Cover

Koschka

 

 

 

 

 

 

Es war ein kalter und regnerischer Tag Anfang November. Tief standen die großen, schwarzen Gewitterwolken am bleigrauen Himmel über ihm. Hin und wieder war leiser, ferner Donner zu hören. Das sich ankündigende Gewitter war zwar noch weit weg, aber seit den frühen Morgenstunden hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet und ließ es beständig regnen. Gleichmäßig. Monoton. Eisig fuhr der Wind in starken Böen über den Friedhof, trieb neben der dichter werdenden Regenwand loses Blattwerk vor sich her. Er spielte mit den elastischen Ästen der Trauerweiden, die einige kleine Gräber säumten. Der stetig undurchdringlicher werdende, kalte Nebel mit seinen wabernden Wogen in schmutzigem Weiß verstärkte die düstere Friedhofsstimmung, verschob die Grenzen der Realität ins Unwirkliche.

 

Juri war um diese Zeit der einzige Besucher in diesem Teil des Friedhofes. Nur hier gab es diese kleinen Gräber. Hin und wieder hatte die Friedhofsverwaltung eine Ausnahme gemacht und auch Erwachsenengräber genehmigt. Sein leerer Blick war auf den frisch aufgeworfenen Grabhügel unter dem alten Baum gerichtet. Nach und nach sank er leise schmatzend und gurgelnd, das Wasser in sich aufnehmend, zusammen.

 

Juri nahm weder den Regen noch sein eisiges Umfeld wahr. Außer den Naturgeräuschen herrschte absolute Stille, die durch den heraufziehenden Dunst noch verstärkt wurde. Hin und wieder wurde diese Stille von den nervös und hektisch umher flatternden, sich streitenden Krähen unterbrochen. Aber selbst diese Totenvögel verhielten sich anders als es ihrer Natur entsprach; fühlten sie wohl auch die Herrschaft des Todes und manches durch ihn verursachte, unsagbare Leid.

 

Nichts drang zu Juri Gargarov durch. Seltsam entrückt saß er auf der nur wenige Schritte von diesem kleinen Kindergrab entfernten Bank. Das spärliche, herbstlich gefärbte Laubwerk der alten Platane mit ihren weit ausladenden Ästen verzögerte nur geringfügig das Durchnässen seiner Kleidung. Tränen rannen aus Augen, in denen unbewältigter Schmerz tobte - aus denen vor etwas mehr als einer Woche in wenigen Sekunden die Lebensfreude gewichen war. Seine kräftigen, sehnigen Hände, die Meisterwerke der Spieluhrenkunst herstellen konnten, rangen in hilfloser, stummer Verzweiflung miteinander.

 

Quälende Erinnerungen stiegen in ihm hoch, ließen seine Seele in verzweifelter Qual aufschluchzen. Nicht nur der unverarbeitete, seelische Schmerz, sondern auch hilflose Wut peinigten ihn, quälten seinen Körper und raubten ihm den Schlaf, ließen ihn mit seinem Schicksal hadern. Es war ihm alles genommen worden und auf Hilfe durch die Behörden brauchte er nicht zu hoffen. Für ihn hatte das Leben seinen Sinn verloren. Sein dichtes, braunes Haar hatte sich grau, an manchen Stellen weiß gefärbt. Juri war in kurzer Zeit um Jahre gealtert.

 

Aber nicht nur er litt unbeschreibliche, innere Qualen, seine Frau Natalie traf es noch sehr viel härter. Als man versuchte, ihr die schreckliche Nachricht schonend beizubringen, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch, von dem sie sich nicht mehr erholte. Sie befand sich seit diesem Tag in ärztlicher Behandlung - und seit zwei Tagen in einer geschlossenen Psychiatrie. Zunächst nur zur Beobachtung, so hieß es, aber so, wie es aussah, würde sie wohl auch für immer dort bleiben - und mit ihr die kleine Puppe, die sie für Toma, ihre Tochter hielt, die sie verzweifelt an sich presste, die sie küsste und herzte, mit ihr lachte und der sie russische Kinderlieder vorsang.

 

Seine Gedanken wanderten zurück...

 

Es geschah vor etwas mehr als einer Woche. Mittags, gegen 14.00 Uhr.

 

Juri hatte seine kleine Toma wie jeden Tag vom Kindergarten abholen wollen – und wie jeden Tag kam seine kleine „Sonne“ über die mit einem absoluten Halteverbot ausgeschilderte und gesicherte Feuerwehrausfahrt, die sich direkt neben dem Ausgang des Spielplatzes befand, zugeflogen.

 

„Papi, Papi…“, krähte die knapp Vierjährige vor Glück und Lebensfreude. Er lief ihr wie immer ein paar Schritte entgegen und fing sie auf, wenn sie sich glücklich in seine Arme fallen ließ.

 

Nur - an diesem Tag veränderte sich sein Leben. Der Golf tauchte wie aus dem Nichts auf und schob sich in dem Moment, als er nach ihr greifen wollte, vor ihn. Er griff ins Leere, fiel auf den linken Kotflügel, spürte das Vibrieren der Bässe in der Karosserie, bevor ihn das Fahrzeug zurückwarf. In stummem Entsetzen sah er, wie sein Kind mit Wucht gegen die Verstrebungen der Toreinfahrt geschleudert wurde, das kindliche Lachen erstarb. Wie im Traum registrierte er das entrückte Nicken der Fahrzeuginsassen zur Musik.

 

Hilflos taumelte er auf sein Mädchen zu, versuchte sie aufzufangen – zu spät. Der Golf war wieder schneller, rammte ihn und stieß ihn zur Seite, erfasste den kleinen geschundenen Körper erneut und begrub ihn zur Hälfte unter sich. Das Brechen der Knochen, der schrille, gequälte Schrei seines Kindes nach ihm raubte ihm die Sinne. Fassungslos beugte er sich über den plötzlich verstummten und leblosen kleinen Körper, schloß ihn in seine Arme und während dieses eben noch lustige kleine Wesen sich hilfesuchend und reflexartig in ihn kuschelte und sich einer höheren Macht empfahl, zerbrach etwas in ihm, starb er innerlich mit.

