November 2012
Ein Rockklassiker der Neunziger spielte ihm Radio, als sie ihren Wagen an dem Bordstein vor dem Haus ihrer Wohnung parkte. Sobald sie die Autoschlüssel aus der Zündung zog, verstummte das Lied und um sie herum wurde es dunkel. Es war schon spät Abends an diesem kalten Novembertag. Draußen beleuchteten nur die Straßenlaternen und die Lichter aus den Fenstern der Mehrfamilienhäuser die Umgebung. In den Erdgeschosswohnungen zogen die Leute solangsam die Fensterrollläden hinunter, um vor neugierigen Blicken verschont zu bleiben. Keiner war mehr auf den Straßen unterwegs. Nur eine Person stand an der Tür zu ihrem zu Hause.
Sie seufzte leise, strich sich eine aufdringliche Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht und nahm ihre Tasche, ehe sie den Wagen verließ. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus und sie zog den Kragen ihres Mantels enger um ihren Hals. Es war nicht auszumachen, ob ihr fröstelte, weil sie unter dem Mantel nur ein Kleid trug, oder ob es an der Anspannung lag, die sich in der Luft festsetzte. Sie schüttelte sich unauffällig und versuchte ihre weichen Knie zu ignorieren, das Gefühl zu unterdrücken, welches ihr Herz versprühte, als sie ihm näher kam.
Er hatte sich mit dem Rücken gegen die kalte Hauswand gelehnt und ein Bein angewinkelt. Die eine Hand hatte er in seiner Jacke vergraben und in der anderen hielt er eine Zigarette, die er schon fast aufgeraucht hatte. Sein Gesicht hatte er nahezu vollständig mit seiner Kapuze bedeckt. Natürlich – er durfte nicht erkannt werden.
Die Glut der Nikotinquelle leuchtete rot auf, als er einen letzten Zug nahm und langsam den blauen Dunst zwischen seinen Lippen entweichen ließ. Zwar hörte er das Klicken ihrer Highheels, aber er sah nicht auf. Er atmete nur tief ein und aus und versuchte so seine Beherrschung nicht zu verlieren.
Die junge Frau blieb mehrere Schritte vor ihm stehen und beobachtete, wie er den kläglichen Rest der Kippe mit einer lässigen Bewegung wegschnippte. Nur langsam zog er sich die Kapuze aus dem Gesicht und sah das erste Mal zu ihr auf. Das erste Mal trafen sich ihre Blicke. Das erste Mal nach all der Zeit sahen sich beide wieder in die Augen.
Doch keiner der beiden sagte etwas. Für die Frau gab es auch nicht viel zu sagen. Sie hatte gewusst, dass dieser Zeitpunkt irgendwann kommen musste. Spätestens als sie von seiner Rückkehr aus den Staaten gehört hatte, hatte sie sich innerlich auf diesen Moment vorbereitet. Auf diese Begegnung. Eines war ihr dabei klar geworden: Sie hatte ihm nichts zu sagen.
Ihre grünen Augen wanderten an ihm runter und inspizierten jeden Zentimeter seines Gesichts, seines Körpers, seiner Ausstrahlung. Sie erkannte jede Faser von früher und doch war er ein komplett anderer Mensch geworden. Er war nicht mehr der junge Schönling von damals - nein. Er war zum Mann geworden. Seine Schultern waren breiter, seine Arme und Beine muskulöser. Richtig athletisch. Er trug nicht mehr die rebellischen Klamotten von damals, so als wollte er seine Männlichkeit nun einem jeden unter die Nase reiben. Der Dreitagebart unterstrich diesen Effekt. Er war erwachsen geworden. Erwachsen, männlich und stark.
Jedoch - das was ihr am meisten auffiel, das was sich am meisten verändert hatte, waren seine braunen Augen. Sie strahlten nicht mehr. Funkelten nicht mehr im Licht der Laternen, so wie damals, als die beiden stundenlang nachts draußen gesessen und über Gott und die Welt gelacht hatten. Arm in Arm in der Kälte und doch war ihr nie kalt dabei gewesen. Denn das Strahlen in seinen Augen hatte ihr Herz immer gewärmt.
