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Der Spiegel

 

Seit diesen seltsamen Ereignissen auf "Ghislaine Manor" habe ich panische Angst! Gequält und zermürbt läßt sie mich nachts in klebrigem, stinkendem Schweiß gebadet aufwachen.

 

Wenn ich mich recht erinnere, geschah alles vor wenigen Wochen an meinem Geburtstag.

 

Ich hätte das erste, subtile und so unscheinbar aussehende Anzeichen im Spiegel nur richtig wahrnehmen, richtig deuten müssen. Vielleicht würden sich dann die Dinge anders entwickelt haben, aber seit diesem Tag bin ich Opfer einer undefinierbaren, nicht greifbaren Angst.


Übrigens, ich bin Jonathan Copperfield, II.

 

Ich wohne oder besser gesagt, ich wohnte allein in „Ghislaine Manor“. Dieses Anwesen war bis vor ein paar Generationen noch ein schöner, herrschaftlicher Landsitz. Heute ist es ein vom Verfall gezeichnetes Gemäuer.

 

„Ghislaine Manor“ liegt außerhalb der Stadt, inmitten einer grandiosen Moorlandschaft, die jedes Jahr viele Maler und Naturfotografen anzog, hatte man doch von den oberen Etagen des Hauses eine wunderbare Fernsicht über und auf das faszinierende Moor.

 

Bis vor einem Jahr hatte ich mir durch das Vermieten einiger Zimmer noch ein Zubrot hinzuverdienen können. Nachdem das Dach von den letzten Herbststürmen arg mitgenommen wurde, einige Fensterscheiben in den oberen Stockwerken zerbrochen waren und mangels Geld nicht repariert werden konnten, musste ich sie mit Brettern verschließen. Die Mieter blieben natürlich aus und die Banker versteinerten bis ins Rückenmark, wenn sie meiner ansichtig wurden. Sie hatten ihre eigene Meinung zu diesem verfallenden Bauwerk; eine ähnliche wie Marjorie.

 

Meine Schwester fand es nie wirklich gut, daß ich an diesem alten und verrottenden Steinhaufen, wie sie ihn nannte, hing, auch wenn dieser marode Landsitz mit seiner großen Parkanlage und den umliegenden Ländereien, die nur den nötigsten Ertrag zum Überleben einbrachten, das einzige war, was seit Generationen in der Familie weitervererbt wurde. Mehr als nur einmal versuchte sie, mich zum Verkauf dieser „Ruine“ zu bewegen, aber bisher konnte ich mich dazu einfach nicht entschließen.

 

*

 

Vor dem Haus befand sich ein großer Teich, der sich über die gesamte Breite der Häuserfront erstreckte und dessen Uferregion vor Generationen eingefasst wurde. Ein kleiner Bach speiste ihn – damals. Vor zwei oder drei Jahren legte man dieses Rinnsal im Zuge der Stadterweiterung trocken und sowohl Zu- und Abfluß dieses Weihers wurden auf Kosten der Stadt zugemauert, sodaß er mir wenigstens als stehendes Gewässer erhalten blieb.

 

Er durfte, und sollte, niemals trocken gelegt werden. Zu viele Geheimnisse befanden sich auf seinem Grund, die auch besser dort unten blieben.

 

Die beiden sehr großen und ob ihrer Größe leistungsfähigen, ebenfalls auf Kosten der Stadt installierten Pumpen schafften es nur unzureichend, das Wasser umzuwälzen und es mit Sauerstoff zu versorgen. In den folgenden Jahren wuchs die Wasseroberfläche nach und nach mit Entengrütze und dem Laub der Weiden zu, bildete eine dünne, sehr wenig Licht durchlassende Schicht auf dem Wasser.

 

Im Herbst, wenn der Himmel meist düster und grau in grau war, bildeten sich bizarre Nebel, schuf sich dieses dunkle Gewässer in den Morgen- und Abendstunden seine eigenen, grotesken Figuren aus der Anderswelt. Etwas Mystisches und Bedrohliches ging dann von ihm aus, zog jeden auf besondere Weise in seinen Bann.

 

Man musste ihn in einem weiten Bogen umfahren, wollte man zum, zugegeben, etwas protzig wirkenden Eingangsportal gelangen.

 

Unzählige, teilweise von der Natur sehr eigenwillig geformte Trauerweiden sowie viele steinerne Skulpturen, überwiegend Engel in allen Schattierungen, vor vielen Generationen geplant und äußerst geschickt plaziert, säumten die Zufahrt, erweckten den Eindruck, als würden sie jeden Besucher mit ihren traurigen, leidvollen Blicken bis zum Eingangsportal verfolgen.