 

Polizei und Rettungsdienste waren innerhalb weniger Minuten am Unfallort. Die routinemäßig einsetzende Hektik und die Betroffenheit seines Umfeldes nahm er nicht mehr wahr.

 

*

 

Das heisere Krächzen eines dieser Totenvögel, welcher ebenfalls Platz auf der Bank gefunden hatte und langsam, mißtrauisch und mit nickenden Kopfbewegungen auf ihn zukam, weckte ihn aus seinen trüben und selbstzerfleischenden Erinnerungen. Es war eine ungewöhnlich großer, kräftiger Vogel.

 

Obwohl keine Sonne schien, dicker Nebel herrschte, der alle Geräusche, alles Licht schluckte und die Sicht auf nur wenige Meter begrenzte, schillerte ihr Gefieder für einen kurzen Augenblick in leuchtenden, irisierenden Farben.

 

Gebannt beobachtete er, wie sie näher kam. Einen Schritt noch, und sie würde ihre scharfen Krallen in seinen Oberschenkel bohren. Er wollte von ihr abrücken, ihr Platz machen, blieb aber wie gelähmt sitzen, unfähig, sich zu bewegen. Etwas geheimnisvoll Fremdartiges, Bedrohliches ging von ihr aus.

 

Sie blieb stehen, legte ihren rechten Fuß auf seinen Oberschenkel, so, als habe sie seine Absicht erkannt und wolle ihn am Aufstehen hindern. Der Vogel reckte sich und sah ihn von unten herauf mit schief gestelltem Kopf direkt ins Gesicht. Die kleinen, schwarzen Knopfaugen hatten dabei eine nahezu hypnotische Macht entwickelt, schienen ihn durchbohren zu wollen.

 

Während sie ihm in heiseren, krächzenden Lauten scheinbar mahnend eine Botschaft überbrachte, rührte sich tief in ihm etwas - etwas, das weit, sehr weit in der Zeit zurücklag.

 

 „Koschka..., Koschka…“, klang es plötzlich leise weinend an sein Ohr.

 

Er zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen, sah sich verwirrt nach allen Seiten um. Das war doch seine Toma, die nach ihrer Spieluhr rief. Irritiert fuhr er sich mit beiden Händen durch das zerfurchte, stark gealterte Gesicht – sah sich hilflos und für einen Augenblick völlig desorientiert um. Er war allein in diesem abgelegenen Teil des Friedhofs, allein mit dieser Krähe – und dem kleinen Kindergrab.

 

 „Koschka..., Koschka...“, klang es wieder, fordernder und drängender.

 

Seine Nackenhaare richteten sich auf, als ihm bewußt wurde, daß diese greinende Kinderstimme aus dem zusammenfallenden Grab seiner Tochter kam. Eine Gänsehaut packte ihn und plötzlich fror er, hatte er das Gefühl, als greife eine eisige, kalte Hand nach ihm.

 

„Ja, mein Schatz, ich hol‘ dir deine Koschka“, versprach er ihr mit brüchiger, fast schon flüsternder Stimme. „Du bekommst deine Koschka.“

 

Mühsam und fassungslos stand er auf. Sein Blick hing noch immer an der Krähe, die er wie gebannt anstarrte und die ihn aufmerksam und lauernd mit schief gestelltem Kopf fixierte. Mit Schaudern sah er, wie sich ihre Konturen im Nebel verzerrten, sich langsam auflösten.

 

Wie aus einem bösen Albtraum erwachend fand Juri in die Wirklichkeit zurück, fuhr sich mit beiden Händen durch das nasse Haar und wandte sich, innerlich ein gebrochener Mann, mit schlurfenden Schritten dem Seitenausgang zu. Er wusste nun, was zu tun war. Bevor er sich endgültig auf den Heimweg machte, sprach er bei der Friedhofsverwaltung vor und beglich seine Rechnungen in bar.

 

 

Durchnässt und durchgefroren zu Hause angekommen, begann Juri sofort, mehrfach die ganze Wohnung nach der wertvollen Spieluhr abzusuchen. Ohne Erfolg. Verzweifelt fuhr er sich mit den Händen durchs Haar. Wo war nur diese Spieluhr?

 

Sie war aufklappbar und wenn man das Oberteil der Spieluhr einrasten ließ, tanzte ein gestiefelter Kater zu einem russischen Kinderlied. Mit einem höfischen Knicks verneigte er sich während der letzten Akkorde, wobei er den Hut vom Kopf nahm und ihn mit einer unnachahmlich eleganten Geste schwang.

 

Von Kopf bis Fuß war dieser gestiefelte Kater in Handarbeit hergestellt. Seine Ausstattung war vom Feinsten und sorgsam aufeinander abgestimmt. Juris Frau verstand sich auf das Nähen solcher filigranen Sachen.

 

Der kleine, tanzende Held trug einen rotbraunen Hut aus feinstem Filz mit einer feinen, dezenten Stickerei, elegant gearbeitete braune Stiefel und einem grünen, bunt bestickten Wams. Über dem Wams trug er ein kostbares, reichverziertes Wehrgehänge, in dem ein kunstvoll gearbeiteter Degen steckte. Ein rustikaler Wanderstab vervollständigte die ausgeführten Arbeiten.

 

Der Hintergrund war nicht weniger aufwändig gearbeitet und war eine bis ins kleinste Detail dargestellte Märchenszene. In der Ferne befand sich ein wunderschönes, gewaltiges weißes Schloß vor einer detailreich gestalteten Auenlandschaft, die den gesamten Innenteil der Spieluhr ausfüllte. Überdeckt wurde diese dreidimensionale Märchendarstellung von einem gewaltigen, blauen Himmel mit wenigen, schneeweißen Wolken.

 

Außen war die Spieluhr mit einem feinen dunkelroten Samt verkleidet. In einem geheimnisvollen Muster waren verschiedene kleine, in irisierenden Farben leuchtende, seltsam geformte Edelsteine eingelassen.