Heute ließ der stumpfe Schimmer in seinen Augen, der schwache Abklatsch von damals bei ihr nur einen kalten Schauer den Rücken hinab gleiten, sodass ihr schon fast schlecht dabei wurde. Denn sie wusste genau, dass ihre Augen ebenso wenig strahlten. Dass in ihrem Blick die gleiche Leere zu finden war, wie bei ihm.
Dennoch - auch wenn sein Anblick sie innerlich zerriss und die Erinnerungen an damals ihr Herz wie viele kleine Messer zerschnitt, ging sie nur schweigend an ihm vorbei, öffnete die Haustür mit ihrem Schlüssel und hielt ihm die Tür auf. Ließ ihm Eintritt in ihr zu Hause.
Seine Mimik änderte sich nicht. Sie blieb genauso ausdruckslos wie ihre und ohne ein Wort, ohne die geringste Spur von Freude oder Erleichterung folgte er ihr die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf. Außer das Klicken ihrer Highheels, welches im Flur widerhallte und nur noch lauter klang, war nichts zu hören. Der junge Mann jedoch hörte nichts, außer sein Herz, welches von Sekunde zu Sekunde immer rasender in seiner Brust schlug.
Ihre Präsenz machte ihn schier wahnsinnig. Wie sie aussah, wie sie sich bewegte, wie sie ihm die kalte Schulter zeigte! So anmutig und feminin. So grazil wie eine Katze schritt die junge Frau vor ihm über den Flur und er konnte seinen Blick nicht von ihrer reifen Weiblichkeit abwenden. Von der Rockgöre war nichts mehr übrig. Ihre Kleidung war nicht frech und verspielt, sondern elegant und figurbetont und auch ihr Haar war nicht mehr wie einst so feuerrot. Wie flüssiges Gold fiel es nun über ihren Rücken und endete kurz vor ihrem prallen Hintern, von welchen der junge Mann seinen Blick erst recht nicht fern halten konnte.
Auch die Frau war erwachsen geworden. Wie eine richtige Lady.
An ihrer Wohnungstür blieben beide stehen. Sie spürte ihn deutlich hinter sich stehen. Sie spürte seine Wärme, seine Blicke, die so eindringlich auf sie gerichtet waren, dass sie nur mit Mühe ihre Hände vom Zittern abhalten konnte. Das Knistern in der Luft erschwerte ihr das Atmen. Das Herz in ihrer Brust schlug viel zu schnell...
Ohne weiter zu zögern, öffnete sie die Tür und ging kommentarlos hinein. Wieder folgte er ihr in die dunkle Wohnung. Dort umhüllte sofort ihr Duft seine Sinne. Es roch genauso wie früher. Nach Bananen und ein Hauch von Motoröl. Sein Puls erhöhte sich nochmals schlagartig und seine Selbstbeherrschung verflog im Nichts.
In ihrem Flur schaltete sie das Licht an, schälte sich aus ihrem Mantel und stellte ihre Tasche auf dem Boden ab. Sie wollte gerade in Richtung Wohnzimmer gehen, als er sie am Arm packte und sie zu sich drehte. Seine starken Arme legte er um ihre schmale Taille und küsste sie sogleich voller Gier.
Nur kurz verkrampfte sie sich ob dieser unerwarteten Handlung, doch schon im nächsten Herzschlag erwiderte sie den Kuss. Ihre Hände legte sie an seinen Nacken und schloss ihre Augen. Sie vergas alle Vorsätze, alle Schwüre, die sich genau gegen diese Situation gerichtet hatten, und gab sich den qualvollen Moment des Fehlers hin. Lediglich genoss sie das erneute Gefühl seiner Lippen auf ihren. Das Gefühl, wie er an ihrer Lippe zog, an ihr knabberte, sie mit der Zunge berührte. Sie keuchte auf und er küsste sie mit einer noch stärkeren Intensität. Ihren warmen Mund erforschte er, schmeckte ihren süßen Geschmack und drückte sie mit den Armen noch näher an sich. Seine Hände glitten ihren Rücken hinab, über ihren prallen Hintern bis zu ihren Oberschenkeln. Er hob sie hoch, torkelte mit ihr auf den Armen in ihr Wohnzimmer und ließ sich mit ihr auf die breite Couch fallen.
