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Der erste Kontakt zwischen meinen Ahnen und mir

„Beginne mit deinen Vorfahren“, las ich immer wieder. „Du kannst keine zuverlässigeren Verbündeten als deine eigenen Vorfahren haben.“

Im Nachhinein würde ich sagen, dass es Bücher von oder über indigene Traditionen waren, die ich da über Jahrzehnte hinweg immer mal wieder gelesen habe. Und ich war durchaus willens, daraus alles für mich zu ziehen, was für mich in Frage kommen könnte – aber Vorfahren?! Nicht wirklich, oder?

Ich bin ja ein bisschen ein schwarzes Schaf. Meine erweiterte Familie findet mich etwas seltsam, und mir geht es mit ihnen ebenso. Selbst wenn in diesen Büchern eine Anleitung dabeigewesen wäre, wie genau ich meine Vorfahren als Verbündete gewinnen könnte, ich hätte sie vermutlich überblättert und anderswo weitergelesen. Noch mehr von dieser Sorte? Muss ich nicht haben.

Ich bin ein Nachkriegskind, geboren in eine arme Bauernfamilie. Die Generationen vor mir hatten Kriege, Hunger, Inflation erlebt. In jedem Haus hing ein Foto von einem jungen Soldaten mit Trauerflor am Rahmen und die Großväter und die Jungen mussten die schwere Männerarbeit machen. Meine Verwandten waren folgerichtig ganz konzentriert auf ihr materielles Überleben. Daneben hingen sie noch einer fundamentalistischen protestantischen Religiosität an, in der es viel um die Bedingungen ging, an die Gott seine Gnade knüpft. In beides habe ich mich als Kind nicht hineinfinden können. Und als dann in meiner Jugend eine weltweite Protestbewegung gegen die Enge, Autoritätshörigkeit, Doppelmoral und Bigotterie der fünfziger Jahre aufstand und vieles davon hinwegfegte, habe ich mich dem mit Begeisterung angeschlossen.

Auch wenn ich das Prinzip, Vorfahren als Verbündete zu gewinnen, durchaus nachvollziehbar fand. Religionen mögen einen enttäuschen, Krafttiere nur für eine bestimmte Zeit begleiten, die eigenen Fähigkeiten werden irgendwann einmal nachlassen – aber Verwandtschaft bleibt einem für immer. Ich war geneigt, das als einen Nachteil zu betrachten, aber es kann unter anderen Voraussetzungen auch ein Vorteil sein.

Vielleicht bin ich im Lauf der Jahrzehnte milder geworden. Und auch von den Auswüchsen der fünfziger Jahre ist wenig übrig geblieben. Außerdem bin ich neugierig. Und als ich 2019 den Podcast zu Samhain von der Ahnenhexe Ilka Sventja hörte, da war ich schon geneigter, meine Vorfahren nicht mehr in Bausch und Bogen abzulehnen. Sie schlug in dem Podcast vor, ihnen irgend ein Zeichen der Wertschätzung, der Anerkennung, des Gedenkens zu schicken und den Tag als ihren Ehrentag zu begehen. Ich hab es mir leicht gemacht und einfach nur an diesem Tag die Tracht meiner Großmutter getragen. Meine Oma (väterlicherseits) war eine Trachtenfrau, und eine ihrer Trachten habe ich geerbt und trage sie zu feierlichen Anlässen.

Ich arbeite abends, habe gegen 23 Uhr Feierabend und wandere dann durch die Nacht nach Hause. Da laufe ich also so in der Nacht von Samhain, in der Tracht meiner Großmutter, und denke bei mir: Liebe Vorfahren, also wenn irgendwer von euch Interesse daran hat, Kontakt aufzunehmen, dann wäre jetzt vermutlich der beste Zeitpunkt, den ihr dafür finden könntet. Und dann spürte ich ihre Anwesenheit. Plötzlich waren sie da. Meine Mutter ging links, meine Oma rechts von mir, hinter mir erspürte ich so nach und nach einen ganzen Pulk, alles Frauen, von denen ich abstamme. Ich war ein wenig fassungslos. Mit einer solchen Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Bestenfalls hatte ich auf einen oder zwei gehofft, aber gleich eine ganze Schar?