 

 Niemand, außer Juri, und das bis in seine letzte Konsequenz auch nur unvollkommen, wusste um die Bedeutung dieser geheimnisvollen Anordnung der Edelsteine. Gesichert wurde diese Spieluhr mit einem einfachen Schloß, welches auch kleinen Kinderhänden gerecht wurde.

 

Müde legte er sich nach der ergebnislosen Suche auf das abgenutzte Sofa. Morgen wollte er noch einmal die Wohnung auf den Kopf stellen. Er musste diese Spieluhr unbedingt wiederfinden. Übergangslos fiel er in einen tiefen und traumlosen Schlaf.  

 

*

 

Es war schon zu fortgeschrittener Stunde, als Florian sich von den anderen trennte und die wenigen Meter allein zu Fuß nach Hause ging. Sie alle waren an diesem Abend in keiner guten Stimmung gewesen, hatten sich angegiftet oder ausgeschwiegen, sich in sich zurückgezogen. Er beschloß, sich für die nächsten Tage weiter von den anderen zurückzuziehen, wollte mit sich ins Reine zu kommen. Nicht, daß ihm der Tod dieses kleinen Mädchens sonderlich viel ausgemacht hätte, trotzdem verfluchte er diese Situation, in der sie sich befanden.

 

Sie würden wohl alle mit einem „blauen“ Auge davon kommen, wie er von Rolle erfahren hatte. Die Anzeige wegen fahrlässiger Tötung wollte man offensichtlich fallenlassen und das Ganze unter den sprichwörtlichen Teppich kehren. Zu verdanken hatten sie es Rolles Vater, der Großindustrieller war. Ein paar Anrufe reichten aus, alle vor dem Arm des Gesetzes zu bewahren; Privilegien der Oberschicht in einer kleinen von einem großen Arbeitgeber mehr oder weniger abhängigen Stadt.

 

Sie, das waren er, Florian, Rolle, Matze und Luisa. Sie alle stammten aus Familien, die zum Establishment dieser kleinen Stadt gehörten. Es fehlte ihnen an nichts, alles war zu bekommen und alles war machbar. Sogar das Gesetz ließ sich beugen.

 

Luisa schien sich allerdings mit Rolle überwerfen zu wollen. Zumindest hatte er heute diesen Eindruck gewonnen, nachdem sie diese vergammelte und mit dunklen, rostfarbenen Flecken übersäte Spieluhr mit verkniffenen Lippen an sich genommen hatte. Woher die Spieluhr plötzlich kam, wusste niemand zu sagen. Sie war einfach da. Luisa sah dabei Rolle, ihren Freund, der sich in geschmacklosen Äußerungen zum Tod dieses kleinen Mädchens erging, nur schweigsam und mit einer Kälte an, die ihn jetzt noch unangenehm berührte.

 

Inzwischen war der für diese Jahreszeit viel zu früh einsetzende Nebel dichter geworden, begrenzte die Sicht auf weniger als einen Meter. Er verzerrte alle Konturen ins Unwirkliche und Groteske, schluckte jeden Schall.

 

Das leise Mauzen einer Katze riß ihn aus seinen Gedanken, als er den Vorgarten des elterlichen Anwesens betrat. Offensichtlich hatte das Tier seine Orientierung verloren. Suchend sah er sich um und verfluchte diese schmutzig weißen, wabernden Wogen - und nebenbei auch diese Katze. Die Straßenlaterne vor dem Haus und die sich automatisch einschaltende Gartenbeleuchtung strahlten nur ein diffuses, kaum wirklich erhellendes Licht aus. Als er sich dem Haus bis auf wenige Schritte genähert hatte, war ihm, als würde er an der etwas zurückgelegen Garage eine Bewegung wahrnehmen. Da saß sie und sah ihn an.

 

Ein unbestimmtes, warnendes Gefühl beschlich ihn. Etwas stimmte mit dieser Katze nicht. Irgendetwas war an ihr, was er in diesem nebulösen Licht nicht genau erkennen konnte. Das warnende Gefühl ignorierend beugte er sich über sie und genau in diesem Moment begann sie zu wachsen, wuchs und wuchs immer weiter.

 

Fassungslos und mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er das Geschehen, während sich seine Nackenhaare sträubten und sein Verstand sich weigerte zu akzeptieren, was seine Augen sahen. Er stand wie erstarrt, unfähig sich zu rühren, überhaupt einen Laut auszustoßen.

 

Die Katze überragte ihn um Kopfgröße. Sie trug einen Hut, Stiefel und einen grünen, bunt bestickten Wams. Über dem Wams trug sie ein kostbares Wehrgehänge, in dem ein kunstvoll gearbeiteter Degen steckte. In ihren behaarten Fäusten hielt sie kampfbereit einen rustikalen Wanderstab. Mit einer eleganten, höfischen Verbeugung verneigte sich dieses Etwas aus einer anderen Welt vor ihm.

 

Florian zwinkerte mit den Augen und war sich sicher, daß er nur halluzinierte, dieser gestiefelte Kater vor ihm nur einer plötzlichen, wirren Phantasie entsprungen war. Er stand noch immer wie festgenagelt an der Stelle. Plötzlich fror er. Instinktiv wusste er, daß diese Szene real war und nicht gut für ihn ausgehen würde.

 

Langsam gewann er die Gewalt über seine Glieder wieder und wollte sich zur Flucht wenden, als ihn ein wuchtiger Schlag von den Beinen holte. Er ging zu Boden und voller Grausen sah er halb aufgerichtet in ein Katzengesicht und in Augen, die vor reinster Mordlust und Gier nach Blut funkelten, während er verzweifelt versuchte, der auftretenden Schmerzwelle Herr zu werden. Für einen kurzen Augenblick überkam ihn ein Schwächeanfall und ihm wurde schwarz vor Augen.