Sie wehrte sich gar nicht, registrierte kaum was er tat. Wie er seine Jacke und sein Shirt auszog, ihr Kleid und seine Hose auszog, beide so vollkommen entblößte. Sie spürte nur seine Berührungen, seine Haut auf ihrer Haut, seine Küsse auf ihrem Körper, an ihrem Hals, an ihrem Busen, an ihren Schenkeln. So als wollte er ihre weibliche Reife bis ins letzte Detail ergründen und ihr derweil den Verstand rauben. Noch einmal keuchte sie auf und schnell umschloss er ihren Mund wieder mit seinem. Er schmiegte sich an sie, küsste sie völlig zügellos und verheimlichte ihr nicht, wie sehr er sie begehrte, wie sehr er sie wieder fühlen wollte.
Und sie? Sie verzerrte sich innerlich danach, nach ihm und seiner Berührung und ließ es willig, gar machtlos zu, dass er in sie eindrang.
Das was dann geschah, hatte nichts mehr mit den jugendlichen Zärtlichkeiten und neugierigen Spielereien zu tun, wie die beiden sie damals geführt hatten. Es war leidenschaftlich, aber präzise. Wild, aber genussvoll. Gierig, aber dennoch irgendwie verzweifelt und niederschmetternd. Peinigend und degradierend. Wie bei einem Heroinsüchtigen, der nach jahrelanger Abstinenz die benutzte Spritze fallen lässt und sich klar wird, dass er wieder einen Rückfall hatte. Genau dieses Gefühl hatten beide gerade. Und doch gaben sie sich dem Rausch ihrer schmerzhaften Gefühle voll hin und verschmolzen in einem Tanz aus brennender Lust und endloser Sehnsucht. Mit jeder Bewegung, jedem Stoß und jedem so unkeuschen Laut trieben sie sich weiter in ihre zerbrochenen Herzen und zum Gipfel ihrer gegenseitig so lang entbehrten Lust. Bis hin zum gemeinsamen Höhepunkt dieses bitteren Spiels, dieser kummervollen Farce, welche in einem müden und atemlosen Zerfall endete...
Mehrere Augenblicke später lag sie mit dem nackten Rücken an ihrer Couchlehne und rauchte eine Zigarette. Er lag neben ihr und hatte seinen Kopf an ihrem Busen gebettet. An seiner Wange fühlte er ihr geschmeidiges, langes Haar und hörte wie ihr Herz gleichmäßig schlug. Nun wieder in normaler Frequenz. Mit den Fingerkuppen strich er über ihre Brustwarze. Er verspürte nur wenig Genugtuung als diese sich protestierend ausstellten.
„Seit wann rauchst du?“, fragte er sodann unterkühlt.
Sie schloss wieder ihre Augen, um den Klang dieser Stimme leichter ertragen zu können. Diese Stimme war wie Säure, die ihre Lunge noch mehr schädigte als das Nikotin. Diese Stimme, die sie in jeder verdammten Nacht heimsuchte und voller Wut zischte: „Deine Angst macht dich krank!"
Sie zog nochmals an der Zigarette. „Seit einem Jahr.“, flüsterte sie und ihre Stimme war nicht weniger kalt.
Er spürte, wie sie den Rauch ausstieß, und holte noch einmal tief Luft. Zwischen dem stinkenden Zigarettenqualm roch er immer noch ihren süßen Geruch, sein süßes Mädchen..
Gedrungen seufzte er. „Es war schwer dich zu finden.“
Ein Schnauben entwich ihr. „Hättest du es bloß dabei belassen.“
„Du weißt, dass ich das nicht konnte.“
„Warum nicht?“
Sie drückte die aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher neben sich aus und legte die Hand an seinen Kopf. Seine rauen Haare streichelte sie und lächelte bitter, als er zu ihr aufschaute. Er sah ihr tief in diese smaragdgrünen Augen und versuchte das Mädchen von damals in dem hübschen Gesicht mit den vollen Lippen und dem feinen Kinn wieder zu finden. Vergebens.
„Was ist aus Uns geworden?“
„Du bist nach L.A. gezogen.“, antwortete sie gefühllos.
„Ich habe dich nicht nur einmal gebeten mit zukommen.", raunte er und fuhr ihr sanft durch das volle Haar. „Ich habe Monate lang versucht, dich zu überreden mich zu begleiten. Du hast nie reagiert und dann...“
„Hör auf!“ Die Wut, der Schmerz in ihren Worten zerschnitt die Luft und ein kalter Funken blitzte in ihren Augen auf. „Hör auf von damals zu reden!"
Für einen Moment setzte sein Herz aus und im Raum schien jedes Atom erstarrt zu sein. Nur noch das Ticken der Wanduhr war zu hören. Alles andere schwieg. Immer noch sah er ihr in die kalten Augen. Seine Kiefermuskeln zeichneten sich deutlich ab, als er innerlich um Fassung rang. Alle möglichen Rechtfertigungen, Ausreden und Widersprüche in Gedanken abspielte und doch sofort wieder verwarf. Denn dazu konnte er nur eines sagen.
Er stieß angestrengt die Luft aus und entspannte sich langsam wieder. „Es tut mir leid.“ Mit gedämpfter Stimme sprach er: „Es tut mir so leid, was damals passiert ist... alles..."
Diese Worte zersprengten endgültig ihre äußere Fassade. Sie benässte ihre Lippen und sah zur Seite. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und sie schluckte ihn geräuschvoll runter. Doch die Tränen, die sich in ihren Augen bildeten, konnte sie nicht runter zwingen.
Eine heiße Träne lief ihre Wange hinab und zärtlich wischte er sie ihr weg. „Ich habe dich jeden Tag vermisst.“, hauchte er heiser. „Jede Sekunde waren meine Gedanken bei dir.“ Er legte seine Hand an ihre Wange, drehte ihr Gesicht wieder zu sich und zwang sie, ihm wieder in die Augen zu sehen.
Das was er darin sah, war purer Hass.
Und genau das spürte sie auch. Hass, dass er wieder nach Wales zurück gekommen war. Hass, dass er wieder in ihr Leben getreten war. Hass, dass sie wieder mit ihm geschlafen hatte. Hass auf ihn und Hass auf sich. Und vor allem hasste sie es, dass sie ihn immer noch so sehr liebte. Obwohl es doch so hoffnungslos war.
„Wir waren schon damals getrennt, als wir noch zusammen waren.“, sagte sie voller Schmerz und erhob sich. Dabei achtete sie nicht auf seinen verstörten Blick. Sie konnte ihre Gefühle nicht mehr unterdrücken, konnte ihre Stimme nicht daran hindern zu zittern und auch die Tränen konnte sie nicht mehr aufhalten. Dafür tat alles viel zu sehr weh. Der ganze Schmerz von damals prasselte wieder auf sie nieder. All die qualvollen Momente stachen auf sie ein und vernichteten alle Erinnerungen an die glücklicheren Zeiten. Die Tränen rannen nur noch über ihre Wangen, als sie sprach: „Nie hatte unsere Beziehung eine Chance gehabt. Ob mit Band, oder ohne. Wir gehören einfach nicht zusammen.“
Auch er setzte sich auf und sah sie mehrere Sekunden lang an - die junge Frau, die bittere Tränen vergoss. Wegen ihm. Wieder.
Vorsichtig strich er ihr die goldene Haarpracht aus dem Gesicht, legte erneut seine Hand an ihre Wange und bat sie so nochmals, ihn wieder anzusehen.
Als er in ihre Augen sah, einen kleinen Funken hinter den Tränen ersah, erkannte er das erste Mal an diesem bedeutenden Abend das Mädchen von damals wieder, welches er so abgöttisch geliebt hatte.
Und immer noch liebte.
Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er flüsterte: „Du kannst immer noch nicht gut lügen, Sophie.“
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2014
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