 

Viele dieser lebensecht wirkenden Steinfiguren waren jetzt teilweise von dichtem Buschwerk eingerahmt oder überwuchert. Die von allem Besitz ergreifende Natur verstärkte den schaurigen, düsteren Eindruck und ließ den einen oder anderen sensiblen Besucher, unter anderem auch meine Marjorie, schaudern und fröstelnd die Schultern hochziehen.

 

Ihre Augen und ihre von unendlichem Leid geprägten Gesichter hatten etwas Lebendiges, etwas Sprechendes, so, als vermittelten sie eine unbekannte, düstere Botschaft - oder vielleicht eine ebensolche stumme Warnung.

 

Der ganze Gebäudekomplex, von den hohen Bäumen teilweise verdeckt, erweckte heute, verwahrlost, den Eindruck, als würde sich hier ein großes Mausoleum, eine Gruft oder ähnliches befinden und nicht ein ehemals herrschaftlicher Landsitz. Seine wahre, imposante Größe offenbarte sich erst, wenn man die letzte Trauerweide hinter sich gelassen hatte und sich unmittelbar vor dem Portal befand.


Einige Abzweigungen der Zufahrt verloren sich in einer von der Natur kontrollierten und in Besitz genommenen Parkanlage. Ihre Wege waren ebenfalls mit weitläufig aufgestellten Skulpturen, die das Drama der menschlichen Seele in ihrem unendlichem Leid wiederspiegelten, gesäumt.

 

Die ganze Parkanlage war mittlerweile sich selbst überlassen und bildete in weiten Teilen bereits dichtes, verfilztes Unterholz, Unterschlupf für vielfältiges Kleingetier. Ein paar Wege führten hinaus ins Moor, welches es zwischen dem ehemals kultivierten Park und der Stadt noch gab.

 

Marjorie betrat nur sehr ungern dieses düstere Anwesen mit seinem weit ausladenden Eingangsportal, seiner großen Eingangshalle und den unglaublich vielen Zimmern.

 

Ihr Körper erschauerte immer wieder, wenn sie mich, was nicht sehr häufig geschah, zum Wochenende besuchte. Oft suchte sie dann Zuflucht in meinen Armen, kuschelte sich plötzlich fröstelnd und fast schon zitternd an mich.

 

Sie war ein wenig kleiner als ich, von sehr zierlicher Gestalt und sehr ansprechend proportioniert. Ihr feines, schmal geschnittenes Gesicht mit den grünen Augen und dem feingeschwungenen Mund zogen jeden Mann sofort in ihren Bann. Der dunkle Teint mit dem leicht asiatischen Einschlag unterstrich noch ihre exotische Schönheit. Wenn sie herzhaft lachte, was sie oft und gern tat, blitzen ihre leidenschaftlichen, nur ganz wenig schräg gestellten Augen. Ihr perlendes Lachen war ansteckend und der eine oder andere ihrer Bewunderer fand es sogar erotisch. Die schwarze, kaum zu bändigende Mähne, anders konnte man ihre langen Haare nicht bezeichnen, unterstrichen noch diesen fremdartigen Kontrast.


Ja, sie war eine betörend schöne Frau.


    Marjorie hatte in einer großen Kanzlei zu einem guten Gehalt eine Anstellung gefunden und wohnte in einem kleinen, aber hübschen Appartement allein in der nahe gelegenen, langsam wachsenden und sich mehr und mehr ausbreitenden Stadt.

 

Ich liebte meine Schwester abgöttisch, vergötterte sie – nur sagte ich es ihr niemals. Ihretwegen habe ich auch niemals geheiratet. Einen Umstand, den ich ihr ebenso verschwieg wie manchen anderen.

 

Aber da waren noch unsere drei anderen Geschwister. Der Vollständigkeit halber erwähne ich sie hier, beschränke mich jedoch auf eine extrem kurze Darstellung. Mit ihnen verband mich nichts, nicht einmal im Gedenken an sie: im Gegenteil. Auch wenn sie schon lange tot waren, so denke ich nur mit Abscheu und Schaudern an sie. Marjorie gedachte ihrer, im Gegensatz zu mir, in tiefem Mitleid und ebensolchem Mitgefühl, was ich, nebenbei bemerkt, nie so wirklich verstanden habe.