 

Plötzlich wusste er, wer vor ihm stand und wer ihn da richtete. Den zweiten Schlag, der ihm den Schädel zertrümmerte und sein Hirn über den Garagenvorhof verteilte, sah er nicht mehr. Lautlos und unerkannt verschwand Florians Scharfrichter im Nebel.

 

Nach wenigen Metern nur schien sich ein kleines Kätzchen verirrt zu haben und mauzend sein Zuhause suchen. Zurück blieb Florian mit verrenkten Gliedern und zertrümmertem Schädel. Es würde Stunden dauern, bis man ihn fand. Von irgendwoher drang gedämpft das heisere Krächzen einer Krähe durch den Nebel.

 

*

 

Nur ein paar Nebenstraßen weiter.

 

Matze verließ ungefähr eine Stunde später nach einer hastigen und übereilten Verabschiedung Rolles Anwesen und ging auf die Einfahrt zu.

 

Das Haus lag zirka zwanzig Meter zurück und war von einer dichten Hecke gesäumt. Gestaltete Grünanlagen zeugten von dem Wohlstand seines Besitzers. Auch hier schaffte es die aufwändige Gartenbeleuchtung nicht, diesem plötzlich aufgekommenen, undurchdringlichen Nebel Herr zu werden.

 

Matze wollte ebenso wie Florian nur noch weg, nach Hause. Auch er nahm sich vor, sich von Rolle zurückzuziehen und sich vorerst eine Auszeit von ihm zu gönnen. In Gedanken ließ er den Abend noch einmal Revue passieren.

 

Luisa hatte versucht, die mitgenommene und fleckige Spieluhr zu öffnen. Nur wenige Stunden zuvor verweigerte sie jeglichen Blick in ihr Innerstes und jetzt ließ sie sich, wenn auch noch relativ schwergängig, wieder öffnen, gab sie ihr Geheimnis preis.

 

Das Schloß im Hintergrund wirkte düster, war fleckig und stand bedrohlich in einer Landschaft, in der alles tot und abgestorben war. Über allem spannte sich ein unheilvoller, bleigrauer Himmel mit tiefschwarzen Gewitterwolken, aus dem jeden Moment zornige und nach Rache dürstende Furien herabzufahren drohten. Es war ein erschreckendes Bild von einer solchen Eindringlichkeit, welches die vier unwillkürlich frösteln ließ. Sie hielten erschrocken und betroffen den Atem an und eine unbekannte Angst überkam sie, als sie den kleinen gestiefelten Kater betrachteten, dessen offensichtlich ehemals lachendes Gesicht sich zu einer höhnischen und dämonischen, häßlichen Fratze verwandelt hatte. Seine kleinen, einst wohl lustigen Augen funkelten vor Haß und Wut, strahlten eine monströse Boshaftigkeit aus, welche sie frösteln ließ.

 

Das Ganze wirkte so abstoßend und angsteinflößend auf die vier, daß sie beschlossen, die Spieluhr zu entsorgen. Niemand wusste, woher sie kam und wem sie gehörte. Sie war einfach da – einfach präsent. Schnell schlossen sie sie wieder, packten sie sorgsam ein und Luisa beschloß als Mutigste von allen, sich ihrer am nächsten Tag zu entledigen. Die Clique zerbrach. Allerdings anders, als Matze es sich vorgestellt hatte.

 

Das leise Rufen einer Katze schreckte ihn aus seinen Gedanken auf, erregte seine Aufmerksamkeit. Hinter einem frisch gestutzten Busch nahm er eine Bewegung wahr, hörte gleichzeitig zaghaftes Mauzen. Vorsichtig umrundete er das geschnittene, mannshohe Gewächs und wollte sich nach dem vermeintlich hilflosen Kätzchen bücken.

 

Auch ihn überkam ebenso wie Florian ein warnendes Gefühl, aber er ignorierte es ebenfalls. Aus dem kleinen Kätzchen wurde in Sekundenbruchteilen ein ausgewachsener, gestiefelter Kater. Das Wesen, einen ganzen Kopf größer als er selbst, fletschte ihn voller Wut an und zeigte sein mörderisches Gebiß, während seine Augen vor Haß loderten.

 

Entsetzt warf er sich reflexartig zurück und wandte sich zur Flucht, jedoch war sein Henker aus dem Jenseits schneller. Noch im Sprung, der Matze’s Flucht vereiteln sollte, zog er seinen Degen und hieb ihm mit einer blitzschnellen Bewegung kraftvoll den Stahl quer über das Gesicht, zerfetze es mit einem Schlag.

 

Matze taumelte vor Schmerzen und während sich ihm ein qualvolles Stöhnen entrang, brach er zusammen. Wie im Zeitraffer tauchten plötzlich Geisterbilder von dem Unfall auf, erkannte er Zusammenhänge, die ihn das Grauen lehrten. Er wusste plötzlich, wer sein Angreifer war und warum er gnadenlos und ohne Kompromiss gerichtet wurde.

 

Den zweiten Angriff nahm Matze schon nicht mehr wahr. Der Schock und eine tiefe Ohnmacht bemächtigten sich seiner, während der blanke und scharfe Stahl sein Herz durchbohrte und er sterbend in sich zusammensank. Mit einer langsamen Bewegung führte sein Mörder den Degen zurück in die Scheide. Sein Blick verweilte einen kurzen Augenblick auf dem Haus, das vor ihm lag, bevor ihn dicke Nebelschwaden verschlangen.

 

Die kurzen, abgehackten Rufe einer Krähe drangen wie höhnisches Gelächter von irgendwo her durch die Nacht. Zurück blieben Matze und ein paar wenige Katzenspuren auf dem feuchten Rasen, die kleiner und kleiner wurden und sich im Nichts auflösten.

 

*

 

Wenige Minuten später.