Erstmal hab ich ihnen übermittelt, wie riesig ich mich freue. Dann habe ich mich entschuldigt, dass ich in meinem Leben praktisch nichts auf die Reihe gekriegt habe. Ich habe keinerlei Karriere gemacht, kein Vermögen angehäuft, bin geschieden und habe uneheliche Kinder. Meinen Lebensunterhalt zusammenzukratzen und meine Kinder aufzuziehen hat mich alle Kraft gekostet, die ich übrig hatte, mehr war nicht drin. In den Augen meiner lebenden Verwandtschaft bin ich vermutlich eine komplette Versagerin und eine Enttäuschung.

Das sahen die Vorfahren anders; es kam eine Welle von Wertschätzung zurück, von der zehre ich heute noch. Es hat mich umgehauen. Mit so etwas hatte ich überhaupt nicht gerechnet! Es fühlte sich an, als hätte ich nichts falsch gemacht in meinem Leben, als fänden sie alles vollkommen richtig, was ich getan hatte – und einige meiner Lebensentscheidungen waren wirklich eher unklug.

Ich habe ihnen ein Gefühl von Wertschätzung zurückgeschickt; schließlich lebe ich in Zeiten von Frieden, Wohlstand und Rundumversorgung und sie hatten es deutlich schwerer als ich! Habe ein wenig daran gedacht, wie sie Kriege und Hungersnöte durchgestanden haben, Missernten und Inflationen, Seuchen und harte Arbeit unter den miserabelsten Bedingungen; alles Dinge, die meiner Generation komplett erspart geblieben sind. Hätten wir sie meistern können? Ich weiß es nicht; aber meine Vorfahren, die haben es getan. Wie stark müssen sie gewesen sein, wie tatkräftig, wie hart im Nehmen! Ich spürte Power hinter mir, die so etliche Feuerproben hinter sich und erfolgreich überstanden hatte.

Ich habe mich so stark gefühlt mit all dieser Präsenz im Rücken, dass ich den Fußweg am Fluss genommen habe, den ich normalerweise nach Dunkelwerden nur gehe, wenn ich den Hund ausführen will. Ich hatte das Gefühl, es könne mir niemand etwas anhaben, als würde diese Kraft mich beschützen. Seitdem gehe ich immer öfter und inzwischen nur noch nach der Arbeit am Fluss entlang nach Hause statt wie vorher auf ordentlichen, beleuchteten Bürgersteigen.

Zu der Zeit bot die Ahnenhexe Ilka Ahnenrituale an, bei denen sie den Vorfahren der Teilnehmer deren Liebe, Vergebung und Dankbarkeit übermittelte. Natürlich hab ich beim nächsten Ahnenritual mitgemacht! Ich fand es toll, dass ich diese Möglichkeit hatte, mich zu bedanken für all die Kraft, die ich jetzt im Rücken hatte, und meinen Ahnen ein Zeichen meiner Wertschätzung zu schicken. Und als Ilka „Deep Roots“ anbot, einen Jahreskurs zur Ahnenarbeit – und ich zufällig grade Zeit und Geld genug hatte –, da war ich sofort dabei.

Es wurde ein Ritt auf dem Rollercoaster.

Die Lichtahnin

Es war April 2020, ich hatte mir vor dem Lockdown noch schnell ein gemütliches dickes Meditationskissen und ein Paar bequeme Wanderschuhe gekauft und Ilkas Jahresprogramm „Deep Roots“ gebucht und fand mich damit bestens vorbereitet für Pandemiezeiten.

Als ich mich zu Ilkas erster Trance hinsetzte, war ich ohne die geringsten Kenntnisse über Trancen als solche. Bis dahin hatte ich nur sehr wenig, durchgehend positive, Erfahrungen mit geführten Meditationen gemacht. Darüber machte ich mir keine Gedanken, hatte auch keine Vorstellungen; ich war ganz davon erfüllt, dass ich nun meine erste Vorfahrin würde kennenlernen dürfen und damit gleichzeitig eine Helferin. Das fand ich extrem spannend.

Ilka hatte uns erklärt, dass uns ebenso wie Krafttiere und Schutzengel auch Ahnen fest zur Seite stehen. Weil „Schutz“ und „Kraft“ schon vergeben war, hatte sie diese fest zugeordneten Helfer aus den eigenen Ahnenlinien, jeweils eine Frau und ein Mann, als „Lichtahnen“ bezeichnet. Und ich sollte mich nun also auf den Weg machen, um die mir zugeordnete Frau kennenzulernen.

Es stellte sich heraus, dass ich der Typ bin, der in einer Trance vereinzelt Bilder sieht, ein bisschen was fühlt oder riecht und überhaupt gar nichts hört oder schmeckt und die meisten Einzelheiten einfach weiß. Von meiner Lichtahnin hatte ich sofort ein sehr deutliches Bild von einer hoch aufgerichteten Frau in einer bäuerlichen Tracht, die mir mit klaren grauen Augen entgegensah. Den Rest wusste ich nur: Wir standen in einer Küche. Ich wusste, wo in diesem Raum gekocht und wo gegessen wurde. Vor allem aber bekam ich von meiner Lichtahnin eine Fülle von Informationen.

Sie war die Frau in einem Bauernhaus – und im klassischen Bauernhaus ist „Frau“ sowohl ein Ehrentitel als auch eine Arbeitsplatzbeschreibung. Die „Frau“ des Bauernhauses hatte Kleinvieh, Milchwirtschaft, Küche, Keller und Garten unter sich, ließ waschen, Hühner schlachten, Brot backen, für Lebensmittelvorräte übers Jahr sorgen und Flachs und Wolle zu all der Wäsche und der Kleidung verarbeiten, die im Haus gebraucht wurden. Sie hatte die Schlüssel zu Kornspeicher, Wäschekammer und Vorratsräumen, war zuständig für die Kinder, die Kranken und alle weiblichen Hausmitglieder.

Die Augen meiner Lichtahnin waren durchdringend. Sie sahen Beweggründe und Charaktere. Sie sahen Veranlagungen und mögliches Schicksal. Sie wogen ab und maßen zu und glichen aus. Dem schwachen Sohn gaben sie eine starke Frau und der herrschsüchtigen Tochter einen geduldigen Mann. Sie gab jedem nicht nur, was der Körper, sondern auch das, was die Seele nährte, nach den Bedürfnissen jedes einzelnen.

Sie vermittelte in der Dorfgemeinschaft, schuf Netzwerke, stieß Verbesserungen an. Ihr Wort wurde gehört. Arme Familien baten sie darum, ihr Töchter aufzunehmen; bei ihr gelernt zu haben, verbesserte deren Heiratsaussichten.

Sie hat sich ihren Mann nicht selbst ausgesucht, die Ehe wurde von den Eltern verabredet. Aber mit dem, der ihr gegeben wurde, hat sie hinter den Vorhängen ihres Ehebettes Zärtlichkeit getauscht, Liebe gelernt und wachsen lassen, und im Lauf der Zeit hat sie große, erfüllende Intimität erfahren. Die beiden hatten Respekt voreinander. Sie haben Hand in Hand zusammengearbeitet wie ein Gespann vor dem Wagen und die beiden Hälften der Arbeit sauber miteinander verzahnt.

An Sonntagen ist sie im Sonntagsanzug mit dem Gebetbuch und einem sauberen Taschentuch in die Kirche gegangen. Sie hat Osterwasser geholt und ist über das Sonnwendfeuer gesprungen, sie hat den Vorfahren und dem kleinen Volk Essen hingestellt und sich in den Raunächten zurückgezogen. Darin hat sie keinen Widerspruch gesehen. Sie roch nach den getrockneten Kräutern in ihrer Hausapotheke. Sie kannte alle Tiere ihres Hofes mit Namen.

Ich durfte eine Bauersfrau kennenlernen, die ein Haus der Fülle führte und mit vollen Händen geben konnte und jeden einzelnen bedachte, wie es für denjenigen nötig war – so kannte ich das nicht. Die Bauersfrauen meiner Kindheit hatten zwei Kriege erlebt. Sie hatten Mangel zu verwalten. Ihr Anliegen war nur, dass möglichst jeder satt wurde.

Ich war so glücklich. Das meine Vorfahrin jeden Menschen in seiner Eigenart gesehen hatte, das fand ich großartig. Ich habe Ilka gefragt, ob ich noch einmal zu ihr gehen darf und ob ich dann die selbe Frau treffe. Ja klar, sagte sie, und: ja klar.

Also zog ich begeistert los. Und dann rannte ich vor eine Wand.

Ich bin ein introvertierter Mensch. Es ist mir ein paar Mal in meinem Leben passiert, dass ich mich jemand anderem gegenüber hätte öffnen dürfen und stattdessen voller Panik davongerannt bin, was mir jedes Mal entsetzlich leid tat, aber ich konnte es nicht ändern. So ging es mir jetzt mit der Lichtahnin.

Sie stand wieder da und sah mich mit ihren durchdringenden grauen Augen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 28.07.2021
ISBN: 978-3-7487-9001-3

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