkam. Da ich geistig noch nicht ganz da war, stammelte ich: “Tizian? Was ist nur los mit dir?”. “Hier ist kein Tizian, hier sind nur du und ich, ist das nicht schön? Ach Krystal, es ist schon so lange her”, meinte der Mann sehr nachdenklich.
Ein Tropfen traf mich genau an der Stirn. Dank diesem einen Tropfen schärften sich meine Sinne wieder. Mit einem Ruck entfernte ich mich von ihm. “Was sollte das? Warum zur Hölle spielst du so mit mir? Reicht es dir denn nicht, was du schon alles angerichtet hast”, verlor ich die Geduld. Ja, mich nervte dieses Gespräch. Das schien ihm aber egal zu sein, denn monoton meinte er: “Ich habe schon immer mit dir gespielt, also warum sollte ich das nicht auch jetzt tun?”.
An was für einen Verrückten war ich da nur wieder geraten? War denn jetzt die ganze Welt gestört? Oder war ich es, die nicht mehr klar denken konnte? Wieder war ich verwirrt und nicht ganz die Herrin über mich selbst. Eigentlich wollte ich aufstehen, doch mir war so, als ob mich irgendetwas davon abhielt. Ich sah zu dem Blonden und merkte, dass er mich nicht gehen lassen wollte.
Okay, vielleicht sollte ich einfach still sein, dachte ich und tat es auch. “Ich warne dich, sei bloß ruhig und unauffällig”, hauchte er mir zu und ließ mich damit wissen, dass ich in der Klemme steckte.
Das war keine Warnung, sondern eine Drohung. Für was? Es war absurd, dass er mich ausgerechnet jetzt, wo ich ein relativ geordnetes Leben hatte, aufsuchte. Warum sollte er mich auch wieder sehen wollen? Reichte es ihm nicht, was einst in der Türkei geschehen war?
Nein, es konnte nicht wahr sein! Leider Gottes war ich auch noch auf mich allein gestellt, denn außer dem Mann und mir war weit und breit niemand zu sehen. Nicht umsonst würde er mir drohen. Erst da fiel mir die Warnung von Tizian ein. Hatte er etwa gewusst, dass mich dieser gefährliche Kerl erwarten würde? “Warum um alles in der Welt hast du es mir nicht gesagt?”, schrie ich durch den Nieselregen, der mittlerweile auf uns herab fiel.
Tränen standen mir in den Augen, denn ich wusste, dass mich Tizi nicht hören konnte. Bestimmt saß er gerade in seiner schönen Villa und stellte sich eben gerade diese Situation, in der ich mich befand und die nebenbei ziemlich ausweglos war, vor und amüsierte sich darüber auch noch. “Was soll ich dir nicht gesagt haben?”, riss mich die süffisante Stimme des Blonden aus meinen Gedanken.
Ich sagte nichts. “Dein Freund oder von wem sprichst du da? Kleine, glaube mir doch endlich. Frauen sind nur für das Bett gut und für den Haushalt, sonst für nichts. Und so eine wie du wird bestimmt keinen Mann finden, der es ernst mit dir meint”, ging er noch einen Schritt weiter. Oder eher einen Schritt zu weit. Rasch holte ich mit meinem kleinen Arm aus und gab ihm eine schallende Ohrfeige.
Es ging einfach nicht anders. Das war zu viel. “Frauen sind also nur für Sex gut und für den Haushalt? In welchem Jahrhundert lebst du, du mieser Kerl? Was kann ich dafür, wenn du keine Frau abbekommst, mh? Du bist so was von arrogant, dass es bis zu der Hölle stinkt!”, machte ich meinen Ärger Luft und wollte schon auf ihn losgehen, doch er umfasste beide meiner Handgelenke.
In sekundenschnelle war ich still, was dieser Mann nicht kapiert hatte. Warum sonst schüttelte er mich so sehr, dass ich mir wie in einer Achterbahn vorkam? “Was hast du da gesagt?”, brüllte er mich an. “Das hast du sehr wohl gehört!”, blieb ich bei meinen kleinen Gefühlsausbruch und wartete auf eine Reaktion von ihm. Er lachte. Lachte so hinterhältig, dass mir schlecht wurde.
Er wurde mir immer unsympathischer. "Askim, überspanne den Bogen bitte nicht. Denke daran, dass ich stärker bin und ich konnte schon immer jedes Weib haben, auch dich hatte ich in meiner schönen Sammlung”, meinte der Blonde seelenruhig.
Abermals war ich verwirrt. Eigentlich sollte ich meinen Feind erkennen, was ich tief in meinem Inneren auch tat, doch so war er nie gewesen. Oh nein, dummerweise war er schon immer ein perfekter Künstler gewesen, der seine Rolle perfekt beherrschte.
Wieder wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. “Also ich muss schon zugeben, dass du ziemlich lange brauchst, um dich an mich zu erinnern. Da bin ich schon fast enttäuscht, denn eigentlich vergisst mich niemand”, sagte der Mann und sah mir dabei genau in die Augen. Mein Herz zerbrach in tausende von Stücken. Dieser eine Blick traf mich so schwer, dass ich mich krank fühlte.
Er machte mich krank. Die ganze Situation und das mit Tizian machten mir mein Leben ziemlich schwer. Mein Meister, wie sehr ich ihn doch vermisste! “Tizian hatte so was von recht, als er sagte, ich sollte nicht zu diesem ominösen Treffen gehen”, murmelte ich vor mich hin und starrte auf das Gras, welches schon mit Wasser durchtränkt war. “Da warst du wohl wieder zu naiv gewesen. Bestimmt dachtest du, dass er es ist, der dich hier erwartet und vor allem dir schwarze Rosen schickt”, sagte der Mann.
Das hatte ich ja schon fast vergessen. Moment mal! Hatte nicht Justin zu mir gesagt, er würde mir welche von ihnen zukommen lassen? Er hatte mir also diesen Mist eingebrockt! Nur waren mir seine Motive unklar. Immerhin war er zu mir nett gewesen. Zu nett. Viel zu nett und genau das war der springende Punkt.
Es bestand eine Verbindung zwischen den beiden. Ehe ich meinen Gegenüber danach fragen konnte, übernahm dieser erneut das Wort. “So ist dem aber nicht, weißt du, ich konnte ihn nie leiden. Einst hatte er mir doch wirklich einen verdammt guten Deal vor den Augen weggeschnappt. Dabei war ich doch so nah dran!”, stieß er leicht wütend hervor und ballte seine Fäuste.
“Du … kennst Tizian?”, wollte ich überrascht wissen, woraufhin er mich nur süffisant angrinsen konnte “Rate mal, weshalb ich dich hierher bestellt hatte. Mein sonst nichtsnutziger Cousin war so freundlich und hat mir gesagt, dass du bei ihm bist. So wie ich diesen Sadisten kenne, wird er dir ordentlich gezeigt haben, wie es ist, wenn man sich ihm widersetzt”, feixte er und traf damit genau ins Schwarze.
Verdammt, die scheinen sich wirklich zu kennen, ging es mir durch den Kopf. Nur woher? Dass er sogar von Tizi wusste war die Krönung des ganzen. Das ergab doch alles keinen Sinn! Ich brauchte mehr Informationen, die ich mir vornahm zu holen. “Er braucht dich doch nur zum Zweck. Er sieht Weiber, die bei ihm wohnen, als Mittel für seine kranken Neigungen. Er ist gefährlich und nicht ich. Ich werde dich da raus holen, mein Askim”, ließ er mich wissen.
Wieder diese Andeutungen um Tizian. Was sollte das? “Kannst du mir mal bitte sagen, was an ihm so gefährlich ist? Sicherlich ist er manchmal wirklich nicht ganz dicht im Kopf, doch im Grunde ist er liebenswürdiger Mensch”, nahm ich Tizian ohne zu Zögern in Schutz und kümmerte mich nicht weiter um mich selbst.
Fluchend sagte der Mann: “Du dummes Ding bist ja noch dümmer als damals! Hör zu, ob du es glaubst oder nicht ist mir langsam wirklich egal, aber dieser Kerl ist ein Monster! Weißt du denn nicht, dass seine Familie viele Menschen auf dem Gewissen hat?”.
Ich erstarrte. Dieses Gespräch wurde immer skurriler und brenzliger. Nein, der Mann war nicht nur sauer auf Tizian, er hasst ihn zutiefst. Das wurde mir nun klar. Dennoch stutzte ich bei dem, was er über Tizi gesagt hatte. Warum sollte er das behaupten? Was würde es ihm nützen, mich das wissen zu lassen? Wollte er mich verunsichern oder darzubringen, Tizian zu verabscheuen? “Nein”, presste ich lieber hervor.
Das schien dem Fremden gar nicht zu gefallen. Seine Griffe um meine Hände, die er noch immer nichts losgelassen hatte, wurden wieder stärker. “Askim, sei kein Narr! Du kennst ihn doch auch und ich bin mir sicher, dass er dich genauso behandelt, wie all die anderen Weiber zuvor!”, blieb er bei seiner These.
Das war so unglaublich, dass ich erst einmal hart schlucken musste. Er ließ wirklich nicht locker. “Was weißt du denn noch so über ihn?”, fragte ich völlig aufgelöst. “Du passt genau in sein Beuteschema. Klein, wehrlos und alles andere als selbstbewusst”, informierte mich der Mann. “Das ist mir egal, ich … ich kenne ihn auch anders”, meinte ich und dachte dabei an die guten Zeiten, die Tizian und ich hatten.
Da wurde mir klar, dass nicht alles bei ihm mies war. Wenn er doch nur hier wäre! Er hätte mich bestimmt sofort aus diesem Schlamassel herausgeholt! So blieb mir nur die Wahl, mich diesem Gespräch zu stellen. Wegrennen war keine Lösung, das wusste ich bereits.
“Du bist wirklich töricht. Wie kannst du das nur denken? Er wird dasselbe irgendwann mit dir machen. Früher oder später wirst du an meinen Worte denken und dann dir nichts anderes wünschen, als mir Glauben geschenkt zu haben”, stieß der Blonde hervor und fuhr sich durch die Haare.
Er klang dabei schon leicht verzweifelt. Was war, wenn daran doch etwas dran war? Ich kannte Tizian zwar, aber noch nicht so gut, um das hundertprozentig ausschließen zu können. Dabei war ich mir einfach verdammt sicher! Er war kein Unmensch, auch wenn es von außen heraus so aussah. Wenn ich an unsere gemeinsame Nacht dachte, konnte ich diese nur mit Zärtlichkeiten verbinden. Angenommen er wäre so ein Scheusal, dann hätte er mich da wohl kaum so gut behandelt.
Mein Meister hat seine guten Seiten. Ich liebte ihn doch so sehr! Es war damit meine Pflicht ihn vor solch Unwahrheiten zu beschützen. “Du lügst! Du denkst wohl wirklich, dass du mich gegen ihn aufbringen könntest, oder? Nein, ich glaube dir kein Wort!”, sagte ich recht laut und mit fester Stimme, um ihn damit meine Sicherheit zu demonstrieren. Ich hielt zu Tizian. In guten wie in schweren Tagen, denn würde er mich wirklich zu einem Narren halten, dann wäre er schlimmer.
Der Mann sah mich mit einem eindringlichen Gesichtsausdruck an. Ohne zu zögern hielt ich seinen Blick stand. Dann holte mit einem Mal blitzschnell er aus und schlug mir mit all seiner Kraft in das Gesicht.
Wie wertloser Müll fiel ich ins nasse Gras und hielt mir meine Wange. Tränen ergossen sich über die brennende Wange, denn er hatte mir eine Zuhälterschelle gegeben.
Mein Blick ging nach oben. Mein Gegenüber sah mich überaus herablassend an und wollte schon meinen Arm nehmen, doch ich stieß ihn von mir weg und setzte zu einer Flucht an, doch dann hörte ich ein Klicken. “Wenn du gehst, dann wirst du das nicht überleben, das kannst du mir glauben!”. Ertappt blieb ich stehen und drehte mich zu ihm. Dieser Kerl hatte tatsächlich eine Waffe bei sich!
Damit steckte ich nicht nur in der Klemme, sondern in Lebensgefahr! Was wollte er mir nur antun? Zitternd sah ich zu dem Revolver und zu ihm. “Brav, du wirst nicht gehen. Wenn dann gehst du in den Tod, sonst nirgendwohin”, sagte er und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. “Ich werde deinem Tizian das nehmen, was ihm am meisten bedeutet!”, schrie er mich auf einmal an.
Was meinte er damit schon wieder? Meinte er etwa …? “Du bist doch der einzig wahre Schlüssel zu allem, du Narr! Durch dich kann ihn verletzen. Welch Zufall, dass wir uns ausgerechnet dank ihm wiedersehen, nicht wahr?”, zischte er. “Das ist falsch. Du liegst so was von falsch. Tizian mag mich nicht, also warum solltest du ihn dann durch mich zu Fall bringen können?”, blieb ich skeptisch.
Damit versuchte ich mich nicht aus der Gefahr zu winden. Das war einfach nur die absolute Wahrheit. “Ach ja? Da habe ich aber anderes gehört. Na ja, egal. Wenn ich dich laufen lassen würde, dann würdest du eh zu ihm gehen. Das kann und will ich nicht riskieren”, sagte der Mann.
Schwermütig schnappte ich nach Luft. Da war nichts, was mich noch retten konnte. Mein Schicksal war schon so gut wie besiegelt. Ich wusste, ich würde sterben. Und das nur, weil ich nicht auf den Mann gehört hatte, den ich liebte.
Ja, selbst jetzt noch widmete ich meine Gedanken Tizian. Ich nahm ihm das alles, was er so angerichtet hatte, nicht übel, denn er konnte nichts für die Situation, in der ich mich nun befand. Nein, er war ein guter Mensch, daran glaubte ich felsenfest.
Ich schloss die Augen und schrie voller Tränen: “Na los, drück endlich schon ab! Du hast ja so was von recht! Ich habe es nicht verdient zu leben, also mach schon! Eins sollst du aber noch wissen: Ich glaube an das Gute in Tizian und daran haben deine Worte nichts geändert!”.
Als nichts geschah, schrie ich erneut in den Regen hinein: „Du kannst das Band, was zwischen Tizian und mir besteht nicht zerstören! Ich habe jeden seiner Befehle ausgeführt und ja, dann sterbe ich eben, aber ich kann sagen, dass er ein verdammt warmherziger Mensch ist!”.
Ja, ich war wirklich bereit zu sterben. Wenn ich ehrlich war, wollte ich es auch nicht anders. Mein Leben hatte sich zwar gebessert, doch war es noch immer voller Schatten. Und wenn ich jetzt starb, dann in dem Wissen, dass meine letzten Monate die schönsten meines gesamten kurzlebigen Daseins waren. Denn da hatte ich die Liebe meines Lebens kennengelernt.
Der Unbekannte drückte schließlich ab.
Es gab nur einen kleinen Knall, da sich vor dem Revolver ein Schalldämpfer befand. Ziemlich ausgeklügelt, das musste ich zugeben. So konnte wohl kaum jemand hören, wie ich erschossen wurde. Dennoch hielt ich meine mit Tränen verschleierten Augen geschlossen, im Glauben gleich leblos zusammenzusacken.
Doch im Bruchteil von weniger als einer Sekunde hörte ich etwas aus einem der vielen Gebüsche schießen - damit meinte ich keine Pistole. Ehe ich meine verheulten Augen öffnen konnte, um zu sehen wer oder was es war, landete ich schon auf das nasse Gras. Etwas weiches, aber schweres zu gleich war auf mich gelandet und hatte sich schützend über mich gebeugt.
Es war still, denn ich wusste sofort, wer es war. Sein Geruch hatte ihn verraten. Wie sehr ich doch diesen Pfefferminzduft vermisst hatte! "Was sollte das?", fragte der Mann, der mich erschießen wollte, völlig von der Rolle. "Darf man sich hier nicht einmal einen Spaß erlauben? Musst du mir denn wirklich alles zerstören?". "Frage dich das alles erst einmal selbst und gnade dir Gott, dass du ihr nicht noch mehr angetan hast!", schrie Tizian ihn mit so einer Wut an, dass ich nicht so recht wusste, ob er es wirklich war, der mich da vor dem Tod bewahrt hatte.
Ich war nicht in der Lage mich zu bewegen, obwohl ich am Liebsten nichts anderes getan hätte. Lieber genoss ich die Nähe zu Tizi, der sich ebenfalls nicht von der Stelle rührte. "Immerhin habe ich dich getroffen, das ist doch auch sehr schön", frotzelte der Fremde, woraufhin Tizian meinte: "Das war sowieso nur eine Attrappe und zielen solltest du auch noch üben, Jakob".
Bei dem Namen horchte ich wieder auf. All die Andeutungen, die Charakterzüge, einfach alles von diesem Mann war und ist immer noch so wie es einmal war. Nicht umsonst hatte er mich Askim, das türkische Wort für Schatz, genannt.
Das hatte er schließlich auch früher gemacht, doch ich wusste nur zu gut, dass das eine Masche gewesen war. Meine erste große Liebe, die mich dazu gebracht hat, mich, mein Leben und die ganze Welt zu verfluchen, war es wirklich! Natürlich, wer denn auch sonst? Ich hatte ihn schon vorher erkannt, doch wollte ich es nicht wahr haben.
Daher war es kein Wunder, dass ich mich von Tizi entfernte und durch das Gras irrte. So konnte man es wirklich nennen, denn ich war nicht in der Lage, mich aufrecht hinzustellen und wegzurennen. "Krystal, bleibe hier, die Lage ist noch immer nicht ganz sicher!", sagte Tizian zu mir und wollte mich warnen, doch ich wollte einfach nur weg, was mir leider nicht gelang. Ich stieß gegen etwas und torkelte nach hinten zurück zu ihm. Dieser hatte mich sofort schützend in seine Arme genommen.
Ich sah auf, um zu sehen, wer in das Geschehen gekommen war. Es war Justin und neben ihm stand eine Frau. Diese hatte einen strahlend roten Regenschirm in ihrer einen Hand, während sie an der anderen Schulter eine Handtasche trug. Sie sah schon fast wie eine Prinzessin aus, einfach nur wunderschön. Ich kannte sie nicht. Wer war das? Waren sie etwa in diesem perfiden Plan eingeweiht?
"Giulia?",fragte Tizian sichtlich verwirrt, aber ebenso enttäuscht. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Klar, sie kannten sich, doch mir war so, als ob sie sich eigentlich gut verstehen würden, denn sonst würde der Mann, dem ich mein Herz geschenkt hatte, die Frau nicht mit geweiteten Pupillen anstarren. Besagte Frau sagte: "Tizian? Was machst du denn hier? Ich ... ich habe keine Ahnung, was hier los ist! Das musst du mir wirklich glauben!".
Ehe der etwas erwidern konnte, meinte die unbekannte Schönheit zu Justin: "Jus, was soll das? Du hast mir gesagt, dass hier etwas ganz Witziges passiert und dann muss ich sehen, wie sie auf uns zukommt und Tizi in dem Gras liegt!".
Sie klang ziemlich vorwurfsvoll, daher glaubte ich ihr, dass sie keine Ahnung hatte, in was sie da eben hinein geraten war. Ihr Blick lag auf mich und hatte etwas ziemlich mitleidiges an sich, was mir durchaus sympathisch vorkam.
Justin lachte diabolisch auf und antwortete: "Na, das ist doch auch Spaß! Findest du es denn nicht ziemlich schön, wie fertig sie aussehen?". "Nein, ganz und gar nicht, vor allem hat dieser Mann dort eine Pistole in der Hand!", schrie sie ihn schon fast panisch an. "Beruhige dich, das ist nur Jakob und er wollte ihr nur einen Schrecken einjagen", meinte Jus seelenruhig.
Ihr Blick lag auf den bis jetzt ihr unbekannten Mann, Jakob, der auf die beiden zukam. Die Waffe, die sich nur als Spielzeug entpuppt hatte, schmiss er achtlos ins Gras. Tizian und mich beachtete er gar nicht weiter.
Dann stand er direkt vor Giulia, ich glaubte den Namen genau gehört zuhaben, da Tizi ihn so erstaunt ausgesprochen hatte, dass er nur richtig sein konnte. "Na Askim, wusste gar nicht das du auch mit von der Partie bist. Wie wäre es denn, wenn wir unser Aufeinandertreffen gebührend in einem Hotelzimmer feiern würden?", fragte Jakob die Frau doch wirklich.
Diese sah ihn mit aufgerissenen Augen an und meinte hysterisch: "Ganz bestimmt nicht! Was erlaubst du dir da?". "Was denn? Ich kann jedes Weib haben, frag doch Krystal", sagte Jakob, woraufhin mich alle ansahen. Beschämt sah ich auf den Boden und schüttelte nur fertig mit dem Kopf. Nicht, weil ich es abstreiten wollte, sondern weil ich keine Kraft mehr hatte.
Ich wusste, dass das alle verstanden, dennoch musste Jakob den ganz großen Macker heraushängen lassen. Blitzschnell zog er Giulia zu sich, die vor Schreck ihren roten Regenschirm fallen ließ und drückte seine Lippen auf ihre. Sie schien davon ziemlich überrascht gewesen zu sein, aber so schnell der Kuss auch entstanden war, so schnell war er auch wieder vorbei.
Denn was sie nun machte, war mir mehr als nur sympathisch. Sie gab meiner ersten großen Liebe, der zugleich mein größter Feind war, eine kräftige Ohrfeige und schrie ihn auch sofort an: "Fasse mich nur noch einmal an und du kannst was erleben, du Möchtegern-Casanova!". Wow, das war ja mal wirklich eine sehr eindeutige Abfuhr. Jakob sah sie nur völlig ungläubig an, was mich zum Lachen brachte.
Sofort sah er in meine Richtung und knurrte: "Was gibt es da zu Lachen? Wenn wir uns noch einmal alleine begegnen, dann bist du dran, das verspreche ich dir!". "Gar nichts wirst, hörst du? Du hast schon genug Schaden bei ihr angerichtet! Ich hätte schon damals reagieren sollen!", meldete sich Tizian ohne zu zögern sofort zu Wort und stellte sich schützend vor mich. Dabei entging mir nicht, dass er sich seinen rechten Arm hielt.
Das alles kam mir vor wie ein geschmackloser Alptraum, der einfach nicht enden wollte. Immer wieder kam Neues auf mich zu und warf mich völlig aus der Bahn. Erst spielte ein Fremder mit mir, der sich als meine erste große Liebe und gleichzeitiger Untergang entpuppte, der noch immer mit mir spielen wollte und dann kam die Liebe meines Lebens, um mich zu beschützen.
Damit nicht genug, kam jemand in das Geschehen hinein, der mir eigentlich wirklich sehr sympathisch gewesen war und dann gab es noch diese wunderschöne Frau, die Tizian nur zu gut kannte. Nicht umsonst durfte sie ihn Tizi nennen. Zuletzt küsste Jakob noch Giulia, die ihm danach einen heftigen Schlag verpasste.