 

Luisa wohnte schräg gegenüber, nur wenige Meter weiter die Straße hinauf. Sie wollte nicht bei Rolle übernachten und plötzlich, wie aus einem dunklen Traum erwachend, fühlte sie sich auf einmal von ihm abgestoßen, ekelte sie sich vor ihm. Seine geschmacklosen Bemerkungen über den Tod dieses kleinen, russischen Mädchens und über dessen Eltern hatten ihr die Augen über ihn geöffnet. Er widerte sie plötzlich an. Nur wenige Minuten nach Matze‘s Abgang warf auch sie sich ihre Windjacke über, nahm die eingepackte Spieluhr an sich und wandte sich zum Gehen.

 

„Bringst du mich noch nach Hause?“, fragte sie eigentlich nur gewohnheitsmäßig, während sie für einen Moment in der geöffneten Haustür stehen blieb. Es klang eher beiläufig als wirklich interessiert. Während sie in die Nacht hinaustrat, beschloß sie, mit ihm und den anderen aus der Clique Schluß zu machen.

 

„Die paar Meter…? Na schön...“ Mit widerwilligem Kopfnicken griff er mit einer schnellen Bewegung nach seiner Jacke und zog die Haustür hinter sich zu. Für einen Moment blieb er stehen und sah in den Nebel. Kopfschüttelnd ging er neben Luisa her. Sie schwiegen sich beide aus und hatten rasch ihr elterliches Grundstück erreicht. Sie schloß die Haustür auf, froh, endlich zu Hause zu sein.

 

„Sehen wir uns morgen?“ fragte Rolle zum Abschied.

 

„Nein! Nur noch zum Prozess beziehungsweise zur Verhandlung. Eine solche wird es mit Sicherheit geben – oder irgend etwas in diese Richtung. Lasse mich künftig einfach in Ruhe. Ich will mit dir und den anderen nichts mehr zu tun haben.“

 

Es war alles zwischen ihnen gesagt, keiner machte dem anderen eine Szene. Beide wußten, woran sie einander waren - und Luisa war froh, sich endlich von ihm so leicht, ohne theatralische Szenen, getrennt zu haben.

 

Ausdruckslos nahm Rolle zur Kenntnis, daß er wohl am Spätnachmittag mit seiner Art, sich geschmacklos über den Tod dieses kleinen russischen Mädchens zu äußern, den Bogen überspannt und Luisa zu diesem Schritt bewogen hatte. Der Tod dieses kleinen Mädchens berührte ihn nicht im Geringsten, ebensowenig das Leid, welches er über die hilflosen Eltern brachte. Wer war sie schon? Niemand interessierte sich in dieser Stadt für den Tod dieses russischen Mädchens oder das Leid ihrer Alten und deren Hilflosigkeit in deren Ausnahmesituation. Niemand würde ihnen beistehen und ihnen helfen. Sie hatten kein Geld, keine ausreichenden Sprachkenntnisse, keinen Job – nichts. Sie waren für ihn nichts weiter als Strandgut der menschlichen Gesellschaft, Ergebnisse einer verfehlten Einwanderungspolitik. Vergeltung und Gerechtigkeit gab es nur für die, die sie sich leisten konnten. Juri gehörte seiner Meinung nach definitiv nicht zu dieser Kategorie. Er gehörte in diesem Land zu den Herumgestoßenen, den schweigsam Duldenden und Geduldeten, die sich in ihre "Ghettos" zurückzogen in dem Versuch, nicht und nirgendwo aufzufallen.

 

Achselzuckend drehte er sich um, als er das leise Mauzen einer kleinen Katze hörte. Sie strich um seine Beine und rieb sich an ihm.

 

„Gehört sie zu dir?“ fragte er Luisa, die gerade im Begriff war, die Tür hinter sich zu schließen.

 

 „Nein!“ antworte sie und schloß die Tür hinter sich. Während sie nach oben in ihr Zimmer hinauflief, wog sie die Spieluhr in der Hand. Irgendwie fühlte sie sich anders an, war etwas mit ihr, mit ihrem Gewicht.

 

Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, stellte die Spieluhr achtlos auf einem kleinen Tisch in der Nähe der Zimmertür ab und entkleidete sich. Von Geräuschen im Vorgarten angelockt, von denen sie annahm, daß sie aufgrund von Rolles unbeherrschtem Gemüt herrührten, trat sie eher beiläufig und gelangweilt ans Fenster. Was sich vor ihren Augen im Garten abspielte, verschlug ihr allerdings vor Entsetzen den Atem.

 

Indessen hatte Rolle sich gebückt und die Katze auf den Arm genommen. In einem jähen, unkontrollierten und plötzlichen Wutanfall hatte er weit ausgeholt und wollte ihr das Tier hinterher werfen, jedoch wurde sein ausgestreckter Arm von einem Riesengewicht nach unten gezogen, so daß er die Katze überrascht zu Boden gleiten ließ. Das Tier, in Sekundenbruchteilen schwerer und größer geworden, erreichte menschliche Ausmaße und wuchs einen ganzen Kopf über ihn hinaus. Vor ihm stand fleischgeworden und in Überlebensgröße ein gestiefelter Kater.

 

Der erste Schlag traf ihn derart schnell und so genau berechnet, daß Rolle ihm trotz seiner guten Reflexe nicht ausweichen konnte. Tief drangen die Krallen in Schulter und Halsansatz – verletzten seinen Kehlkopf. Während er unartikulierte Laute ausstieß und an seinem Blut zu ersticken drohte, weiteten sich seine Augen in plötzlicher Erkenntnis, welcher Richter und Henker vor ihm stand - und warum. Wieder und wieder schlugen die Krallen zu, zerfetzten seinen Körper, trieben mit jedem Schlag das Leben aus ihm heraus. Er brach schon beim zweiten Angriff zusammen, wehrte sich nicht und war nur noch Spielball seltsamer, ungeheuer grausamer Mächte. Mit einem raschen Biß ins Genick wurde sein Schicksal endgültig besiegelt.