 

Meine beiden älteren Brüder waren von höchst krimineller Natur und entsprechend lebten sie diese auch aus: Alkohol, Drogen, Sex und Gewaltexzesse vergifteten nach und nach ihre Gehirne und eines Tages kam, was kommen musste; sie verloren sämtliche Hemmungen und jegliche Kontrolle über sich. Sie gingen aufeinander los, jeder mit einer Axt bewaffnet. Ihre Beisetzung fand in aller Stille statt und die damals noch sehr kleine Stadt, eher fast noch ein Dorf, atmete insgeheim auf.

 

Meine andere Schwester, das Nesthäkchen der Familie, wurde zum Bedauern aller schon sehr stark behindert geboren. Zu ihrer eigenen Sicherheit lebte dieses bemitleidenswerte, hilflose Geschöpf nach dem Tode unserer Eltern in der ortsansässigen Nervenheilanstalt, dem "Oak Valley Sanatorium".

 

Ersparen sie mir bitte die Einzelheiten, zu schrecklich sind die Erinnerungen an ihre Behinderung. Eines Nachts fand man sie dann, noch sehr jung an Jahren, in ihrem Zimmer. Tot. Die Hintergründe zu ihrem plötzlichen Ableben wurden nie wirklich ganz geklärt, zu viele Ungereimtheiten, zu viele Widersprüche gab es um ihren Tod.

 

Was Vater und Mutter angeht… - nun, sie waren ein wundervolles Paar. Bessere und liebevollere Eltern gab es einfach nicht, konnte sich kein Kind wünschen. Unsere Eltern liebten sich sehr. Jeder sah ihr tiefes Glück, aber auch ihre unglaublich leidenschaftliche, besitzergreifende und darum wohl auch sehr zerstörerische Eifersucht. Niemand sah und wusste, daß sie Geschwister waren und niemand wusste, bis auf den See, daß sie gemeinsam den Freitod gewählt hatten, nur um für immer untrennbar zusammen zu sein.

 

*

 

Zurück zu diesen seltsamen, verstörenden Vorfällen an meinem Geburtstag. Meine geliebte Marjorie schenkte mir anläßlich meines Geburtstages diesen bereits erwähnten Spiegel. Sie hatte ihn bei einem dieser fahrenden Trödler auf dem regelmäßig eine Woche vor meinem Geburtstag stattfindenden Jahrmarkt der nahe gelegenen Stadt erstanden.

 

Es war ein sehr schöner, großer, fast mannshoher Spiegel: ein wunderbares, sehr repräsentatives Stück mit einem alten viktorianischen Holzrahmen und für die Eingangshalle wie geschaffen.

 

Ich wollte Marjories Geschenk, diesen ungeheuer schweren Spiegel, den zwei ausgewachsene, kräftige Männer nur mühsam transportieren konnten, wie vorgesehen, im Eingangsbereich aufstellen. An sich war da nichts Besonderes an dem Spiegel, bis auf den Umstand, daß er auf der Rückseite ein paar merkwürdige, uns unbekannte Sigillen enthielt.


   Sigillenähnliche Symbole gab es bereits in der Antike, beispielsweise auf Amuletten oder Talismanen, mit denen man Geistwesen, Engel, Götter oder Dämonen anrief. Ein Beispiel für ein solches Symbol wäre das berühmte salomonische Siegel.

 

Wir wußten beide um die Macht der Sigillen, maßen diesen aber keine Bedeutung bei, da sie sich mit einem feuchten Tuch sehr leicht entfernen ließen. Offensichtlich eine fatale Fehleinschätzung.

 

Nachdem Marjorie es sich nicht hatte nehmen lassen, den Spiegel gründlich zu reinigen, hängten ihn zwei meiner Gäste, kräftige und stämmige Freunde, an der vorgesehenen Stelle auf.

 

Stolz und ein klein wenig selbstgefällig standen Marjorie und ich Arm im Arm vor diesem schönen Schmuckstück und betrachteten uns. Wir stellten beide unabhängig voneinander fest, daß wir ein sehr attraktives Paar waren. Spontan nahm ich meine Schwester in den Arm, drückte sie, küßte sie auf den Mund und versicherte ihr, wie sehr mir dieser Spiegel gefallen würde. Sie lachte glücklich, küßte mich ebenfalls, biß mir zärtlich in die Nase und zog mich von dem Spiegel zu unseren Freunden fort.

 

Irgendwie hatte ich plötzlich das unbestimmte Gefühl, als ob der Spiegel mich beobachtete, so, als sei er verstimmt, daß ich mich von meiner Schwester liebevoll und gern ablenken ließ.