Außerdem stutzte ich auch über den letzten Satz von Tizian . Er hätte schon damals reagieren sollen? Damals? Das klang so, als ob etwas schon Jahre her wäre, aber das wiederum würde bedeuten, dass er genau wusste, was Jakob für ein Kerl war.
Sie kannten sich, das stand außer Frage. Sonst hätte Tizi ihn wohl kaum bei seinem Namen genannt. Nur woher kannten sie sich? Das ergab doch alles keinen Sinn! Und ziemlich verwirrend war das ganze auch.
Leider konnte ich nicht weiter darüber nachdenken, was ich eigentlich schon recht gerne getan hätte, denn Tizian ergriff erneut das Wort, in dem er meinte: "Ihr seid so armselig, aber das wart ihr schon immer". Meinte er etwa damit Lia? Mein Verdacht zerstreute sich aber sofort wieder, da der Mann die anderen beiden Männer ansah. Außerdem hatte er sicherlich nicht umsonst im Plural gesprochen.
Jakob sagte voller Wut: "Allein du warst es doch, der mir alles genommen hat! Das ist nun der Preis, den du dafür bezahlen musst. Das ist mehr als nur fair!". "Rache zu empfinden ist eine ziemlich schlechte Eigenschaft, findest du nicht?", belehrte ihn Tizian lieber eines Besseren, anstatt selbst die Kontrolle zu verlieren.
Trotz seiner Verletzung war er so souverän, dass ich ihn in diesem Moment zutiefst bewunderte. Er tat schon fast so, als ob der Schmerz an seinem Arm nicht existieren würde. Ich wusste gar nicht, dass er so ruhig bleiben konnte.
Der Blick von Tizi lag nun auf Giulia, die uns einfach mit leeren Augen anstarrte. "Lia, ich glaube dir. Wir kennen uns schon zu lange und zu gut, ich weiß, dass du davon nichts wusstest", sagte er zu ihr, was sie etwas lächeln ließ.
Dann kam sie auf mich zu und half mir auf. "Ich glaube, wir sollten lieber etwas zurück gehen", sagte sie zu mir und zwinkerte mir aufmunternd zu, als ob sie bereits wusste, was in den nächsten Minuten passieren würde.
"Ihr wollt euch also an mich rächen? Dann tut es doch, aber haltet verdammt noch mal Krystal und meine beste Freundin da raus!", forderte Tizi die beiden Männer doch tatsächlich heraus.
Er wollte doch nicht tatsächlich nur für mich durch die Hölle gehen?! Anscheinend schon, denn auch wenn ich ihn nur von der Seite sehen konnte, entging mir seine Entschlossenheit ganz und gar nicht. "Tizian ...", setzte ich an, doch Giulia meinte zu mir: "Er weiß ganz genau, was er da tut. Keine Sorge, uns kann nichts passieren". Ehrlich gesagt war ich mir nicht so sicher wie Lia, doch irgendwie war mir auch klar, dass ich ihr vertrauen konnte. Sie musste Tizian ziemlich nahe stehen, denn umsonst hätte sie das wohl nicht gesagt.
Auch wenn das keine hundertprozentige Sicherheit dafür war, dass Tizi nichts passieren würde, sagte ich nichts weiter zu ihm. Vielleicht würde ihn das sogar nur ablenken.
Jakob meldete sich nach der kleinen Herausforderung von Tizian zuerst zu Wort. "Oh ja!", fluchte er. "Eigentlich sollte ich da sein, wo du heute bist! Nur mir stand doch die Firma zu, nicht dir! Hättest du doch bloß weiter in Italien gearbeitet! Du eiskalter Schuft hast mir mein Erbe ohne Rücksicht auf Verluste weggenommen! Meinetwegen kannst du die alte Villa behalten, doch ich will die Firma! So lange werde ich sicherlich nicht ruhen!". Was meinte er denn nun damit schon wieder?
Okay ,also irgendwie hatte Jakob etwas mit der ehemaligen Firma meines und Tizian's Vater zu tun. Wie sollte das funktionieren? Und dann das mit der Villa. Sicher, ich war einige Male in der Villa von Jakob gewesen, schließlich hatten wir über zwei Jahre eine Beziehung geführt, doch ich war mir verdammt sicher, dass es nicht die war, in der Tizian lebte. Das konnte einfach nicht sein.
"Allein dein Neid ist schon mein Sieg", meinte Tizi herablassend und riss mich damit zum gefühlten tausendsten Mal aus meinen Gedanken. Ich schreckte leicht hoch. Damit schien er nämlich recht zu haben, denn die beiden Männer, die ihm gegenüberstanden, ballten die Fäuste. Und dann gingen sie auf ihn los.
Justin versuchte Tizi mit seiner geballten Faust zu schlagen, doch dieser fing den Schlag ab und schubste den Blonden zurück zu Jakob. "Ich glaube, wir sollten lieber noch ein Stück zurück gehen", meinte Giulia leicht schmunzelnd und nahm mich bei der Hand.
Wie konnte sie nur so locker sein? Darauf hatte ich keine Antwort, aber es war ziemlich lieb von ihr, dass sie sich so aufopferungsvoll um mich kümmerte, dass ich mich nur erschöpft gegen die Statue lehnen konnte, als wir bei dieser angekommen waren.
Es tat weh, dem Mann, den ich über alles liebte dabei zusehen zu müssen, wie er sich gleich gegen zwei Männer behaupten musste. Sie waren ebenfalls muskulös gebaut.
Mittlerweile hatte der Regen aufgehört, doch man konnte immer wieder sehen, wie alle in den von dem Wasser durchtränktem Gras ausrutschen. Armer Tizian. Reichte es denn nicht, dass er sich für mich in Gefahr begeben hatte?
Da fiel mir ein, dass er bestimmt Schmerzen hatte! "Aufhören!", schrie ich, was leider gar nichts brachte. Niemand der drei Männer beachtete mich oder schien auch nur die geringste Notiz von mir genommen zu haben.
Tränen standen mir in den Augen. Tizi war wahrhaftig so etwas wie ein Höllenraser, der der Gefahr nicht aus dem Weg ging. Bestimmt dachte er nicht einmal im Traum daran.
"Ganz ruhig", riss mich die zarte Stimme von Giulia aus meinen Gedanken und fuhr fort: "Wäre seine Verletzung so schlimm, dann würde er nicht kämpfen". Woher ...? Ach ja, sie war ja nur kurz danach in das Geschehen hinein geraten. Kein Wunder, dass sie davon wusste.
Währenddessen gab Tizian Justin einen kräftigen Kinnharken, woraufhin dieser vor Schmerz stöhnend auf das Gras fiel. Moment mal, waren die beiden nicht Freunde? Klar, nicht umsonst hatte ich Jus doch kennengelernt, oder? Also warum prügelten sie sich? "Du warst schon immer ein Nichtsnutz, mein werter Cousin!", zischte Jakob ihm zu, was Justin nicht ganz mitbekommen zu schien. Der Treffer von Tizian muss wohl ziemlich hart gewesen sein.
Im nächsten Moment stutzte ich aber erneut. Cousin? Konnte das wirklich sein? Klar, sie sahen sich ähnlich, aber verwandt? "Sie ... sie sind miteinander verwandt?", fragte ich vor mich hin, woraufhin Giulia antwortete: "Schätze schon. Sie waren doch immer Rivalen. Keinen der drei interessierte es je, dass sie eigentlich eine Familie sind". "Wie jetzt? Tizian gehört auch dazu?", wollte ich perplex wissen. "Leider ja, aber er ist der einzige, der ein reines Herz hat, auch wenn man es auf dem ersten Blick überhaupt nicht sieht".
Ich musste schlucken, jedoch stellte ich mir erneut eine Frage. Woher wollte Lia wissen, dass auch Tizian mit den beiden verwandt war, wenn sie Jakob bis dato gar nicht kannte? "Kannst du mir das bitte genauer erklären?", bat ich sie.
Leider lehnte sie schon fast energisch ab, in dem sie sagte: "Das soll dir Tizian lieber selber erklären. Er hat mir lediglich nur einiges über Jakob erzählt, aber ja, sie alle sind irgendwie eine Familie". Auch wenn mir das gar nicht gefiel, nahm ich mir ihren Vorschlag zu Herzen. Ich würde Tizi danach fragen.
Erst da tauchte vor mir wieder das Bild des Kampfes auf. Mittlerweile musste sich mein Meister nur noch um einen Mann kümmern. Dieser schien dafür nur umso hartnäckiger zu sein.
"Ich bin nur hier, um mich zu rächen, mein Fratello!", schrie Jakob ihn an, was Tizian nicht im Geringsten zu beeindrucken schien. "Du warst schon immer so ein Mensch, der es einfach zu nichts bringt", äffte dieser ihn nach und fuhr leicht wütend fort: "Und das mit Fratello verbiete ich mir! Es reicht schon, dass ich dich noch heute ab und zu ertragen muss, nur weil du meinst, mir meine Firma nehmen zu können!" Eins musste man Tizian wirklich lassen, er strahlte ungeheure Selbstsicherheit aus.
Ich dagegen war schwach. Verdammt schwach. Zumal ich keinerlei Ahnung hatte, wer oder was dieser Fratello war. Irgendwie wurde ich das Gefühl aber nicht los, dass die beiden viel mehr verband.
Innerlicher mahnte ich mich. Nein, ich sollte nicht wieder zu viel nachdenken, daher winkelte ich meine noch immer zitternden Knie an und legte meinen müden Kopf darauf. Giulia sah zu mir und strich mir beruhigend über den Rücken.
"Sollten wir nicht vielleicht die Polizei rufen?", fragte ich sie noch immer leicht in Tränen aufgelöst, woraufhin sie nur mit dem Kopf schüttelte. "Nein, das müssen sie unter sich ausmachen und in unseren Kreisen es ist ziemlich unüblich, die Polizei zu rufen", antwortete sie, was mich verwirrte.
Justin, der sich etwas erholt hatte, aber noch immer auf dem Gras saß, meinte: "Ihr verdammten Adeligen denkt wirklich, dass ihr euch alles erlauben könnt!". Sein Blick lag auf mich, doch ich dankte ihm nicht im Geringsten dafür, dass er mir sofort Klarheit über Giulia verschafft hatte.
Sie war also adlig, ebenso wie Tizian und Jakob. Ihre Kleidung verriet auch nichts anderes. Trotzdem war sie mir sympathisch. "Sei nicht neidisch, es hat schon seinen Grund, dass du nicht wirklich zu uns gehörst!", feixte Jakob, fing sich dann jedoch einen Schlag in den Bauch ein. Schmerzverzerrt ließ er sich auf den Boden fallen.
Tizian kämpfte ziemlich fair, was man von Jakob nicht sagen konnte. Als Tizi nämlich zu mir sah, um sich zu vergewissern, dass mit mir einigermaßen alles in Ordnung war, schlug er ihm tatsächlich auf den Rücken. Direkt in der Nähe des Armes, an dem er von dem Schuss getroffen wurde.
"Argh!", machte Tizian mit so einem schmerzverzerrten Gesicht, dass es mir fast das Herz brach. Ich konnte und wollte es mir nicht länger mit ansehen, wie er sich nur für mich in so eine Gefahr begab und auch noch Schmerzen erleiden musste.
Sein Rivale dagegen ließ sich davon nicht ablenken und wollte ihm noch mehr Schaden zufügen. Glücklicherweise konnte Tizi das aber voraussehen und gab auch ihm einen gezielten Kinnharken, was ihn endlich dazu brachte, endgültig zu Boden zu gehen.
Als ich Jakob ansah, musste ich schlucken. Aus seinem Mund quoll das Blut nur so in Strömen. Sein Cousin, also Justin, war dagegen lediglich blau im Gesicht. Da war es schon fast nicht mehr wunderlich, dass die beiden Männer sofort die Flucht ergriffen.
Endlich. Es war vorbei. Ich schien das aber noch immer nicht so richtig realisiert zu haben, da ich noch immer wie Espenlaub zitterte. Müde legte ich meinen Kopf erneut auf meine Knie und schloss die Augen. Das, was in den letzten Minuten geschehen war, war zu viel für mich gewesen. So zerbrochen kam ich mir noch nie vor. In tausende von Scherben.
Als ich Schritte hörte, die sich mir näherten, sog ich angespannt die Luft ein. Ich traute mich überhaupt nicht zu atmen. Selbst als ich spürte, wie sich zwei Arme um mich legten, rührte ich mich nicht. Erst als die Umarmung stärker wurde, nahm ich so richtig wahr, dass ich nicht alleine war.
“Fasse mich nicht an!”, kreischte ich dennoch total hysterisch und befreite mich. “Krystal, ich …”, hörte ich Tizian total verunsichert sagen, der mich sichtlich entsetzt anstarrte. Niemand geringeres als er war es gewesen, der mich umarmt hatte.
Leicht perplex sah ich ihn an und begann wie ein Schlosshund zu weinen. Lia, die nach wie vor da war, beobachtete uns schweigend. “Hey”, sagte Tizi ganz ruhig zu mir, “sie sind weg, hörst du? Sie können dir nichts mehr anhaben. Du bist in Sicherheit”. Mein Schock über das, was soeben geschehen war, saß noch so tief, dass ich mich nur ruckartig umsah. Ja, ich wollte mich selbst davon überzeugen, dass hier niemand außer uns war.
Tizian sah mich überaus besorgt an. “Nimm sie, du zitterst mir nämlich viel zu sehr”, meinte er und drückte mir seine Jacke in die Hand. Sie roch nach ihm. “Das war ein Befehl”, sagte er mit einem kleinen Schmunzeln im Gesicht, aber ebenso besorgt, als ich keinerlei Anstalten machte, sie mir überzuziehen.
Natürlich kam ich seinem Befehl sofort nach. “Brav”, feixte er mit deutlich besserer Laune. Mein Blick glitt von seinem lächelnden Gesicht zu seinem Arm. Erst da dachte ich wieder an den Schuss. Es war zwar nur eine Spielzeugpistole gewesen, dennoch machte ich mir Sorgen um ihn.
Mit weit aufgerissenen Augen quiekte ich: „Tizian, ist alles in Ordnung?“. Mit schneidender Stimme erwiderte er: „Ist halt so schlimm. Giulia kann dir bestimmt dasselbe sagen, wenn wir in der Villa sind“.
Wie konnte er sich da nur so sicher sein? “Bestimmt”, pflichtete ihm die Frau bei. “Aber, das muss doch wehtun”, meinte ich, woraufhin er ertappt nickte. Dann sah er zu Lia, die ihn annickte und keine lange Zeit später hatte sie die Schlüssel seines Autos in ihrer Hand.
Nervös saß ich auf meinem Sitz und musste immer wieder zu Tizian blicken. Dieser saß neben Giulia auf dem Beifahrersitz, während ich auf einen der hinteren Plätze verbannt wurde. Niemand sprach ein Wort und wenn, dann verstand ich sowieso nichts.
Die beiden vor mir zogen es nämlich vor, italienisch miteinander zu reden. Mir wurde ziemlich heiß davon, denn irgendwie liebte ich es total, wenn Tizian in seiner ersten Muttersprache redete. Vielleicht sollte ich ihn irgendwann einmal fragen, ob er mir diese Sprache beibringt.
Wenigstens kamen wir in seiner Villa an. Sofort gingen wir in das Wohnzimmer. “Jetzt können wir endlich einen Arzt rufen”, sagte ich und sah dabei zu auf den Arm von Tizian. “Das ist nicht nötig”, meinte Giulia, woraufhin Tizi sein Hemd auszog. Wieder sah ich seinen Oberkörper. Ich errötete dabei. Gerade als ich das Zimmer verlassen wollte, hielt mich Tizian auf.
Was wollte er denn? “Bitte bleibe hier”, bat er mich und sah mich flehend an. Warum war er auf einmal wieder so … weich? “Ich … ich möchte euch nicht stören. Bis dann”, nuschelte ich etwas verlegen, woraufhin Tizi laut prustete. “Du glaubst doch nicht…?”, begann er doch, doch ich sagte: “Nein! Aus! Ist schon gut”.
“Krystal, Lia ist meine beste Freundin, nicht mehr und auch nicht weniger”, ließ er mich sofort wissen und Giulia meinte: “Genau. Auch wenn das unsere Eltern anders sehen, aber ich schließe mich Tizi an”.
Gott, wie peinlich! Anscheinend waren sie wirklich nur beste Freunde und ich führte mich hier tatsächlich wie die eifersüchtige Ehefrau auf. Beschämt entschuldigte ich mich bei den beiden, was sie erstaunlicherweise ziemlich gelassen nahmen.
“Und was soll ich nun hier machen?”, wollte ich wissen, um von diesem doch etwas blöden Thema abzulenken. Schließlich musste niemand wissen, welch tiefe Gefühle ich für Tizian hegte.
Abwechselnd sahen sich die Freude an, ehe Giulia meinte: “Tizi meinte zu mir, du seist ein sehr wissbegieriger Mensch und vielleicht interessiert es dich auch, wie man Wunden behandelt. Außerdem bist du mir sympathisch und ich würde es sehr schade finden, wenn wir uns nicht genauer kennenlernen könnten”. Diese Ehrlichkeit brach mir fast mein ohnehin schon vernarbtes Herz. Sie kannte mich kaum. Dennoch mochte sie mich.
Ich musste schlucken. Nicht nur deswegen, sondern auch aufgrund von dem, was vor ein paar Minuten geschehen war. Noch immer wurde ich nicht darüber fertig, dass mich Jakob so sehr vorgeführt hatte und Tizian sich nur für mich in ungeheure Gefahr begeben hatte. Das werde ich ihm wohl nie vergessen.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Kopf. Es war Tizian, der vor mir mit seiner stand. Mit einem Blick auf seinem Arm stelle ich fest, dass es sich nur um einen blauen Fleck handelte.
Lia hatte diesen nicht verbunden, aber immerhin ein schonendes Pflaster benutzt. Vermutlich kannte sie sich damit aus. “Du siehst ziemlich fertig aus. Kein Wunder. Ich kann es nicht ertragen, dich so zu sehen, doch dadurch weiß ich immerhin, dass du in Sicherheit bist”, flüsterte er mir in mein linkes Ohr, was mich hellhörig werden ließ. Mir fiel nämlich etwas sehr Wichtiges ein.
Endlich konnte ich ihm ein paar Fragen stellen. Vielleicht würde er nicht abblocken, denn immerhin befand sich seine beste Freundin im Raum. “Wie … wie hast du mich eigentlich gefunden? Oder besser gesagt, warum hast du dich in dem Gebüsch versteckt? Wusstest du etwa davon?”, fragte ich ihn den Tränen nahe.
Ja, mich nahm das alles sehr mit. Er seufzte, ehe er antwortete: “Denkst du denn wirklich, dass ich dich mit einem Unbekannten alleine lasse? Schon allein der Brief war ziemlich skurril. Und ja, ich habe die Handschrift von Jakob erkannt”.
Anscheinend war er bereit mir endlich Antworten zu liefern, was ich ausnutzen sollte. “Woher kennt ihr euch?”, wollte ich sachlich wissen und sah, wie der Mann direkt vor mir erstarrte. “Ich … das, nein, noch nicht. Ich kann es dir noch nicht sagen. Noch bin ich nicht dazu bereit, aber Jakob hatte schon damit recht, dass eigentlich ihm meine Firma gehören sollte”, murmelte er überaus nachdenklich vor sich hin.
Okay, da war ich wohl einen kleinen Schritt zu weit gegangen. Also musste ich Geduld haben. “Warum hast du dich für mich überhaupt in diese Gefahr begeben? Ich verstehe es einfach nicht”, sagte ich eher vor mich hin, doch aufgrund seiner Reaktion wusste ich, dass er mich sehr wohl verstanden hatte.
Er nahm mich nämlich wieder in den Arm. “Dir ist schon viel zu viel passiert, mein kleiner Kristall. Da kann ich dich doch nicht aus den Augen lassen”, hauchte er mir zu.
Wider Willen wurde mir heiß. Ob Tizian wusste, was für große Macht er über mich hatte? Seine Worte berührten mich zutiefst. “Dir hätte so viel passieren können”, schluchzte ich schließlich und merkte, wie mir erneut die Tränen kamen.
Behutsam drückte der Schwarzhaarige mich noch stärker an sich. Dann sagte er: “Das war mir durchaus bewusst, ja, es war gefährlich, aber wenn du es genau wissen willst, hätte ich für dich sogar mein Leben gelassen”.
Stille legte sich um uns. Meinte er das wirklich ernst? Wie kam er nur darauf? “Nein, tue das bloß nicht! Ich … ich wüsste nicht, was ich sonst tun würde und außerdem wäre ich dann ganz alleine. Lasse mich bitte nicht alleine, nie wieder”, flüsterte ich und hob meinen Kopf. Um meine Worte zu unterstreichen, blickte ich ihm genau in seine dunklen Augen.
Leicht überrascht starrte er mich an, doch dann verzog er schmerzverzerrt das Gesicht. “Tizian, was ist mit dir?“, wollte ich sofort wissen, woraufhin Giulia mir antwortete: „Es wäre besser, wenn du dich beruhigend würdest und auch wir Frauen sollte mal zur Ruhe kommen“.
Ohne zu zögern setzte sich ihr bester Freund zurück auf die Couch und lehnte sich zurück.
Besorgt sah ich zu ihm. Noch immer sah Tizi ziemlich gequält aus. “Du solltest schlafen”, meinte die Frau zu dem Mann, was diesem sichtlich nicht gefiel.
“Ich kümmere mich um sie, keine Sorge”, versuchte Lia noch schnell einen Kompromiss zu finden. Erstaunlicherweise kannte sie Tizian sehr gut, wie mir soeben klar wurde. “Könnt ihr hierbleiben? Bitte?”, fragte er uns.
Ich musste so oder so bleiben, zumindest in der Villa, was für mich aber absolut kein Zwang war. “In Ordnung, aber du brauchst Ruhe. Der blaue Fleck ist nicht ganz ohne. Er wird sich noch ein paar Tage ziemlich bemerkbar machen und nicht zu vergessen der Schock, den wir alle haben”, meinte Giulia.
Tizian tat, was ihm gesagt wurde. Sofort zog er seine Hose aus, während ich rot anlief. Natürlich dachte ich an unsere gemeinsame Nacht, doch darum ging es gerade nicht. Ich musste den Gedanken verdrängen, denn immerhin legte er legte sich tatsächlich hin. Nur mit einer Boxershorts bekleidet.
Zuvor waren Lia und ich so lieb gewesen und hatten die Couch zu einem Bett gemacht. Wir leisteten ihm im Wohnzimmer Gesellschaft. Niemand sagte etwas. Ich kauerte mich zurück auf den Sessel, auf dem ich zuvor gesessen war und konnte nicht aufhören den Mann anzustarren. Eine Ewigkeit verging, ehe Lia sich rührte.
Sie meinte: “Er schläft”, woraufhin ich murmelte: “Zum Glück. Du ahnst ja nicht, was für eine Heidenangst ich nach wie vor um ihn habe”. “Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Ich studiere Medizin und das nicht gerade erst seit kurzem, ich weiß also nur zu gut, dass er das Geschehen locker wegstecken wird”, sagte sie zu mir, um mich zu beruhigen.
Verblüfft starrte ich sie an. “Du bist Studentin? Das hätte ich jetzt wirklich nicht gedacht”, gab ich anerkennend zu. Leicht verlegen wollte Lia den Grund dazu wissen.
“Nun ja, du bist außerordentlich hübsch. Und umso länger wir beisammen sind, umso mehr kommst du mir auch bekannt vor”, antwortete ich ihr. Sie kicherte. Fragend sah ich sie natürlich an. Was war daran so lustig?
Mein Augenmerk richtete sich allerdings auf ihre Handtasche, in der Giulia ein Magazin hervorholte. Auf dem Cover war niemand Geringeres als … sie. “Da hast du richtig gedacht. Ich finanziere mit dem Modeln mein Studium”, sagte sie und drückte mir die Zeitschrift in die Hand.
Nachdem ich darin etwas herumgeblättert hatte, meinte ich: “Wow, du bist so verdammt hübsch. Nur würde mich interessieren, warum du das machst. Immerhin bist du so wie Tizian und Jakob auch adelig, da bräuchtest du das doch eigentlich gar nicht”.
Leicht verlegen sah Lia mir in die Augen, ehe sie sagte: “Das stimmt, aber ich bin der Meinung, dass man für sein Geld arbeiten sollte. Natürlich könnte ich mich auch auf die faule Haut legen, doch nach einziger Zeit wird das bestimmt langweilig”. “Du denkst genauso wie Tizian”, gab ich anerkennend zu und blickte zu ihm. Er schlief sehr unruhig.
Besorgt konnte ich nicht meinen Blick von ihm nehmen. “Du magst ihn, nicht wahr?”, wollte die Frau von mir wissen und beobachtete mich genau. “Nein”, antwortete ich ihr, woraufhin sie mich erstaunt anblickte.
“Es ist mehr, viel mehr”, flüsterte ich, die Augen stur auf den Mann gerichtet, der sich auf der Couch hin und her wälzte. Lia kam auf mich zu und legte mir eine Hand auf meiner linken Schulter.
Dieses Gespräch hatte eine andere Richtung angenommen. Es war aber seltsamerweise okay so. Warum wusste ich nicht. Vermutlich sah ich Giulia schon jetzt als eine Art Freundin an, der ich alles anvertraue konnte.
“Er hat aus mir einen anderen, besseren Menschen gemacht”, fuhr ich fort und spürte die ersten Tränen in meinen Augen aufkommen. “Früher, vor nicht allzu langer Zeit, da war ich aufbrausend und scheu, Tizian hat mir aber gezeigt, dass man unmöglich alleine zurecht kommen kann. Für mich war es schon schwierig einzusehen, dass er recht hat”, sprach ich weiter und stoppte kurz. Ich wollte ihre Meinung hören.
Giulia ließ nicht lange auf sich warten. Leise sagte sie: “Das ist doch schön und, nun ja, ich kann dich verstehen”. “Inwiefern kannst du das?”, wollte ich sofort wissen, woraufhin sie mich nur anlächelte und meinte, dass es hier um mich ginge, nicht um sie.
Mir war klar, dass sie nicht über sich reden wollte, also tat ich ihr den Gefallen und fragte nicht weiter nach. Vielleicht war sie genauso wie ich ein Mensch, der nur schwer Vertrauen fassen konnte.
Nun aber konzentrierte ich mich wieder auf das Wesentliche. “Du kannst dir absolut nicht vorstellen, wie sehr ich an ihm hänge. Ich brauche ihn, nur frage ich mich, warum er mich die meiste Zeit so … so mies behandelt”, flüsterte ich und sah sie an. Stille.
Konnte oder wollte Lia mir darauf keine Antwort geben? Sie rang um Fassung, doch dann lächelte sie und sagte: “Du bist verliebt, da ist es doch kein Wunder, dass du so durcheinander bist. Du hast Angst um ihn, nicht umsonst glitzern deine Augen”. Wie goldrichtig sie damit doch lag!
Zwar hatte sie nichts dazu gesagt, dass er manchmal so gemein zu mir war, aber ich gab mich auch damit zufrieden. Zu meiner tiefsten Verwunderung übernahm Giulia erneut das Wort. “Ich würde dir gerne sagen, warum er so ist, wie er … nun, wie er ist, aber das steht mir nicht zu. Seine Vergangenheit war alles andere als schön und daher wäre es wirklich besser, wenn er dir all das selber erzählt. Er meint es aber auf jeden Fall nicht böse”, meinte die Frau und sah ich aufmunternd an.
Das war doch schon einmal etwas, schoss es mir durch den Kopf. “Ich weiß einfach nicht, woran ich bei ihm bin”, gab ich leise zu und sah ratlos erneut zu Tizian. “Das wirst du schon noch herausfinden”, prophezeite mir Giulia.
“Nein!”, hörten wir auf einmal Tizian sagen. Er hatte doch nicht etwa das Gespräch gehört? Meine Sorge war aber völlig unbegründet, denn Lia schaltete sich sofort ein: “Oh, er träumt wieder. Oder besser gesagt immer noch”.
Irgendwie klang ihre Stimme dabei ziemlich traurig. “Das ist mir auch schon aufgefallen”, stand ich ihr bei und erinnerte mich daran, als ich ihn in unserer Nacht beobachtet hatte.
Erstaunt schnellte der Blick von Giulia zu mir. “Wie bitte?”, fragte sie mich mit geweiteten Pupillen. Leicht verlegen antwortete ich: “Also nicht so richtig. Er hat friedlich geschlafen, aber über die leere Bettseite gestrichen. Mir war so, als ob er mich in seinen Träumen suchte”. “Oh je, hört das denn nie auf? Der Arme hat doch schon so viel durchgemacht, langsam reicht es aber. War es schön?”, meinte Lia.
Obwohl ich genau wusste, was sie meinte, sah ich sie unschuldig an. Im nächsten Moment sah ich auf meine Hände, die ich ineinander gefaltet hatte. Dann flüsterte ich überaus verlegen, aber mit einem seligem Lächeln auf den Lippen: “Ja, wunderschön. Er war verdammt zärtlich und vor allem sorgsam, er wollte mir auf keinen Fall wehtun”. “Das ist doch sehr schön”, gab Giulia mir ihre Meinung dazu, was ich mit einem verträumten Nicken bestätigte.
Sollte ich ihr mehr erzählen? Ich tat es einfach ohne nachzudenken. “Nur leider war er zu mir sehr gemein, als wir frühstückten”, warf ich überaus traurig in den Raum. “Hast du irgendetwas gemacht, was ihn verletzt haben könnte?”, fragte mich Giulia sofort, woraufhin ich nur mit dem Kopf schütteln konnte. Darauf wusste sie keine Antwort. Anscheinend gab er ihr ebenfalls Rätsel auf.
Tizian wurde nicht ruhiger, mir kam es eher so vor, als ob ihn irgendetwas in seinen Träumen heimsuchte. “Nein, ich will nicht! Gehe weg von mir, verschwinde! Ich habe mich nicht umsonst euch entsagt!”, schrie er und schlug in seinem Schlaf um sich.
Oh ha! Donnerwetter, er musste ja wirklich etwas Schlimmes träumen! Auf seiner Stirn hatte sich ein satter Schweißfilm gebildet und er wollte einfach nicht aufhören, zu wimmern. Was war da nur los?
Ich wollte schon zu ihm gehen, um ihn zu wecken und ihn somit aus dieser so schrecklichen Situation zu befreien, doch Lia hielt mich sanft am Arm fest. “Nicht”, sagte sie und fuhr fort: “Er träumt, das ist gut. Das hat er mir selbst einmal gesagt”. “Aber…?”, setzte ich an, doch sie meinte: “Er ist angehender Psychologe, er weiß wovon er redet und auch mir ist das nicht gänzlich unbekannt”.
Im nächsten Moment wurde ich etwas hellhörig. Stimmte das, war Tizian in allem Ernst ein Psychologe? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Ich nahm mir vor, ihn irgendwann einmal danach zu fragen. Aber nicht in naher Zukunft.
“Das ist aber schon heftig, wie unruhig sein Schlaf ist”, druckste ich um meinen Plan herum, als mich Giulia mit ihrem Blick fixierte.
Ich sah wieder zu Tizian, der sich einfach nicht beruhigen wollte. Einst hatte er mir gesagt, dass er es mochte, hinter die Fassade von Menschen zu blicken. Ob das also ein Hinweis dafür war, das er Psychologie studiert hatte? Ich wusste es nicht, konnte aber mit großer Sicherheit sagen, dass Tizi gerade ziemlich litt.
Er wollte einfach nicht ruhen. Noch nie hatte ich so einen derartig heftigen Gefühlsausbruch gesehen. Dagegen war das, was in meiner Familie einst geschah, ein absolutes Nichts.
“Ach Tizian”, entfuhr es mir den Tränen nahe. “Hey, was ist denn auf einmal los?”, fragte mich Giulia, woraufhin ich antwortete: “Wenn ich doch nur den blassesten Schimmer hätte, was in seiner Vergangenheit vorgefallen ist”.
Die Frau, die nach wie vor neben mir stand, stieß einen tiefen Seufzer aus, ehe sie meinte: “Ich würde dir schon ziemlich gerne etwas über ihn erzählen, aber das darf ich nicht. Manchmal frage ich mich sogar ernsthaft, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, wenn ich nichts von seiner grausamen Kindheit mitbekommen hätte”. Das waren nun ganz andere Töne, die Giulia da von sich gab.
Gut, dachte ich, dann finde ich eben auf einen anderen Weg heraus, was ihn zu dem Menschen machte, der er heute war. “Sag mal, wie war eigentlich deine Jugend?”, wollte ich wissen.
Natürlich war Lia von dieser Frage überrascht, doch ich musste zugeben, dass mich ihre Geschichte ebenfalls interessierte. So hinterlistig war ich dann doch nicht mehr, dass ich Menschen für meine Zwecke ausnutzte.
Giulia dagegen wurde kreidebleich im Gesicht. Hatte ich etwa etwas Falsches gesagt? “Meine Vergangenheit ist im Gegensatz zu der von Tizian relativ in Ordnung. Es gibt nur wenige Dinge, die … die nicht hätten passieren dürfen!”, stammelte die hübsche Frau und mir war so, als ob sie mit einem Mal den Glanz, der sie vor einigen Minuten noch umgeben hatte, verloren hätte.
Da ich einfach wissen musste, was geschehen war, bohrte ich nach: “Was ist denn bei dir passiert?”. “Du, entschuldige, aber darüber möchte ich wirklich nicht reden. Außerdem hat das etwas mit Tizi zu tun. Vielleicht hast du Glück und er erzählt dir eines Tages von selbst, was uns noch so verbindet. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich sehr gerne gehen”, wich sie mir überaus geknickt aus.
Himmel, das wollte ich nun wirklich! “Es tut mir leid, wenn ich dir zu nahe getreten bin. Soll ich Tizian etwas ausrichten?”, blieb ich sachlich, um Giulia nicht noch mehr in diese unangenehme Situation zu bringen.
“Schon in Ordnung, du sollst wissen, dass ich dich mag und wir werden uns bestimmt wieder sehen. Sage ihm bitte, dass mit ihm alles gut ist, er sich aber schon noch etwas ausruhen sollte”, sagte Lia zu mir und lächelte mich leicht an. Ich machte Anstalten zum Aufstehen, um sie zur Tür zu führen, doch sie winkte ab und meinte, dass sie den Weg selbst kenne.
Nun war ich also mit dem gebrochenen Sadisten alleine, der vor mir so friedlich wie ein kleines Kind zu schliefen schien, obwohl in seinem Inneren ein heftiger Sturm tobte, der ihn eben doch nicht so ruhig schlafen ließ.
Nervös lief ich auf und ab ohne den Blick von Tizian zu nehmen. Es war kaum auszuhalten! Ich hatte solche Angst um ihn, dass ich es nicht mehr ertrug, ihn so zu sehen. Sonst war er immer stark gewesen, doch gerade kam er mir überaus schwach vor, was mich nur noch mehr beunruhigte. Kein Wunder also, dass ich das Zimmer doch verließ.
Mir schoss nämlich noch ein anderer Gedanke durch den Kopf. Gut, ich war vielleicht in Gefahr, doch sollte ich mich davon so sehr abhängig machen, dass ich nicht mehr normal leben konnte? Mit normal meinte ich nicht, dass ich wieder so provokant wie früher wurde. Nein, ich wollte so werden bevor all das mit Jakob passiert war. Da war ich schließlich auch nicht so gewesen.
Ich musste kämpfen, auch wenn es das letzte sein würde, was ich tat. Das konnte ich nur tun, in dem ich ein für alle Mal mit meiner Vergangenheit abschloss. In meinem Inneren versprach ich mir selbst, dass ich Tizian eines Tages die ganze Geschichte von Jakob und mir erzählen würde. Denn von jener Nacht hatte ich ihm bisher noch nie etwas erzählt.
Mein Ziel war nicht mein Zimmer oder seines, nein, es war der Raum, in dem all die Bücher über die Vorfahren von Tizian standen. Keine Ahnung, warum ich ausgerechnet diesen Ort gewählt hatte, vermutlich weil dieser über einen Kamin verfügte und Tizian mich auf keinen Fall hören konnte. Zudem würde er mich wohl kaum hier vermuten, für das, was ich vorhatte.
Nein, ich wollte mich nicht umbringen oder mir wehtun, sondern nachdenken. Daher schien mir eben dieser Ort ideal zu sein. Zuvor holte ich aber noch die Briefe von Jakob. Der Gang dorthin war alles andere als einfach, denn ich kam mir schon fast so vor, als ob man mich auf ein Schafott, auf dem mich die Guillotine nur erwartete, führte.
Ein bitteres Lachen glitt mir aus meinem Mund. Bei dem Gedanken muss wohl meine Leidenschaft für Geschichte mit mir durchgegangen sein. Mal wieder. Auf dem Weg zurück in das Zimmer mit den Büchern, dass ich soeben als Bibliothek 2.0 bezeichnete, ging ich an der Eingangshalle vorbei.
Einige Augenblicke stützte ich mich auf das mächtige Geländer ab, um einen Blick über den mächtigen Eingangsbereich zu bekommen. Man merkte, dass es allmählich kühler wurde. Der Himmel erzog sich grau über den Köpfen der Menschen, das verriet mir die Glaskuppel, die man glücklicherweise durch den Regenguss von außen nicht säubern musste. Nur bei dem Inneren machte ich mir etwas Sorgen. Darauf müsste ich Tizian auch noch ansprechen.
Meine Gedanken blieben aber nicht lange daran hängen, sondern kamen wieder dort an, wo es mir nicht so wirklich passte. Die Sache mit Jakob.
In meinen Händen hielt ich das doch relativ dicke zusammengebundene Bündel Briefe, die er mir einst aus der Türkei geschickt hatte. War ja auch kein Wunder, seine Mutter lebte dort. Sein Vater dagegen war Italiener. Im Großen und Ganzen war meine erste große Liebe eine recht exotische Mischung.
Genug davon, dachte ich, er ist und bleibt ein Scheusal. Ich bahnte mir schnell den Weg zu der Bibo 2.0, da ich so schnell wie möglich mit meiner Vergangenheit abschließen wollte. Nur dann war ich wohl bereit für einen endgültigen Neuanfang. Als ich endlich da war, entfachte ich ein Feuer in dem Kamin, da es schon etwas kühl war und weil ich es irgendwie total mochte, vor einem Feuer zu sitzen.
Mit zittrigen Händen machte ich mich an dem Bündel Briefe zu schaffen. Es erschien deshalb so viel Masse zu haben, da ich die Schriftstücke in den Umschlägen gelassen hatte. Da war es nicht sehr verwunderlich, dass ich nicht mehr als dreizehn Briefe in der Hand hatte. Besonders der letzte Brief von Jakob hatte es in sich:
Einen wunderschönen guten Tag, du naives Ding!
Wie bitte, du kannst es noch immer nicht fassen? Ich bitte dich! Wie kann man denn nur so gutgläubig sein? Du bist wirklich dümmer als ich dachte. Hast du dir im allen Ernst die ganze Zeit vorgestellt, mit mir irgendwann einmal in der Türkei zu leben? Wie dumm bist du eigentlich?
Mädel, ich kann so viele Weiber haben, wie ich will und du warst eins davon. Ist es nicht sehr schön, dass ich eine unglaubliche Sammlung an Weibern habe? Am Ende dieses wundervollen Briefes werde ich dir die Zahl meiner Eroberungen verraten Darauf kannst du dich verlassen.
Außerdem bist du doch selbst schuld, dass ich mit dir dasselbe getan habe. Niemand verweigert es mit mir, Jakob Di Izmir, zu ficken! Das war ein sehr großer Fehler von dir. Allgemein war es total töricht von dir, mir zu vertrauen. Du wolltest nicht einmal mit mir rummachen, ich durfte dich nie an deinem kleinen Arsch und an deinen kleinen Titten anfassen! Da war es doch wirklich kein Wunder, dass ich mir meinen Spaß eben woanders geholt habe.
Ich bin adelig, du bist dagegen ein Nichts. Du gehörst nur zu den armen Schluckern von Normalos, wobei deine Familie schon ziemlich asozial ist. Wenn ich so daran denke, wie wir manchmal in deiner Wohnung gehaust haben, da könnte ich wirklich kotzen.
Schon allein bei deinem Anblick hätte ich mich am Liebsten immer übergeben. Vielleicht wärst du dadurch hübsch geworden, wobei ich davon überzeugt bin, dass man dir nicht mehr zu Schönheit verhelfen kann.
Du leidest also? Das ist doch sehr schön. Weißt du eigentlich, dass du zu der typischen Sorte Weib gehörst? Nein? Dann werde ich es dir erklären und glaube mir, dass wird ein Heidenspaß für mich.
Du bist für uns Männer nur ein Spielzeug, dass wir benutzen können wann und wie wir wollen, aber ebenso schnell auch wieder wegwerfen können.
Ich frage mich noch immer, wie du nur so dämlich sein konntest und ernsthaft an einer Zukunft mit mir gedacht hast. Vergleich uns doch mal. Das fängt schon mit dem Aussehen an. Im Gegensatz zu dir bin ich wirklich sexy und geil. Du dagegen bist nur eine daher gelaufene Vogelscheuche. Langsam aber sicher gehen mir doch glatt die Worte aus, um dich passend zu beschreiben.
Lass mich nachdenken … ah, jetzt fällt es mir wieder ein! Du bist einfach nur ein Nichts, dass es gar nicht verdient hat, von mir auch nur als irgendetwas betitelt zu werden. Wie konnte ich das nur vergessen?
Hör auf, mir Briefe zu schreiben. Wobei das schon recht lustig ist, da kannst du gerne mal meine Freunde fragen. Bei unseren Dinner können wir kaum aufhören zu lachen. Ja, du bist bei ihnen schon ziemlich bekannt.
Und nachdem, was ich dir nun schreibe, wirst du dir wirklich nichts sehnlicher wünschen, als mir nie unter die Augen getreten zu sein. Du kannst dich sicherlich noch an diese reizende Party erinnern, als du hier warst, oder? Natürlich kannst du das. Schließlich bist du nun alleine.
Der springende Punkt ist einfach der, dass dich schon die ganze Welt kennt. Auf unseren exklusivsten Kanälen im Internet oder Fernsehen, Zeitung - wie auch immer, bist du schon eine kleine Berühmtheit. Natürlich im negativen Sinne. Es gibt da nämlich so ein schönes Video, auf dem du dich richtig toll zu einem Affen gemacht hast.
Wenn du jetzt denkst, du könntest gerichtlich gegen mich vorgehen, dann irrst du dich da gewaltig. Denke immer daran, dass du keinen Geringeren als mich, Jakob Di Izmir, als Gegner hast!
Im Gegensatz zu dir habe ich den Einfluss und das Geld, mir alles zu kaufen. Dazu gehören natürlich auch Weiber und ja, schließlich den Einfluss, mir irgendwelche Menschen vom Leibe zu schaffen. Auch dich.
Es gibt nur wenige, die gegen mich etwas in der Hand haben und dazu gehörst du einfach nicht. Man sieht es doch schon daran, dass deine Familie vor dem Ruin steht.
Da kannst du dich gerne bei einem gewissen Herren von Falkenstein bedanken. Selbst mir hat er das genommen, was eigentlich mir zustehen würde.
Eines Tages werde ich mir die Firma aber zurück holen. Darauf kannst du dich verlassen. Wenn es soweit ist, werde ich es dich wissen lassen.
So und nun kommen wir doch endlich zu dem letzten Akt, du hässliches Ding. Ich hatte mit so vielen verschiedenen Weibern meinen Spaß, da wirst du nie herankommen. Sage und schreibe 121 deiner Artgenossinnen habe ich das Blaue vom Himmel vorgelogen, verführt und schließlich weggeworfen.
Nichts anderes hat mir je mehr Spaß gemacht. Sogar so viel, dass ich mir ein Buch mit Namen, Handynummer und dem benoteten Sex gemacht habe.
Ich warne dich noch ein letztes Mal: Wenn du meinst, mir auch nur ein einziges Mal noch einen Brief zu schreiben, wird das Konsequenzen haben!
Genau dieses Schriftstück schaffte es immer wieder, mir die Kehle zuzuschnüren und mich in Panik zu versetzen. Ich erinnerte mich noch sehr gut daran, als ich den Brief das erste Mal gelesen habe. Da hatte ich zwar schon einen gewaltigen Knacks in der Psyche gehabt, doch gab es da noch diese Hoffnung, dass Jakob mich wieder haben wollte. Weit gefehlt. Erwähntes Video musste ich auch zig Male über mich ergehen lassen.
Wieder liefen mir Tränen über die Wangen. Nicht wegen ihm, sondern wegen einer ganz anderen Person. Tizian. Erst jetzt fiel mir auf, dass Jakob niemand Geringeren als Tizi gemeint hatte. Immerhin fiel in dem Brief auch sein Nachname.
Wieder stellte ich mir die Frage, woher sie sich kannten. Wenn sie sich nur geschäftlich kennen würden, dann würden sie sich doch nicht so hassen, oder? Manchmal war die Welt einfach nur grausam. So wie jetzt.
Was sollte ich denn nun tun? Kämpfen, schoss es mir durch den Kopf. Kämpfe für dich, dafür, dass du du selbst sein kannst! Mit einem Mal strömte dieses innere Feuer durch meine Adern, was mich sofort dazu bewegte, mir die Tränen aus meinem Gesicht zu wischen. “Nein”, sagte ich laut und fuhr fort: “Krystal Knight gibt sich nicht mehr auf! Ich werde für meine Liebe und schließlich für mich kämpfen!”. Ich legte die Briefe auf dem Tisch, der in der Mitte des Raumes war und widmete mich nun anderen Dingen.
Mich wunderte es nicht, dass ich daher das gesamte Zimmer, in dem ich mich befand, aufräumte und mich hier und da um anderes kümmerte. Dabei achtete ich natürlich darauf, keinen Lärm zu machen.
Ich wollte Tizian absolut nicht wecken. Er musste sich ausruhen und angenommen er würde durch mich wach werden, würde das bestimmt nur Ärger geben. Davon hatte ich erst einmal gehörig genug.
Die Eingangshalle war meiner Meinung nach auch ziemlich staubig. Oder besser gesagt der Boden. Daher fegte ich diesen. Nebenbei musste ich natürlich an das denken, was hier so geschehen war.
Wie Tizi mich in die Abstellkammer gezogen hatte und mir klar geworden war, welch starke Gefühle ich für ihn hegte. Ziemlich beängstigend, dass sich das alles ausgerechnet hier abgespielt hatte.
Nach ein paar Minuten glänzte der empfindliche Marmorboden jedenfalls wie neu, was mich tierisch stolz machte. Warum wusste ich nicht. Vielleicht dachte ich nur daran, dass Tizian das bestimmt gefallen könnte.
Dieser sollte aber erst einmal das Bett hüten. Also würde auf mich wohl noch mehr Arbeit zu kommen. Es war okay so, da mir der Mann mit dieser Villa eine Bleibe geschenkt hatte. Ich musste lediglich seine Befehle ausführen, sonst nichts.
Zum ersten Mal dachte ich über die Gesamtsituation nach. Okay, Tizian war verdammt wechselhaft und ich? Ja, ich war anfangs natürlich sehr distanziert gewesen, doch ich wurde immer weicher.
War er deswegen manchmal so gemein zu mir? Passte es dem Mann überhaupt nicht, dass ich mich veränderte? Dabei war eine Veränderung bei mir unausweichlich. Dafür waren wir schon viel zu weit gegangen.
Der Abend im Restaurant, der Kuss in der Eingangshalle und schließlich der Sex in seinem Bett - das war zu viel. Dabei war Tizian so lieb gewesen!
Es brach mir schier das Herz, wenn ich nur an all das dachte. Warum konnte ich nicht mal glücklich sein? Warum gab es eigentlich immer diese Auf und Abs im Leben?
Nach einiger Zeit verschlug es mich zurück zu dem Zimmer, in dem ich den überaus schmerzlichen Brief von Jakob gelesen hatte. Mittlerweile war es schön mollig warm in dem Raum, doch noch immer fröstelte es mich leicht. Verdammt, musste der Winter schon bald wieder die Welt in eiskaltem Schnee tauchen? Für Ende September war es einfach nur kalt!
Mich verschlug es an dem Fenster, dass mir nur zu deutlich zeigte, dass es regnete. Nicht nur das, auf einmal hörte ich ein gewaltiges Grollen, sodass ich erschreckt zusammenzuckte. Eigentlich mochte ich Gewitter, doch gerade überkam mich Angst. Pure Angst. Das einzig Schöne daran waren die Blitze, die nicht lange auf sich warten ließen.
Meine Hand glitt zu dem Glas. Nachdenklich und doch ohne Gedanken sah ich in den Garten von Tizian. Aus einem plötzlichen Impuls heraus, öffnete ich die Terrassentür und rannte hinaus.
Es tat gut, den Regen zu spüren, obwohl dieser dazu beitrug, dass mir noch kälter wurde. Na und, dann hole ich mir eben eine Erkältung, dachte ich, das hier kann mir keiner nehmen.
Wie ein kleines Kind tänzelte ich bei dem Wetter herum. Immer wieder breitete ich meine Arme aus und schrie irgendetwas in den Regensturm.
Ja, so kam es mir vor, da wie aus dem Nichts ein heftiger Wind das Land heimgesucht hatte. Mir war es egal, denn das spornte mich nur weiter an und außerdem machte es das Naturschauspiel nur noch schöner.
Genug, dachte ich, ich habe genug. Eigentlich hatte ich das nicht, aber mir wurde so kalt, dass ich einfach zurück in das Zimmer tapste und mir eine Decke aus einem der Schränke nahm.
Nachdem ich sie mir um die Schultern sowie um meinen gesamten Körper gelegt hatte, ging ich erneut zu dem Fenster. Kaum hatte ich erneut die Scheibe berührt, grollte der Himmel und schoss Blitze auf die Erde.
Tizian’s Sicht!
Ausgeschlafen wachte ich auf. Anfangs nahm ich jedoch nichts wahr, da ich mich erst einmal etwas sammeln musste. Ich wusste nicht wie viele Stunden vergangen waren, jedoch hatte bereits die abendliche Dämmerung eingesetzt und ich war alleine im Wohnzimmer.
Waren denn Kystal und Giulia nicht hier gewesen, als ich mich hingelegt hatte? Sie waren es, da war ich mir sicher.
Ohne zu zögern zog ich mich an, um die beiden Frauen zu suchen. Natürlich vermutete ich die Damen in dem Zimmer von Krystal, doch als ich klopfte, machte mir niemand auf. Als ich an der Tür lauschte, bemerkte ich, dass es im Inneren still war. Hier waren sie also wirklich nicht.
Selbstverständlich könnte ich einfach so nachsehen, doch das war das kleine Reich von dem Mädchen. Und ich wollte mich nie wieder in dessen Privatsphäre einmischen. Zumindest was ihre Sachen betraf.
In der Küche waren sie nicht gewesen, schließlich bin ich daran vorbeigelaufen. Im Bad habe ich auch niemanden gehört. In meinem Zimmer würden sie wohl kaum sein, denn Krystal wusste nur zu gut, dass ich das nicht wollte und ich mich tierisch darüber aufregen würde. Also konnte ich den rechten Flügel wohl ausschließen. Blieb nur noch … der linke!
Was wollten sie denn da? Sie waren doch nicht … Nein! Ich rannte zur Eingangshalle, wo ich erst einmal stoppte. Mir entging nicht, dass sie nur so vor sich hin glänzte. Was hatte Krystal getan? Irgendetwas war hier verkehrt, nur was? Auch fiel mir auf, dass die Sachen von Giulia nicht mehr an der Eingangstür waren. Sie war also gegangen.
Ich verschwendete keine Sekunde mehr mit der Eingangshalle, denn ich musste meinen kleinen Kristall finden. Sonst würde ich wohl noch verrückter werden als ich es ohnehin schon war. Wenn sie wirklich im linken Flügel war, dann gab es wohl nur einen Raum, der für sich interessant wäre. Der letzte.
Mit einem mulmigen Gefühl näherte ich mich diesen. Musste das wirklich sein? Ich konnte mich einfach nicht dazu überwinden, die Türklinke nach unten zu drücken, lieber klopfte ich. Das war zwar ziemlich idiotisch, da es meine Villa war und ich somit der Herr im Hause war, doch wollte ich mich zuvor vergewissern, ob sich Krystal wirklich dort befand. Glücklicherweise hörte ich auch von diesem Zimmer kein Geräusch nach außen gelangen.
Dafür entging mir nicht das Knistern. Es war kaum merklich und doch da. Der Raum mit den Büchern meiner Urahnen! Was wollte sie denn da? Egal, dachte ich, wenn ich sie dort finde, war alles gut. Da war es mir auch gleichgültig, dass sie ausgerechnet hier war.
Aufgeregt öffnete ich schließlich die Türe und sah sofort mein kleines Mädchen. Mir fiel sofort auf, dass sie mich nicht bemerkt hatte. Denn nicht umsonst stand sie noch immer an dem Fenster und blickte gedankenverloren zum Unwetter. Ich sah zu dem Tisch und erkannte die Briefe von Jakob. Nur einen hielt Krystal in der Hand. Erst da wurde mir klar, dass sie zitterte.
Langsam näherte ich mich ihr und noch immer nahm sie keine Notiz von mir. Sollte ich etwas sagen oder nicht? Verdammt, schoss es mir durch den Kopf, ich benahm mich schon fast wie ein Teenager, der ziemlich schüchtern war. Dabei war ich alles andere, nur nicht das. Und aus dem Alter war ich schon längst raus.
Sie sah so nachdenklich aus, dass ich beschloss, mich erst einmal bedeckt zu halten. Das hieß aber nicht, dass ich mich versteckte. Ich zog es vor, unweit von ihr stehen zu bleiben und sie anzustarren. Kein Wunder also, dass ich ihr Schluchzen nur zu gut hören konnte. Noch weniger verwunderlich, dass ich das unglaublich zerbrechliche Mädchen auffing, als es zu Boden ging.
Als Krystal in meinen Armen landete, merkte ich nur zu gut, dass das richtig war. Und auch wenn sie leicht erschrocken zusammenfuhr wich sie nicht zurück oder stand auf. Wollte sie vielleicht reden? Da ich mir nicht sicher war, zog ich es vor zu schweigen. Ich wollte ihr das Wort überlassen.
Eine Weile blieb es still, bis das Mädchen endlich fragte, was ich hier machte. “Ihr wart weg und da wollte ich nach euch sehen”, antwortete ich wahrheitsgemäß und strich ihr sanft über den Kopf. “Warum weinst du? Ist es wegen den Briefen?”, wollte ich sofort wissen, da ich mir unheimliche Sorgen um sie machte.
Krystal holte recht schwer Luft, ehe sie meinte: “Ja, also auch”. “Warum denn noch?”, hakte ich weiter nach, woraufhin sie sagte: “Ich … ich habe Angst. Angst um dich, um mich. Der Vorfall im Park … er war so heftig für mich”. “Um mich?”, fragte ich sehr ungläubig. Das Mädchen, dass sich in mein Hemd gekrallt hatte, sah mir in die Augen und nickte langsam.
Mit einem Mal traf mich ein Blitz und da wusste ich, dass ich den Blick, den sie mir zuwarf, niemals vergessen konnte. Sie überraschte mich gerade so dermaßen, dass ich nicht in der Lage war auch nur irgendetwas zu sagen. Erst als ich merkte, wie unruhig Krystal war, rührte ich mich. Leise flüsterte ich: “Das brauchst du doch nicht. Mir geht es gut, ehrlich. Du solltest dir lieber Sorgen um dich machen”.
Dieses Mal war sie es, die mich erstaunt ansah. Dann sagte sie: “Ich … ich kann nicht. Wegen mir bist du doch erst in diese brenzlige Lage gekommen”. “Das ist richtig, aber du hast vergessen, was ich dir vor ein paar Stunden gesagt habe. Ich sagte zu dir, dass ich selbst mein Leben für dich aufgeben würde und dabei bleibe ich. Daher ist das nur fair”, erwiderte ich und musste mich bemühen, nicht gleichgültig zu klingen.
Zum Glück schien Krystal davon nichts zu bemerken, denn sie meinte: “Ja, natürlich erinnere ich mich daran. Du bist so anders als er”. Wen meinte sie denn nun? Die Antwort lieferte sie mir von selbst, in dem sie fort fuhr. “Ich weiß zwar nicht, in welchem Verhältnis du zu Jakob stehst, doch weiß ich, dass euch irgendetwas verbindet”, legte sie mir ihre Gedanken offen dar.
Am Liebsten hätte ich ihr auch davon erzählt, doch noch konnte ich es einfach nicht. Der Schock wäre für sie vermutlich viel zu groß. Außerdem wollte ich, dass sie sich von diesem Tag erholte. Wenn ich ihr dann noch erzählen würde, dass Jakob mein … nein, das konnte und wollte ich nicht. Vermutlich würde Krystal denken, dass ich genauso wie er war, was nicht stimmte.
“Weißt du, wer oder was mir aber auch zu Schaffen macht?”, hörte ich sie auf einmal fragen und musste meine Gedanken deswegen schnell beiseite schieben. Fragend sah ich sie an, da ich keinerlei Ahnung hatte, was sie meinte. Bedächtig langsam hauchte das Mädchen schließlich: “Du”. Nur ein Wort. Mich. Sie meinte mich. Aber wieso das denn? Mit geweiteten Pupillen starrte ich sie an.
Ermutigt von meinem Blick meinte Krystal: “Ich verstehe dich wirklich nicht, obwohl ich das schon gerne möchte. Auf der einen Seite bist du so verdammt hart, aber dann auch so sanft”. Sie hatte wirklich den Mut gehabt, mir das zu sagen. Ich musste schlucken. Und doch durfte ich meine Fassade nicht aufgeben. Dafür war es einfach noch zu früh. Viel zu früh.
Trotz allem wollte ich vorerst nicht wieder so kühl zu ihr sein, denn wann kam es mal vor, dass Krystal Knight sich mir öffnete? So gut wie nie. Daher stammelte ich: “Du wirst es schon bald verstehen”. Ihr Blick huschte von meinen Augen zu meinen Lippen, die ich halb geöffnet hatte. Unentwegt sah ich sie an, auch sie war nicht in der Lage woanders hinzusehen.
Mit einem leichten Lächeln signalisierte ich ihr, dass ich nichts dagegen hatte. Dann küsste sie mich. Hatte ich schon einmal erwähnt, dass sie verdammt gut küssen konnte und mich damit in Schwierigkeiten brachte? Nein, dann tat ich es eben jetzt. Umso distanzierter sie einst war, umso näher kam sie mir immer wieder.
Meine Hände legten sich wie von selbst auf ihren Rücken, wobei ich die rechte Hand auf ihren Nacken legte, um sie näher zu mir zu ziehen. Ich erkannte, dass sie die Nähe, die ich ihr schenkte, genoss.
Natürlich ging das auch nicht an mir spurlos vorbei, doch ich durfte ihr auf keinen Fall zeigen, wie ich wirklich war. Manchmal fragte ich mich, was wohl wäre, wenn ich ihr von Anfang an mein wahres Gesicht gezeigt hätte.
Vermutlich hätte mich das kleine Mädchen ausgelacht und wäre erst gar nicht mit mir mitgekommen. Nur war mir auch klar, dass ich ihr eines Tages von der Lüge erzählen musste. Die Lüge, die mit einem Schlag alles änderte und mir zum Verhängnis werden könnte.
Als ob Krystal gemerkt hätte, dass mich etwas zutiefst beschäftigte, entfernte sie ihre Lippen von meinen und sah mich mit großen Augen an. Ihren großen, wunderschön blauen Augen. “Ist irgendetwas?”, wollte sie leicht besorgt wissen.
“Nein, es ist alles in Ordnung”, log ich ihr eiskalt ins Gesicht. Ich musste es tun, hatte geradezu keine andere Wahl. Wenn sie sich erholt hatte, würde ich es ihr erzählen. Ja genau, dachte ich, dann würde ich ihr reinen Wein einschenken. Endlich.
Wein war ein gutes Stichwort. Dieses herrliche Genussmittel war einfach nur unglaublich. Nicht, weil das Mädchen dadurch mit mir geschlafen hatte, sondern weil es durch den Wein viel lockerer wurde. Ich erinnerte mich nur zu gerne an diesem Abend. Wie lebhaft Krystal da gewesen war!
Was sollte ich nun machen? Mal wieder war ich ratlos. Sie brachte mich um meinen kläglichen Rest Verstand. “Ich hätte das nie von Justin gedacht”, sagte das Mädchen auf einmal. “Wie bitte?”, wollte ich perplex wissen, da ich noch immer im Gedanken gewesen war. Krystal antwortete: “Er ist genauso mies wie Jakob, man könnte glatt meinen, dass die beiden Brüder wären”.
Ich erstarrte in sekundenschnelle. Zwar hatte sie diesen Satz bloß daher gesagt, doch hatte sie nicht den blassesten Schimmer davon, wie verdammt nah sie an der bitteren Wahrheit lag. “Was soll ich nur dazu sagen? Seine Nettigkeit ist nur Fassade, Justin ist in der Tat fast wie Jakob, nur hat er im Gegensatz zu deiner großen Liebe Respekt vor mir”, meinte ich seufzend.
Das Mädchen vor mir, sah mich überaus interessiert an. Es wollte also noch mehr hören. Gut, dachte ich, wenn ich schon einmal damit begonnen habe, dann konnte ich auch weiter damit machen. “Sagen wir es mal so, dass die adeligen Familien vor meiner mehr als nur Respekt haben. Wir gehören zu den einflussreichsten Menschen im Adel”, fuhr ich langsam fort.
Daraufhin wartete ich auf eine Reaktion von Krystal, die sie mir auch schon lieferte. Vorsichtig meinte sie: “Deine Familie hat also in der Tat Dreck am Stecken wie man so schön sagt? Warum ist dann Jakob zu dir so locker? Und wieso gibst du dich überhaupt mit Justin ab, wenn ihr eh keine Freunde seid? Warum hast du mich nicht vor ihm gewarnt?”.
Mit dieser Bombardierung von Fragen hatte ich allerdings nicht gerechnet. Jetzt musste ich wirklich auf passen, was ich sagte. “Ja, du hast mir allem recht. Das mit Jus ist immer so eine Sache. Er ist ein sehr wichtiger Mitarbeiter meiner Firma und daher brauche ich ihn. Warum ich dich nicht vor ihm gewarnt habe? Ich hatte Angst, dass du mir nicht glaubst und ich wollte, dass du selbst herausfindest, dass er alles andere als ein Gentleman ist”.
Dieses Geständnis hatte sie wohl etwas geschockt, denn Krystal wich zurück. “Du hast nun wirklich allen Grund auf mich sauer zu sein, aber denke daran, dass ich dich doch nicht alleine gelassen habe. Schließlich konnte ich nicht wissen, was Jakob mit dir vor hat und ich wollte es auch nicht wahrhaben, dass es genau er war, der … der dir dein armes kleines Herz gebrochen hat “, meinte ich leise und sanft, um die Situation zu entschärfen.
Zum Glück hatte ich Erfolg, denn das Mädchen flüsterte: “Du kannst zu mir zwar ziemlich kalt sein, aber auch richtig warmherzig. Ich weiß zwar nicht, ob ich je damit klar komme, doch möchte ich es versuchen. Danke, dass du für mich da bist”.
Was für schöne Worte. Sie berührten mich, denn es war sehr lange her, dass jemand so etwas in der Art zu mir gesagt hat.
Krystal schaffte es aber immer wieder, mich vor vollendeten Tatsachen zu stellen, aus denen ich mich nur schwer winden konnte. So wie auch jetzt, denn es war klar, dass sie nur darauf wartete, dass ich dazu etwas sagte. “Ist schon gut”, erwiderte ich und hoffte, dass ihr diese Antwort genügte.
Jetzt wollte ich nämlich etwas anderes wissen. “Sag mal, kann ich ihn lesen?”, fragte ich mit einem Blick auf das Stück Papier, was Krystal unentwegt in ihrer Hand hielt. Zögernd gab sie mir ihn schließlich und schwieg.
Umso mehr ich von dem Brief las, desto mehr spannte ich meinen Körper an. Ich konnte nicht glauben, was Jakob da geschrieben hatte, obwohl es zu ihm passte.
Er machte mich wütend, verdammt wütend. Wie konnte er dem Mädchen das nur antun? “Es ist okay so, ich war schließlich total naiv”, meinte Krystal und lächelte unter Tränen.
Dieser Anblick! Ja, sie lächelte wirklich. Es war nicht gespielt, sondern echt, ebenso die Tränen, die ihr nun unentwegt über die Wangen flossen. Ich strich sie ihr sofort weg und drückte sie an mich.
Zu meiner leichten Verwunderung aber befreite sie sich rasch und stand auf. “Ich bin nur hier her gekommen, um damit abzuschließen. Natürlich werde ich das nicht vollständig können, doch ist es ein erster Schritt in die Gegenwart”, sagte sie und nach diesen Worten ging sie zum Tisch, auf dem die anderen Briefe lagen. Dann tat sie etwas, womit ich nicht gerechnet hatte.
Rasch flogen die Schriftstücke in das Feuer des Kamins. Das Feuer loderte daraufhin auf. Ich fixierte sie erstaunt. “Warum hast du das getan? Und was für ein Video ist das, was Jakob erwähnt hat?”, bohrte ich nach, obwohl sie mir bereits vorher die Antwort auf meiner ersten Frage geliefert hatte.
Dennoch meinte Krystal: “Irgendwann muss ich doch mit meiner Vergangenheit abschließen und ich fange damit an, in dem ich die Briefe verbrenne. Das mit dem Video … ich kann es dir noch nicht erzählen, tut mir wirklich leid, aber das muss ich erst noch verarbeiten”.
Damit gab ich mich zufrieden, denn ich wollte sie nicht bedrängen, nachdem was heute alles so passiert war. Was war aber nun mit dem Brief, den ich noch immer in der Hand hatte? Ich drückte ihr ihn der Hand, wobei ich nebenbei meinte, dass ich das, was sie getan hat, sehr anerkennenswert finde.
Ein letztes Mal las sie die niedergeschrieben Zeilen von Jakob. Sie las die Zeilen laut vor. Ihre Stimme war zwar brüchig und ich merkte nur zu gut, dass sie weinte, doch ich signalisierte ihr, dass sie nicht alleine war, in dem ich hinter ihr stand und sie an den Schultern berührte.
Davon ermutigt wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und schmiss den Brief in das Feuer. “Lebe wohl, Jakob”, flüsterte sie kaum hörbar und schmiegte sich an mich. Ich ließ ihr gewähren, denn das, was sie soeben gemacht hatte, war mehr als nur mutig. Nicht einmal ich könnte das fertig bringen.
“Das hast du sehr schön gemacht”, lobte ich sie offen und ehrlich, woraufhin sie mich anlächelte. Eine glückliche Weile verharrten wir noch, ehe wir leider wieder zum Ernst des Lebens kommen mussten.
Mittlerweile waren seit dem Vorfall im Park ein paar Wochen vergangen. Ich hatte mich halbwegs beruhigt und auch wenn die Angst nach wie vor etwas an mir nagte, konnte ich schon wieder lachen. Tizian war mal nett zu mir und mal kalt. So war er eben. Mein Dunklie.
Es war Ende November und schon bald würde ich Geburtstag haben. Ob Tizi davon wusste? Bestimmt nicht. Ich würde ihm ganz sicher nichts sagen, da ich diesen Tag nicht an die große Glocke hängen wollte. Jedenfalls bereitete ich gerade das Frühstück vor, während der Mann mir dabei half. Kaum hatten wir jedoch aufgegessen, klingelte es an der mächtigen Eingangstür.
“Geh’ nur, ich räume das alles auf und wasche ab”, schlug ich ihm freundlich vor, doch Tizian erwiderte: “Das kann ausnahmsweise warten, ich wollte dich nämlich fragen, ob wir nicht eine Runde durch den Garten gehen wollen und nachdem ich die Störenfriede abgewürgt habe, können wir das machen. Natürlich nur, wenn du willst”. “Doch, klar. Liebend gerne”, antwortete ich sichtlich erfreut, woraufhin er mich anlächelte. Schließlich gingen wir sofort nach unten.
Von seiner guten Laune war augenblicklich nichts mehr übrig, als er die Tür öffnete. Vor uns standen zwei Personen. Eine Frau und ein Mann. Ich konnte erkennen, dass Tizian erstarrte. Sie musterten sich alle eingehend, ehe die Blicke der Fremden auf mich lagen. Mir fiel sofort auf, dass sie überaus streng wirkten. Sie erinnerten mich an das Foto, dass ich in dem skurrilen Zimmer im linken Flügel gefunden hatte.
Ich ertrug diese Stille schon fast gar nicht mehr, doch dann rührte sich zum Glück jemand. “Wer ist das?”, fragte die Frau mit so einer schneidenden Stimme, dass ich erschrocken zusammenzuckte. Himmel, woher konnte sie nur so dominant sprechen? “Ich bin Krystal und Sie sind?”, antwortete ich, doch Tizian hielt mich zurück. Was war denn nun?
Von da an verstand ich wirklich gar nichts mehr, da die drei in einer anderen Sprache miteinander redeten. Natürlich war es italienisch. Und wieder ärgerte ich mich immens darüber, dass ich nur deutsch und englisch konnte. So ein Mist aber auch!
Daher zog ich es vor die Fremden zu mustern. Irgendetwas musste ich ja tun, wenn ich schon nicht wusste, über was sie redeten.
Natürlich fing ich mit der Frau an. Sie hatte ihr langes schwarzes Haar zu einem Dutt frisiert und trug knallroten Lippenstift. Außerdem trug sie ein Kostüm, welches ihre Schultern spitzer, also dominanter machten. Meine Güte, ich hatte wirklich leichte Angst vor ihr! Selbst ihre Fingernägel waren schwarz lackiert.
Der Mann dagegen trug hellere Kleidung, die aber ebenso edel war wie die der Frau. Unter seinen beigefarbenen Mantel konnte ich so gut wie gar nichts erkennen, nur dass er eine schwarze Hose und weiße Schuhe trug. Natürlich nur das Feinste vom Feinsten. Snobs.
Die Stimmen von allen wurden während des Gespräches immer lauter, sie schrien sich schon fast an. Gott, hatte die Dame eine schrille Stimme! Das machte mich schier verrückt.
Tizian wurde immer blasser, was mich beunruhigte. Was war nur mit ihm los? Dennoch ließ er es sich nicht nehmen, auch etwas lauter zu werden.
Daraufhin gab ihm der Mann eine kräftige Ohrfeige. Hatte ich das eben wirklich gesehen? “Tizian…”, begann ich, als er zurückwich und sich seine rot gewordene Wange hielt. Wieder machte er nur eine abwehrende Handbewegung.
Warum tat er nichts dagegen? Von Jakob und Justin hat er sich schließlich auch nichts gefallen gelassen.
Wenn ich doch nur wüsste, um was es ging! Allerdings machte es mich stutzig, als der Name Giulia fiel. Was hatte sie denn damit zu tun? Vor allem zeigten die drei immer wieder auf mich, sodass ich mir schon etwas vorgeführt vorkam.
Kein Wunder also, dass ich mich auf die Treppen setzte. Erst als die Fremden gingen, war ich wieder gefragt.
Tizian lehnte sich einen kurzen Moment gegen die Tür, ehe er auf mich zu kam. “Wer war das?”, wollte ich sofort wissen, doch der Mann nahm nur sanft mein Handgelenk und zog mich zu den Treppen.
In mir breitete sich leichte Panik aus, da ich natürlich keine Ahnung hatte, was als Nächstes passieren würde. Als er jedoch die erste Tür zu seinem Schlafzimmer aufmachte, hatte ich eine erste Idee. Diese blieb aber auch nicht lange bestehen, da er einen anderen Weg ging. Was würde mich am Ende erwarten?
Endlich blieb Tizian stehen. Ich erschrak leicht, denn ich war in dem Zimmer gelandet, in dem er so seltsam gewesen war. Es war kein geringerer Raum als der am Ende des linken Flügels. Also führte ein Gang von seinem Schlafzimmer aus hierher. Interessant und doch irgendwie unheimlich.
Abwartend, aber ebenso gespannt, auf das, was Tizi als sagen würde, sah ich ihn an. Was wollte er mit mir ausgerechnet hier? Ich dachte, dass er diese vier Wände verabscheute. “Was … was ist denn?”, wagte ich mich zu fragen.
Tizian ging zu der Wand, die ich vor einiger Zeit voll stellen sollte und räumte die Ketten frei. Langsam und mit Bedacht strich er über die verrosteten Teile, ehe er flüsterte: “Diese Frau und dieser Mann, sie sind meine Eltern”.
Sofort horchte ich auf und spürte sofort, wie sich mein Herzschlag beschleunigte. Ich konnte nicht glauben, was ich soeben gehört hatte! “Sie waren es auch auf dem Foto gewesen, oder?”, mutmaßte ich, woraufhin er nur schwach nicken konnte.
Dann atmete der Mann tief durch und hauchte: “Du hattest recht, aber so was von”. Perplex stellte ich mich zwischen den Ketten und ihn, damit er mich ansehen musste und bohrte nach: “Mit was?”.
Er mied meinen Blick, in dem er auf dem Boden sah und die Augen schloss. “Mit … mit der Annahme, dass hier gefoltert wurde”. Hatte ich da eben richtig gehört? “Nein…”, stammelte ich, aber Tizian offenbarte mir noch etwas viel Schrecklicheres: “Doch, ich war es, der all das über sich ergehen lassen musste”. Das hatte er nicht wirklich gesagt! “Nein”, sagte ich erneut, völlig aufgelöst.
Tizian lief zu der Ecke, an der die Ketten und alle anderen Utensilien lagen und setzte sich auf den Boden. Seine Hände verkrampften sich in dem Stoffboden.
“Es ist aber so gewesen. Ich war jung und da macht man eben Dummheiten”, hauchte er und schluckte hart. Mit Tränen in den Augen entgegnete ich: “Das gibt aber deinen Eltern noch lange nicht das Recht, dich so zu behandeln!”.
Der Mann unter mir zuckte nur mit den Schultern und meinte: “Oh doch, gab es ihnen. Denkst du etwa, dass das Tiziano und Tatjana auch nur irgendwie interessierte, wie es mir dabei ging? Ich war einfach nicht der Sohn, den sie sich erhofft hatten”.
“Wie solltest du denn ihrer Meinung nach sein?”, wollte ich behutsam wissen und hoffte inständig, dass ich damit nicht seine Offenheit störte.
Ich hatte Glück, denn Tizian sprach weiter. “Ich sollte die schmierigen Geschäfte von meinem Vater übernehmen. Ich war es, der Giulia eigentlich heiraten sollte, um ihnen einen reinerbigen Thronfolger zu präsentieren. Sie als Adelige ist dafür perfekt und außerdem suchten auch ihre Eltern nach einem Mann für sie”.
“Erläutere mir das bitte genauer”, bat ich ihn, woraufhin er meiner Bitte nachkam: “Meine Familie hat viele Menschen auf dem Gewissen. Tiziano gehört zu einem der führenden Mafiosi Italiens und da ist es doch klar, dass ich als sein Sohn eines Tages sein Imperium leiten sollte. Die Sache mit Giulia ist die, dass wir seit Kindertagen aneinander versprochen wurden, obwohl wir nichts füreinander empfinden. Hauptsache wir sind adlig”.
Was für brisante Details! Nachdenken konnte ich aber auch nicht weiter, denn Tizian spie voller Verachtung: “Ich hasse Kinder!”. Warum das denn? Fragend sah ich ihn an, ehe er mir die Antwort lieferte: “Verdammt noch mal, Krystal! Es sind die armen, unschuldigen Kinder, die eines Tages zu Monstern werden! Das habe ich doch an mir selbst gemerkt!”. “Entschuldige”, flüsterte er sofort, als er meine geweiteten Pupillen sah.
Ja, er schien gerade wirklich keine Nerven zu haben. “Schon gut”, murmelte ich. Dann fuhr Tizian auch schon fort: “Mich verachten Tiziano und Tatjana eh. Ich bin nur eine Art Bastard”. “Was?”, wollte ich sofort wissen, woraufhin der Mann mit erstickter Stimme antwortete: “Eigentlich war meine Mutter nur eine Affäre, doch sie wurde schwanger mit mir. Mein Vater ist nur mit Tatjana zusammen, da diese ihn wegen seinen schmierigen Geschäften in der Hand hat. Seine arme Frau, Soraya, musste sich von da an um ihre drei Kinder alleine kümmern”.
Natürlich stellten sich mir neue Rätsel auf, die schon bald gelöst wurden. “Genauer bitte”, meinte ich und versuchte mich in ihn hineinzudenken. Tizi erläuterte: “Kannst du dich noch an Tabitha und Tara erinnern? Dann sind ihre Töchter”. “Aber das verstehe ich jetzt nicht so ganz, du bist doch der Älteste oder nicht?”, fragte ich verwundert nach. Auch hierfür hatte mein Meister eine Erklärung. “Ja, das ist richtig, aber mit Soraya war er schon einige Zeit zusammen, nur konnte sie ihm bisher nie einen Jungen schenken oder überhaupt ein Kind gebären”.
Für mich hörte sich das alles ziemlich komisch an. “Okay, das ist verständlicher, aber warum wollte er eigentlich bei ihr bleiben?”, wollte ich verständnislos wissen. Das konnte ich dann nämlich doch noch aus seinen bisherigen Erzählungen herauslesen.
Auf keinen Fall wollte Tiziano mit der Mutter von ihm zusammenbleiben. Das mit der Mafia war nun klar. Nur auf meine gestellte Frage hatte ich keine Antwort, daher hatte ich ihn auch danach gefragt.
Tizian überlegte, er schien nach den richtigen Worten zu suchen, ehe er meinte: “Nun, sie wurde ihm versprochen. Von beiden Eltern. Sie war Türkin und du wirst nur zu gut wissen, dass die Frauen dort verheiratet werden. So auch bei mir. Natürlich ist mein Vater Italiener und normalerweise werden Frauen an türkische Männer gebunden, aber der Vater von Soraya war ein enger Freund von meinem Vater. Daher hatten sie jene Vereinbarung getroffen”.
Dieses Mal war ich es, die schwieg. Sogar beharrlich. Okay, Tabitha und Tara waren seine Halbschwestern, was war aber dann mit dem dritten Kind?
Als ich genau das bei Tizian nachhakte, erstarrte er. Es war fast genauso schlimm wie vorhin. Immerhin sah er endlich mal zu mir auf, nur um mich noch mehr zu schocken. Mit Tränen in den Augen flüsterte er: “Es ist Jakob. Mit Fratello meinte er nichts anderes als Bruder”.
Panisch wich ich zurück. “Nein … nein, nein, nein!”, schrie ich völlig von der Rolle. “Krystal, ich …”, fing er an, doch ich unterbrach ihn. “Sag mir nicht, dass das wahr ist!”, stammelte ich aufgebracht unter Tränen und brach zusammen. Wieder einmal. Jetzt hatte ich wenigstens einen triftigen Grund.
Sie waren Brüder! Brüder! Kein Wunder, dass Jakob Tizian in den Brief erwähnt hat und auch die Andeutungen waren nicht nur frei erfunden. “Ich bin nicht so wie er, das musst du mir glauben!”, hörte ich Tizi nur gedämpft sagen. Ich weinte Rotz und Wasser, da mich dieses Geständnis zutiefst geschockt hatte.
Als der Mann jedoch seine Arme um mich legte, schlug ich um mich, nur um mich in dem nächsten Moment in seine Arme zu stürzen. Dort konnte ich nur zu deutlich wahrnehmen, dass sich Tizian zurückhalten musste. Sonst würde er vermutlich auch noch in Tränen ausbrechen.
Sein gesamter Körper bebte, er zitterte am ganzen Leib. “Es tut mir so leid … so verdammt leid”, sagte er und unterdrückte ein Schluchzen. Ich war nicht in der Lage auch nur irgendetwas zu sagen. Der Schock saß einfach zu tief.
“Sag doch etwas, bitte”, flehte mich Tizian mit so einer herzzerreißenden Stimme an, dass ich nur noch mehr weinte.
Meine große Liebe war der Bruder meiner ersten Liebe. Der Person, die mir alles genommen hatte, was mir wichtig war. Konnte ich Tizi da noch vertrauen? Ich wusste es nicht, dennoch stammelte ich: “Es ist unmöglich, mich von dir fernhalten zu wollen oder zu können“.
Damit gab ich ihm wohl eindeutig zu verstehen, dass ich nicht das Weite suchen wollte, denn der Mann über mir atmete erleichtert, aber noch immer nicht ganz zur Ruhe gekommen, aus.
Wieder war da zwischen uns diese unangenehme Stille, die Tizian erneut durchbrach. “Er sollte eigentlich die Firma übernehmen und nicht ich, da hat er schon recht”, sagte er leise. Erneut sprach er ein heikles Thema an. Wegen ihm war schließlich mein Vater in den finanziellen und sozialen Ruin gekommen. “Warum hast du es dann getan?”, wollte ich mit zittriger Stimme wissen.
Leiste antwortete er: “Um frei zu sein. Einen anderen Grund gab es für mich nicht. Ich wollte doch niemals deine Familie zerstören”. “Um frei zu sein?”, hakte ich weiter nach, woraufhin Tizian mir eine ausführlichere Antwort lieferte. “Mein Leben gleicht dem eines Aufstieges und Falles. Habe ich mich so benommen, wie meine Eltern es gewünscht haben, war ich ein Held, doch kaum war ich so, wie ich eigentlich sein wollte, nämlich ein ganz normaler Junge, der viel Mist baute und sich austobte, dann war ich ein Nichts und-”.
Ich hob abwertend die Hand. Das musste ich erst einmal verarbeiten. Ihm erging es fast genauso wie mir? Das war wirklich unglaublich! Wenn ich ihn jemand verstehen konnte, dann ich. Also in der Hinsicht.
“Und als eben dieses Nichts gingen meine Eltern oder besser gesagt mein Vater mit mir hier her und … er probierte wirklich alles Mögliche an mir aus. Er kettete mich nackt an der Wand an und peitschte mich aus. Wenn er sehr wütend war, was nicht selten der Fall war, dann schlug er mich mit Bambusstecken. Ihm bereite es doch pures Vergnügen zu sehen, wie ich versuchte, mich zu befreien und wie sich dadurch die Dornen der Ketten in meine Handgelenke bohrten”, nuschelte er leise.
Deswegen hatte sich Tizian die Ohrfeige von seinem Vater geben lassen. Anscheinend wollte die Angst um weitere Folterungen nicht von ihm weichen oder der Respekt vor Tiziano war nach wie vor da.
“Wie grausam”, entfuhr es mir überaus mitleidig, was Tizi nur mit einem bitteren Lachen zu seiner Kenntnis nehmen konnte.
Nachdem er wieder ruhiger geworden war, sagte er: “Ich wurde immer so behandelt, anders kannte ich es nie. Verdammt, ich bin doch der Älteste und ich bin es, der eigentlich einer der gefährlichsten Mafiabosse von Italien werden sollte! Das bin aber nicht ich, genau deswegen habe ich durch einen Trick mir die Firma an den Nagel gerissen und als ich sie hatte, nach und nach meinem Vater die Villa abgekauft!”.
Er schien immer mehr den Verstand zu verlieren. Auch wenn ich ziemlich erschüttert von den Geschichten war, wollte ich Tizian zur Seite stehen. Ich wollte seine gesamte Geschichte hören, allein deswegen war ich hier.
Kein Wunder also, dass ich fragte, was danach passiert war. Er antwortete mir: “Jakob konnte ich schon vor über vier Jahren rausschmeißen, danach ist er zu seiner Mutter in die Türkei, zu der ich übrigens ein relativ gutes Verhältnis habe. Meine Eltern setzte ich erst letztes Jahr vor die Tür. Tabitha und Tara haben sich eine eigene Bleibe gesucht”.
Das ergab durchaus Sinn. Also das mit Jakob. Der Zeitraum passte sowieso. “Und was haben deine Schwestern zu allem gesagt?”, wollte ich wissen. “In meiner Familie sind das die beiden einzigen, mit denen ich gut umgehen kann. Sie sind wirklich liebe Menschen und sie halten mich nicht für verrückt”, ließ er mich ohne Zweifel wissen. Mittlerweile hatte er sich nämlich etwas beruhigt.
So war das also gewesen. Er hatte das mit der Firma nur getan, um sich die Villa von seinem Vater zu kaufen. Ja, das war durchaus wahre Freiheit.
“Und Giulia war für mich da. Deswegen kann ich in ihr auch nie mehr als meine beste Freundin sehen. Sie hat all das mitunter ansehen müssen”, fuhr Tizian fort und riss mich damit aus meinen Gedanken.
Schon wieder fiel das Thema auf die Frau, die ich mochte, obwohl ich sie so gut wie gar nicht kannte. Jedenfalls hatte sie das mit gemeinsamer Vergangenheit gemeint. “Was sagen eure Eltern dazu?”, fragte ich ihn, woraufhin er mit dem Kopf schüttelte. Oh je, da hatte ich wohl erneut alte Wunden aufgerissen. Jedenfalls war es jetzt zu spät.
Tizian antwortete sogar darauf: “Wir wehren uns nach wie vor gegen ihre Abmachung. Man kann keinen Menschen zwingen jemanden zu lieben. Zum Glück sieht Lia das genauso wie ich und außerdem gibt es nur eine einzige Frau für mich. Und daran halte ich auch fest, da ist es mir gleichgültig, was unsere Eltern wollen”. Ich errötete und sah sofort in eine andere Richtung.
Sein Herz war also schon an eine Frau vergeben. Warum um alles in der Welt hat er mir sie noch nie vorgestellt? Gott, damit nicht genug, hat er sie mit mir betrogen! Was sollte ich nur davon halten? “Was ist mit dir? Du bist so blass”, schaltete sich Tizian sofort ein und sah mir genau in die Augen.
Sollte ich ihm von meinen Gedanken Bericht erstatten oder nicht? Nein, das stand mir nicht zu. Der Kerl ging auf die dreißig zu, also wird er schon wissen, was er tat. “Ach, alles okay. Ich muss das alles nur verdauen. Immerhin ist es das erste Mal, dass du mir so viel von dir erzählst”, beschwichtigte ich ihm.
Zum Glück schien er keinen Verdacht zu schöpfen, da er meinte: “Mehr gibt es auch nicht mehr zu erzählen, außer dass ich einst auch Di Falcenstein mit Nachnamen hieß, ihn aber eindeutschen ließ, damit ich mit meinen Eltern nicht in Verbindung gebracht werden kann. Ich bin nämlich kein Verbrecher so wie sie und nun ja, mein Vorname wurde von meinen Eltern eingedeutscht. Möchtest du noch etwas wissen?”.
“Ja, ich denke schon. Vielleicht eine ganze Menge. Zum Beispiel interessiert es mich, warum dein Zimmer so Abseits in der Villa ist”, fing ich an, ihn auszufragen.
Überrascht sah er mich an. Damit hatte er wohl nicht gerechnet, dennoch stand der Mann mir Rede und Antwort. “Meine Eltern wollten mich von anderen isolieren und außerdem wurde ich da unten zum Lernen geschickt”.
“Lernen ist ein gutes Stichwort. Warum hast du mir nie davon etwas gesagt, dass du Psychologie studierst?”, ging ich auf das, was er vorher gesagt hatte, ein.
Seine Pupillen weiteten sich daraufhin. Oh Mist, bin ich etwa wieder in ein Fettnäpfchen getreten?
“Woher weißt du davon?”, wollte er stammelnd wissen. Warum schockierte ihn das so? “Ähm, Giulia hat es mir gesagt”, antwortete ich wahrheitsgemäß und wusste nicht, wie mir geschah.
Hoffentlich war er nicht sauer auf sie. Lia hatte es schließlich auch nur gut gemeint.
“Warum ich dir nie davon etwas erzählte? Aus Angst, dass du davon Wind bekommen könntest, dass ich damit meine Vergangenheit verarbeiten wollte. Und es interessiert mich wirklich, was in den Köpfen der Menschen vorgeht”, murmelte Tizian und da dämmerte es mir.
Ich erinnerte mich noch gut an das, was er einst gesagt hatte, als wir uns noch nicht lange kannten. Dass er es lieben würde, hinter den Fassaden anderer zu blicken. Nun wusste ich Bescheid.
Nur wollte ich auch etwas zu einem bestimmten Thema wissen.
“Die Narbe an deinem Oberkörper, woher stammt sie? Also was hat dein Vater dir da genau angetan und wieso sieht man nur diese Narbe? Was ist mit den anderen?”. Die Fragen waren mir nur quälend langsam über die Lippen gegangen.
Augenblicklich versteifte sich Tizi erneut.
“Entschuldige, ist schon gut…”, begann ich, doch zu meiner leichten Überraschung stand er auf und blickte zu der Folterecke.
“Als er das getan hat, war ich schon längst bewusstlos geworden. Ich muss zwölf gewesen sein, kein Wunder also, dass ich rasch das Bewusstsein verlor”.
Das war ziemlich heftig. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte und fragte ihn daher, was sein Vater mit ihm angestellt hatte. Er meinte sichtlich betroffen: “Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was er tat, nachdem ich weg war. Ich weiß nur noch, dass ich Feuer gesehen habe”. Wie schlimm und krank, schoss es mir nur durch den Kopf.
Tizian ging auf mich zu und setzte sich genau neben mich. Unsere Knie berührten sich sogar, was mich unglaublich nervös werden ließ.
“Ich wachte in einem Krankenhaus für Spezialfälle auf. Alleine. Niemand war da, nur Tabitha und Tara besuchten mich heimlich, meine Eltern dagegen nie. Sie meinten, so würde ich am besten nie mehr auf die Idee kommen, mich ihnen zu widersetzen. Deswegen haben sie mir auch diese Narbe gelassen, alle anderen wurden von den Spezialärzten entfernt”, hauchte er mir in mein eines Ohr und ehe ich nach Luft schnappen konnte, zog er mich an sich.
Natürlich ließ ich ihn gewähren. Er brauchte das gerade mehr als sonst. Soweit ich wusste, hatte er sonst niemanden. Außer Giulia und mich.
“Wie kann man nur so grausam sein?”, entfuhr es mir schluchzend, da auch mich das ganze mitnahm.
“So ist nun einmal das Leben, Krystal. Halte dich nicht auf mit Dingen, die man sowieso nicht mehr verändern kann“, wich er mir aus.
Nein, so leicht würde ich mich damit nicht zufrieden geben!
Flüsternd erwiderte ich: „Das stimmt, jedoch kann man versuchen, das Beste aus den Dingen zu machen. Du musstest Qualen über dich ergehen lassen, die unvorstellbar sind. Ja, auch dich hat deine Vergangenheit geprägt“.
Aus einem plötzlichen Impuls heraus legte ich seine Hand in meine und drückte diese leicht. Sofort schlossen sich seine Finger um meine. Dabei war der Griff schon etwas stark.
“Du brauchst keine Angst haben, dass ich dich verlassen könnte”, ließ ich ihn beruhigend wissen und meinte es auch wirklich so.
Daraufhin mied er meinen Blick. Dem Mann schien das wohl alles ziemlich unangenehm zu sein. Kein Wunder, bei dem was er erlebt hatte.
Im nächsten Moment sah er dann doch auf und da konnte ich es erkennen: Seine Augen waren über und über mit Tränen gefüllt. Tränen, die einfach nicht fließen wollten oder sollten. Wie auch immer, es schockierte mich auf einer unbeschreiblichen Art und Weise, denn ich war mittlerweile felsenfest davon überzeugt, dass man seinen Gefühlen freien Lauf lassen sollte.
Und damit sprudelten auch die letzten Details meiner Vergangenheit aus mir heraus.
“Dieses Video, dass Jakob in seinem Gespräch erwähnt hat, es ist schrecklich”, begann ich schließlich langsam und atmete tief durch. Ich wollte ihm davon nicht mit einer weinenden Stimme berichten. Interessiert sah mich Tizian an, der sich mittlerweile etwas beruhigt hatte.
Gott, wo sollte ich nur anfangen? “Es war im Urlaub in der Türkei vor über vier Jahren. Jakob schmiss mal wieder eine seiner Partys”, sagte ich, woraufhin Tizian meinte: “Die hat er auch schon gerne hier geschmissen”. “Es ist unglaublich, wie sehr sich die Villa verändert hat. Mir gefällt sie so wie sie jetzt ist viel besser, denn sie hat so einen eleganten, aber dezenten Stil verdient”, pflichtete ich ihm bei, was den Mann lächeln ließ.
Sein hinreißendes Lächeln! Ob er wohl wusste, wie schön es war? Ich war mir da nicht so sicher, doch leider konnte ich mich davon nicht ablenken lassen. Oder besser gesagt sollte ich es nicht. Daher erzählte ich weiter. “Die Party war im vollen Gange und Jakob besorgte mir immer mehr Drinks. Ich kam schon bald gar nicht mehr nach mit dem Trinken”, fuhr ich fort.
Kurz sah ich zu Tizian, dessen Blick sich schlagartig verdunkelt hatte. Ob er wohl ahnte, was ich als Nächsten erzählen würde? Ich atmete tief ein und aus, ehe ich entsetzt meinte: “Er wollte mich abfüllen, um mit mir zu schlafen!”. Es war mir so verdammt unangenehm, Tizian genau das zu beichten, sodass ich mein Gesicht in meine Hände vergrub.
Ich konnte ihn genau hören, wie er sehr scharf die Luft einzog. Warum tat er das? Hoffentlich rastete er nicht aus, denn mir war schon vorher nicht entgangen, dass er Jakob nicht mochte. Wenn es nur das wäre! Das war schon purer Hass, was ich schon fast verstehen konnte. Im Gegensatz zu ihm hatte ich mir vorgenommen, niemanden mehr zu hassen, was aber nicht hieß, dass ich mir in Zukunft alles gefallen lassen würde.
Kaum merklich spürte ich, wie mir Tizi zärtlich über den Arm strich. Dann sagte er leise, aber bedrohlich: “Dieses Arschloch hat dir wirklich übel mitgespielt”. “Ist schon gut, vielleicht habe ich es nicht anders verdient. Ich war schon verdammt naiv zu glauben, dass so jemand wie er ausgerechnet so jemand wie mich lieben könnte”, stammelte ich den Tränen nahe.
Daraufhin zog mich Tizian zu sich heran. Dann nahm er meinen Kopf so in seine Hände, dass ich ihn ansehen musste. Er ließ mir keine andere Wahl. Während mir die Tränen nur so über die Wangen rollten, strich er jede einzelne weg und flüsterte: “Und wie du es anders verdient hast, Krystal. Du kannst doch nichts dafür, du warst jünger und wie du schon sagtest, naiv. Verdammt naiv. Ich wünschte nur, wir hätten uns schon da gekannt”.
Mit einem Mal wurde mir verdammt warm, gar heiß. Die Hitze breitete sich so schnell in mir aus, dass ich am liebsten zurückgewichen wäre, doch es ging nicht. Mit der Stirn runzelnd fragte ich: “Warum glaubst du das?”. “Glauben tut man nur an Dinge, die nicht existieren”, antwortete er mir sanft und fuhr ebenso ruhig fort: “Noch nie habe ich so jemanden wie dich kennengelernt. Du bist wie eine Rose, die nur darauf wartet, in voller Pracht zu erblühen”.
Meine Güte, er konnte so ein Romantiker sein, wenn er wollte! Innerlich begann ich zu schmelzen, denn das hatte noch nie jemand zu mir gesagt. “In dir steckt so viel mehr, als man auf dem ersten Blick erkennen kann. Eines Tages wirst du eine sehr begehrte junge Frau sein”, sagte er zu mir und blickte mir genau in die Augen. Ehe ich darauf etwas erwidern konnte, meinte Tizian überaus leise und traurig: “Und ich? Ich werde dann nur jemand sein, der für gerade mal ein Jahrzehnt in dein Leben getreten ist. Ich werde nichts weiter, als eine unbedeutende Person sein, die du dann bestimmt sehr schnell vergisst”.
Daraufhin wurde mein Herz schwer. Sehr schwer. Mit Tränen in den Augen krächzte ich: “Gar nichts wirst du davon sein, hörst du? Du bist für mich unvergesslich, ich werde mich für immer an dich erinnern, egal was auf mich noch zukommen mag!”.
Täuschte ich mich oder weiteten sich die Pupillen von Tizian wirklich kaum merklich? Er schien von meiner Aussage erstaunt zu sein. Daran hatte ich keine Zweifel, denn alles was er in diesem Moment tun konnte, war nur mich sprachlos anzustarren. Kaum hörbar sagte er: “Einst waren meine Gedanken fast leer, geradezu starr, mein Inneres zerrissen - zerrissen von so vielen Geheimnissen, die an mich zerrten. Ich war nicht einmal annähernd in der Lage gewesen, diese auch nur irgendjemanden kundzugeben, bis ich dich traf”.
Selten erlebte ich ihn so emotional wie jetzt. Kein Wunder, bei dem, was er alles in seiner Kindheit so durchmachen musste. Mich störte es dabei nicht im Geringsten, dass er mich unterbrochen hatte, ihm das von der Party zu erzählen. Darauf würden wir ganz bestimmt zurückkommen. Er war mir jetzt wichtiger.
Wieder umarmten wir uns gegenseitig und schwiegen uns an. Nach einer gefühlten Ewigkeit sprach Tizian endlich weiter. “Zerrissenheit, Angst, Trauer, Unsicherheit, Selbsterniedrigung und all der Rest meiner Vergangenheit - alles war vergraben in den Ecken meines Verstandes, der nur auf entscheidende Momente wartete. Manchmal, in ziemlich schwachen Momenten meinerseits suchte mich meine Vergangenheit mit einer dunklen Kralle heim, die mich dazu zwang, mir zu wünschen, nie geboren zu sein”, stammelte er wie in Trance vor sich hin und ich zweifelte daran, dass er wusste, dass er nicht alleine war.
Tizian schockierte mich damit nämlich zutiefst. Natürlich hatte ich auch solch düstere Gedanken gehabt, doch diese existierten schon lange nicht mehr. Zumindest nicht in so einer dunklen und starken Ausprägung. Ich war nicht in der Lage auch nur irgendetwas zu sagen, bis Tizian schließlich zu Ende sprach: “Die Illusion von einer schönen Welt, die ich mir selbst gemacht habe, sie war so perfekt und doch fernab - fernab von dieser leidvollen Realität”.
Mir gefror beinahe das Blut in den Adern. Diese Kälte, die ich gerade spürte, würde mich schon fast auf die Knie zwingen, wenn ich nicht schon an der Wand lehnen würde. “Tizian, denke doch nicht so etwas. Ich kenne da so einen Spruch, der besagt, dass die Dinge nicht immer das sind, was sie zu sein scheinen. Sie sollen immer das sein, was man aus ihnen macht”, meinte ich schließlich vorsichtig.
Einen Moment lang schwieg Tizian, ehe er sagte: “Vielleicht hast du Recht, aber es gibt eine Menge, das ich in meinem Leben ändern muss”. Oh, er sprach nun von Veränderung. Wollte er mich etwa nicht mehr sehen? “Guck nicht so, Krystal. Ich habe Fehler gemacht, die ich schnellsten korrigieren sollte, auch was dich betrifft. Nur muss ich dafür die richtigen Momente finden”, nuschelte er, als er sah, wie ich ihn nur überaus geschockt anstarrte.
Was meinte er denn nun schon wieder? Im nächsten Moment lächelte mich der Mann so überaus verträumt an, dass ich hart schlucken musste. Dieses Lächeln. Warum um alles in der Welt legte er es so selten an den Tag? Warum musste Liebe überhaupt kompliziert sein? Konnte es denn nicht einmal so sein, wie in einem dieser Filme, in denen die Liebenden zueinander fanden?
Im nächsten Augenblick sah mich Tizian jedoch wieder ernst an. In mir breitete sich sofort ein ungutes Gefühl aus und im Nu war ich in höchster Alarmbereitschaft. “Was war eigentlich nun noch auf der Party? Was war danach?”, fragte er mich. Anscheinend hatte er ernsthaftes Interesse an der ganzen Geschichte mit Jakob.
Ich konzentrierte mich, um ihm eine Antwort zu liefern. “Natürlich habe ich dem nicht zugestimmt. Mit meinen fünfzehn Jahren fühlte ich mich noch nicht reif genug, um mit einem Mann zu schlafen. Das fand er nicht so toll”, sagte ich und senkte meine Stimme.
Nachdem, was ich erzählt hatte, schien Tizi zu grübeln und ich fragte mich, ob er ahnte, dass es niemand Geringeres als er war, mit dem ich das erste Mal Sex gehabt hatte. Hoffentlich nicht. Sonst würde ich wahrhaftig im Erdboden versinken wollen. Anderseits, was war schon so schlimm daran? Gar nichts, also musste mir dieses Thema auch nicht länger unangenehm sein.
Wie viele Male hatte ich bereits gehört, dass es Menschen bereuten, ihre Unschuld an den Erstbesten verschwendet zu haben? Dazu konnte ich mich schon mal nicht zählen. Schließlich hatte ich aus Liebe mit Tizian geschlafen und die konnte mir niemand nehmen. Nicht einmal er.
Besagter Mann sah mir genau in die Augen und wollte leise wissen, was dann passiert war. “Ich war so berauscht von dem Alkohol, dass ich … nun ja, ich machte mich auf der Party zum Affen, wie man so schön sagt. Anstatt aufzuhören, habe ich immer mehr getrunken und wurde immer unkontrollierter. Das ging sogar so weit, dass ich in Unterwäsche auf den Tischen tanzte”, gab ich beschämt zu.
Gott, das war so verdammt peinlich! Hoffentlich stellte sich Tizian nicht diese Situation vor. Zumal er mich auch schon in Unterwäsche und nackt gesehen hatte. “Lass mich raten, Jakob hat sich genau das irgendwie zu Nütze gemacht”, mutmaßte Tizi und traf damit genau in das Schwarze. Ich nickte nur schwach. Dann meinte ich: “Exakt. Ich musste mich mehrmals auf der Party übergeben und er? Er hat sich kein Stück um mich gekümmert, im Gegenteil er hatte seinen Spaß”.
Müde strich ich mir durch mein Haar, als Tizi sagte: “Keine schöne Geschichte, die du mir da erzählt hast”. “Ich war noch nicht fertig”, flüsterte ich leise. Sofort verstummte Tizian und sah mich gespannt an. “Am nächsten Morgen hatte ich erst einmal einen unschönen Filmriss. Ich hatte gar keine Ahnung, was am vorherigen Abend passiert war und dann …”, stammelte ich und brach in Tränen aus.
Sofort war der Mann, der mir aufmerksam zuhörte, zur Stelle und nahm mich in seine Arme. Kaum merklich wisperte ich schließlich: “Alle waren aufgeregt mit ihren Handys und Laptops beschäftigt. Jakob hatte allerlei Videos und Bilder von mir machen lassen. Verdammt, ich hätte nicht so leichtsinnig sein sollen!”. “Er hat dich im Prinzip vor versammelter Mannschaft bloßgestellt”, bemerkte Tizian überaus betroffen, woraufhin ich nur schwach nicken konnte.
Nun musste ich auch zum ersten Mal seit ich auf ihn getroffen hatte, meine ehemaligen Freunde erwähnen. Auch das würde mir schwer fallen. “Zu der Zeit hatte ich sogar noch Freunde, doch nachdem sie das alles gesehen hatten, wandten sie sich von mir ab. Wirklich jeder ließ mich allein, dabei wissen sie bis heute nicht, wie die bittere Realität ist”, schluchzte ich aus einen Anflug von tiefer Pein.
Ich vergrub mich voll und ganz in den Hoodie von Tizian. Dieser legte abermals seine Arme um mich und streichelte mich. Sanft fuhr er immer wieder über meinen Rücken und Kopf. Er wusste nur zu gut, dass ich das bitter nötig hatte und ich war ihm dafür ungeheuer dankbar.
Welch Ironie dieser Tag doch hatte! Vor kaum einer Stunde war er es noch, der mich brauchte und jetzt war ich es, die ihn brauchte. Das erinnerte mich schon fast an ein Pärchen. Wir waren füreinander da und so sollte es in einer Beziehung auch sein. Mir war aber auch ebenso klar, dass Tizi und ich natürlich kein Paar waren. Wie denn auch? Ich war mir nicht einmal sicher, ob wir so etwas wie Freunde waren.
Vermutlich konnte man unser Verhältnis, das wir zueinander hatten, nur als das eines Meister und einer Sklavin beschreiben. Er konnte mit mir machen, was er wollte und ich ließ es über mich ergehen. Dabei wollte ich doch nur seine Nähe! Ich wollte die sein, die er liebte.
Das tat hier aber nichts zur Sache, denn ich musste Tizian noch erzählen, wie schlimm das alles für mich vor über vier Jahren war. “Sie lachten mich alle aus, wendeten sich von mir ab und mobbten mich deswegen. Ich musste mich allein gegen meine ehemals besten Freunde behaupten und seitdem schwor ich mir, dass ich niemanden mehr vertrauen wollte, konnte, sollte, wie auch immer. Für mich verlor das Wort Vertrauen an Bedeutung”, nuschelte ich niedergeschlagen.
Nach meinen doch sehr ehrlichen Worten nahm ich deutlich wahr, dass Tizian davon nach Luft schnappte. Was hatte er denn nur? “Das ist also der Grund, weshalb du so bist, wie du bist?”, fragte er ungläubig. Zustimmend seufzte ich. Na klar, er fand das ziemlich übertrieben und vielleicht mochte das auch stimmen, doch die Ansicht lag bekanntlich immer in den Augen des Betrachters.
Daher würde ich auch nicht austicken, warum denn auch? “Und was hat das mit Adeligen zu tun? Ist es, weil Jakob einer war und dich so bloßgestellt hat?”, bohrte Tizian weiter nach. Ich antwortete ihm: “Da hat er mir doch erst sein wahres Gesicht gezeigt. Für euch Adeligen gibt es doch nie ein Nachspiel, so auch nicht für ihn. Man hat die Party so abgestempelt, dass ich nie das Zeug dazu gehabt hätte, eines Tages mit Jakob eine entsprechend vornehme Familie zu gründen”.
Das musste der Mann, der mich nach wie vor fest in seinen Armen hielt, sacken lassen. Vielleicht kam ihm auch Einiges bekannt vor. Ich wusste es nicht. Wollte es auch nicht. “Er hat dir die Seite der Aristokraten gezeigt, die fälschlicherweise in den Medien dargestellt wird. Das tut mir verdammt leid für dich, dennoch hege ich die Hoffnung, dass du eines Tages wieder Vertrauen in Menschen fassen kannst”, fasste Tizian noch einmal das Wesentliche zusammen.
Was sollte ich dazu nur sagen? “Das tue ich bereits”, flüsterte ich kaum hörbar, sodass Tizi wissen wollte, was ich gesagt hatte. Unschuldig schüttelte ich mit dem Kopf und meinte gebrochen von den Erinnerungen: “Am nächsten Morgen wachte ich jedenfalls irgendwo alleine in einer Ecke auf. Als ich es irgendwie geschafft hatte, mich mit einem Mordskater zu Jakob zu schleppen, habe ich ihn … mit anderen Frauen in seinem Bett vorgefunden”.
Und da schienen all meine Dämme, die ich so mühsam versucht hatte, zu bewachen, sich aufzulösen. Das Ende von dieser Situation war schließlich, dass ich hemmungslos weinte und gar nicht mehr aufhören wollte. Jetzt wusste Tizian über alles Bescheid. Er konnte nichts anderes tun, als mich schweigend und von meinen Erzählungen betroffen in seine starken Arme zu halten. Er wollte mich gar nicht mehr loslassen. Er war aber für mich da. Das war die Hauptsache.
Es muss Anfang Januar, zwei Wochen nach meinem Geburtstag, gewesen sein, als ich diese zunächst schockierende Entdeckung machte. Tizian und ich gingen wieder relativ normal miteinander um. Wir waren nicht die dicksten Freunde, aber uns auch nicht fremd. Schon seit einigen Tagen, gar Wochen, fragte ich mich, was mit mir los war. Ich war schon längst überfällig mit meiner Regel.
Eigentlich brauchte ich mich darüber nicht wundern, denn ich war seit Monaten sehr gestresst. Die Sorgen überwogen aber natürlich. Die werden vergehen, schoss es mir durch den Kopf.
Ein lautes Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. “Was ist?”, fragte ich bissig und wunderte mich im nächsten Moment darüber, dass ich sehr gereizt klang. Zögerlich antwortete Tizian: “Ich wollte dich nur fragen, ob du nach dem Essen mit mir in die Stadt fahren möchtest”.
Sofort fühlte ich mich schlecht. Da fragte mich der Mann, den ich liebte, ob wir zusammen etwas machen wollten und ich war total zickig zu ihm.
Rasch schloss ich die Zimmertür auf und trat hervor. Zum Glück sah ich nicht so gestresst aus, denn sonst würde mich Tizian eines Tages wohl wirklich noch für eine Vogelscheuche halten.
“Also?”, meinte er schmunzelnd, woraufhin ich ihn verständnislos ansah. “Na ob du nun mit willst oder nicht”, half er mir lachend auf die Sprünge. Ich stieg mit ein und gab ihm ein Ja. Doch erst einmal begaben wir uns in die Küche um zu essen.
Eigentlich bekam ich überhaupt keinen Bissen runter und das obwohl Tizian uns einen sehr schmackhaften Sauerbraten zubereitet hatte. Es schmeckte köstlich! Und was machte ich? Nichts, außer gedankenverloren in dem Essen herumstochern. Dafür könnte ich mich schon wieder ohrfeigen.
Wieder war es Tizian, der sich zuerst rührte. “Schmeckt es dir nicht? Oder ist etwas?”, wollte er überaus besorgt von mir wissen. Erschrocken zuckte ich zusammen und antwortete: “Quatsch, der ist wirklich gut”.
Skeptisch sah mich der Mann an, dann meinte er: “Sicher? Du siehst ziemlich blass aus, als ob dich irgendetwas bedrückt”. Verdammt, sah man mir das etwa wirklich an?
Was sollte ich denn nun tun? Tizian war schließlich nicht dumm. Nie und nimmer würde ich ihm aber die Wahrheit sagen! “Es ist aber nichts!”, erwiderte ich scharf und schüttelte heftig mit dem Kopf.
Um nicht noch mehr von ihm ausgefragt zu werden, erhob ich mich von meinem Platz und wollte die Flucht ergreifen, doch natürlich wurde ich aufgehalten.
Er stand direkt vor mir, als er mir schweigend in die Augen sah. Er wollte mich also prüfen. Na gut, dachte ich, dann lasse ich die Show mal beginnen. Zuerst gab ich keine Regung von mir, doch dann brach ich in schallendes Gelächter aus.
“Was ist daran so lustig, dass ich mir Sorgen um dich mache?”, wollte Tizi unvermittelt wissen. “Wenn du dein Gesicht sehen würdest, dann wüsstest du warum”, prustete ich laut los und hoffte, dass diese Ablenkungsmanöver funktionierte.
Glücklicherweise schien der Mann vor mir wirklich zu glauben, dass mit mir alles in Ordnung war, denn er schmunzelte mich nur an und tätschelte mir den Kopf. Dabei wusste er nicht, wie es mich rührte, dass er sich um mich sorgte.
“Gehen wir nun in die Stadt?”, fragte ich ihn, um nicht noch sentimental zu werden, woraufhin er mich annickte.
Nach einigen Minuten waren wir endlich in dem großen Einkaufszentrum, an dem ich mich eines Abends betrunken hatte. Es war schon irgendwie gruselig, genau an diesen Ort zurückzukehren, obwohl mir dieser noch immer sehr vertraut war. Schließlich war ich hier einst öfters gewesen.
Tizian riss mich aber plötzlich aus meinen Gedanken. “Willst du Wurzeln schlagen oder was?”, fragte er mich lachend. “Nein”, antwortete ich und wurde rot im Gesicht.
Kaum hatte ich das gesagt, zog er mich auch schon in einen Laden. Es war einer für Männer. Oh, er brauchte wohl neue Klamotten. Wird bestimmt lustig werden.
Kaum hatten wir das Geschäft betreten, kam auch schon ein Mann auf uns zu, der uns die Hand schüttelte. “Herr von Falkenstein, das könnte gut zu Ihnen passen”, begann er und war sofort bei der Sache. Während er Tizian allerlei Kleidung zeigte, beachtete er mich kaum, besser gesagt überhaupt nicht.
Das störte mich auch nicht weiter, denn ich hörte sowieso lieber zu. Ich hasste es im Mittelpunkt zu stehen. Wann immer Tizi und ich in die Stadt gingen wurde er von vielen Menschen aufgehalten.
Scheinbar war er bekannt wie ein bunter Hund, nur ich hatte ihn vor gut einem Jahr noch gar nicht gekannt. Kein Wunder, bei dem Leben was ich zu der Zeit noch geführt hatte.
In kürzester Zeit sah ich Tizian in allerlei Outfits und musste immer wieder hart schlucken. Was stand dem Kerl eigentlich nicht? Es war zum Verrücktwerden. Er war zum Verrücktwerden.
“Wie elegant”, entfuhr es mir unüberlegt, als ich ihn in einem Anzug sah. Schwarze Schuhe, Hose und Sakko mit Nadelstreifen und dazu ein schneeweißes Hemd. Wahnsinn, er war purer Wahnsinn.
Plötzlich stand er direkt neben mir, wobei ich mir schon wieder so wie ein Mädchen aus der Gosse vorkam. Er war einfach so perfekt! “Danke”, meinte dieser und blickte mir in die Augen. “Warum brauchst du einen neuen Anzug? Du hast doch genug von so edlen Sachen”, druckste ich wild herum. Tizian erwiderte: “Stimmt schon, aber der ist für einen besonderen Anlass”.
Sofort fragte ich mich, was ihm bevor stand. “Hat das mit deiner Firma zu tun? Was macht deine Firma eigentlich?”, wollte ich wissen, da mir einfiel, dass ich lediglich nur wusste, dass er dort Produktmanager war. Dieses Mal war er es, der nach Worten zu suchen schien. “Nun … wir bauen”, stotterte er.
Ich hob eine Augenbraue. Er war Bauunternehmer? Seltsam, das hätte ich absolut nicht gedacht. “Also eigentlich ist meine Firma eine der besten unseres Faches”, klärte Tizi mich auf, dieses Mal so sicher wie gewohnt.
“Ehm, okay und welches Fach ist das?”, fragte ich in direkt. “Du wirst es nicht glauben, aber es ist Architektur”, ließ er schließlich leise die Bombe platzen.
Na gut, so dramatisch war es nun auch wieder nicht. Ich nahm es eher mit Humor, auch wenn ich ihn da schon ein wenig beneidete. “Das ist doch schön. Warum hast du mir nie davon etwas erzählt? Du weißt doch schon seit einer halben Ewigkeit, dass ich mich dafür interessiere”, gab ich schon fast schüchtern zu.
Betreten betrachtete sich Tizian vor dem großen Spiegel, vor dem wir standen und zupfte sich mit ernstem Gesichtsausdruck seine Kleidung zurecht. Dann meinte er überaus vorsichtig: “Ich hatte Angst, dass ich dir damit wehtun könnte”.
Wie bitte? Seit wann fürchtete er sich davor, mich zu verletzen? Das war wohl nur ein übler Scherz, schließlich hatte er das doch immer wieder mit Freude gemacht.
Nach einer halben Stunde waren wir endlich aus dem Geschäft, in der einen Hand von Tizi befand sich eine Tüte mit dem Anzug. Die andere baumelte zwischen uns hin und her. Das sah einfach nur zu süß aus!
Öfters musste ich darauf starren und schmunzeln, woraufhin mich Tizian etliche Male wie ein kleines Kind anlächelte.
Flirtete er etwa mit mir? Oh Mist, davon hatte ich doch keine Ahnung! Wie wäre es, wenn ich einfach auch lächelte? Ich tat es ohne zu wissen, was das für eine Bedeutung hatte.
Tizian war so anders als Jakob und genau deswegen war es so sehr schwer für mich diesen Blickkontakt zuzuordnen.
Im nächsten Moment aber erschrak ich. Sanft schloss sich eine Hand um meine. Sie war größer, viel größer. Mit geweiteten Pupillen sah ich zu Tizi, der mich verschmitzt angrinste.
Was sollte das? Verdammt, ich hatte es gewusst! Natürlich wollte er mich für irgendwelche miesen Zwecke missbrauchen!
Vermutlich waren hier in dem riesigen Einkaufszentrum viele Verehrerinnen von ihm und wenn sie sahen, dass er mit jemanden, also mir, Händchen hielt, würden sie ihn sicherlich in Ruhe lassen.
Das konnte und wollte ich nicht auf mich sitzen lassen. Da kam mir das Juweliergeschäft, an dem wir gerade vorbeiliefen, ganz gelegen. Zudem wurde ich magisch von etwas angezogen.
Meine Beine machten sich selbstständig, ruckartig hatte ich meine Hand von seiner gelöst und klebte an der Fensterscheibe. Oh je, dachte ich, irgendwann ist meine Nase noch plattgedrückt.
“Wow”, entfuhr es mir, als ich merkte, dass Tizian schweigend hinter mir stand.
Er musterte ebenso wie ich all die wunderschönen Schmuckstücke, die sich an den Fenstern des Eingangs befanden. Ihr Ziel, Menschen anzulocken, erreichten sie damit mit Bravour.
“Er ist wunderschön”, sagte ich völlig verträumt und als mich Tizi fragte, was ich meinte, zuckte ich erschrocken zusammen. Den hatte ich dabei ja fast vergessen. Aber nur fast.
Immerhin hatte sich der Mann von selbst bemerkbar gemacht. “Na der Ring”, meinte ich wie aus der Pistole geschossen.
“Den?”, wollte Tizian überaus verblüfft wissen und zeigte auf genau das Schmuckstück, was ich meinte. Es war aus Silber und in der Mitte befand sich eine Perle. Um sie herum waren acht Diamanten.
Eigentlich war ich wirklich nicht der Typ für Schmuck, aber dieser Ring hatte mich sofort in seinen Bann gezogen.
“Dann kaufe ich ihn dir eben, wenn er dir so gefällt”, hörte ich den Mann neben mich murmeln. Sofort riss ich meine Augen weit auf und als er schon auf die Eingangstür zuging, hielt ich ihn auf.
Immerhin drehte er sich um. “Du spinnst total! Meine Güte, da kommt einmal in mir die Frau durch und schon meinst du mir Geschenke machen zu müssen! Und das mit dem Kleid habe ich noch immer nicht vergessen. Das reicht doch völlig aus”, zischte ich und klang sauer, obwohl ich das nicht wollte.
Zu meinem Erstaunen aber lachte Tizi herzhaft auf. Dann feixte er: “Ich merke schon, du hast eine Schwäche für Diamanten”. “Hey! Du weißt genau, dass das ein Versehen war”, sagte ich und versuchte dabei ernst zu sein, brach aber dann doch in ungehobeltes Gekicher aus.
Zum Glück nahm er mir es nicht übel, dass ich mich seiner Hand entzogen hatte, bevor wir vor dem Juwelier gewesen waren. Schließlich gingen wir weiter.
Wir klapperten noch allerlei Läden ab und Tizian bestand sogar darauf, mir das ein oder andere zu kaufen. Unsere letzte Station war eine Drogerie.
Ich wusste nicht, was der Mann dort wollte, also folgte ich ihn stumm und sah mich immer wieder um. Durch meine Unaufmerksamkeit hatte ich ihn aus den Augen verloren.
Rasch bahnte ich mir den Weg durch die Gänge, um Tizi so schnell wie möglich wieder zu finden. Als ich ihn von weitem sah, beschleunigte ich meine Schritte, doch dann hielt ich an und machte etwas dicht neben mir aus. Im nächsten Moment drehte sich alles in mir.
Wäre ich nicht in einem Laden, hätte ich mich wohl lauthals übergeben. Konnte es denn wirklich sein? Vielleicht war das wirklich der Grund für mein launisches Verhalten und meiner Übelkeit. Und schließlich dafür, dass ich seit Wochen nicht meine Regel bekam.
Mein Blick schweifte durch die Schwangerschaftstests. Mein Herz schlug mir bis in den Rachen, zumindest kam es mir so vor. Wie sollte ich nur einen Test machen können? Ich konnte schlecht zu Tizian gehen und ihn darum beten. Er würde sofort wissen, dass ich den Verdacht hatte, schwanger zu sein, auch wenn ich das verdrängen wollte.
Plötzlich kam mir aber eine andere Idee. Ich schluckte einmal schwer und begab mich dann zu ihm. “Da bist du ja, ich dachte schon, du hättest dich aufgelöst”, begrüßte er mich mit einem Grinsen im Gesicht. “Und ich dachte schon, ich gehe unter bei den ganzen Menschen”, stieg ich lächelnd auf seine Worte ein.
Amüsiert bezahlten wir schließlich die ganzen Sachen und als wir schon fast an dem Ausgang des Einkaufszentrums waren, blieb ich abrupt stehen. “Du, Tizian. Ich habe etwas vergessen, könntest du mir vielleicht etwas Geld geben? Bitte?”, fragte ich ihn und sah ihn flehend an.
Hoffentlich schluckt er das, dachte ich und siehe da: Tatsächlich glitt seine Hand zu seinem Geldbeutel und während er einen fünfzig Euroschein herausholte, machte er mir folgendes Angebot: “Wenn du willst, kann ich dir so eine Art Taschengeld geben. Sicherlich möchtest du auch mal alleine in die Stadt gehen und dir etwas kaufen”.
Nach diesen Worten strahlte ich ihn an und fiel ihm um den Hals. “Du bist super nett! Vielen lieben Dank!”, meinte ich euphorisch und drückte ihn aufgrund meiner grenzenlosen Freude einen Kuss auf die Wange.
Täusche ich mich oder wurde Tizian wirklich ganz leicht rot im Gesicht? Leider war das Rot - wenn es denn wirklich da gewesen war - schon weg, als ich genauer hinsehen wollte.
“Ich gehe schon einmal zu meinem Wagen. Ich denke mal, du findest den Weg alleine”, sagte Tizi schließlich zu mir und neckte mich damit. “Ja ja, du wirst schon sehen, dass ich schneller wieder zurück bin, als du denkst”, zog ich ihn leicht auf und verschwand daraufhin schon.
Mein Weg führte mich natürlich zurück zur Drogerie, wohin denn auch sonst? Ich sah die Schwangerschaftstests an und wusste gar nicht, welchen ich nehmen sollte. Hier gab es welche in allen möglichen Preisklassen. Von ganz billig zu ganz teuer. Nach ewigem Hin und Her entschied ich mich für alle Variationen. Man konnte ja nie wissen.
Danach ging ich noch in andere Geschäfte und kaufte mir noch Klamotten. Tizian sollte bloß keinen Verdacht schöpfen! Als ich wieder bei ihm war, fragte er mich, was ich denn so gekauft hätte.
“Ach, nichts Besonderes. Nur noch eine Hose und ein Oberteil”, antwortete ich und versuchte so lässig wie möglich zu klingen. Zu meinem Glück schien er nichts von all meinen Lügen zu merken.
Eigentlich hasste ich mittlerweile nichts mehr als Unehrlichkeit, doch erschien mir das die beste Lösung zu sein. Ich war froh, als wir endlich seine Villa erreichten und er mir sogar ein wenig Ruhe gönnte.
Ja, man merkte nur zu deutlich, dass unser Verhältnis zur Zeit ziemlich gut war.
Sofort schloss ich die Tür des Badezimmers hinter mir mit dem Schlüssel ab. Dann ließ ich die Dusche laufen. Ich hatte nämlich zu Tizian gesagt, dass ich mir erst einmal eine ausgiebige Dusche gönnen wollte.
Meine Hand glitt zu der Tüte und zu dem ersten Test. Zur Sicherheit überflog ich die Bedienungsanleitung, obwohl ich wusste, wie die Dinger funktionierten. In solchen Sachen war ich nur unerfahren, aber nicht unwissend, daher hätte ich mir das auch sparen können.
Nacheinander machte ich die vier Tests und wartete. Tick Tack, vor meinem inneren Auge sah ich die Standuhr von der Eingangshalle, die wie wild auf mich einschlug. Ich hasste es zu warten! Ich hing meinen Gedanken hinterher und sah überflüssigerweise erst nach zehn Minuten die Ergebnisse an.
Mein Herz zerbrach in tausende von Scherben. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich begann zu zittern. Das konnte kein Zufall sein! Alle der Schwangerschaftstests zeigten mir zwei Streifen an. Es bestand kein Zweifel. Ich war schwanger. Mit 19. Von keinem Geringeren als Tizian.
Weinend glitt ich die Wand hinunter und vergrub mein Gesicht in beide meiner Hände. Das durfte nicht wahr sein! Was sollte ich den jetzt nur machen?
Wenn Tizian das herausbekommen sollte, war ich geliefert! Er hatte doch selbst gesagt, dass er Kinder hasste! Er durfte auf keinen Fall davon etwas erfahren.
Ich war mir sicher, dass ich auf der Straße enden würde, wenn der Mann erst einmal sah, dass mein Bauch immer dicker werden würde. Für eine Abtreibung war es zu spät. denn wir hatten nur einmal miteinander geschlafen und das war einen Tag nach seinem Geburtstag im September gewesen. Es war bereits Januar.
Irgendwann musste ich es ihm sagen, da war ich mir sicher, doch bis dahin würde ich versuchen normal zu sein. Anderseits konnte ich dieses ungeborene Baby sicherlich auch anders loswerden. Die Frage war nur wie.
Meine Gedanken überschlugen sich wie Saltos. Wenn es jetzt schon so schlimm war, wie war es dann bitte, wenn Tizian von seiner ungewollten Vaterschaft erfahren würde?
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich im Bad gewesen war, die Dusche laufen laufen ließ und wie ein Schlosshund geweint hatte. Erst als ich Schreie und Fäuste gegen die Tür hämmern hörte, nahm ich wahr, dass ich nicht mehr alleine war.
Schnell wischte ich mir über das Gesicht, packte den Müll und die Tests zurück in die Tüte und stieg ganz schnell unter die Dusche.
Keine Minute später stellte ich sie aus, wickelte mir ein Handtuch um meinen nassen Körper und schloss auf. Unschuldig fragte ich: “Was ist denn los?”.
“Was los ist? Das könnte ich dich fragen! Weißt du eigentlich, wie lange du geduscht hast?”, herrschte mich Tizian sofort an und ich senkte meinen Blick.
Beschämt sah ich auf den Boden und wollte auch schon rasch an ihm vorbei gehen, doch dann erkundigte er sich behutsam: “Ist etwas? Du siehst gar nicht gut aus”.
“Was…? Nein, es ist nichts! Lass mich doch in Ruhe!”, fauchte ich ihn an und wollte erneut gehen. Wieder wurde ich aufgehalten. “Du hast deine Tüte vergessen”, bemerkte Tizi und hielt sie mir hin. In meiner akuten Panik keifte ich: “Gib sie sofort her!”.
Danach rannte ich einfach weg und war froh, auf den Weg in mein Zimmer nicht das Handtuch verloren zu haben.
Angekommen warf ich mich erst einmal auf das Bett und vergrub mein Gesicht in eines der vielen weichen Kissen. Gott, wie Klischeehaft das war!
Egal, dachte ich, ich habe ganz andere Probleme. Oder besser gesagt, das Problem in meinem Bauch, dass sich schon bald bemerkbar machen würde.
Jedenfalls musste ich erst einmal den Inhalt der Tüte loswerden. Es war schon fast ein Wunder, dass Tizian keinen Blick darin geworfen hatte. Zuerst zerkleinerte ich das Papier so sehr, dass man meinen könnte, es wäre in dem Reißwolf geraten. Danach zerschnitt ich das Plastik, in dem die Schwangerschaftstest gewesen waren. Gesagt, getan. Und schon landete das Zeug in meinem Mülleimer, den ich sofort leerte. Wie gut, dass ich das auch so wieder hätte machen müssen.
Es tat unheimlich gut, die frische Luft einzuatmen, auch wenn tiefster Winter herrschte. Der Garten von Tizian war in strahlendes Weiß getaucht und der Schnee so weich wie Puder.
Im Großen und Ganzen also sehr schön. Wäre es nicht so kalt gewesen, wäre ich sicherlich noch in paar Minuten draußen geblieben, doch das Wetter war gerade unerträglich.
Kaum hatte ich wieder einen Schritt in die Villa von Tizian getan, kam dieser auch schon auf mich zu. Oh oh, er sah alles andere als freundlich aus. “Was hast du gerade gemacht?”, wollte er wissen.
“Ähm, den Mülleimer von meinem Zimmer geleert”, antwortete ich wahrheitsgemäß und hoffte, dass ich nicht etwas vergessen hatte. Das würde sicherlich verheerende Folgen haben.
Glücklicherweise war das nicht eingetreten, denn Tizi meinte nur: “Ach so, das kannst du machen, aber den Rest der Villa nicht?”. “Was zickst du mich gleich wieder so an? Ich habe dir nichts getan!”, maulte ich ihn an, obwohl ich es eigentlich war, die damit angefangen hatte.
Der Mann vor mir lachte finster auf. “Oh bitte! Ich dachte, dass wir das schon hinter uns gelassen haben”, sagte er eine Spur schärfer. Für mich schon fast zu scharf, denn ich zuckte nur erschrocken zusammen und wünschte mir, ich hätte vorhin anders reagiert.
Nun war es mal wieder zu spät, wie für so vieles in meinem doch kurzen Leben. Hätte ich doch bloß nicht mit ihm geschlafen! Dann wäre ich nicht schwanger.
Tränen traten mir in die Augen, was Tizian nur zu gut bemerkte. Er beugte sich zu mir herunter, woraufhin ich zurückwich und flüsterte: “Ist schon gut, dann putze ich eben auch den Rest der Villa”.
Danach wollte ich mich schon aus dem Staub machen, um Staub - oh, wie passend! - zu wischen. Leider ging der Lord mir hinterher, was gar nicht gut war. Das tat er nämlich eigentlich nur, wenn er mir nicht glaubte, dass ich meine Aufgaben zu seiner vollsten Zufriedenheit erfüllen wollte.
Wir schwiegen beharrlich, besser gesagt ich. Ich hörte dem Mann nur mit einem Ohr zu, denn natürlich waren meine Gedanken woanders. Wann sollte ich ihm sagen, dass ich ein Kind von ihm erwartete?
Anderseits konnte ich es vielleicht auch so loswerden. Als Adeliger konnte man sich einiges erkaufen, so auch eine illegale Abtreibung über den gesetzlichen Termin von dem dritten Monat hinaus.
“Hey, siehst du überhaupt, was du machst? Der war teuer!”, schrie Tizian mich an und ehe ich mich versah, wurde mir klar, was ich da eben getan hatte. In meiner geistigen Abwesenheit hatte ich seinen neuen Anzug mit dem Putzlappen berührt. Es war zwar nur ein kleiner Fleck, dennoch nicht schön.
Peinlich berührt meinte ich: “Entschuldige, das war keine Absicht, wirklich nicht”. “Du bist manchmal wirklich ein Nichtsnutz”, gab Tizi von sich, was mich verletzte. Daher sagte ich: “Ach ja? Dann frage ich mich, warum du den überhaupt anhast! So weit ich weiß, hast du nämlich heute gar keine Termine!”.
Dieses Mal war er es, der mich erstaunt ansah. Oh Gott, hoffentlich dachte er jetzt nicht, dass ich in seinen Sachen geschnüffelt hatte. “Das wirst du noch früh genug herausfinden, warum machst du es mir immer wieder so schwer?”, erwiderte er und mir war so, als ob das irgendetwas tiefgründigeres mit mir zu tun hätte.
Hellhörig starrte ich ihn an und suchte nach den richtigen Worten. “Ehm, tue ich das? Du bist aber auch nicht besser”, stammelte ich verwirrt. Von der einen Sekunde auf der nächsten hatte sich die Haltung von Tizi verändert. Zuvor war er leicht verzweifelt gewesen, doch jetzt war er wieder der Mensch ohne Gefühle.
Abschätzend glitt sein Blick über mich, ehe er sagte: “Ich habe auch nie behauptet, besser als du zu sein”. “Von wegen!”, frotzelte ich fies und unterdrückte ein bitteres Lachen. Für wie blöd hielt der Kerl mich eigentlich?
Im nächsten Moment fühlte ich aber Trauer, grenzenlose Trauer. “Ich bin einfach nur zum Scheitern verurteilt!”, entfuhr es mir und ich hatte das dringende Bedürfnis, mich in mein Zimmer zu sperren. Der Wunsch, alleine zu sein, hatte mich mit einem Mal übermannt.
Das hatte ich aber nicht zu entscheiden, denn Tizian zuckte nur unbekümmert mit den Schultern und raunte: “Nach getaner Arbeit sehr gerne”. “Warum bist du wieder so gemein zu mir? Macht es dir wieder Spaß mich zu erniedrigen? Hast du das vermisst, du Sadist?”, bombardierte ich ihn mit Fragen, die einfach so über meine Lippen gekommen waren.
Zurücknehmen konnte ich sie auch nicht, was ich auch nicht wollte. Er hatte selbst gesagt, dass man über seine Gefühle reden sollte und das machte ich auch. Zumindest teilweise.
Was mich noch so beschäftigte, brauchte der Mann nicht wissen. Er würde es sowieso nicht verstehen. Da war ich mir sicher.
Tizian, der direkt vor mir stand und mich musterte, erwiderte: “Du machst einfach immer wieder dieselben Fehler”. “Ich? Du bist doch der, der mich wie Dreck behandelt!”, schoss ich sofort zurück und putzte weiter. Mittlerweile war die Eingangshalle fertig, die Küche dagegen hatte es bitter nötig, geputzt zu werden.
Ich kehrte Tizi den Rücken zu, denn ehrlich gesagt hatte ich keinen Nerv mehr, mit ihm zu reden. Daher meinte ich noch: “Du kannst gehen, ich kann das hier alleine machen ohne kontrolliert zu werden”.
“Und was ist, wenn es mir Spaß macht, dich beim Putzen zu sehen?”, fragte der Mann mich ganz unverschämt. “Ach, leck mich doch am Arsch!”, zischte ich und beschloss, ihn zu ignorieren.
Dummerweise war das leichter gesagt als getan, denn der Mann, der hinter mir her ging und mich verfolgte, starrte unverblümt auf mein Hinterteil. “Ich wusste gar nicht, dass mein Arsch so interessant ist”, triefte ich vor Sarkasmus.
Er dagegen witzelte: “Jetzt schon, immerhin hast du mir die Erlaubnis dafür gegeben, als du sagtest, ich solle dich da lecken”.
Meinte er das wirklich ernst? “Mein Gott, Tizian! Das war Ironie!”, blaffte ich und verdrehte die Augen.
Angesprochener lachte mich lieber aus und säuselte: “Zu spät, jetzt habe ich dich einmal ernst genommen und du sagst mir, dass das nur Ironie war. Du hast mein armes, kleines, dunkles Herz gebrochen”.
Nach diesen Worten erstarrte ich. Das hatte er nicht wirklich gesagt?! Leider hatte ich mich nicht verhört, denn im nächsten Moment kringelte sich der Mann halb vor Lachen und wollte gar nicht mehr aufhören. “Ha ha, ich habe selten so gelacht”, ratterte ich gelangweilt herunter.
Manchmal war Tizi wirklich nervig! Ständig brachte er mich mit seinem Verhalten auf die Palme! Wie machte er das nur? Und vor allem: Warum? Ach, aus den werde ich eh nie schlau, dachte ich.
“Ich finde es auch lustig, wie du keinen blassen Schimmer hast”, hörte ich ihn sagen.
Zwar verwirrte er mich mit dieser Aussage abermals, doch wollte ich nicht sehr stark darauf eingehen. “Na dann”, entgegnete ich nur und war stolz, dass die Küche wie neu glänzte. Danach war das Bad dran. Mein Herzschlag beschleunigte sich daraufhin, denn ich hatte noch immer Angst, irgendetwas vergessen zu haben.
Natürlich musste mich Tizian verfolgen! “Du bist echt ein Stalker”, murmelte ich vor mich hin, doch leider hatte er mich gehört. Urplötzlich stand er dicht hinter mir und hauchte: “Ganz allein dein Stalker. Du weißt gar nicht, was ich alles nur für dich getan habe”.
Mir wurde schwindelig und heiß zugleich. Anscheinend wollte er mich erneut ins Bett bekommen und das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass er das ohne großartige Anstrengungen konnte.
Ich drehte mich um und sah zu ihm auf. “Tizian, bitte, tu das nicht…”, flehte ich den Mann vor mir an, was er gekonnt ignorierte. “Ich kann nicht”, meinte er lediglich und näherte sich mir.
Sanft legte er seine Hände auf mein Gesicht und zog mich zu sich heran. Mir war klar, was jetzt passieren würde und doch lag ich falsch mit meiner Annahme.
Bevor er mich küsste, brach er in schallendes Gelächter aus und feixte: “Du bist so naiv, dass es schon wieder Spaß macht, dich hinters Licht zu führen”.
“Kann ich mir vorstellen, dabei dachte ich, dass du anders bist”, gab ich ihm traurig Recht. Das Bad war soweit geputzt, doch dann hielt Tizian mich auf: “Warte mal, hier ist noch was”.
Rasch drehte ich mich um und sah, dass er etwas in der Hand hielt. “Gib das her! Das gehört mir!”, schrie ich völlig von der Rolle, doch dann erkannte ich, dass es sich nur um ein Stück Papier zum Hände abtrocknen handelte.
“Oh”, entfuhr es mir erleichtert, woraufhin Tizi mich auslachte. “Was dachtest du denn, was das ist?”, wollte er von mir wissen. “Geht dich das was an?”, antwortete ich leicht aggressiv mit einer Gegenfrage.
Einen kurzen Moment überlegte ich sogar zu sagen, dass ich nur nach Beweisen für Schwangerschaftstests gesucht hatte. Sein Gesicht wäre bestimmt episch gewesen, aber das konnte ich natürlich nicht. So verantwortungslos ging ich dann doch nicht mit meiner Schwangerschaft um.
“Weiter geht es mit deiner Putztour”, wies mich Tizian darauf hin. “Ach nein, ich dachte jetzt, dass wir es uns in deinem Garten bequem machen und die Blümchen zählen”, keifte ich. “Wird schwierig werden, bei der Kälte und der Schneedecke, die im Garten ist”, bemerkte Tizi beiläufig.
Konnte er nicht einmal damit aufhören, mich zu provozieren? “Ach, lass mich doch in Ruhe!”, gab ich beleidigt von mir. Wenn das so weiter ging, drehte ich noch komplett durch, dachte ich und schüttelte mit meinem Kopf. “Kann ich aber nicht. Ich bin dein Stalker, schon vergessen?”, holte mich Tizian zurück in die Realität.
Was wollte er damit bezwecken? Wollte er mir meinen Verstand rauben, obwohl er das eigentlich schon längst getan hatte? Was wollte er verdammt noch mal von mir? Mit mir?
Wir waren so verschieden … und dennoch wurden wir angezogen wie Magneten. Ich ermahnte mich. Jetzt werde bloß nicht poetisch, Krys!
Im Laufe der Zeit klapperten wir ein Zimmer nach dem anderen ab. Immer wieder erniedrigte mich Tizian bis aufs äußerste. Mich wunderte es nur, dass er mich nicht als hässlich oder sonst was bezeichnete.
Als ich das Putzzeug zurück in die Kammer an der Eingangshalle stellte, fiel die Tür ins Schloss.
“Was soll das? Was machst du da?”, fragte ich stammelnd, da mich wieder diese Panik überkam. Kein Wunder, ich war alleine in einem dunklen Raum, den man nur von außen mit Licht befüllen konnte. “Nichts”, antwortete Tizian seelenruhig. “Ja dann mach die verdammte Tür auf!”, schrie ich ihn an.
Ich konnte nur zu deutlich hören, dass er lachte. “Nein”, sagte er seelenruhig. Das konnte er doch nicht wirklich Ernst meinen! “Jetzt reicht es mir, aber endgültig!”, keifte ich und begann wie wild auf die Tür einzuschlagen.
Auch wenn ich im Dunklen war, konnte ich die Umrisse der Tür schemenhaft erkennen und stemmte mich mit vollster Kraft immer wieder dagegen.
Zuerst geschah nichts, doch dann erblickte ich urplötzlich Tizian, der mich ernst musterte. “Du hast Recht, es reicht wirklich!”, stimmte er mir zu. “Mi-Mit was?”, stotterte ich wild und völlig ahnungslos, doch er meinte nur. “Es wird Zeit, endlich alle Karten offen auf den Tisch zu legen!”.
Verblüfft starrte ich ihn an und wollte mich von ihm entfernen. Weit kam ich nicht, in der Nähe der mächtigen Standuhr umschloss er sanft meine Handgelenke. “Hör auf!”, schrie ich, doch er grinste mich nur ernst an.
Ja, er konnte mich mit einem überaus ernsten Gesichtsausdruck angrinsen. Seine Mundwinkel verzogen sich zwar nach oben, doch seine Augen waren finster.
Unverschämt fragte Tizian: “Mit was soll ich denn aufhören?”. “Du bist so ein egoistisches, arrogantes und ignorantes, aber auch verdammt gutaussehendes Arschloch, dass nicht viel auf Gefühle anderer Menschen gibt!”, erwiderte ich lieber. “Erzähle mir lieber etwas, was ich noch nicht weiß”, stieß er nur ruhig, aber auch gelangweilt hervor.
Das brachte mich erst richtig auf Hochtouren. “Dir ist es scheißegal, wie es mir unter deiner hausinternen Diktatur geht! Du willst mich nur leiden sehen! Du bist ein Monster, denn dich interessiert es kein bisschen, was mit den anderen Menschen ist…”, fing ich an, ihm Sachen an den Kopf zu werfen und meinem Ärger lauthals Luft zu machen, doch dann kam er mir bedrohlich nahe.
Ich fragte mich, was er vorhatte und sah ihn fragend an. Bestimmt wusste Tizian, dass in mir erneute Panik aufstieg, die sich erhöhte, als er leichten Druck auf beide meiner Handgelenke ausübte.
“Kommt dir dieses Verhalten kein Stück bekannt vor?”, wollte er seelenruhig von mir wissen und sah mir genau in die Augen. Nach dieser Frage überlegte ich, konnte es sein, dass …?
Es dämmerte mir, aber bevor ich auch nur ein Wort herausbringen konnte, gab der Mann mir selbst die Antwort: “In dem Jahr, in dem wir uns kennen, war ich die ganze Zeit nur dein Spiegelbild”.
Meine Pupillen weiteten sich drastisch. “Mein … mein Spiegelbild?”, brachte ich geradezu ungläubig hervor. “Ich wollte dir die ganze Zeit nur zeigen, wie du auf andere Menschen wirkst”, klärte er mich über seine Motive auf und war dabei völlig unbeirrt.
Irgendwie verstand ich ihn, aber natürlich hatte ich auch meine Zweifel. Das klang alles so seltsam. “Und warum hast du dann all das veranstaltet?”, wollte ich leise wissen.
Tizian seufzte hörbar und meinte altklug: “Menschen sind einfach so durchschaubar, wenn man sich auch nur annähernd mit deren Psychen beschäftigt”. “Ja, aber was hat das mit mir zu tun? Warum ausgerechnet ich?”, fragte ich verwirrt, woraufhin er antwortete: “Das mit der Sternskulptur kannst du vergessen”. “Wieso das denn auf einmal?”, die Frage kam mir nur stammelnd über die Lippen. Wollte er mich etwa aus seiner Villa herauswerfen?
Matt gestand er mir: “Die ist keine Million Euro wert, sondern nur schlappe eintausend Euro”. Wut stieg in mir auf, was man mir hoffentlich nicht verübeln konnte. Immerhin hatte er mich belogen!
“Hör mal, das war eine verdammte Lüge, du…”, begann ich, meiner Wut freien Lauf zu lassen, doch er unterbrach mich. Kaum hörbar hauchte er: “Krystal, ich liebe dich”.
Mehr hatte er nicht gesagt. Mir blieb fast die Luft weg, ich begann zu zittern und setzte mich auf dem Boden. Danach legte ich meinen Kopf auf meine angewinkelten Knie.
Ich brauchte lange, um zu reagieren. “Was hast du da eben gesagt?”, flüsterte ich. Er antwortete mir laut und deutlich: “Ich. Liebe. Dich!”. Hatte ich mich etwa erneut verhört? Nein, das konnte kein Zufall sein! Warum hatte er dann die magischen drei Worte noch einmal ausgesprochen? “Du lügst…”, meinte ich langsam, woraufhin meine ohnehin schon brüchige Stimme brach.
Seine Geduld schien sich mal wieder von ihm zu verabschieden, denn Tizian fragte mich etwas lauter: “Verdammt, Krystal! Was hätte ich denn sonst tun sollen?”. Mir kam kein Laut über meine Lippen, ich konnte nur mit großen Augen zu ihm aufsehen.
Er ging vor mir in die Hocke und sagte wesentlich leiser: “Weil ich dich wollte, vom ersten Augenblick an, als ich dich sah. Dieses ganze Szenario mit dem Arbeiten fand doch nur statt, weil ich dich wollte. Als du aber so abweisend reagiert hast, kam mir spontan diese Idee. Was glaubst du, was passiert wäre, wenn ich dir schon da von meinen Gefühlen erzählt hätte?”.
Nach diesen Worten bildete sich ein dicker Kloß in meinen Hals, den ich sofort hinunterschluckte. Ich schwieg. Tizian meinte daraufhin: “Du hättest mir bestimmt den Vogel gezeigt und wärst weggelaufen. Ich wollte dich aber nicht gehen lassen und will es auch heute noch immer nicht”. Zum Schluss klang seine Stimme überaus traurig.
“Ich liebe dich”, gestand er mir ein drittes Mal und nahm mein Gesicht in seine Hände. Meine Augen waren vor lauter Entsetzen riesengroß geworden.
Natürlich erwartete er eine Reaktion von mir. Leise stammelte ich: “Ja, aber … du hast doch selbst gesagt, dass du mich nie hübsch finden könntest geschweige denn mich mögen könntest”.
“Damit belog ich dich auch, na ja eigentlich nicht. Ich finde dich nämlich nicht hübsch, sondern wunderschön und wie ich schon sagte, mag ich dich auch nicht, sondern liebe dich”, erwiderte er mit so einer Selbstverständlichkeit in der Stimme, dass ich darauf nichts zu sagen wusste.
Wir starrten uns einiges Minuten an. Tränen brannten mir in den Augen. Tränen, der Ungläubigkeit, aber auch der Unsicherheit. Er schien es wirklich ernst zu meinen.
Trotzdem hatte ich noch viele ungeklärte Fragen. Ich entzog mich ihm und stand auf. Sofort sah er mich mit einem Blick an, der mir verriet, dass er dachte, er hätte etwas Falsches gesagt.
“Warum hast du vor meinen Augen mit deinen Schwestern geflirtet ohne mich über die Verwandtschaft aufzuklären? Warum hast du mich vor ihnen so behandelt? Wolltest du mich eifersüchtig machen?”, fragte ich ihn ganz direkt.
Ein kleines Lachen drang aus seiner Kehle, ehe er meinte: “Das sind deine einzigen Sorgen? Du treibst mich noch wirklich in den Wahnsinn. Du hast aber Recht, auch da habe ich mich sehr unfair gegenüber dir verhalten”.
Skeptisch sah ich ihn an, dann verriet mir Tizian: “Gut, ich habe sie auch mitgebracht, damit sie mir sagen können, wie du tickst. Ihr Frauen habt da einfach mehr Ahnung von”.
Es war schon irgendwie süß, wie schüchtern der Mann auf einmal wirkte. Dennoch gab ich ihm einen Schlag auf eine seiner Wangen.
Sein Gesicht verzog sich daraufhin, teils vor Schmerz, aber auch vor Erstaunen. Anscheinend hatte er nicht gedacht, dass ich so stark zuschlagen konnte.
Mein Blick traf den seinen. Überraschenderweise rastete Tizian aber nicht aus, sondern rieb sich über die rot gewordene Stelle und meinte: “Dieser Schlag war einfach nur zu fair gewesen”. Er sah mich versöhnlich an und sagte: “Du musst mir aber trotzdem glauben. All das, was ich gesagt habe, ist die absolute Wahrheit”. Er blieb dabei und das obwohl ich ihm eine kräftige Ohrfeige gegeben hatte?
Die Tränen, die mir die ganze Zeit in den Augen gebrannt hatten, kullerten nun unentwegt über mein Gesicht. Wieder nahm er meine Hände und hauchte: “Noch nie bin ich Jemanden begegnet, der so ist wie du “.
“Ich liebte doch meine Freiheit. Du weißt, dass ich immer alleine war und trotzdem bröckelt meine Maske aus Stahl. Und ja, ich brauche dich ebenso sehr wie du mich, aber ich möchte niemals, dass das mit uns eines Tages endet. Davor habe ich Angst. Du veränderst mich und zwar zum Guten. Du zeigst mir, dass es sich lohnt, Gefühle zu zeigen und akzeptierst mich wirklich so wie ich bin. Mit meinen Macken. Ich frage mich, ob du ernsthaft so eine verdammt sanfte Seite an dir hast und das kann ich sogar ohne zu Zögern bejahen, aber das mit uns kann nicht funktionieren”, gab ich unter Tränen zu.
Er schien eine kleine Weile über meine Worte nachzudenken, ehe er entgegnete: “Es wird niemals mit uns enden, sonst hätte ich es gleich gelassen. Und warum denkst du, dass das mit uns nicht funktionieren kann?”.
Jetzt war der bittere Moment der Wahrheit gekommen. “Ich … ich”, stotterte ich wild herum und wusste, dass ich es ihm sagen musste. “Weil ich schwanger von dir bin!”, schoss es aus mir heraus und ich wich vor ihm zurück.
Dennoch blickte ich ihm genau in die Augen, die sich geweitet hatten. “Was hast du da gesagt?”, wollte er beinahe tonlos wissen, da ihm die Stimme versagte.
“Verdammt, Tizian! Du wirst Vater! Bitte schick mich nicht weg, mach mir auch keine Vorwürfe, denn wir hatten ja auch verhütet…”, begann ich, brach dann aber völlig aufgelöst ab.
Der Mann kam langsam auf mich zu, legte eine Hand auf meinen Bauch und flüsterte: “Wie kommst du denn nur darauf?”. Täuschte ich mich oder schien er wirklich etwas entsetzt über meine Vermutungen zu sein?
“Du, du hast doch selbst gesagt, dass du Kinder hasst. Ich hätte von meiner Schwangerschaft schon viel früher wissen müssen als heute erst. Ich habe es auf den Stress geschoben, dass ich meine Tage einfach nicht bekam”, gestand ich ihm schließlich.
Endlich war es raus. Das war das einzig Gute an dem ganzen Desaster, in dem ich mich nun befand. “Du Dummerchen”, hörte ich Tizian nur murmeln. Ja klar, jetzt gab er mir etwa die Schuld dafür! Und ich dachte immer, dass zwei zu einer Kindeserzeugung dazugehörten. “Ich hätte mich wohl anders ausdrücken sollen”, meinte Tizi, was mich wieder aufhorchen ließ.
Was meinte er denn nun schon wieder? “Ich hasse nur die Kinder, die adelig erzogen werden. Du weißt, was für eine schlimme Kindheit und Jugend ich hatte, aber ich möchte doch nicht, dass unser Kind so aufwächst. Alessandro soll gute Eltern haben, die ihn lieben und sich rührend um ihn kümmern”, erklärte Tizian und lächelte mich an.
Es brach mir schon fast das Herz, obwohl er diese Worte alles andere als Negativ gemeint hat. “Ich möchte dich, euch”, fuhr Tizi fort und meinte noch: “Du solltest dich ausruhen. Stress ist absolut nicht gut in einer Schwangerschaft”. Wie fürsorglich er doch war!
Noch war mir aber noch nicht alles klar. “Und wieso warst du dann nach unserer Nacht so kalt zu mir, wenn du dich anscheinend auf das Kind freust?”, fragte ich.
Er klatschte sich mit seiner Hand gegen die Stirn und murmelte etwas davon, dass er da mal wieder ein kompletter Idiot gewesen sei. “Das war ich doch nur, weil ich alleine aufgewacht bin und mich alleingelassen fühlte”, gab er etwas peinlich berührt zu.
Das alles war doch purer Wahnsinn! “Schön und gut, aber warum hast du mich in der Küche geküsst?”, machte ich weiter mit meinem Kreuzverhör.
Er antwortete mir: “Das habe ich doch nur gemacht, um Schlimmeres zu verhindern. Du musst wissen, dass ich überaus theatralisch reagiere, wenn es um das Thema Folter geht oder alles, was mit meiner Vergangenheit zu tun hat”.
Auch das ergab Sinn, gut, doch dann erhob er erneut seine Stimme. “Du kannst dich vermutlich nicht mehr daran erinnern, aber als du in meinen Armen eingeschlafen bist, da hast du mir gesagt, dass du mich liebst. Schon da habe ich dir gesagt, dass es mir genauso geht und außerdem gab es für mich keine andere Frau mehr, der ich so nah wie dir sein wollte, seitdem ich dich das erste Mal gesehen habe”, sagte Tizian.
Wieder traten mir Tränen in die Augen. Ich war abermals gerührt von seinen Worten. “Ein Teil von mir glaubt dir das alles sogar, aber es fällt mir auch total schwer”, gab ich schließlich zu.
Während er sanft seine Arme um mich legte, erwiderte er: “Weine nicht, ich ertrage das nämlich nicht, dich so zu sehen. Du hast schon so viel Schlechtes erlebt, lasse mich dich endlich glücklich machen. Ich möchte die so wie du bist. Mit deiner störrischen Art, die ich sogar ziemlich sexy finde und dem Kind”.
Behutsam nahm er meine Hände und legte sie in seine. Mir verschlug es die Sprache. Jetzt wusste ich also über alles Bescheid, da gab es nichts mehr, was ich noch nicht wusste.
“Aber … aber ich habe mich letztendlich doch dafür entschieden, ich selbst zu sein!”, entgegnete ich abwesend, woraufhin Tizian erwiderte: “Wenn du ehrlich zu dir bist, hast du dich bereits verändert und bist in deinem Herzen immer noch du selbst”.
Damit hatte er ohne Zweifel Recht, das musste ich ihm lassen. Dennoch wusste ich nicht, was ich dazu sagen sollte. Dabei sah ich dem Mann an, dass er förmlich darauf brannte, etwas von mir zu hören.
“Muss ich noch vor die in die Knie gehen, damit du mir endlich glaubst?”, hörte ich Tizian fragen, der nach seinen Worten sofort sichtlich erstarrte. Noch immer wollte kein Laut über meine Lippen kommen.
War etwa noch etwas? Anscheinend schon, denn er griff in die Tasche des Anzuges, den er noch immer trug und holte etwas hervor. Und dann ging er wirklich vor mir auf die Knie! Was um alles in der Welt sollte das? “Mit dem Risiko grandios zu scheitern, werde ich jetzt alles auf eine Karte setzen”, begann er.
Perplex starrte ich ihn an, da Tizian mit seiner freien Hand eine meiner Hände ergriff und weiter machte: “Heute kennen wir uns genau ein Jahr. Ich bin so ergriffen von dir, dass ich andauernd an dich denken muss. Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf. Am Liebsten wäre ich immer bei dir, um für dich da zu sein und um dich zu beschützen, aber natürlich auch, um dich zum Lachen zu bringen. Um mit dir zu lachen. Noch nie habe ich so gefühlt, dass musst du mir glauben”.
Mein Mund fühlte sich staubtrocken an, obwohl ich etwas sagen wollte. Er überging das einfach und bat mich: “Krystal, ich werde dich nur um diese eine Sache bitten. Bleibe bei mir, mit dem Kind und heirate mich bitte. Werde bitte meine Frau”.
Meine Pupillen weiteten sich daraufhin drastisch. Erst recht als er die dunkle Schatulle, die er in seiner anderen Hand hatte, mit seiner freien Hand öffnete und ich den Ring sah. Es war der Ring aus dem großen Einkaufszentrum, der mir so gefallen hatte.
“Oh mein Gott, Tizian, ich …”, fing ich bestürzt an, doch er unterbrach mich: “Nein, Krystal. Ich werde mich mit nichts anderem als einem Ja oder einem Nein zufrieden geben. Ich meine es ernst. Verbringe dein Leben mit mir”.
Nach den Worten von Tizian brachte ich kein Wort heraus. Bestimmt war ich sichtlich kreidebleich geworden und meine Augen kurz vor dem Herausspringen. Er liebte mich nicht nur, sondern wollte mich heiraten. Mich! Ich konnte es einfach nicht glauben. Und doch ergab alles einen Sinn. Er hatte all die Streitigkeiten nur auf sich genommen, um mir nahe zu sein.
Konnte es einen schöneren Liebesbeweis geben? Nein, denn wer mir auch nur einmal begegnet ist, weiß wie schwierig ich bin. Tizian verstand mich. Da war ich mir sicher. Und doch war ich mir darüber noch immer nicht ganz im Klaren. Die Zweifel waren nach wie vor da. “M-Mich… heiraten? Tizi… ich, ich weiß nicht, a-aber ich liebe dich auch!”, brachte ich mühsam hervor. Er jedoch meinte erneut: “Nein Krystal. Ich werde mich damit nicht zufrieden geben”.
Was? “Wie… wie bitte?”, hakte ich nach und sah, dass Tizian sich nach wie vor nicht rührte. “Lass’ mich dir zeigen, wie schön das Leben sein kann. Du warst lange genug alleine und außerdem kann ich mir keine bessere Frau an meiner Seite vorstellen, als dich. Tauch’ mit mir in einer neuen Welt ein”, bat mich Tizian.
Sollte ich oder sollte ich nicht? Verdammt! Da gestand er mir nicht nur seine Liebe, sondern machte mir gleich einen Heiratsantrag! Davon konnte doch nur jede andere Frau träumen! Na klar träumte ich von einer Hochzeit. Irgendwann. Na klar träumte ich von einem Mann an meiner Seite. Irgendwann. Nicht heute, nicht morgen, sondern irgendwann.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als der Mann meinte: “Du hast dich direkt vor meinen Augen verändert. Ich bin mir sicher, dass du noch so viel mehr kannst, als du bereits gezeigt hast. Krystal, ich weiß nicht, was ich noch sagen oder tun soll, um dir zu beweisen, dass ich es wirklich verdammt ernst mit dir meine”.
Etwas in mir regte sich aber gewaltig. Nein, Tizian würde mir nicht das Herz brechen! Im Gegenteil, er hatte es mühsam zusammengeflickt und würde es beschützen. “Ja”, hauchte ich daher leise und sagte: “Ja, ich möchte deine Frau werden. Zeig’ mir, wie schön das Leben ist. Lass’ mich nie wieder los…”, weiter kam ich nicht, da Tizian seine Lippen sanft auf meinen legte.
Das Gefühl, welches ich bei unserem ersten Kuss empfunden hatte, gab es nicht mehr. Ich war nicht mehr unsicher, sondern bereit für das Leben. Bereit für die Zukunft. Mit Tizian. Ich war nicht mehr alleine und würde es auch nie wieder sein. Schließlich hatte er mir in der Tat gezeigt, wie es ist zu leben und wie es ist, zu lieben und geliebt zu werden.
Zudem hatte er mir nicht umsonst einen Heiratsantrag gemacht, den ich doch noch angenommen hatte. Jetzt war es also so gut amtlich. “Für immer Dein”, hauchte ich leise gegen seine Lippen, als wir uns etwas voneinander gelöst hatten, um uns Stirn an Stirn in die Augen zu blicken. “Für immer Dein”, flüsterte er lächelnd.
Versteht ihr jetzt, warum man nicht einmal sich selbst vertrauen sollte? Man wusste nie, was im Leben so passierte und was alles eintrat. In meinem Fall war es die große Liebe, die mich nie im Stich ließ, stets zu mir stand und mich immer auf Händen trug. Endlich war ich glücklich, mit Tizian, dem es genauso ging - das war das Wichtigste.
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2012
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