 

Luisa, die wie versteinert alles von ihrem Fenster mitangesehen hatte, schwieg entsetzt. Eine unvorstellbare, tiefe Angst breitete sich in ihr aus. Unwillkürlich wich sie eine Schritt zurück, als sich ihre Augen mit denen des nächtlichen Rächers trafen. Sie glühten und funkelten vor unbändigem, leidenschaftlichem Haß, hielten die ihren gefangen, bohrten sich tief in sie, füllten sie und ihr Hirn, ihre gesamte psychische Persönlichkeit, aus. Ihr wurde heiß, klebriger Schweiß einer unkontrollierbaren Angst brach aus ihr heraus. Von irgendwoher hörte sie eine Stimme. Jemand war in ihrem Bewußtsein, sprach zu ihr.

 

„Schlaf jetzt und morgen bringst du die Spieluhr an die folgende Adresse. Danach wirst du...“, dröhnten in ihrem Kopf die Instruktionen.

 

Sie erwachte plötzlich aus ihrer Starre und sah hinaus in den Vorgarten, aber der Nebel war dicht und undurchdringlich, verschluckte alles. Luisa wankte zu ihrem Bett, bevor sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

 

*

 

Das stürmische Klingeln und der Aufruhr an der Haustür weckten Luisa. Verschlafen blinzelnd stand sie auf, warf sich den Morgenmantel über, lief die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. In dem kleinen Vorgarten herrschte eine hektische Betriebsamkeit.

 

„Kriminalhauptkommissar Beckmann! Entschuldigen Sie die Störung, aber ich muß Sie sprechen!“ stellte sich ein junger, sympathisch aussehender Polizeibeamter in ziviler Kleidung vor. Wie beiläufig zeigte er ihr seinen Dienstausweis.

 

„Chef... Es gibt noch zwei weitere Leichen in dieser Gegend“, wurde er von einem herbeieilenden Beamten unterbrochen. „Kam eben über Funk durch.“

 

Beckmann sah ihn in ungläubig an.

 

„Veranlassen Sie alles Notwendige, Meyer“, ordnete Beckmann an. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn.

 

„Darf ich hereinkommen?“ fragte er Luisa, die ihm verwundert Platz machte und ihn hinein ließ. Sie ging voran in Richtung Küche und bot ihm noch im Gehen einen Kaffee an. Während sie die Espressomaschine und die Tassen vorbereite, sah sich Beckmann um.

 

„Wo sind eigentlich Ihre Eltern?“ fragte Beckmann beiläufig.

 

„Auf einem Kongress in Salzburg. Mein Vater ist Arzt am hiesigen Krankenhaus und nimmt an einem Kongress in Salzburg teil. Meine Mutter ist ebenfalls Ärztin und nimmt auch daran teil, allerdings fährt sie weiter zu einem anderen Kongress in den Tessin; Lugano. Dort trifft sie sich mit Paps und beide verbringen noch ein paar Tage in Como am Comer See. Sie kommen irgendwann nächste Woche zurück.“

 

Während sie den Kaffee servierte, sah sie ihn abschätzend und mit einem fragenden Blick an.

 

„Was ist da draußen passiert?“

 

„Nun, da draußen ist ein junger Mann, ein Herr Brinckmann, auf grausame Art regelrecht zerfleischt und mit einem Biß in den Nacken getötet worden. Er wurde regelrecht zerfetzt, anders kann man es nicht beschreiben. Kennen Sie einen Rolf Brinckmann? Haben Sie etwas beobachtet?“ antwortete Beckmann mit einer Gegenfrage.

 

Luisa war kreidebleich geworden. Sie sah ihn lange an. Mühsam rang sie nach Fassung und musste sich in einem aufkommenden Schwächeanfall setzen.

 

Rolle war tot!

 

Unfassbar, und das auf ihrem Grundstück, direkt vor ihrer Haustür und sie hatte nichts gesehen, wusste nichts – und trotzdem, irgend etwas war da in ihrem Inneren, das verzweifelt seinen Weg nach außen suchte.

 

„Ja! Rolle, also Rolf, und ich waren bis gestern zusammen. Er wohnt schräg gegenüber und er brachte mich nach Hause. Es war so nebelig, daß man kaum die Hand vor Augen sehen konnte und ich traute mich nicht allein nach Hause. Gestern Abend trennte ich mich von ihm und das war's. Ich ging nach oben, legte mich hin und schlief. Bis jetzt…“, antwortete sie leise.

 

Nachdenklich sah er sie an. Er spürte, daß sie ihm etwas verschwieg. Aber er war auch ratlos, weil er keinen Zugang zu ihr bekam. Sie mauerte, trotz ihrer anfänglichen Bereitwilligkeit zur Kooperation. Er spürte das. Aber solche Verhaltensweisen kannte er. Sie waren nicht ungewöhnlich. Oft brach die Hemmschwelle Stunden später.

 

„Sie haben sich bemerkenswert gut unter Kontrolle. Ich habe das Gefühl, daß Sie mir etwas verschweigen. Nun - ich lasse ihnen meine Karte hier. Sollten Sie es sich anders überlegen und Ihr Schweigen brechen wollen, rufen Sie mich bitte an. Meine Ermittlungen haben erst begonnen. Machen Sie sich also darauf gefasst, daß ich in ein paar Tagen noch einige Fragen an Sie haben werde – und verlassen Sie die Stadt bitte nicht.“

 

Stumm nickte sie, während sie ihn zur Haustür begleitete. Als sie diese öffnete und zusammen mit ihm hinaus trat, um ihren Besucher zu entlassen, kam Meyer erneut angehetzt.

 

 „Ja, Meyer...?“

 

„Chef, die beiden toten jungen Männer sind Matthias Hersfeld und Florian Koslowski. Hersfeld fanden wir tot auf dem Anwesen von Herrn Brinckmann, Koslowski in der Garageneinfahrt seines Anwesens. Beide sind fürchterlich zugerichtet. Sie wurden aber mit verschiedenen Waffen getötet. Merkwürdig ist, daß wir in allen Fällen seltsame Fußabdrücke fanden. Sie erinnern irgendwie an eine große Katze oder so. Genaueres wird aber die detailliertere Spurenaufnahme ergeben“, klärte ihn der Kollege vom K1 auf.

