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Der Auswanderer

Es geschah an einem jener Spätsommertage des Jahres 1854. Morgens war es in der Stadt noch angenehm kühl, aber am späten Vormittag herrschten hochsommerliche Temperaturen, und es legte sich um diese Jahreszeit wie immer eine dichte, stinkende Dunstglocke über die Stadt. Der Qualm und die Abgase schlecht verbrannter Kohle oder anderer feuchter Brennstoffe aus den Haushalten und verschiedenen Industriebetrieben vermischten sich mit dem Gestank von Fäkalien und Pferdedung. Um die Mittagszeit wurde es unerträglich.  So auch an diesem Tag.

 

Draußen, auf dem Land, am Rande der Großstadt, welche sich wie ein gefräßiger Moloch mehr und mehr ausbreitete und schnell wuchs, war die Luft sauber und klar.

 

Julian war froh, endlich dem hektischen Treiben der vielen Menschen und der stinkenden Dunstglocke der Stadt entronnen zu sein. Er genoß das Zirpen der Grillen, das leise Murmeln und Glucksen des unweit an ihm vorbeifließenden Bächleins und das Summen der Bienen und anderer Insekten, welche dem ewigen Kreislauf der Natur folgten.

 

Der Junge hatte sein Bündel abgelegt und lehnte sich, mit seiner linken Hand auf den Wanderstab gestützt, an den hölzernen Weidezaun. Zu seinen Füßen raschelten im trockenen Gras der Böschung Zauneidechsen. Sie waren auf der Jagd nach Futter.

 

Über ihm zogen in großer Höhe Raubvögel auf der Suche nach einer Mahlzeit für sich und ihre Brut weite Kreise. Hin und wieder durchschnitten ihre klaren, lauten Rufe die ländliche Stille.

 

Er wusste nicht, was ihn immer wieder und wann immer es ihm möglich war hinaustrieb aus dem elterlichen Haus, hinaus aus dieser Stadt.

 

Der lange Fußmarsch und die Hitze hatten ihn ermüdet und träge rutschte er am Pfosten des Weidezauns hinunter in das ausgedörrte Gras. Im Sitzen zog er sich seine Jacke aus und legte sie sich als Polster in den Nacken. Schläfrig schloß er seine Augen, lehnte sich gegen den Pfosten und gab sich einer wohltuenden Trägheit hin. Er ließ seine Gedanken in die Vergangenheit zurückwandern.

 

Sein Vater war den Traditionen seiner Familie gefolgt und Arzt geworden. Er hatte die gut gehende Praxis von ihm übernommen. Seine Mutter, eine stille und zurückhaltende Frau kümmerte sich um den Haushalt, half anfangs zeitweilig in der Praxis aus. In letzter Zeit war sie allerdings häufiger dort zu finden als am heimatlichen Herd. Hinzu kam, daß beide viele gesellschaftliche Verpflichtungen hatten und auf Gesellschaften und anderen Veranstaltungen der Stadt ein gern gesehenes Paar waren.

 

Großmutter, diese kleine und schweigsame, zerbrechlich wirkende Frau hatte stillschweigend den Haushalt übernommen und kümmerte sich um Julian, beaufsichtigte ihn bei den Hausaufgaben, richtete den Haushalt und kochte für die Familie. Sie war der unsichtbare gute Geist und wurde mehr und mehr seine Vertraute, Grab seiner kleinen und großen Geheimnisse, Kummerkasten für die Seelennöte eines Achtjährigen.

 

Mit ihrem fast alles durchdringend wirkenden Blick aus ihren dunklen Augen sah sie ihm oft bis auf den Grund seines Innersten und wurde so manches kleinen und großen Kummers oder Gedankens ihres 'Bubs', wie sie ihn manchmal zärtlich zu nennen pflegte, gewahr. Sie wusste auf alles eine Antwort und in ihrer Gegenwart fühlte er sich geborgen – war seine kindliche Welt in Ordnung, verschwand der autoritäre Schrecken seines Vaters.

 

Seine Mutter brachte hin und wieder ein Buch, eine Zeitung oder ein Magazin aus dem Wartezimmer der Praxis mit nach Hause. Oft, wenn er in diesen Büchern oder Magazinen las, in denen von der neuen Welt und phantastischen Abenteuern erzählt wurde, und ihn das Fernweh fast schmerzhaft packte, spürte er ihren nachdenklichen Blick auf sich ruhen. Wenn sich ihre Blicke dann trafen und miteinander verschmolzen, fühlte er eine tiefe Wärme in sich aufsteigen.

 

Manchmal sah sie an ihm vorbei in die Ferne und ein leiser, kaum wahrnehmbarer, schmerzlicher Zug überschattete ihr schmales, feingeschnittenes Gesicht. Er spürte dann immer eine nicht zu erklärende Unruhe und Trauer in sich und nicht selten kam es vor, daß er sich an sie kuschelte und sie mit seinen kleinen Ärmchen fest umarmte. Sie streichelte ihm mit zärtlichen Bewegungen den Kopf und fuhr liebevoll durch sein widerspenstiges, strohblondes Haar. Wenn sie ihn dabei an sich drückte, war er der glücklichste Junge in der Stadt.

 

Durch ein Geräusch in seiner Nähe wurde er aus seinen träumerischen, in der Rückschau gefangengehaltenen Gedanken aufgeschreckt. Benommen irrte sein suchender Blick nach der Ursache des kratzenden und flatternden Geräusches umher. Fast greifbar nahe, nur ein wenig außerhalb der Reichweite seines rechten Armes hatte sich einer dieser großen Greifvögel auf dem Pfosten eines Weidezaunes nieder gelassen.

 

Mit angehaltenem Atem betrachtete er den großen, dunkelbraun gefiederten Jäger, wie er mit schnellen Kopfbewegungen das vor ihm liegende Gelände nach Mäusen und anderen kleinen Tieren absuchte. Hin und wieder stieß er einen dieser schrillen Schreie aus. Langsam entspannte sich Julian und ließ sich von der Schönheit dieses Raubvogels mehr und mehr gefangennehmen. Er fragte sich, ob es sich um einen jungen Steinadler aus dem nahen Gebirge handelte, der sich auf  seinem Jagausflug hinunter in die Ebene verirrt hatte. Für einen Bussard schien ihm dieser Vogel viel zu groß. Ganz in den Anblick dieses herrlichen Tieres versunken, musste er eine Bewegung gemacht haben, die die Aufmerksamkeit dieses Jägers erregte. Ihre Blicke kreuzten sich und ihm war, als ob ihn diese Augen wie Dolche durchbohrten. Plötzlich öffnete sich der große, scharf gebogene Schnabel und wieder ertönte dieser seltsam geheimnisvoll klingende laute Schrei. Julian registrierte kaum, daß er ganz langsam ein Stück in Richtung des Pfostens kroch und den mächtigen Krallen recht nahe kam. Neugierig und mißtrauisch wurden seine Bewegungen beobachtet. Er hielt inne und fast andächtig sah er in dieses mit einem gefährlichen Schnabel bewehrte Gesicht. Seine Augen hingen wie gebannt an denen des Raubvogels und für Bruchteile von Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen, sah dieses Geschöpf in ihn hinein. Er spürte auf einmal eine unbekannte, grenzenlose Freiheit seiner Seele. Er fühlte sich so frei wie dieser Vogel und ein Gefühl nie gekannter Kraft und Stärke durchströmten seinen jungen Körper. Das Gefühl, über sich selbst hinauszuwachsen breitete sich in ihm aus. Bilder einer fremden Welt drängten sich in seine Gedanken und verwirrten ihn.

 

War der laute und scharfe Ruf dieses scheuen Jägers eine geheime Botschaft, die er noch nicht verstand?

 

Er musste sich bewegt haben, denn plötzlich löste sich sein Gegenüber mit kräftigen, lautlosen Flügelschlägen vom Pfosten und stieg schnell in den tiefblauen, wolkenlosen Himmel. Jetzt war er sich ganz sicher; diese mächtige Spannweite in den Flügeln konnten nur Adler haben.

 

Es war später Nachmittag geworden und beim Anblick seines Bündels wurde ihm der unsinnige Wunsch des spontanen Auswanderns in die neue Welt erst so richtig bewußt. Er würde Großmutter von diesem Erlebnis erzählen und dem, was er empfunden und gefühlt hatte. Sie würde ihn verstehen.

 

Die Freude auf ihre Nähe ließ ihn mit weit ausgreifenden Schritten nach Hause eilen.

 

Ohne seinen eiligen Schritt zu verkürzen, drehte er sich um und sein suchender Blick fand eine am Himmel kreisende Silhouette. War es der Vogel, mit dem er die Blicke getauscht hatte?

 

Spontan winkte er dem seine Kreise ziehende Jäger zu und ihm schien, als wäre sein über die Landschaft gellender Ruf eine frohe Antwort auf seinen Gruß. Er wusste, daß er dieses ihn tief ergreifende Erlebnis nicht vergessen würde.

 

Die in der Nachmittagssonne vor ihm liegende Stadt kam mit jedem seiner kleinen schnellen Schritte näher und näher. Großmutter würde auf ihn warten.

 

Woher hätte dieser achtjährige Junge auf dem Heimweg zu seiner Vertrauten und Freundin auch wissen sollen, daß er sich Jahre später als junger Student der Medizin mit seinem Vater wegen finanzieller Differenzen völlig überwerfen würde und dieses Zerwürfnis ihn in die neue Welt auswandern ließ?

 

Hätte seine Großmutter ihm gesagt, daß er diese neue Welt, die ihn so faszinierte, 1884 kennenlernen würde, daß er sich mit zwanzig Dollars in der Tasche, einem Schweizer Militärgewehr und einem Spaten im nordwestlichen Nebraska, einem Grenzgebiet zwischen Indianerland und der mit grausamer Brutalität fortschreitenden Zivilisation niederlassen und bald von den Trappern, Nachbarn und Indianern "Old Jules" genannt würde – er hätte es nicht geglaubt.

 

Er würde sich am Niobrara, dem Running Water, niederlassen, nahe jener Sandberge, in denen Little Wolf mit seinem Volk, den Cheyenne, im Winter 1878/79 vor seinen Verfolgern Schutz gesucht hatte. In seinem Haus würden die Oldtimers, Trapper und Indianer Gast sein und aus ihrer Vergangenheit erzählen.

 

Mari, die älteste von sechs Kindern würde 1901 geboren werden und von dem Schicksal der Indianer – Sioux und Cheyenne – so sehr betroffen sein, daß sie sich ihr ganzes Leben lang mit diesen geschlagenen und verfolgten Menschen beschäftigen würde. Sie würde ihre Sprache erlernen, ihre Sitten und Gebräuche erforschen und ihre Geschichte studieren.

 

Seine Älteste würde 1950 von der Universität Nebraska in der Hauptstadt Lincoln zum Ehrendoktor der Literatur ernannt werden und ihrem 1928 verstorbenen Vater mit dem Roman "Old Jules" 1935 ein Denkmal setzen. 1953 würde sie "Cheyenne Autumn" (Cheyenne Herbst) dieser von weißen Einwanderern in ihrer Gier nach Land und Bodenschätzen geschundenen Rasse ebenfalls ein unvergängliches Denkmal setzen. 10 Jahre nach Erscheinen von "Cheyenne Autumn" sollte dieses Buch Grundlage für einen der schönsten und größten amerikanischen Filme bieten. Mari Sandoz würde dem Namen ihres Vaters Ehre machen.

 

Er wusste nicht, daß diese alte Frau die Gabe des zweiten Gesichts besaß und in ihren Träumen manchmal Dinge voraussah, die ihr niemand glaubte, die aber geschahen. Er hätte ihr ebensowenig geglaubt und wäre verwirrt gewesen, wenn sie ihm gesagt hätte, daß er seine kindlichen Träumereien verwirklichen und in dieser neuen Welt wie viele andere vor ihm eine neue Heimat finden würde.

 

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Impressum

Texte: Bernd Terlau
Bildmaterialien: Bernd Terlau
Lektorat: Bernd Terlau
Übersetzung: keine
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2017

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