 

Mir war, als ob ich einen flüchtigen, nebulösen Schatten gesehen hätte, als ob sich das reflektierende Glas für einen Sekundenbruchteil durch einen zarten, schwachen Nebel verdunkelte und plötzlich, wie eine kaum spürbare leichte Brise, war sie da: diese unvorstellbare Angst. Nicht definierbar, nicht greifbar, aber allgegenwärtig. Ich hätte genau hier sofort auf diese winzigen, scheinbaren Veränderungen im Spiegel reagieren müssen, aber…

 

Achselzuckend ließ ich mich von Marjorie zu unseren Freunden entführen und gemeinsam gingen wir eng umschlungen zu ihnen wieder zurück.

 

Im Laufe des Abends spürte ich des öfteren, wie Marjories nachdenklicher Blick auf mir ruhte und wenn sich unsere Blicke kreuzten, hatte ich das Gefühl, trotz aller schwesterlichen Liebe und Verständnis zu mir so etwas wie Schwermut oder Trauer in ihren Augen erkennen zu können. Nur - an diesem Abend fanden wir einfach keine Gelegenheit mehr, miteinander zu reden.

 

Der Abend zog sich in die Länge und zu vorgerückter Stunde, ich glaube, so gegen 23:00 Uhr, verabschiedeten sich meine Gäste. Meine Schwester fuhr mit ihnen in ihr kleines Appartement zurück. Es lag auf dem Weg eines verheirateten Paares und Marjorie brauchte nur einfach vor ihrer Haustür abgesetzt werden.

 

Ich schloß die Tür, nachdem sie außer Sichtweite waren und stand allein mit meinem Spiegel in der Eingangshalle. Ich näherte mich diesem feudalen Geburtstagsgeschenk, nahm verschiedene Posen ein, betrachtete ihn (und mich) ausgiebig und freute mich im Stillen über den guten Geschmack und das Wertegefühl Marjories für ein solch antikes Stück.

 

Etwas an dem Spiegel störte mich allerdings. Ich hatte mich anders in Erinnerung aber ich kam nicht darauf, was die Ursache für diese scheinbare Veränderung sein konnte.

 

Ich fing an zu grübeln und kehrte immer öfter tief in meinen Gedanken versunken zu dem Spiegel zurück, verbrachte in dieser Nacht viele Stunden vor ihm, sah mich immer kritischer, suchte nach Unterschieden zu der Darstellung meiner Person in den anderen Spiegeln. Ich kam nicht darauf! Einen oder zwei Tage später, ich verbrachte wieder sehr viel Zeit vor dem Spiegel, geschah es dann.

 

Plötzlich! Völlig unterwartet!

 

Wieder einmal, wie so oft, stand ich mit einer Tasse Kaffee in der Hand vor dem Spiegel und während ich mich so grübelnd betrachtete, vergoß ich etwas von diesem Gebräu über meine Schuhe. Ich bückte mich, um die Spuren dieses ungemein schmackhaften Getränkes vom Leder meiner Schuhe abzuwischen. Eine natürliche Reaktion, sollte man meinen. Stimmt!

 

Gleichzeitig spürte ich aber einen Lufthauch über mir, fühlte ihn fast körperlich und sah aus meinen Augenwinkeln, wie ICH im Spiegelbild mit einem Schwert nach MIR schlug – sah, wie ICH MICH nur sehr knapp um Millimeter verfehlte. Mir gefror das Blut in den Adern. Eine Gänsehaut ohnegleichen packte mich, mir standen die Haare zu Berge. Mein Körper schüttete Unmengen Adrenalin aus. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich mein Spiegelbild an, sah, wie es zum zweiten Schlag ausholte.

 

Ich warf mich vollends zu Boden, krabbelte mit einem erstickten Aufschrei rückwärts und rutschte so keineswegs heldenhaft aus der Gefahrenzone, brachte mich kreidebleich und entsetzt außer Reichweite seiner Waffe in Sicherheit.

 

Ich sah mein anderes ICH, mein selbständig gewordenes Spiegelbild an, unfähig, einen Ton hervorzubringen.

 

Haßerfüllte Augen begegneten meinem ungläubigen und verstört umherirrenden Blick. Mit schief geneigtem Kopf fixierte mich dieser Andere. In der Hand hielt ER oder ES oder was immer es auch war ein mächtiges Schwert aus dem 12. Jahrhundert.

 

Aus sicherer Entfernung betrachtete ich meinen Gegenüber, suchte nach Übereinstimmungen und stellte mit Grausen fest, daß er die gleiche Kleidung trug wie ich. Er war in jeder Hinsicht mein Spiegelbild. Er hatte sogar die gleiche, kleine Narbe am Kinn. Nur sein Blick, sein grenzenloser Haß schufen den kleinen, aber wesentlichen Unterschied.

 

Ich fühlte mich erbärmlich. Ich war mir sicher, daß ich nur halluzinierte. Sicher war die überaus leckere und herzhafte Pilzsuppe aus frischen Waldpilzen schuld. Vielleicht hätte ich sie nicht aufwärmen sollen.


   Seine Lippen bewegten sich und formulierten für mich unhörbare Sätze während ich, außer Reichweite seines Schwertes auf dem Boden sitzend mich der Angst hingab; kalten, klebrigen Schweiß absonderte.

 

Mir wurde schlecht und ich übergab mich, aber das machte es auch nicht besser. Er oder Es oder der Andere lachte nur spöttisch auf, weidete sich an meiner Angst und verschwand in dem Glas, wurde nebulöser und schemenhafter und war dann auf einmal weg, einfach unsichtbar. Instinktiv wusste ich aber, fühlte ich es, daß er noch immer in diesem Spiegel war.

 

Ich saß da und starrte auf dieses seltsame Artefakt und sah nichts als die weiße Wand, an der ich selbst völlig erschöpft lehnte. Ich sah nicht einmal mich in meiner sicher nicht rühmlichen Pose. Nach geraumer Zeit schob ich mich langsam an der Wand hoch und trat seitlich aus dem Erfassungsbereich des Spiegels heraus, vorsichtig, immer darauf bedacht, genügend Sicherheitsabstand einzuhalten.

 

Ich schob mich wieder zurück, aber der Spiegel blieb leer. Er reflektierte nur die Wand hinter mir mit ihren mehr oder weniger kitschigen, alten und verwitterten Fresken. Das Ganze wiederholte ich noch einige Male, um ganz sicher zu sein, nicht doch zu halluzinieren oder einem Wachtraum zu erliegen.

 

Ich war ein Mann ohne Spiegelbild und ohne Schatten. Eine verstörende, unglaublich groteske Tatsache!

 

Panik überfiel mich ob dieser Erkenntnis. Mir wurde heiß und kalt, mein ganzer Körper prickelte wie mit tausend Nadeln beschossen und wieder brach mir der Schweiß aus, produzierte ich Adrenalin im Überfluß.


   Ich stahl mich vorsichtig davon, flüchtete in den kleinen Salon an die noch immer gut ausgestattete Bar und tat, was ich vor mehr als dreißig Jahren oder so aufgegeben hatte: ich genehmigte mir einen, zwei, nein drei Doppelte und ein ganzes Glas extra aus der erstbesten mit Hochprozentigem gefüllten Flasche.

 

Es half auch nichts, daß ich mich in gewohnter Weise in dem kleinen Spiegel an der Wand sehen konnte. Ebenso in allen anderen Spiegeln im Haus, was mich einerseits tröstete, andererseits aber auch noch mehr irritierte.

 

Am nächsten Tag vermied ich es, die Eingangshalle zu betreten bis mir am späten Vormittag die Idee kam, den Spiegel zu verhängen.

 

Vorher wollte ich ihn nur noch einmal testen. Es konnte ja sein, daß ich mir in der vergangenen Nacht wirklich nur alles eingebildet hatte und alles nur ein böser Traum war.


Ich ging also mit einer Decke bewaffnet in die Eingangshalle, schob mich langsam in den Sichtbereich des Spiegels und siehe da – ich sah mich wieder.

 

Erleichtert wollte ich die Decke schon weglegen, als ich bemerkte, wie sich das Bild zu verändern begann. Ich erstarrte für einen Moment und für einen kurzen Augenblick war ich unfähig, mich zu bewegen. Ohne es zu wissen, war ich näher an den Spiegel herangetreten als gut für mich war, was mir fast zum Verhängnis wurde.

 

Zuerst erschien dieser leichte, diffuse Nebel, den ich schon im Beisein von Marjorie wahrgenommen hatte. Er verfestigte sich zu einem düsteren Schatten und dann baute sich das Bild rasch auf. Mein Spiegelbild oder vielleicht sollte ich besser sagen, das andere ICH, stieß mit dieser alten Klinge nach mir und holte blitzschnell zu einem diagonalen Schnitt aus. Ich konnte gerade noch ausweichen und mich durch einen Sprung an die gegenüberliegende Wand retten. Mein Körper geriet wieder außer Kontrolle und Panik breitete sich erneut in mir aus.

 

Nur mit knapper Not war ich dieser neuerlichen Attacke entkommen und erkannte zu meinem namenlosen Schrecken, daß er auch in den anderen Spiegeln plötzlich sichtbar war. Aus zwei anderen Stücken, die eigentlich nur zur Dekoration und zwecks Aufhellung in der relativ lichtarmen Eingangshalle aufgehängt waren, sahen mich die gleichen, bösartigen Augen an.


   Ich wollte nur noch weg und rannte aus dem Haus, lief solange, bis ich keuchend und mit schmerzender Lunge stehen bleiben musste. Irgendwann beruhigte ich mich und ging zögernd zurück.


Mein Weg führte mich geradewegs in die Garage. Nach längerem Suchen fand ich ein Stemmeisen, mit dem ich die Tür zur Küche aufbrechen wollte. Diese Tür war lange Zeit nicht benutzt worden, da ich mir schon seit vielen Jahren kein Küchenpersonal mehr leisten konnte, aber so konnte ich wenigstens das Haus direkt, ohne den Umweg über die Eingangshalle, betreten.

 

Ich ging sofort in den kleinen Salon an die Bar, goß mir ein Glas voll und nahm dabei, während ich das Glas wie ein Verdurstender in einem Zug leertrank, den kleinen Spiegel von der Wand, sah noch einen Schatten, bevor ich ihn mit der Glasseite nach unten auf den kleinen Beistelltisch legte. Daß er dabei zersprang, entging mir vorerst, stellte ich erst einige Zeit später fest.

 

Mit einer Whiskeyflasche bewaffnet, zog ich mich in die Bibliothek zurück, dem einzigen Raum ohne Spiegel. Ich versuchte, dieses ganze schaurige, mich verstörende Geschehen um mich herum zu reflektieren – ohne Erfolg. Je mehr ich darüber nachdachte, um so mehr geriet ich in Panik, wollte ich nur noch weg aus diesem Haus. Aber wohin sollte ich gehen?

 

Marjorie konnte ich telefonisch nicht erreichen, weder in der Kanzlei noch privat, was ich eigentlich sehr ungewöhnlich fand. Die Leitung war tot und mein alter, klappriger Ford sprang auch nicht an. Ich wollte ihr von den Vorfällen am Telefon erzählen und sie bitten, mir kurzfristig Unterschlupf zu gewähren.

 

Ich machte mich also mit dem Fahrrad auf, um in die nahe gelegene Stadt zu fahren. Gott sei Dank waren es nur wenige Meilen, die ich auch zu Fuß hätte gehen können – aber wer verhält sich in beginnender Panik besonders rational?

 

Ich fand ihre Adresse jedoch nicht, konnte mich einfach an nichts erinnern. Alles, was Marjorie betraf, war in meinem Kopf wie ausradiert. Völlig verzweifelt fuhr ich weiter zur Telefongesellschaft.

 

Eine dortige Überprüfung meiner Anschlüsse war ergebnislos. Alle Leitungen und Anschlüsse waren in Ordnung, wie ein Techniker der Telefongesellschaft in meinem Beisein feststellte. Ich fuhr mit diesem Techniker wieder zurück nach Hause, aber auch dort konnte er bei der örtlichen Untersuchung keinen Fehler feststellen. Wenn er die Leitungen prüfte, waren sie in Ordnung, wiederholte ich in seiner Anwesenheit die gleichen Handgriffe, war alles tot.


   Er schüttelte nur den Kopf und verließ hastig und fluchtartig, völlig konsterniert und wahrscheinlich auch mit einer Gänsehaut "Ghislaine Manor".

 

Irgendwie gelang es mir an diesem Abend, alle Spiegel abzuhängen und anschließend zu zerstören. Der kleine Spiegel im Salon, den ich abgehängt und umgedreht abgelegt hatte, war ja schon vollkommen zerstört. Marjories teuflisches Geschenk konnte ich nicht zerstören. Ich brachte es nicht übers Herz und wollte ihn daher nur mit einer Decke verhängen.

 

Ich näherte mich ihm also erneut von der Seite, stieg auf einen daneben stehenden Hocker und hielt die Decke so vor mir, daß ich ihn nur erahnen konnte. Irgendwie gelang es mir, mit einem Schwung die Decke komplett über den Spiegel zu drapieren und ihn zu verhängen. Das Sichern der Decke war dann ein Kinderspiel.

 

Mit mir sehr zufrieden ging ich in die Küche und – mein Verstand setzte aus. Aus blitzblanken Kochutensilien, Pfannen, Töpfen und Deckeln, starrten mich unzählige, bösartige Augen an.

 

Ich warf mich zurück und erhielt wohl doch noch einen wuchtigen Schlag gegen den Kopf, der mich zurücktaumeln ließ und mir für einige Zeit die Besinnung raubte. Als ich wieder zu mir kam, war die Küchentür geschlossen.

 

Während ich zu Boden ging, muß ich wohl die Tür reflexartig zugeschlagen haben. Mir brummte der Schädel und auf meiner Stirn zeichnete sich eine dicke Beule ab.

 

Nachdem ich mich beruhigt hatte, ging ich systematisch daran, alles Reflektierende zu zerstören, wobei ich mir sicher war, daß er, der Andere, trotz allem noch immer allgegenwärtig im Haus sein würde.


*

 

Am nächsten Morgen, nachdem ich endlich das erste Mal wieder ausgeschlafen hatte, versuchte ich dann draußen im Hof in einer mit Wasser gefüllten Regentonne, in der das Wasser ganz ruhig stand, meinen mehrere Tage alten Bart abzurasieren.

 

Ich hatte mich gerade mit meinem Rasiermesser in der Hand über den Beckenrand gebeugt, als aus dem Wasser eine glitschige, kalte und nasse Hand hervorschoß, mich an der Kehle packte und mich, kräftig würgend, ins Wasser ziehen wollte.

 

Wie ich es schaffte, mich aus diesem mörderischen Griff zu befreien, weiß ich heute nicht mehr. Das Sprechen fällt mir schwer. Die Hand muß wohl meinen Kehlkopf leicht verletzt haben. Na ja – mit wem sollte ich mich auch derzeit unterhalten. Hauptsache: ich lebte noch.

 

*

 

Marjorie war nach wie vor nicht auffindbar, was nun wirklich nicht zu ihr paßte und für mich mehr als nur rätselhaft war, mich sehr beunruhigte und mit großer Sorge erfüllte. Sie war wie vom Erdboden verschwunden, so, als hätte es sie nie gegeben. Die Kanzlei, die sie vermißte, hatte angerufen und sich nach ihr erkundigt. Ich konnte aber keine helfende Auskunft geben.

 

Merkwürdig war, daß für diesen Moment das Telefon plötzlich wieder funktionierte. Als ich im Anschluß die Polizei anrufen wollte, um eine Vermißtenanzeige aufzugeben, schwieg es wieder, war die Leitung tot.

 

*

 

Seit diesem denkwürdigen Tagen sind scheinbar nur wenige Wochen vergangen und meine ganze Welt steht Kopf. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren, meide jetzt alles, was spiegelt. Gott sei Dank kann ich mich duschen und mittlerweile auch unter fließendem Wasser rasieren. „Ghislaine Manor“ habe ich kurzfristig aufgegeben und samt Inventar zum Verkauf gestellt. Ich war bereit, jeden Preis zu akzeptieren.

 

Jetzt lebte ich sehr zurückgezogen am Rande des Moores in einer kleinen, abgeschiedenen und relativ spärlich möblierten Kate. Elektrisches Licht, Heizung und warmes Wasser habe ich, aber sonst lebe ich ohne nennenswerten Komfort und ohne jeglichen sozialen Kontakt. Die Angst ist mein ständiger Begleiter. Sie folgt mir wie ein Rudel abgerichteter Bluthunde, ist immer und überall gegenwärtig.

 

Die Zeit verstrich.

 

Nach und nach kam ich ein wenig zur Ruhe, während ich in dieser Zeit völlig vereinsamte und auch ein wenig verwahrloste. Die zwischenzeitlich eingeschaltete Polizei stellte irgendwann ihre erfolglose Suche nach Marjorie ein - und ich gab schließlich auch auf, sie zu finden. Es gab weder ihre Adresse noch gab es, wie sich herausstellte, diese Kanzlei. Marjorie gab es offensichtlich nicht mehr. Sie war völlig vom Erdboden verschwunden. Das Ganze war einfach nur rätselhaft, unerklärlich.

 

WER, wenn nicht meine Marjorie, hatte mir dieses teuflische Geschenk, vor dem ich auf der Flucht war, gemacht?

 

WER, wenn nicht meine Schwester, war die letzten Jahre immer für mich da?

 

WER war die Kanzlei, die sich nach Marjories Verbleib erkundigt hatte…?

 

WER und WO war Marjorie?

 

*

 

Einige Monate der Ruhe vergingen und ich wurde leichtsinnig.

 

Ich kaufte mir bei einer herumstreunenden Zigeunerin einen einfachen, billigen Rasierspiegel. Sie wollte ihn mir schenken, aber ich lehnte aus guten Gründen ab. Irgendwie wurden wir uns dann doch noch handelseinig. Ich zahlte ihr etwas, für mich schon mehr symbolisch und erhielt einen einfachen und schlichten Rasierspiegel.

 

Vorsichtig schaute ich über den Rand in den Spiegel. Leer.

 

Nur der strahlend blaue Himmel über mir spiegelte sich in ihm. Ich atmete auf.

 

Stück für Stück schob ich mein Gesicht immer weiter in den Erfassungsbereich des Spiegels hinein, bis ich es ganz sehen konnte - und dann traute ich meinen Augen nicht mehr.

 

Mit einem erstickten Seufzer sank ich kreidebleich und mit weit aufgerissenen Augen, nach Luft ringend, zu Boden. Mir war schlecht und mein Umfeld drehte sich um mich, schneller und schneller werdend. Mir war, als würde sich meine winzige, kleine heile Welt in einem orkanartigen Brausen mit einem überlauten Knall endgültig auflösen und als müsse ich jeden Augenblick ins Bodenlose stürzen.

 

Aus dem Spiegel sahen mich zwei schräggestellte, grüne Augen mit einem verschmitzten, strahlenden Lächeln an. Ich kannte diese Augen und dieses strahlende Lächeln. Ich wollte mich schon freuen, als hinter diesen Augen plötzlich ein Nebel sichtbar wurde, der sich verfestigte und diese Augen, dieses liebreizende und solange vermißte Gesicht zu verdrängen begannen. Da war er wieder…

 

Ein hilfloses Schluchzen entrang sich mir, mein Kopf dröhnte plötzlich wie eine Glocke und mein ganzer Körper begann zu prickeln, zu jucken, zu brennen. Mit einem verzweifelten Aufschrei warf ich den Spiegel weit von mir - und dann muß ich wohl die Besinnung verloren haben. Es war das Letzte, was ich bewußt wahrnahm und woran ich mich erinnere.

 

Irgendwann, mehr tot als lebendig, abgemagert und halb verhungert, wirres Zeug vor mich her brabbelnd und offensichtlich völlig desorientiert umher irrend fand man mich im Moor, wie ich später, nach vielen Wochen intensiver ärztlicher Bemühungen um mich, in der Klinik erfuhr.

 

Meine überaus hysterische, panische Angst vor allem Glänzenden, in dem ich mich spiegeln konnte, hatte dann die behandelnden Ärzte dazu bewogen, mich näher zu untersuchen, nur um eine schwere, multiple Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren. Sie wiesen mich daraufhin in die ortsansässige Nervenheilanstalt, dem "Oak Valley Sanatorium", ein – dem gleichen Sanatorium, in dem meine unglückliche Schwester ihren Tod fand.

 

Seitdem lebe ich in einem schmucken und ruhigen Raum mit weißen, sehr gut und sehr dick gepolsterten Wänden. Ich habe alles, was ich brauche, bekomme regelmäßig meine Mahlzeiten und darf auch in den parkähnlichen Garten, wenn auch nur unter Aufsicht. Mein Betreuer ist sehr groß, ein Hüne, ein Gebirge von Mensch und mit unglaublich dicken Muskeln. Mit ihm an meiner Seite kann mir nichts passieren.

 

Die Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger sind alle sehr höflich und zuvorkommend, lesen mir jeden machbaren Wunsch von den Lippen ab.


*

 

Seit einiger Zeit, ein paar Wochen vielleicht, besitze ich wieder einen kleinen, runden Spiegel. So einen runden, kleinen mit langem Griff, wie ihn die Zahnärzte benutzen. Zeitweilig riskiere ich einen schnellen Blick. Marjorie ist immer noch bei mir und sobald sich der Hintergrund auch nur ein ganz klein wenig verändert, stecke ich ihn wieder weg.

 

Die Hauptsache ist, daß ich meine Schwester wiedergefunden habe. Marjorie und ich sind wieder zusammen, auch wenn der Spiegel sie gefangen hält…


*

 

Impressum

Texte: Bernd Terlau
Bildmaterialien: beim Autor, de.freepik.com
Lektorat: Bernd Terlau
Übersetzung: keine
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2017

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