 

Luisa war im gleichen Moment, als sie die Worte vernahm, ein Schatten ihrer selbst geworden. Ohnehin schon sehr still und gefasst, ragte ihre Stupsnase nun spitz aus ihrem aschfahlen Gesicht und während sie sich noch hilfesuchend an Beckmann festhielt, sank sie bereits mit einem Seufzer zu Boden, begann ihr Körper plötzlich mit wilden, unkontrollierten Zuckungen den Schock zu verarbeiten.

 

Die beiden Männer trugen sie ins Haus, während der herbeigeeilte Arzt sie ins nächste Krankenhaus einwies, aus dem sie allerdings nur wenige Stunden später auf eigenen Wunsch wieder entlassen wurde.

 

*

 

Inzwischen war es früher Nachmittag geworden und Beckmann befand sich in seinem Büro, sichtete die ersten Berichte der Kriminaltechnik. Er grübelt noch immer. Er war sich sicher, daß es ein dunkles Geheimnis gab, welches die vier miteinander verband und daß er davon gehört oder gelesen hatte - und plötzlich wusste er es: der Unfall eines kleinen Mädchens vor etwas über einer Woche. Er hatte die kurze Notiz im Polizeibericht im Intranet eher beiläufig gelesen.

 

Sollte Juri Gargarov, der Vater des Kindes plötzlich Selbstjustiz üben? Und was war mit diesen geheimnisvollen Katzenspuren?

 

Ein Anruf beim ortsansässigen Zoo verlief zunächst ergebnislos. Er wartete noch auf den Kurier mit der aktualisierten Bestandsliste der Raubtiere. Vielleicht war ja doch ein Tier unbemerkt ausgebrochen. Jedenfalls hatte er vorsichtshalber die Siedlung absuchen lassen – ergebnislos. Mysteriös war, daß sich diese Katzenspuren nach wenigen Metern verloren – als ob sie sich in Luft auflösen würden.

 

Beckmann wollte die dünne Unfallakte einsehen, musste aber feststellen, daß sie seinem Zugriff entzogen war. Im System war der Zugriff auf die Akte gesperrt und die reale, physische Papierform war nicht auffindbar. Jemand hielt sie unter Verschluß.

 

„Meyer...“ rief er seinen Kollegen. „Fahren Sie los und holen Sie mir Juri Gargarov hierher. Ich glaube, er ist uns einige Erklärungen schuldig.“

 

*

 

Der Tag war freundlich geworden und die Sonne verteilte großzügig ihre letzten, kraftvollen Strahlen. Luisa war nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus direkt nach Haus gefahren, hatte die Spieluhr geholt und ihren Auftrag ausgeführt. Sie legte das kleine Päckchen einfach vor der Wohnungstür ab und klingelte im Weggehen. Als sie Schritte hörte und sah, daß sich die Wohnungstür öffnete, zog sie sich eilig zurück und fuhr wieder nach Hause.

 

Ihr kam alles unwirklich vor. Sie bewegte sich wie eine Marionette, nahm alles um sich herum wie durch eine Glocke wahr.

 

Vergeblich hatte sie versucht, ihre Eltern über ihr Mobiltelefon zu erreichen, um ihnen zu erzählen, was in den Tagen ihrer Abwesenheit an Schrecklichem passiert war. Sie wollte sie in ihrer Not bitten, schnellstmöglich nach Hause zu kommen. Luisa brauchte sie jetzt dringender als jemals zuvor.

 

Sie fror und mechanisch ließ sie sich ein heißes Bad ein, wobei die plötzlich einsetzenden Kopfschmerzen ihr Gehirn vernebelten und immer unerträglicher wurden. Während das Wasser in die Wanne lief, goss sie sich ein Glas Rotwein ein, setze sich an ihren Sekretär und schrieb alles nieder, was sich in der Nacht zuvor ereignet hatte. Sie bat ihre Eltern um Vergebung.

 

Innerlich müde und wie ferngesteuert schleppte sie sich ins Bad und ohne, daß es ihr bewußt wurde, schluckte sie sämtliche Schlaftabletten aus der Packung ihrer Mutter, während sie wie beiläufig nach dem Rasiermesser ihres Vaters griff. Mit einem entschlossenen Zug trank sie den Rest Rotwein aus.

 

Während sie in der Wanne saß und auf die rasch einsetzende Wirkung des Schlafmittels wartete, drang wie aus weiter Ferne ein klopfendes Geräusch an ihr Ohr. Mühsam hob sie den Kopf und sah die verschwommenen Umrisse eines großen, schwarzen Vogels draußen vor ihrem Badezimmerfenster, welcher mit seinem Schnabel an die Fensterscheibe hämmerte, während sie unter der beginnenden Wirkung des Medikaments das Rasiermesser ihres Vaters hob. Zwei schnelle, entschlossene Schnitte beendeten alles, befreiten sie von ihren unerträglichen Kopfschmerzen, gaben ihr den ersehnten Frieden zurück.

 

*

 

Der Tote hing noch nicht lange an dem Ast der alten Platane. Ein Friedhofsbesucher hatte ihn im Wind baumeln gesehen und Polizei und den Rettungsdienst benachrichtigt. Jede Hilfe kam zu spät. Juri war tot. Sein Gesicht strahlte in einem friedlichen, verklärten Lächeln.

 

In seiner Jackentasche steckten die Spieluhr und ein Zettel. Er enthielt nur wenige Worte in russischer Sprache.

 

"Я иду, малышка. я принесу тебе кошку. Прости меня, Натали, но я должен уйти. Я должен принести кошку Томе. Так или иначе мы встретимся с тобой. Мы тебя ждём!"

 

(Übersetzung: „Ich komme, Kleines. Ich bringe dir deine Koschka. Verzeih mir Natalie, aber ich muß gehen. Ich muß Toma ihre Koschka bringen. Du wirst ja sowieso bald nachkommen. Wir warten auf dich!“)

 

Während die Beamten der Kriminaltechnik die Spuren sicherten, widmeten Meyer und Beckmann sich der Spieluhr. Meyer hatte sie geöffnet und sein erstaunter Ausruf wie auch seine bewundernde Reaktion hatte Beckmanns Aufmerksamkeit erregt.

 

„Was...“ und dann versank auch er in stiller Bewunderung.

 

Es war eine wertvolle Spieluhr. Außen war sie mit einem feinen, dunkelroten Samt verkleidet. In einem bestimmten, geheimnisvollen Muster waren verschiedene kleine, wertvolle Edelsteine eingesetzt, die je nach Lichteinfall in allen erdenklichen Farben funkelten. Sinn und Bedeutung des Musters und der so fremdartig geformten Steine erschlossen sich nur jenem, der sie eingesetzt hatte.

 

Öffnete man ihr Oberteil und ließ den Deckel einrasten, tanzte ein gestiefelter Kater zu einem russischen Kinderlied. Es war die perfekte, dreidimensionale Darstellung einer Märchenlandschaft. Bewundernswert war der ungeheure Detailreichtum. Das ganze Arrangement strahlte in einem inneren Glanz, einem sanften Goldton, der allen Farben noch mehr Intensität verlieh - das gesamte Innenleben dieser Spieluhr natürlich und lebendig wirken ließ.

 

Sie waren so sehr in den Anblick versunken, daß Meyers Ausruf „Was ist denn das...?“ sie fast schmerzhaft in die Realität zurückstieß. Der kleine gestiefelte Kater hatte die Aufmerksamkeit Meyers erregt.

 

Hastig rief er einen Beamten der Kriminaltechnik zu sich, entlieh sich eine Lupe und untersuchte den kleinen Kerl genauer, der so verschmitzt vor sich hin grinste. Meyer sicherte am Stock, am Degen, am Maul sowie den Vorderpfoten der Katze jeweils Proben einer roten Substanz. Zudem nahm er eine Probe von seinen Hinterläufen.

 

„Ich weiß nicht wie und will es auch gar nicht wissen, aber ich glaube, daß wir den Mörder von heute Nacht vor uns haben“, sagte er plötzlich leise und mit einem Schaudern in der ihm versagenden Stimme zu Beckmann gewandt.

 

Der sah zuerst ihn und dann den gestiefelten Kater nur ungläubig an. Eine plötzliche Erkenntnis breitete sich in ihm aus; ein tiefes, intuitives Verstehen.

 

„Ja, Sie könnten Recht haben“, und betrachtete nachdenklich mit einem verstehenden Kopfnicken das Muster auf der Spieluhr.

 

 „Ankläger, Richter und Henker in einer Person“, sagte er mehr zu sich selbst. „Und das alles mit Mächten einer dunklen Magie, von denen wir bestimmt nichts wissen wollen. Geben Sie die Proben zur Untersuchung und dann schließen wir den Fall ab.“

 

Wenige Tage später lagen die Ergebnisse vor. Die kriminaltechnische Untersuchungen ließ keinen Zweifel aufkommen. Alle gesicherten Blutspuren waren mit den Blutgruppen der drei Opfer identisch. Ebenfalls stimmten die Bodenproben an den Hinterläufen mit denen der Tatorte überein.

 

*

 

Beckmann saß auf der Bank und sah auf ein frisch ausgehobenes, großes Erwachsenengrab, direkt links neben einem kleineren. In aller Stille hatte man Juri dem Schoß der Erde übergeben.

 

In Gedanken ging er noch einmal die Ereignisse der letzten Woche durch. Er kam zu dem Schluß, daß er und Meyer es in diesem bizarren Mordfall mit einer bösen, fremdartigen Macht und wohl auch mit schwarzer Magie zu tun gehabt hatten, der sie ohnehin hilflos ausgeliefert waren.

 

Nach einer Weile stand er auf und trat an das Kindergrab. In seiner Linken hielt er die Spieluhr. Vorsichtig darauf bedacht, genau die eine Stelle, an der der Regen die Erdmassen von dem kleinen schmucklosen Kindersarg weggespült hatte, zu treffen, ließ er sie los. Sie fiel und schlug geräuschlos auf dem Holz auf, wurde sanft aufgenommen und verschwand im Inneren des Sarges.

 

Beckmann schluckte und wandte sich eilig zum Gehen. Es wurde ihm unheimlich und auf einmal fror er trotz der letzten, wärmenden Sonnenstrahlen. Während er eiligen Schrittes und fast fluchtartig, dabei die plötzlich aufkommende Gänsehaut abschütteltend, dem Ausgang zustrebte, erklang hinter ihm herzhaftes, fröhliches Kinderlachen.

 

Koschka..., Koschka...,“ jubelte die Kinderstimme und immer wieder „Koschka..., Koschka...“ während die zarten, sphärenhaften Klänge einer Spieluhr über den Friedhof wehten.

 

*

 

Als man Natalie Gargarova die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbrachte, brach sie schweigend zusammen. Jede sofort eingeleitete Hilfsmaßnahme kam zu spät. In einem seltenen, lichten Moment hatte ihr Geist die Nachricht verstanden. Ihr gerade wieder neu aufflammender Lebenswille fiel endgültig zusammen. Es war zu viel für sie gewesen. Sie starb an plötzlichem Herzversagen, wie die Ärzte wenig später diagnostizierten.

 

Natalie wurde in aller Stille auf der rechten Seite des Kindergrabes beigesetzt, während hoch oben in der Krone der alten Platane aufmerksam eine ungewöhnlich große Krähe, deren Gefieder in irisierenden Farben schimmerte, Natalies Beisetzung beobachtete.

 

Ihr heiseres Krächzen wehte allmählich schwächer werdend über den Friedhof, während ihre Konturen mehr und mehr verblassten, sich nach und nach auflösten.

 

***

 

Anmerkung des Autors: „Koschka“ ist das russische Wort für Katze.

 

 

 

 

Impressum

Texte: Bernd Terlau
Bildmaterialien: beim Autor, Grafikportale für frei nutzbare Grafiken
Lektorat: Bernd Terlau
Übersetzung: keine
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2017

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /