„Beginne mit deinen Vorfahren“, las ich immer wieder. „Du kannst keine zuverlässigeren Verbündeten als deine eigenen Vorfahren haben.“
Im Nachhinein würde ich sagen, dass es Bücher von oder über indigene Traditionen waren, die ich da über Jahrzehnte hinweg immer mal wieder gelesen habe. Und ich war durchaus willens, daraus alles für mich zu ziehen, was für mich in Frage kommen könnte – aber Vorfahren?! Nicht wirklich, oder?
Ich bin ja ein bisschen ein schwarzes Schaf. Meine erweiterte Familie findet mich etwas seltsam, und mir geht es mit ihnen ebenso. Selbst wenn in diesen Büchern eine Anleitung dabeigewesen wäre, wie genau ich meine Vorfahren als Verbündete gewinnen könnte, ich hätte sie vermutlich überblättert und anderswo weitergelesen. Noch mehr von dieser Sorte? Muss ich nicht haben.
Ich bin ein Nachkriegskind, geboren in eine arme Bauernfamilie. Die Generationen vor mir hatten Kriege, Hunger, Inflation erlebt. In jedem Haus hing ein Foto von einem jungen Soldaten mit Trauerflor am Rahmen und die Großväter und die Jungen mussten die schwere Männerarbeit machen. Meine Verwandten waren folgerichtig ganz konzentriert auf ihr materielles Überleben. Daneben hingen sie noch einer fundamentalistischen protestantischen Religiosität an, in der es viel um die Bedingungen ging, an die Gott seine Gnade knüpft. In beides habe ich mich als Kind nicht hineinfinden können. Und als dann in meiner Jugend eine weltweite Protestbewegung gegen die Enge, Autoritätshörigkeit, Doppelmoral und Bigotterie der fünfziger Jahre aufstand und vieles davon hinwegfegte, habe ich mich dem mit Begeisterung angeschlossen.
Auch wenn ich das Prinzip, Vorfahren als Verbündete zu gewinnen, durchaus nachvollziehbar fand. Religionen mögen einen enttäuschen, Krafttiere nur für eine bestimmte Zeit begleiten, die eigenen Fähigkeiten werden irgendwann einmal nachlassen – aber Verwandtschaft bleibt einem für immer. Ich war geneigt, das als einen Nachteil zu betrachten, aber es kann unter anderen Voraussetzungen auch ein Vorteil sein.
Vielleicht bin ich im Lauf der Jahrzehnte milder geworden. Und auch von den Auswüchsen der fünfziger Jahre ist wenig übrig geblieben. Außerdem bin ich neugierig. Und als ich 2019 den Podcast zu Samhain von der Ahnenhexe Ilka Sventja hörte, da war ich schon geneigter, meine Vorfahren nicht mehr in Bausch und Bogen abzulehnen. Sie schlug in dem Podcast vor, ihnen irgend ein Zeichen der Wertschätzung, der Anerkennung, des Gedenkens zu schicken und den Tag als ihren Ehrentag zu begehen. Ich hab es mir leicht gemacht und einfach nur an diesem Tag die Tracht meiner Großmutter getragen. Meine Oma (väterlicherseits) war eine Trachtenfrau, und eine ihrer Trachten habe ich geerbt und trage sie zu feierlichen Anlässen.
Ich arbeite abends, habe gegen 23 Uhr Feierabend und wandere dann durch die Nacht nach Hause. Da laufe ich also so in der Nacht von Samhain, in der Tracht meiner Großmutter, und denke bei mir: Liebe Vorfahren, also wenn irgendwer von euch Interesse daran hat, Kontakt aufzunehmen, dann wäre jetzt vermutlich der beste Zeitpunkt, den ihr dafür finden könntet. Und dann spürte ich ihre Anwesenheit. Plötzlich waren sie da. Meine Mutter ging links, meine Oma rechts von mir, hinter mir erspürte ich so nach und nach einen ganzen Pulk, alles Frauen, von denen ich abstamme. Ich war ein wenig fassungslos. Mit einer solchen Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Bestenfalls hatte ich auf einen oder zwei gehofft, aber gleich eine ganze Schar?
Erstmal hab ich ihnen übermittelt, wie riesig ich mich freue. Dann habe ich mich entschuldigt, dass ich in meinem Leben praktisch nichts auf die Reihe gekriegt habe. Ich habe keinerlei Karriere gemacht, kein Vermögen angehäuft, bin geschieden und habe uneheliche Kinder. Meinen Lebensunterhalt zusammenzukratzen und meine Kinder aufzuziehen hat mich alle Kraft gekostet, die ich übrig hatte, mehr war nicht drin. In den Augen meiner lebenden Verwandtschaft bin ich vermutlich eine komplette Versagerin und eine Enttäuschung.
Das sahen die Vorfahren anders; es kam eine Welle von Wertschätzung zurück, von der zehre ich heute noch. Es hat mich umgehauen. Mit so etwas hatte ich überhaupt nicht gerechnet! Es fühlte sich an, als hätte ich nichts falsch gemacht in meinem Leben, als fänden sie alles vollkommen richtig, was ich getan hatte – und einige meiner Lebensentscheidungen waren wirklich eher unklug.
Ich habe ihnen ein Gefühl von Wertschätzung zurückgeschickt; schließlich lebe ich in Zeiten von Frieden, Wohlstand und Rundumversorgung und sie hatten es deutlich schwerer als ich! Habe ein wenig daran gedacht, wie sie Kriege und Hungersnöte durchgestanden haben, Missernten und Inflationen, Seuchen und harte Arbeit unter den miserabelsten Bedingungen; alles Dinge, die meiner Generation komplett erspart geblieben sind. Hätten wir sie meistern können? Ich weiß es nicht; aber meine Vorfahren, die haben es getan. Wie stark müssen sie gewesen sein, wie tatkräftig, wie hart im Nehmen! Ich spürte Power hinter mir, die so etliche Feuerproben hinter sich und erfolgreich überstanden hatte.
Ich habe mich so stark gefühlt mit all dieser Präsenz im Rücken, dass ich den Fußweg am Fluss genommen habe, den ich normalerweise nach Dunkelwerden nur gehe, wenn ich den Hund ausführen will. Ich hatte das Gefühl, es könne mir niemand etwas anhaben, als würde diese Kraft mich beschützen. Seitdem gehe ich immer öfter und inzwischen nur noch nach der Arbeit am Fluss entlang nach Hause statt wie vorher auf ordentlichen, beleuchteten Bürgersteigen.
Zu der Zeit bot die Ahnenhexe Ilka Ahnenrituale an, bei denen sie den Vorfahren der Teilnehmer deren Liebe, Vergebung und Dankbarkeit übermittelte. Natürlich hab ich beim nächsten Ahnenritual mitgemacht! Ich fand es toll, dass ich diese Möglichkeit hatte, mich zu bedanken für all die Kraft, die ich jetzt im Rücken hatte, und meinen Ahnen ein Zeichen meiner Wertschätzung zu schicken. Und als Ilka „Deep Roots“ anbot, einen Jahreskurs zur Ahnenarbeit – und ich zufällig grade Zeit und Geld genug hatte –, da war ich sofort dabei.
Es wurde ein Ritt auf dem Rollercoaster.
Es war April 2020, ich hatte mir vor dem Lockdown noch schnell ein gemütliches dickes Meditationskissen und ein Paar bequeme Wanderschuhe gekauft und Ilkas Jahresprogramm „Deep Roots“ gebucht und fand mich damit bestens vorbereitet für Pandemiezeiten.
Als ich mich zu Ilkas erster Trance hinsetzte, war ich ohne die geringsten Kenntnisse über Trancen als solche. Bis dahin hatte ich nur sehr wenig, durchgehend positive, Erfahrungen mit geführten Meditationen gemacht. Darüber machte ich mir keine Gedanken, hatte auch keine Vorstellungen; ich war ganz davon erfüllt, dass ich nun meine erste Vorfahrin würde kennenlernen dürfen und damit gleichzeitig eine Helferin. Das fand ich extrem spannend.
Ilka hatte uns erklärt, dass uns ebenso wie Krafttiere und Schutzengel auch Ahnen fest zur Seite stehen. Weil „Schutz“ und „Kraft“ schon vergeben war, hatte sie diese fest zugeordneten Helfer aus den eigenen Ahnenlinien, jeweils eine Frau und ein Mann, als „Lichtahnen“ bezeichnet. Und ich sollte mich nun also auf den Weg machen, um die mir zugeordnete Frau kennenzulernen.
Es stellte sich heraus, dass ich der Typ bin, der in einer Trance vereinzelt Bilder sieht, ein bisschen was fühlt oder riecht und überhaupt gar nichts hört oder schmeckt und die meisten Einzelheiten einfach weiß. Von meiner Lichtahnin hatte ich sofort ein sehr deutliches Bild von einer hoch aufgerichteten Frau in einer bäuerlichen Tracht, die mir mit klaren grauen Augen entgegensah. Den Rest wusste ich nur: Wir standen in einer Küche. Ich wusste, wo in diesem Raum gekocht und wo gegessen wurde. Vor allem aber bekam ich von meiner Lichtahnin eine Fülle von Informationen.
Sie war die Frau in einem Bauernhaus – und im klassischen Bauernhaus ist „Frau“ sowohl ein Ehrentitel als auch eine Arbeitsplatzbeschreibung. Die „Frau“ des Bauernhauses hatte Kleinvieh, Milchwirtschaft, Küche, Keller und Garten unter sich, ließ waschen, Hühner schlachten, Brot backen, für Lebensmittelvorräte übers Jahr sorgen und Flachs und Wolle zu all der Wäsche und der Kleidung verarbeiten, die im Haus gebraucht wurden. Sie hatte die Schlüssel zu Kornspeicher, Wäschekammer und Vorratsräumen, war zuständig für die Kinder, die Kranken und alle weiblichen Hausmitglieder.
Die Augen meiner Lichtahnin waren durchdringend. Sie sahen Beweggründe und Charaktere. Sie sahen Veranlagungen und mögliches Schicksal. Sie wogen ab und maßen zu und glichen aus. Dem schwachen Sohn gaben sie eine starke Frau und der herrschsüchtigen Tochter einen geduldigen Mann. Sie gab jedem nicht nur, was der Körper, sondern auch das, was die Seele nährte, nach den Bedürfnissen jedes einzelnen.
Sie vermittelte in der Dorfgemeinschaft, schuf Netzwerke, stieß Verbesserungen an. Ihr Wort wurde gehört. Arme Familien baten sie darum, ihr Töchter aufzunehmen; bei ihr gelernt zu haben, verbesserte deren Heiratsaussichten.
Sie hat sich ihren Mann nicht selbst ausgesucht, die Ehe wurde von den Eltern verabredet. Aber mit dem, der ihr gegeben wurde, hat sie hinter den Vorhängen ihres Ehebettes Zärtlichkeit getauscht, Liebe gelernt und wachsen lassen, und im Lauf der Zeit hat sie große, erfüllende Intimität erfahren. Die beiden hatten Respekt voreinander. Sie haben Hand in Hand zusammengearbeitet wie ein Gespann vor dem Wagen und die beiden Hälften der Arbeit sauber miteinander verzahnt.
An Sonntagen ist sie im Sonntagsanzug mit dem Gebetbuch und einem sauberen Taschentuch in die Kirche gegangen. Sie hat Osterwasser geholt und ist über das Sonnwendfeuer gesprungen, sie hat den Vorfahren und dem kleinen Volk Essen hingestellt und sich in den Raunächten zurückgezogen. Darin hat sie keinen Widerspruch gesehen. Sie roch nach den getrockneten Kräutern in ihrer Hausapotheke. Sie kannte alle Tiere ihres Hofes mit Namen.
Ich durfte eine Bauersfrau kennenlernen, die ein Haus der Fülle führte und mit vollen Händen geben konnte und jeden einzelnen bedachte, wie es für denjenigen nötig war – so kannte ich das nicht. Die Bauersfrauen meiner Kindheit hatten zwei Kriege erlebt. Sie hatten Mangel zu verwalten. Ihr Anliegen war nur, dass möglichst jeder satt wurde.
Ich war so glücklich. Das meine Vorfahrin jeden Menschen in seiner Eigenart gesehen hatte, das fand ich großartig. Ich habe Ilka gefragt, ob ich noch einmal zu ihr gehen darf und ob ich dann die selbe Frau treffe. Ja klar, sagte sie, und: ja klar.
Also zog ich begeistert los. Und dann rannte ich vor eine Wand.
Ich bin ein introvertierter Mensch. Es ist mir ein paar Mal in meinem Leben passiert, dass ich mich jemand anderem gegenüber hätte öffnen dürfen und stattdessen voller Panik davongerannt bin, was mir jedes Mal entsetzlich leid tat, aber ich konnte es nicht ändern. So ging es mir jetzt mit der Lichtahnin.
Sie stand wieder da und sah mich mit ihren durchdringenden grauen Augen an. Und nachdem ich bei meinem ersten Besuch alles über sie hatte wissen dürfen, war sie offenbar der Ansicht, nun wäre ich an der Reihe, ihr meinen Geist zu öffnen.
Und ich konnte das nicht.
Es war zudem meine erste Erfahrung mit der Tatsache, dass man sich in der Welt der Spirits nicht verstellen kann.
Sie hat es mit Fassung getragen, aber mich hat es verstört. Ich war auf ein Thema gestoßen worden, an dem ich in den nächsten Tagen und Wochen zu arbeiten hatte. Es hat viel Stoff für meine wöchentlichen Therapiestunden hergegeben.
Inzwischen war der Monat schon fast vorüber und mein Geld noch nicht zu Ende, was für mich ein so ungewohnter Zustand ist, dass ich etwas dagegen unternehmen wollte. Der Schamane Matthias Riemerschmid bot maßgeschneiderte Pflanzenessenzen an, so eine wollte ich haben. Wie Bachblüten, stelle ich mir vor, nur auf mich individuell zugeschnitten. Was ich stattdessen bekam, war eine ganz klassische schamanische Behandlung; offenbar haben es die Pflanzengeister vorgezogen, gleich direkt tätig zu werden statt über den Umweg einer Pflanzenessenz.
Und wer bin ich, mit Pflanzengeistern zu disputieren.
Bei dieser Behandlung wurde mir ein Schutz genommen, der mich schon mein ganzes erwachsenes Leben über beeinträchtigt hat. Der Schamane tat sich etwas schwer damit, ihn zu beschreiben; ein Schutznetz, meinte er, wie eine zweite Haut, eng rund um mich rum. Sowas scheint nicht so üblich zu sein, wie ich immer gedacht hatte; auch die Therapeutin sagte, normalerweise hätte die Leute eher einen Schild oder ein einzelnes Rüstungsteil, etwas Starres und Begrenztes, und nur ganz selten hat einmal jemand einen flexiblen Rundumschutz. Ich habe jedenfalls sofort gewusst, von was er redet: diese Schicht zwischen mir und andren Menschen, durch die ich mich immer so mühsam hindurcharbeiten musste, dass Kontakte für mich sehr anstrengend waren. Im Laufe der Jahrzehnte hatte ich sie schwächen können von fast undurchdringlich bis zu nur noch einschränkend.
Und nun war sie fort. Einfach so. Die Schicht, die mich mein Leben lang von anderen Menschen getrennt und abgeschirmt hatte. Ich konnte es nicht fassen. Ich konnte stundenlang mit meinen Freundinnen reden und fiel nicht nach zwei Stunden spätestens völlig erschöpft ins Bett, ich konnte mich mit Verkäufern unterhalten und Menschen um Rat fragen – nur jemanden anrufen, das kann ich immer noch nicht. Außerdem sind mir noch eine übertriebene Mimik und Gestik geblieben und die Angewohnheit, manchmal mitten im Satz zu verstummen, weil mir früher mal die Hoffnung ausgegangen ist, mit meinen Worten jemals einen anderen lebenden Menschen zu erreichen.
Ich glaube, es war schon im zweiten Monat meines Ahnenjahres, als ich nach ausgiebigen Gesprächen mit Ilka und mit meiner Therapeutin und ohne das Schutznetz um mich her wieder loszog und meine Lichtahnin zum dritten Mal besuchte, in meiner Vorstellung einen Strauß Flieder in der Hand; meine Mama hat immer zu Muttertag von mir Flieder bekommen. Dabei hatte ich nicht daran gedacht, dass sie ja kein fließendes Wasser in ihrem Haus hat; und es schien ihr auch nicht ganz einsehbar, wieso man Flieder vom Baum reißt und ins Haus holt, wo er sich bestenfalls ein paar wenige Tage hält, statt ihn einfach da zu lassen, wo er gewachsen ist. Aber egal; sie nahm den Flieder als das Zeichen an, als das er gemeint war.
Dann haben wir uns umarmt und ich habe mich entschuldigt und habe ihr gedankt, dass sie mir zur Seite stehen will, in einer überströmenden Welle von Liebe und Dankbarkeit. Sie hat auf ihrem Lehnstuhl gesessen und ich auf dem Stuhl daneben, wir haben uns an den Händen gehalten und ich darf Mutter zu ihr sagen – wobei ich ja vermute, dass sie Margret heißt. Auf dem Rückweg aus der Trance habe ich vor Glück getanzt, gehüpft und mich gedreht, dass mir die Röcke um die Beine flogen. Offenbar hatte ich die Tracht einer jüngeren Frau an, ohne es zu wissen.
Und nun habe ich als meinen Beistand eine Frau, die in allen Belangen des praktischen und des sozialen Lebens unschlagbar ist, voller Tatkraft, Menschenkenntnis, Diplomatie.
Das Interessante dabei ist, dass meine eigene Mutter eine extrem liebevolle, sehr rücksichtsvolle Frau war von einer immensen sozialen und empathischen Kompetenz, aber ohne die geringste Spur von Durchsetzungsvermögen. Meistens erfuhr man noch nicht einmal, was sie gerne gehabt hätte; sie hatte eine große Scheu davor, sich selbst zu zeigen; und ihr Mann ließ keinen Zweifel daran, dass er sich als den Herrn des Hauses und das Oberhaupt der Familie betrachtet. An diesem Punkt sind ihre Töchter leider ohne ein starkes weibliches Vorbild ins Leben gestartet. Und nun sowas! Diese Lichtahnin war das Durchsetzungsvermögen in Person, ungeschminkte Offenheit und gleichberechtigte Partnerschaft. Sie war das Rollenmodell, das mir gefehlt hatte. Sie an meiner Seite zu haben, das hat mein Leben auf völlig neue Füße gestellt.
Männliche Kraft habe ich immer als toxisch empfunden und mit Machtanmaßung, Überheblichkeit und Unterdrückung in Verbindung gebracht. Die jungen Männer meiner Generation waren für mich eher Spielgefährten und Mit-Kinder; sie hatten auch in dieser Generation nicht den Anspruch, besonders maskulin zu sein. Starke Frauen habe ich erleben dürfen, die ihre Familien durch die Fährnisse des Lebens steuerten, ihren Freundinnen im Notfall jederzeit zur Seite standen, die sich gegenseitig den Rücken stärkten, wo es nur ging, all das gerne auch mit einem kleinen Kind auf der Hüfte oder im Tragetuch, während ihre Männer von Freiheit und Abenteuer träumten; und diese Frauen haben meine Vorstellung von Kraft geprägt. Ich war sehr glücklich, in meiner Lichtahnin eine solche starke Frau an meiner Seite zu haben.
Im zweiten Monat des Jahresprogramms „Deep Roots“ sollte ich das dazugehörige männliche Pendant kennenlernen. Hatte ich da Lust drauf? Tatsächlich hatte ich grade begonnen, mir klarzumachen, dass männliche Kraft nochmal was völlig anderes sein könnte als die von mir so hoch geschätzte Stärke von Frauen. Also ging ich zwar ein wenig bange in diese zweite Trance, aber auch ein klein wenig neugierig. Wie würde er sein, mein Lichtahne? Würde er mich von oben herab behandeln, wie ich es von Männern gewöhnt war?
Er empfing mich, wie Ilkas Trance es vorgesehen hatte, auf einer Waldlichtung an einem kleinen, leise flackernden Feuer und bewegte sich, als sei er auf dieser Lichtung zuhause. Ich durfte auf einem Baumstamm Platz nehmen, den er mir ans Feuer gerückt hatte, und er setzte sich neben mich.
Gesehen habe ich ihn nicht; er hielt sich immer im Schatten, als wäre es ihm unangenehm, allzu genau gesehen zu werden. Auch hatte ich den Eindruck, dass er sich etwas kleiner zu machen versuchte, als er war. Er strahlte immense Kraft aus und war dabei von einer großen Sanftmut. Ich glaube, er war fast so aufgeregt wie ich und hatte Angst, er könne für mich eine Enttäuschung sein, ich hätte etwas anderes erwartet, etwas Spektakuläreres.
Da war sie, die männliche Kraft, deren fernen Duft ich im Wind erschnuppert hatte. Da war eine Kraft, die nicht klein machen, dominieren, verletzen will, sondern wertschätzen und beschützen. Da saß ich in meiner Trance, und die Tränen liefen mir übers Gesicht. In Gedanken fragte ich ihn: Wo bist du mein ganzes Leben über gewesen? Ich habe dich so sehr vermisst! Die Antwort war ein Gefühl des Erstaunens. Was fragst du mich das, ich war doch immer hier! Und ich spürte im Hintergrund meines Bewusstseins eine Präsenz, die mich schon mein Leben lang begleitet hatte, ohne dass es mir jemals bewusst geworden wäre. Ja, da war eine Kraft gewesen. Ja, irgendwo hatte ich immer gewusst, dass Männlichkeit auch anders sein kann.
Zum Abschied schenkte er mir ein kleines Schnitzmesser. Dabei sah ich seine Hände: kräftige, verwitterte Hände, die sich mit unendlicher Behutsamkeit bewegten, als er dieses Messer in meine Handfläche legte. Während meine Lichtahnin sich sofort in ihrer ganzen Größe vor mir aufgebaut hatte, habe ich von meinem Lichtahnen nichts weiter gesehen als seine Hände. Ich habe auch nichts weiter über ihn erfahren. Ich habe nur in seiner Liebe gebadet.
Erst im Nachhinein sind mir ein paar Details aufgefallen. Es mag sein, dass am Rande der Lichtung eine Holzhütte stand unter den ersten Bäumen, es mag sein, dass Spuren von Holzfällerarbeiten zu sehen waren, und es mag auch sein, dass im Hintergrund ein Wolf lag und wartete.
Ihr kennt Fotos von Keith Richards mit seinem neugeborenen Enkel auf dem Schoß oder von Norbert Blüm in Moria mit dem Flüchtlingsjungen? Das sind Bilder von der Energie, die mein Lichtahne verkörpert. Und ihr macht euch keine Vorstellung, wie mich das geflasht hat. Ich war schon über meine Lichtahnin bass erstaunt, aber über den Lichtahnen war ich noch viel erstaunter. Mit so etwas hatte ich im Leben nicht gerechnet. Ich hatte ja gar keine Ahnung gehabt, dass es so etwas überhaupt gab.
Ich ging tränenüberströmt aus der Trance heraus und stand den Rest des Abends neben mir. Und am nächsten Tag zog ich los und kaufte mir ein Schnitzmesser. Als ich nach langem Vergleichen mich schließlich für das eine ideale Messer entschieden hatte, genau das und kein anderes, es bezahlt hatte und einsteckte, da sagte der Verkäufer noch zum Abschied: Das ist so ein richtiges Großvater-Hosensack-Messer, und mein Herz hüpfte – genau das hatte ich gesucht. Den ganzen Weg nach Hause hielt ich mit beiden Händen dieses Messer an meine Brust gepresst und ließ es tagelang von jedem bewundern, den ich zu fassen kriegte. Ich hatte ein Messer, ein eigenes Messer! Als Kind hatte ich keines haben dürfen, weil ich ein Mädchen war – wo immer da der kausale Zusammenhang jetzt liegen mag. Jedenfalls hätte ich furchtbar gerne eines gehabt, und jetzt endlich hatte ich eins!
Und mein Großvater hatte es mir gegeben.
Wenn ich meine Lichtahnin „Mutter“ nenne, dann tue ich das mit Zuneigung und großem Respekt. Aber wenn ich meinen Lichtahnen „Großvater“ nenne, dann tue ich das mit überströmender Liebe und Zärtlichkeit.
In diesem selben Monat habe ich meinen Freund mit einer schamanischen Behandlung beschenkt. Er war so davon begeistert gewesen, wie ich mich durch die eine Behandlung im vorigen Monat verändert hatte, dass er sich auch eine gewünscht hat.
Bei ihm lief es darauf hinaus, dass ein verlorengegangener Seelenanteil wieder zurückgeholt wurde. Es war der Seelenanteil, in dem all seine Verbindlichkeit, Treue, Verlässlichkeit steckten – im Grunde war es der Seelenteil, der einen Mann von einem Jungen unterscheidet und mit dem ich vor der Bekanntschaft mit meinem Lichtahnen überhaupt nichts hätte anfangen können. Ein zeitliches Zusammentreffen, das ich sehr bemerkenswert fand. Ich hatte mir einen liebenswerten Hallodri ausgesucht; einen erwachsenen Mann hatte ich nie gewollt. Auch das sorgte natürlich wieder für sehr viel Gesprächsstoff in der Therapie.
Der Verblüffendste an meinen Lichtahnen ist für mich, wie diametral sie sich von meinen Eltern unterscheiden. Mein Vater ist draufgängerisch, steht gerne im Mittelpunkt und verbreitet seine Ideen mit einer gewissen Vehemenz und Ausdauer. Rücksichtnahme auf andere zählt hingegen nicht zu seinen Stärken. Und Empathie ist in ihrer Ehe der alleinige Kompetenzbereich meiner Mutter gewesen.
Wenn diese Lichtahnen eine feste Verbindung sind und einen ein Leben lang begleiten, dann müssen sie ja auch in der Kindheit schon bei einem gewesen sein. Hatten sie die Einseitigkeiten meiner Eltern ausgeglichen? Hatten sie mir geholfen? Hatte ich sie gespürt? Was hatten sie mich gelehrt?
Ich stelle mir gerne vor, dass mein Lichtahne mit seiner ruhigen Zuverlässigkeit, seiner stillen Kraft und seiner Wärme im Hintergrund meiner Kindheit stand und mir ein Gefühl der Sicherheit vermittelte, von dem ich nicht wissen konnte, woher es stammte. Die Qualität seiner Ausstrahlung kam mir so bekannt vor, als ich ihn kennenlernte, als sei sie als Grundschwingung in meinem Leben immer vorhanden gewesen.
Und die Qualitäten meiner Lichtahnin könnten mir geholfen haben, eine perfekte große Schwester zu werden. Das war eine Rolle, für die ich in meiner Kindheit Anerkennung ernten konnte, was sehr wichtig ist für ein schüchternes, verschlossenes Kind, dem nicht sehr viele solcher Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Der Überblick, den man dafür braucht, das Verantwortungsbewusstsein, die Zuverlässigkeit – das sind Qualitäten, die meine Lichtahnin auszeichnen.
Eine andere Frage, an deren Beantwortung ich allerdings wenig Interesse habe, wäre: Sind unsere Ahnen in unkörperlicher Form objektiv vorhanden? Habe ich eine Personifikation dessen getroffen, was mir als Kind gefehlt hat? Oder befinden sie sich ausschließlich in unseren Genen, unseren Zellen, unserem Unbewussten? Als ich meiner Therapeutin erzählte von dem Wohlwollen, das mir an Samhain entgegengeschlagen war, sagte sie: „Sehen Sie, tiefere Schichten Ihres Unbewussten verurteilen Sie gar nicht so, wie Sie meinen.“ Für sie sind meine Vorfahren in meinen Genen.
Ich sehe nicht, wie die Anwort auf diese Frage wichtig sein könnte. Man kann auch von einer Autorin nicht erwarten, dass sie da scharfe Grenzen zieht. Für uns gehen innen und außen ineinander über. Wir beschäftigen uns monatelang in aller Intensität und Ernsthaftigkeit mit unseren imaginären Freunden und schreiben all ihre Erlebnisse und Erfahrungen nieder. Wir lassen Anregungen aus der einen Welt in die andere fließen und umgekehrt – wie oft haben Menschen hinter mir im Bus einander genau das erzählt, was mir für den Fortgang einer Geschichte fehlte! Und wir erwarten, dass unsere Leser an unseren Geschichten Anteil nehmen.
Verblüfft war ich allerdings, als der Schamane die heimliche Heldin meines Romans „Das Erbe der Füchsin“ während der Behandlung neben mir gesehen hat.
Während meines Studiums der Religionswissenschaften habe ich einmal eine Hausarbeit geschrieben über den Begriff des Archetypus bei Carl Gustav Jung und Mircea Eliade. Der eine war Psychologe und beschrieb die Archetypen des kollektiven Unbewussten. Offenbar sind Bilder des Göttlichen im menschlichen Bewusstsein bereits angelegt. Der andere war Religionswissenschaftler und beschrieb die Archetypen der Götterwelt. Offenbar entsprechen die Götterbilder der Menschheit exakt denen, die im kollektiven Unbewussten angelegt sind.
Aber warum ist das so, woher kommt diese Entsprechung? Hat sich die Menschheit ihre Götter ausgedacht nach dem Vorbild ihres Unbewussten? Hat sich die Götterwelt dem Menschen so eingeprägt, dass er ihren Abdruck mit sich trägt? Ist beides von vornherein als Polarität entstanden oder geschaffen worden? Mircea Eliade und Carl Jung kannten einander. Der Religionswissenschaftler hat auf den Tagungen des Psychologen gesprochen. Haben die beiden diese Frage niemals miteinander erörtert? Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber auf jeden Fall haben sie sich niemals öffentlich dazu geäußert, keiner von beiden.
Ich habe das in der Hausarbeit auch nicht getan. Habe trotzdem eine Eins darauf gekriegt – oder vielleicht auch gerade deshalb, wer weiß? Müßige Spekulationen ohne die geringste Möglichkeit der Veri- oder Falsifizierung sind in Hausarbeiten nicht gern gesehen. Manchmal kann man die Frage nach dem Huhn und dem Ei auch einfach mal offen lassen.
In Ilkas Jahreskurs wurden alle diese Meinungen von den verschiedenen Teilnehmerinnen vertreten. Ich neige dazu, mir meine Ahnen als körperlose Wesen außerhalb von mir vorzustellen, das macht sie für mich greifbarer und gibt ihnen ausreichend Raum. Andere sehen sie ausschließlich in ihren Genen und in vererbten Fähigkeiten, Traumata und dergleichen. Das kann ich nachvollziehen. Wieder andere sehen sie als Energien, dazu habe ich keinen Zugang. Auf jeden Fall aber ist die Arbeit mit den Ahnen für uns alle die gleiche und hat auch die gleichen Auswirkungen.
Nach diesem zweiten Monat in Ilkas Jahreskurs fühlte ich mich für alles mögliche gewappnet. Ich hätte eine schamanische Ausbildung beginnen können und hätte bei den ersten Reisen in die Anderswelt bereits zwei zuverlässige Begleiter an meiner Seite gehabt. Die Ausbildung wäre mir damit vielleicht leichter gefallen als jemandem, der mutterseelenallein auf seine ersten Reisen gehen muss.
Ich hätte mich mit diesen Begleitern ebenso gut in die materielle Welt orientieren können und ihre Kraft in meinem Rücken nutzen können für berufliches Vorwärtskommen, gesellschaftlichen Aufstieg oder soziale Kontakte.
Allein diese ersten beiden Monate mit diesen ersten beiden Kontakten waren für mich das Geld für den ganzen Jahreskurs schon wert. Alles, was nun noch käme, würde willkommene Zugabe sein.
Ich hatte mir die Nacht von Allerseelen ausgesucht – in der der Schleier zwischen unsrer Welt und der Welt der Ahnen besonders dünn sein soll –, um meinen Vorfahren ein Zeichen zu senden: die Tracht meiner Oma anzuziehen und die Botschaft auszuschicken „Falls jemand Interesse hätte, ich wäre bereit.“ Dass diese Botschaft so umgehend beantwortet wurde, das ist in dieser Form natürlich sehr deutlich, aber auch nicht wirklich ungewöhnlich; andere haben da noch viel drastischere Erlebnisse gehabt.
Auf jeden Fall kommt die Botschaft an. Und sie wird beantwortet. Es mag ein paar Tage dauern, bis eine Antwort kommt; sie mag in einem Traum kommen, einem Naturerlebnis oder einer Synchronizität. Oder, wie es mir erstaunlich häufig geht, wenn ich in der Hochkonzentrationsphase eines Buches stecke: Die Menschen, die hinter mir im Zug sitzen oder im Bus, unterhalten sich darüber. Dann bekomme ich meine fehlenden Puzzleteilchen wie auf dem Silbertablett serviert, fertig in Worte gewickelt. Freilich ist es dazu nötig, dass sich eine gelinde Verzweiflung über dieses fehlende Teil in mir breit gemacht hat.
Das ist bei den Ahnen anders: Sie sind von sich aus an uns interessiert. Für sie sind wir wie der kleine Teil eines unterirdischen Flusses, der an die Oberfläche kommt und dort all das tun kann, was unterirdisch nicht möglich ist. Neue Impulse aufnehmen zum Beispiel, Dinge sehen und in dieser Welt erleben, die auch für die Ahnen von höchstem Interesse sind. Durch unser Erleben können auch sie Erkenntnisse gewinnen, dem Erfahrungsschatz neues hinzufügen, alte Wunden heilen und unerledigte Dinge zu Ende bringen. Wir sind für sie ganz immens wichtig. Abgesehen von dem Vorschuss an Zuneigung, der Neugeborenen der Sippe von Natur aus entgegengebracht wird, tun sie außerdem auch aus Eigeninteresse alles, um uns zu helfen. Auch von sich aus versuchen sie sich bemerkbar zu machen, wenn etwas anliegt; aber wir hören sie meistens nicht. Wenn wir nun anfangen, Botschaften zu senden, dann wird da ganz schnell ein Dialog draus und es kann eine sehr hilfreiche und fruchtbare Beziehung entstehen.
Und was wäre nun so ein Zeichen, das bei den Ahnen ankäme?
Viele Menschen haben Fotos von ihren verstorbenen Lieben im Regal stehen. Denen kann man hin und wieder mal Hallo sagen, schöne Grüße an die Sippschaft ausrichten oder erzählen, dass grade ein besonders anstrengender Tag ansteht und man ein wenig Unterstützung gut gebrauchen könnte. Man kann etwas danebenlegen, das die gesamte Vorfahrenschaft symbolisiert, ein Erbstück vielleicht. Dann hat man praktisch bereits einen Ahnenschrein und kann dort gelegentlich eine Kerze anzünden und eine frische Blume dazustellen oder ein Glas Wasser. Manch einer tut das ganz instinktiv.
Ich glaube, die Vorfahren merken es, wenn man an sie denkt. Jeden Gedanken von Wohlwollen und Dankbarkeit scheinen sie gradezu aufzusaugen und vervielfacht zurückzuschicken. Meine eine Oma hat mir Stricken beigebracht, die andere Häkeln; mein einer Großvater hat mir Lieder auf Platt vorgesungen, der andere hat vor meiner Geburt ein Kinderbett für mich geschreinert. Wenn ich an so etwas denke, in Liebe und Dankbarkeit, dann habe ich das Gefühl, es kommt ein ganzer Schwall von begeisterter Dankbarkeit zurück. Also sinniere ich gelegentlich ein wenig darüber nach, durch welche Schwierigkeiten meine Vorfahren ihre Familie gelotst haben, wie schwer ihr Leben manchmal gewesen sein muss und dass sie vermutlich trotzdem getanzt und gesungen und gefeiert haben, was das Zeug hielt.
Und mit jedem solchen Gedanken stärke ich sie und sie wiederum stärken mich.
Außerdem kann ich euch empfehlen, Ilkas kostenlose Trance zum Ahnengarten auszuprobieren. Sie hat sie auf YouTube geteilt.
In ihrem Blog gibt sie außerdem noch jede Menge gute Tipps – ich hab sie alle gelesen und wieder vergessen, in meinem Unterbewusstsein haben sie sich dann neu zusammengesetzt und gemeldet, wenn sie was Hübsches gefunden und vereinbart hatten.
Ich habe es nicht dabei bewenden lassen, mich mit Ilkas Trancen aufzumachen und einzelne Ahnen kennenzulernen. Ich habe mich außerdem bei einem der einschlägigen Portale zur Ahnenforschung angemeldet.
Von der väterlichen Familie meines Vaters wusste ich schon so einiges. Sie hat seit Generationen als Bauern in einem kleinen nordhessischen Dorf gelebt, entstanden aus einer ehemaligen Wachbasis an einer fränkischen Heerstraße im Grenzgebiet zu den Sachsen; als kleines Kind habe ich selbst eine kurze Zeit im Stammhaus der Familie gewohnt. Die Kirchenbücher dieses Dorfes sind erforscht und aus den Ergebnissen dieser Forschungen ist ein Büchlein gemacht worden, aus dem man sich seine Abstammungslinien heraussuchen kann; mein ältester Sohn hat das für unsere Familie getan. Da taucht ein Fähnerich Johann Dietern Finkenstein im Dorf auf, der von 1668 bis 1750 lebte und dessen Sohn Diederich dann im Kirchenbuch als Finkenstädt eingetragen ist.
Vermutlich verdanken wir also unseren Familiennamen einem Rechtschreibfehler im Kirchenbuch.
Wikipedia beschreibt anschaulich, wie wichtig die Stellung eines Fähnrichs in der damaligen Kriegsführung war. Da die Kontrahenten einander nicht an einer jeweils einheitlichen Uniform unterscheiden konnten, mussten sie sich an den hochgehaltenen Fahnen orientieren, weshalb eine solche Gruppe von Soldaten ein „Fähnlein“ genannt wurde. Gelang es, eine gegnerische Fahne zu erbeuten, dann konnte man damit die Gegenseite in einen Hinterhalt locken, deswegen hatte die Verteidigung der Fahne höchste Priorität. In einem Reglement von 1726 für Sachsen ist zu lesen: Die Fähndrich-Stelle ist die erste und niedrigste Ober-Officir-Charge, die gemeiniglich einem jungen, qualificirten Menschen anvertraut wird. An sich selbst ist sie eine Adeliche Charge […] Die Function eines Fähndrichs bestehet darinnen, daß er vor allen Dingen das ihm anvertraute Fähnlein bey dem Marsche und Zügen führen, auch solches bis auf den letzten Blutstropfen verdefendiren muß …“
Bei der Geburt des Johann Dietern war der Dreißigjährigen Krieg seit 20 Jahren vorüber. Nach seinem Ende hat man große Mühe gehabt, die vielen angeworbenen Soldaten wieder loszuwerden. Wir kennen das aus einigen Märchen, in denen ausgemusterte Soldaten ohne Heimat, Familie oder Einkommen durchs Land ziehen. Zu Johann Dieterns Zeit war das offenbar schon wieder anders und es wurde wieder neu angeworben – von wem auch immer; woher er stammte oder in wessen Diensten er Fähnrich war, das wissen wir nicht.
Im Verlauf des Dreißigjährigen Krieges war das ursprüngliche Dorf verwüstet worden, wie so viele andere in dieser nordhessischen Gegend, die vorigen Kirchenbücher waren verloren und die Bevölkerung war 1648 um mehr als ein Drittel hinter die Zahlen vor dem Krieg zurückgefallen. Der Fähnrich Johann Dietern kam in ein Dorf, das an einer anderen Stelle neu aufgebaut wurde und noch für Jahrzehnte seine Wunden leckte und mit den Traumata des langen Krieges kämpfte. Als er nach einem langen Leben starb, gab es in dem neuen Dorf schon 74 Haushalte.
In einem Dorf von dieser bescheidenen Größe empfiehlt es sich, dass man Mädchen von außerhalb heiratet. Etwa die Hälfte meiner Vorfahren hat das getan, so dass ich auf Vaterseite meine männlichen Vorfahren von der Mitte des 17. Jahrhunderts an vollzählig beisammenhabe, von den weiblichen Vorfahren aber in der Hälfte aller Fälle die Linien abbrechen. Das gilt auf Großvater- wie auf Großmutter-Seite, denn die Mutter meines Vaters stammte ebenfalls aus dem selben Dorf.
Die Linie des Vaters meiner Mutter kommt aus Ostpreußen. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber das Ahnenforschungsportal wusste schon sehr viel über sie. Wahrscheinlich haben weit entfernte Cousins und Cousinen bereits über sie geforscht. Einer hat mir sogar kürzlich geschrieben. Er vermutet einen Angehörigen des niederen Adels in ferner Vorzeit. Ich sehe kleine Bauern und Handwerker, zum größten Teil in Ostpreußen und mit reichlichen Scharen von Kindern.
Und die Linie der Mutter meiner Mutter – die ist seltsam. Das ist eine Linie, die nach vier Generationen schon im Dunkel verschwindet. Die Eltern meiner Urgroßmutter Maria weiß ich noch zu benennen, weil die Namen auf ihren erhaltenen Urkunden stehen, aber danach ist Schluss. Auch scheint weder sie noch meine Großmutter irgendwelche Geschwister gehabt zu haben, was ich auch ungewöhnlich und etwas seltsam finde. Das ist in meinen andren drei Hauptlinien ganz anders.
Diese Linie fand ich interessant, über sie wollte ich mehr wissen.
Im vierten Monat von Deep Roots bekamen wir eine Trance, mit der wir die Generationen von Vorfahren nachvollziehen und verfolgen konnten. Außerdem konnten wir damit sehen und gegebenenfalls heilen, wo etwas nicht zusammenpasste, wo sich etwas staute oder zurückgehalten wurde, wo etwas zu wenig oder zu viel war.
Ich bin damit gleich aufgebrochen zu einem Besuch bei meiner Großmutter mütterlicherseits. Denn als wir im ersten Monat ein Ahnenmandala gezeichnet hatten, um auf diesem Weg Liebe und Wohlwollen in unsere Ahnenlinien fließen zu lassen, da hatte ich hinterher auf dem fertigen Bild die größte Mühe gehabt, den Vater dieser Großmutter zu finden. Irgend etwas hatte da nicht gestimmt. Alle anderen Linien waren gut nachvollziehbar gewesen und ich konnte sie problemlos mit feinen Bleistiftlinien in dem Bild nachträglich andeuten, um zu wissen, wer wo hingehört. Nur der Vater dieser Großmutter schien sich zu verstecken, es war wie verhext.
Nachdem ich dieses Ahnenmandala mit dem versteckten Urgroßvater gemalt und mir den Kopf darüber zerbrochen hatte, ließ mir eine meiner Schwestern Unterlagen aus dem Nachlass meines Großvaters zukommen. Dabei war auch die Sterbeurkunde meiner Urgroßmutter, und ich stellte fest: Sie war zwei Mal geschieden! Ich hatte über sie nur gewusst, dass sie aus einem winzigen Bauerndorf in Baden-Württemberg als Dienstmädchen nach Frankfurt gekommen war – dass sie als zwei Mal geschiedene alte Frau heimgekehrt war, das war mir neu. Weiter erfuhr ich, so nach und nach: Sie hatte meine Großmutter unehelich geboren, da war sie zwanzig Jahre alt gewesen. Zwei Jahre später hatte sie einen Mann geheiratet, der bei der Geburt des Kindes noch nicht volljährig gewesen war. Meine Großmutter trug den Namen dieses Mannes, er muss sie also adoptiert haben.
Zu dieser Großmutter reiste ich mit der Trance hin und schaute mir die Lage an; vor Ort, sozusagen. Und auch dort sah es aus, als hätte meine Großmutter keinen Vater gehabt, und das kann ja wohl nicht sein. Ich reiste eine Generation weiter und traf meine Urgroßmutter und fragte die, was da denn nun los wäre und wie das sein könnte, dass zu ihre Tochter nur eine mütterliche Linie hinzuführen schien und keine väterliche.
Sie war ein wenig betreten. Als ich darauf bestand, dass es mein Recht sei, das Erbe all meiner Vorfahren anzutreten, ließ sie mich schließlich einen Sumpf sehen. Der Bach ihres väterlichen Erbes, der meiner Großmutter hätte zufließen sollen, versickerte dort in einem Morast verschilfter Wiesen und erreichte sie nicht. Meine Urgroßmutter hatte ihn blockiert.
Sie hatte den leiblichen Vater ihres Kindes blockiert, als dürfe von dem niemand wissen – da fällt einem bei einem Dienstmädchen sofort der Dienstherr ein mit seinen Freunden, also ein Klassenunterschied. Den Mann, der sie später geheiratet und dem Kind seinen Namen gegeben hat, hat sie aber auch blockiert, warum auch immer. Sie wollte nicht, dass er mit dem Kind zu tun hat. Möglicherweise handelt es sich ja um den selben Herrn. Aber es kann auch gut sein, es waren zwei Bäche, die da abgeblockt wurden und deren Wasser versickern sollte.
Jedenfalls hab ich ihr erzählt, sowas wäre in meiner Zeit gar kein Thema mehr, ich wüsste aber ihr Problem und ihr schwieriges Leben und ihren Einsatz sehr zu schätzen. Sie hätte das ganz toll gemacht und könnte jetzt damit wieder aufhören.
Wir einigten uns schließlich darauf, dass diese Blockade beseitigt werden müsse. Meine Großmutter hatte mit ihrem halben Erbteil leben müssen, meiner Mutter hatte ein Viertel ihres vollen ererbten Potenzials gefehlt und meinen Geschwistern und mir immerhin noch ein Achtel, das musste ein Ende finden. Was immer meine Urgroßmutter gegen den Vater ihres Kindes gehabt haben mochte, möglicherweise aus guten Gründen, das war verjährt und sollte ihre Nachkommen nicht weiter beeinträchtigen.
Und dann habe ich mit dieser Trance weitere Vorfahren besucht, hier und da ein wenig aufgeräumt – ja, und außerdem habe ich noch etwas getan, was Ilka so gar nicht vorgesehen hatte.
Denn neugierig, wie ich bin, hatte ich natürlich auch wissen wollen, wie andere Ahnenheiler das so machen, und mir ein Buch namens „Ancestral Medicine“ gekauft. Dessen Autor ging davon aus, dass es zumindest in vorchristlichen Zeiten üblich gewesen war, sich um seine Ahnenlinien selbst zu kümmern oder vom Schamanen kümmern zu lassen und den Vorfahren alle Hilfe und Heilung hineinzuschicken, die dort eventuell gebraucht wurde. Seine Methode sah vor, sich in jeder der vier Hauptlinien den letzten Vorfahren zu suchen, der das noch getan hatte, und sich um all die Generationen zwischen diesem Vorfahren und sich selbst dann mit dem zusammen zu kümmern. Außerdem ging er davon aus, dass seine Leser selbst wussten, wie sie in eine Trance zu kommen hatten. Das war bei mir nun nicht der Fall, aber wozu hatte ich diese schicke neue Ahnenlinientrance!
Also modifizierte ich Ilkas Trance ein wenig und wanderte nicht von einer Generation zur nächsten, sondern hob mich in die Luft wie in einem Traum, in dem man fliegen kann, und brummselte über meine Linien hinweg, auf der Suche nach einem heller leuchtenden Feuer. Zwei Mal habe ich unterwegs angehalten und einen Vorfahren getroffen, aber die waren beide zwar mächtig, aber auch egozentrisch und nicht gewillt, irgend etwas für irgend jemanden zu tun.
Schließlich stolperten wir einer alten Frau in ihre kleine Hütte – zu viert: zwei Lichtahnen, mein Krafttier und ich, und damit war die Hütte auch ziemlich voll. Die Frau saß unter einem Fensterchen und spann, ich sah die aufgesteckte Schafwolle neben ihr, wie sie auf dem Spinnrad meiner Großmutter aufgesteckt gewesen war. Das verwunderte mich zunächst, denn Spinnräder sind erst im Hochmittelalter erfunden worden und ich hatte gedacht, ich wäre sehr viel weiter in der Zeit zurückgereist. Zwei Tage später fiel mir ein: Sie mag ihre Wolle auch auf einen Rocken aufgesteckt haben. Ein Rad hatte ich auch gar nicht gesehen, das hatte ich nur automatisch mit der aufgesteckten Wolle assoziiert. Und dann stimmt das auch wieder mit der Herkunft aus vorhochmittelalterlichen Zeiten.
Es war sofort zu spüren, dass hinter dieser alten Frau eine immense Kraft stand. Sie selbst war zwar nicht direkt freundlich, aber doch im Prinzip wohlwollend. Sie mag nach anderen moralischen Standards gelebt haben, als sie heute üblich sind, aber sie würde nicht ohne wirklich zwingenden Grund irgend jemandem geschadet haben. Sie war verwitwet und lebte ein wenig entfernt von ihrem Dorf und ihrer Verwandtschaft, weil sie es selbst so wollte, aber sie wurde häufig aufgesucht und um Hilfe gefragt. Möglicherweise schätzte sie die Generationen nach ihr nicht besonders.
Sie warf einen Blick auf unser Grüppchen. Der Lichtahne und sie verstanden sich auf Anhieb; ich hatte ohnehin letztens das Gefühl gehabt, dass da so einiges in ihm steckte und dass der Wolf, der ihn begleitete, ein Krafttier war. Die Lichtahnin wiederum erkannte eine Kompetenz ähnlich ihrer eigenen – nur halt nicht im Umgang mit Menschen, sondern im Umgang mit Geistwesen.
Diese ferne Ahnin war mit den Pflanzen, Tieren, Landschaften um sie her und mit deren Geistern dicke befreundet. Und dazu auch mit größeren Geistern, machtvollen. Es schien mir, als könnten ihre Hände elementare Kräfte und Energien handhaben wie Wollstränge – starke Kräfte, Kräfte, die mir fremd sind, als hätten auch die Elemente einen Prozess der Zivilisierung durchgemacht von ihrer Zeit bis zu unserer. Es lag etwas Wildes, Ungezähmtes, Blutiges in der Atmosphäre.
Wir hätten ein paar Dinge erreicht, erzählte ich ihr, dafür aber ganz viel verloren. Damit meine ich vor allem die Verbindung mit der Erde und ihren Kräften, die in ihr noch so selbstverständlich lebte und spürbar war – wohingegen wir zielstrebig auf einen Punkt zusteuern, in dem jede achte Art von Lebewesen von uns ausgerottet wird und unsere Art ihren eigenen Lebensraum dramatisch verkleinert samt den Möglichkeiten, ihre Lebensmittel zu erzeugen, und Unwetterkatastrophen ungekannten Ausmaßes über uns heraufbeschwört. Ich hätte gedacht, unsere Vorfahren müssten es uns übel nehmen, wie wir mit unserem Erbe umgehen und in welch jämmerlichem Zustand wir die Erde an unsere Kinder weitergeben. Erstaunlich: Sie war nicht so entsetzt darüber, wie ich vermutet hätte. Es überwog die Botschaft, dass wir Schrecken hinter uns gelassen hätten auf diesem Weg, von denen wir uns keine Vorstellung mehr machten. Und dies wären nun unsere Schrecken, so hätte jede Generation ihre eigenen. Vielleicht hatte ich ihr die Gefahr nicht anschaulich genug gemacht, aber sie schien jedenfalls unsere Probleme für ebenso lösbar zu halten wie die der Generationen vor uns.
Ich verließ mich bei aller Fremdheit darauf, dass der Instinkt von Großmüttern ihren Enkeln gegenüber unverändert geblieben ist und ich nichts von ihr zu befürchten haben würde. Also trug ich ihr sehr respektvoll mein Anliegen vor. Sie war nicht spontan begeistert. Deshalb schlug ich vor, sie könne mir ja in den kommenden Tagen eine Botschaft zukommen lassen, dann würde ich wiederkommen.
Sieben Tage später, während eines Rituals, sah ich sie direkt vor mir stehen und mich herausfordernd anschauen. Also nahm ich wieder meine Trance und flog wieder zu ihr hin und fühlte mich wie ein Bewerber um eine Lehrstelle.
In dem Buch, das ich gelesen hatte, hatte es geheißen, man solle sich zunächst einmal all seine Ahnenlinien anschauen und mit dieser Prozedur der gemeinsamen Heilung bei der Linie beginnen, die den besten Eindruck machte. Diesen Punkt hatte ich natürlich mal wieder übersprungen und hatte mich direkt auf die Linie gestürzt, die mir am interessantesten erschien. Nun holte ich das mit der fernen Ahnin gemeinsam nach und wir überflogen die Linie und schauten sie uns erst einmal an.
Sie war in einem miserablen Zustand. Ganz selten waren die Generationen, die strahlten und leuchteten. Ganze Jahrhunderte schienen tief in einem blutigen Morast zu stecken. Der Gedanke an zwei Jahrtausende christlicher Ethik begann einen gewissen Reiz zu entwickeln. All die Übungen in Impulskontrolle haben uns zwar nicht vor Konzentrationslagern bewahrt, aber immerhin vor der Normalität von Mord und Totschlag auf offener Straße. Auch die Ahnin schien einzusehen, dass man diesen jämmerlichen Zustand so nicht lassen konnte.
Zwei Tage später holte ich sie wieder ab. Vor Jahrzehnten habe ich mal eine Einweihung in Reiki mitgemacht, deshalb begann ich ihre Nachkommen einfach mit Reiki zu bestrahlen. Sie selbst ging anders vor und wickelte ihre Sprösslinge dick in weißes Licht ein, das die Konsistenz von fluffigen Wattebinden hatte. Und dann döste ich weg und kam erst wieder zu mir, als Ilka in ihrer Trance zum Aufbruch rief. Das wiederholte sich noch zwei Mal: Ich machte mich munter und frohgemut in die Trance auf, traf die Ahnin, schlief ein und wachte zur Verabschiedung ebenso munter wieder auf. Nach dem dritten Mal gab ich es auf. Offensichtlich wollte sie bei ihrer Arbeit nicht beobachtet und nicht gestört werden.
Es ist gutes Benehmen, sich für Hilfe erkenntlich zu zeigen. Ich fragte sie also, womit ich ihr eine Freude machen könne. Ein Spinnrad hätte sie gerne, kam die Anwort; offenbar hatte sie diesen Gedanken in meinem Geist gelesen. Ich googelte nach einem kleinen Spinnradmodell, das ich kaufen und als Geschenk auf meinen Ahnenschrein stellen könnte, fand aber nichts. Stattdessen versuchte ich die Funktionsweise eines Spinnrads zu verstehen und mir einzuprägen, damit sie diese Informationen meinem Geist entnehmen konnte. Und auf den Ahnenschrein legte ich ein Paar von meiner Mutter gestrickte Socken aus maschinengesponnener Wolle. Das wurde mit Wohlwollen angenommen. Die ferne Ahnin wollte zwar nicht unbedingt ständig mir mir zu tun haben, war mir aber doch im Prinzip wohlgesonnen. Ein Verhältnis, auf dem man würde aufbauen können gegebenenfalles.
Heutzutage bekommen kleine Mädchen im Kindergarten beigebracht, Nein zu sagen. Das ist sehr erfreulich und war nicht immer so: Früher galt es als sehr ungehörig, wenn Kinder widersprachen, Mädchen ganz besonders, und sie durften es nicht lernen. Und, wen wundert es, dann wurden junge Frauen aus ihnen, die nicht Nein sagen konnten.
Wenn meine Mutter es gekonnt hätte, gäbe es mich vermutlich gar nicht; sie hat sechs Monate vor meiner Geburt geheiratet. Bei meiner Großmutter weiß ich es nicht auf den Monat genau, aber ihre Hochzeit und ihr erstes Kind liegen auch sehr nahe zusammen. Von deren Mutter hab ich schon erzählt: Deren erste Hochzeit fand zwei Jahre nach der Geburt ihres Kindes statt. Die nächste Generation ist über jeden Verdacht erhaben, da liegen zwischen Eheschließung und Kindsgeburt zwölf Jahre, sofern man den Kirchenbüchern trauen kann. Aber das ist auch das erste Mal in dieser Linie – und weiter zurück kann ich sie derzeit nicht verfolgen.
Das soll kein Vorwurf sein. Ich habe selbst im sechsten Schwangerschaftsmonat geheiratet. Das soll nur andeuten: Man könnte hier ein gewisses Muster erkennen. Unschwer.
Ich habe zwar mehr Durchsetzungsvermögen als meine Mutter, aber ein direktes Nein ist mir innerhalb einer Beziehung auch nicht leicht über die Lippen gekommen. Viel einfacher fand ich etwas wie „Du, tut mir leid, ist grad ganz schlecht, wie wär’s mit morgen?“ Und das ist, wenn ich mal so richtig in mich gehe, so ungefähr ein Mittelding zwischen einem klaren Nein und der strategischen Migräne eine viktorianischen Dame. Die ich immer höchst verachtenswert fand.
Soviel zu meiner Mutterlinie auf der mütterlichen Seite.
Als ich es schließlich mal fertiggebracht habe, einfach nur Nein zu sagen ohne jegliche Beilagen, da sind gefühlt in mir Generationen von Vorfahrinnen in blankem Entsetzen aufgesprungen und haben gerufen: Kind! Was tust du da?! Das kannst du doch nicht machen! Am liebsten hätten sie darauf bestanden, dass ich mir einen Fluchtweg offenhalte, eine gepackte Reisetasche vor der Tür verstecke und ein offenes Messer unters Kopfkissen lege, so verschreckt waren sie. Das war in etwa das Gefühl, das ich dabei hatte, als ich so sehr über meinen Schatten gesprungen war. Und es war ein Gefühl, das in keinerlei Verhältnis zu meiner real existierenden Situation stand. Es hatte mit meiner Lebenswirklichkeit nichts zu tun. Auch nicht mit dem beteiligten Herrn. Es kam woanders her.
Eine Möglichkeit, woher es gekommen sein kann, entdeckte ich zufällig:
Irgendwann brach ich mal zu einer Heilungsreise zu meinen Ahnen auf. Ich hatte kein Anliegen und keine Absicht und fragte einfach mal nach dem Ursprung dessen, was mich gerade am meisten behindert; Lichtahnen sind große Spezialisten in Ahnenheilung und es ist immer eine sehr schöne und befriedigende Tätigkeit. Umso befriedigender, wenn man dabei auch gleich seine eigenen Hemmnisse beiseiteräumen kann.
In diesem Fall führte mich meine Reise außergewöhnlich weit in die Vergangenheit.
Die Reise – mit dem Fahrstuhl – brauchte so lange wie noch nie. Als er anhielt, ging ich auf bloßen Holzbrettern, Türen waren rechts und links des Ganges wie die Schuppentüren meiner Kindheit, alles sehr alt. Es war etwas Großes im Gange, das war deutlich zu spüren. Meine Lichtahnen habe ich dazugebeten, auch diese eine sehr alte, ferne Ahnin aus der Mutter-Mutter-Linie, die so wenig von mir hatte wissen wollen.
Als wir den Raum betraten, war eine stagnierende Energie sehr stark zu spüren. Gesehen habe ich nichts. Und niemanden.
Im Versteck des Bewohners lag eine bronzene Torque. Das ist ein Halsring, wie ihn Kelten getragen haben, bei denen man sich immer fragt, wie sie den um den Hals und wieder ab bekommen haben oder ob sie ihn in der Kindheit anzogen und dann ihr Leben lang trugen. In diesem Fall wusste ich, dass diese Torque das Halsband einer Sklavin gewesen war. Da war sie dann auch da, tief bekümmert und verloren stand sie auf einem Dorfplatz und wir haben einander in den Armen gelegen und miteinander geweint.
Sie war bei einem Raubzug erbeutet worden als sehr junge Frau und hatte für den Rest ihres Lebens einer kleinen Siedlung ihrer Feinde als Sklavin zur Verfügung stehen müssen, für anstrengende Arbeiten ebenso wie für sexuelle Dienstleistungen – und dabei gehörte sie nicht einem einzelnen Besitzer, sondern der gesamten Siedlung. Es mag sich dabei um eine kleine römische Garnison gehandelt haben, um eine slawische oder eine germanische Siedlung, ich weiß es nicht. Mir scheinen Germanen am wahrscheinlichsten, aber selbst Mongolen sind nicht auszuschließen.
Die Torque hätte ich ihr eigentlich zurückgeben sollen, aber das wollte ich nicht. Sie sollte diesen Sklavenring nicht mehr länger behalten müssen, und ich habe sie irgendwo hingelegt. Die Ahnen haben sie genommen und in Stirnreife umgewandelt, einen für die ehemalige Sklavin und einen für mich. Das war etwas anderes, da war die Energie des Elends nicht mehr drin und wir haben sie beide gerne entgegengenommen.
Nachdem der Kummer über ihr Schicksal ein wenig in unseren gemeinsamen Tränen aufgeweicht worden war, kam dahinter noch ein anderet, noch größerer Kummer zum Vorschein. Offenbar hatte sie in einem Heiligtum einer Göttin gelebt und betrachtete ihren Schoß als heiligen Raum. Sexualität war für sie etwas, was von Frauen zu Ehren der Göttin frei angeboten wurde, wem immer ihre Dienerinnen sie anbieten wollten. Sie betrachtete Sex als eine heilige Handlung der Verehrung ihrer Göttin. Zu dem überwältigenden Kummer eines Lebens als Gefangene kam noch hinzu, dass sie sich in ihren eigenen Augen der schlimmsten Blasphemie schuldig gemacht hatte, die sie sich vorstellen konnte. Und ich kann meinen Ahnen Vergehen gegen Menschen verzeihen, stellvertretend – aber wer bin ich, dass ich Vergehen gegen Götter verzeihen könnte?
Die Urahnin hat sehr grimmig geguckt. Dann hat sie die Vorfahrin bei der Hand genommen und ist mit ihr fortgegangen.
Es war an diesem Tag Vollmond gewesen und in der Nacht darauf habe ich an einer Meditation teilgenommen, in der wurden all die Hexen und Heilerinnen, Priesterinnen und Schamaninnen unter den Vorfahren gerufen, mit uns im Kreis zu stehen. Und da standen sie mir plötzlich unmittelbar gegenüber, die Keltin und die ferne Urahnin, wie Mutter und Tochter, strahlten mich an und grinsten alle beide wie die Honigkuchenpferde. Die Geheilte trug wieder eine neue Torque, die nun kein Schandmal der Sklaverei mehr war, und ihren Stirnreif trug sie ebenfalls. Die ferne Ahnin hatte es offenbar fertiggebracht, das Trauma der Blasphemie aufzulösen, und ich grinste glücklich zurück und zog meinen Stirnreif ebenfalls an.
Damit war diese Heilung abgeschlossen.
Nun bin ich noch einmal zu den beiden gereist, um euch berichten zu können, wie es ihnen ergangen ist. Die Urahnin saß wie bei meinem ersten Besuch auf der Bank unter ihrem Fenster. Sie hatte mich erwartet. Ihre Ausstrahlung hatte sich vollkommen geändert – so sehr, dass ich nicht mehr ehrfurchtsvoll mit zusammengelegten Händen vor ihr stehen blieb, sondern mich zu ihren Füßen auf den Boden setzte wie ein kleines Kind und sie mit „Urgroßmutter“ ansprach. All die Macht, die ich an ihr gespürt hatte, war zwar noch da, aber mehr außerhalb der Behausung, als würde sie derzeit nicht gebraucht. Sie war noch die alte, zeigte mir aber ein ganz anderes Gesicht.
Ich fragte sie nach der Vorfahrin, die ich für mich immer als ihre Tochter bezeichnet hatte, seit ich sie in der Vollmondnacht so stehen sah, obwohl ich glaube, dass ein paar Generationen zwischen ihnen liegen. Die hätte gerade keine Zeit, hieß es. Diese Tochter, hatte ich angenommen, war der Grund, warum sie so zögerlich und abweisend gewesen war – denn schließlich bin ich nicht nur der Abkömmling dieser Sklavin, sondern ebenso der Abkömmling von Sklavenhaltern und Frauenmissbrauchern. Natürlich hatte sie eine Abneigung, einen Widerwillen gegen diejenigen, die ihrer Tochter dieses angetan hatten, wie könnte es anders sein? Und vielleicht wollte sie mich deshalb von ihr fernhalten, überlegte ich mir.
Aber wir flogen gemeinsam noch einmal die Linien ab, wie wir es bei jenen ersten Besuchen getan hatten. Und da sah ich schon das Feuer der Tochter leuchten. Wir landeten vor einem Haus, aus dem sie heraustrat, die Keltin. Schweigend stand sie da und lächelte uns an, dann ging sie wortlos wieder hinein. Sie war glücklich gewesen, und ich wusste, dass sie ihre Ausbildung zur Priesterin fortsetzte. Sie steckte mitten in den Exerzitien, in Zeiten des Schweigens, Fastens und Meditierens, aber sie hatte sich doch zumindest einmal kurz zeigen wollen.
Ja, und dann – dann begriff ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte bei der Auswahl meiner Trance. Denn diese Trance war mit der Intention gemacht, die Linien der Vorfahren nachzuverfolgen. Sie war nicht dafür da, einzelne Ahnen anzutreffen, sondern dafür, die Schnittpunkte zu besuchen, die Elternpaare. Und an dem Ort, an dem ich mich jetzt befand, war ich nun mit den Sklavenhaltern konfrontiert, die ebenso meine Vorfahren sind wie eine Keltin, die Priesterin ihrer Göttin werden will.
Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst und wurde überrascht: Es zeigte sich mir ein scheuer blonder Knabe, dem das Ganze ganz entsetzlich peinlich war. Seine Freunde hatten ihn mit Bier abgefüllt und zu der Sklavin geführt und johlend und klatschend um ihn herum im Kreis gestanden.
Und seitdem frage ich mich, ob die Keltin es beeinflussen konnte, von welchem ihrer Peiniger sie ein Kind empfing. Wenn sie schon sonst nichts mehr beeinflussen konnte und in ständiger Furcht ihr Leben leben musste; aber vielleicht hat sie zumindest den Vater ihres Kindes selbst aussuchen können. Was immer später aus ihm geworden sein mag, dem blonden Knaben, zu was für einem unausstehlichen Mann er sich möglicherweise entwickelt hat im Laufe seines Lebens, aber in diesem Moment war er ebenso wie sie ein Opfer der gleichen toxischen Einstellung gewesen.
Natürlich würde ich jetzt gerne beobachten, ob es sich auf die Durchsetzungsfähigkeit der Frauen dieser Linie auswirkt, dass das Thema für diese eine Vorfahrin jetzt gelöst ist. Das lässt sich mit der altbewährten Methode nun leider nicht mehr feststellen: Es gibt in dieser Linie keine gebärfähigen Frauen mehr. Meine beiden Schwestern und ich waren die letzten, und wir haben alle drei nur Söhne geboren. (Die Schwestern übrigens haben dabei aufs Heiraten gleich ganz verzichtet.)
Und nur fürs Protokoll möchte ich auch hier noch einmal anmerken, dass man all das als Personifizierungen innerpsychischer Vorgänge ansehen kann. Man kann Harry Potter lesen als die Phantasiefluchten eines traumatisierten Waisenkindes in seinem Verschlag unter der Treppe, das davon träumt, Gefährten zu haben, mit Riesen und machtvollen Zauberern befreundet zu sein und in einer Welt zu leben, in der seine Familie zu den Verachteten und er zu den Geachteten gehört und in der er sich hervortut mit tapferen Taten. Kann man machen. Ist meiner Ansicht nach sehr viel weniger interessant, aber das muss jeder für sich selbst entscheiden.
Schon vor dem Beginn des Jahresprogrammes „Deep Roots“ hatte ich bei Ilka eine Ahnenheilung mitgemacht. Normalerweise arbeitete sie zu der Zeit in Einzelterminen und zu aktuellen Problemen. Nun hatte sie das Angebot gemacht, zu einem festen Termin für mehrere Kunden gleichzeitig – und entsprechen preisgünstiger – Kriegstraumata der Vorfahren zu lösen
Meine Eltern sind beide Jahrgang 1933. Es schien mir nicht fraglich, ob es unter meinen näheren Vorfahren Kriegstraumata gab. Es schien mir ganz außerordentlich wahrscheinlich. Wenn nicht aus dem Zweiten Weltkrieg, dann aus dem Ersten. Und wenn nicht eine direkte Beteiligung an kriegerischen Handlungen, dann auf jeden Fall Hunger, Angst, Unsicherheit, Flucht und Vertreibung, die Sorge um Angehörige. Und es ist ja hinreichend erforscht, wie sich so etwas in den Familien von einer Generation zur nächsten vererbt und an die Kinder und Kindeskinder weitergegeben wird. Von daher fand ich es sehr sinnvoll, so viel wie möglich davon auflösen und beseitigen zu lassen.
Auf Facebook, wo ich mit meiner Familie verbunden bin, hab ich von dieser Heilung berichtet. Achtet mal drauf, hab ich geschrieben, vielleicht merkt ihr was, es sind ja auch eure Ahnen. Es gab eine einzige Reaktion: Eine meiner Enkelinnen hatte ein paar Wochen vorher zum ersten Mal bewusst einen Obdachlosen gesehen und seitdem immer geweint, wenn sie morgens in den Kindergarten gehen sollte. Nach dieser Heilung ging sie vom nächsten Tag an wieder so selbstverständlich dorthin wie zuvor.
Und ich habe von dieser Heilung selbst nichts gespürt, aber in der Nacht darauf bekam ich eine Botschaft im Traum: Zwei Männer tauchten mitten im Traumgeschehen auf und hatten eine solidere Qualität, als meine Traumbilder es gemeinhin haben. Neben ihnen wirkten die Figuren, mit denen ich eben noch befasst gewesen war, wie Nebelgebilde. Es waren zwei kräftige, muskulöse Männer, nur wenig größer als ich, sehr verschlossen und wortkarg. Ihre Gesichter mögen slawisch gewesen sein, mit schmalen Augen und breiten, flachen Wangenknochen. Einer der beiden erklärte mir, sie wollten sich nun von mir verabschieden, ihr Dienst sei beendet. Ich erhielt noch einen kurzen Einblick in einen engen Betonbunker mit Schießscharten in alle Himmelsrichtungen, in dem sie Wache gestanden hatten. Das sei ja nun offenbar nicht mehr nötig, meinte der eine, der sprach – der andere sagte überhaupt gar nichts. Und dann waren sie fort.
Hab ich die Geistesgegenwart gehabt, mich für ihre treuen, gut gemeinten Dienste in der Vergangenheit zu bedanken? Vermutlich eher nicht. Ich glaube, so etwas habe ich während des Deep-Roots-Jahres erst gelernt.
Bei diesem ersten Mal habe ich von der eigentlichen Heilung gar nichts mitbekommen. Das habe ich aber schnell gelernt, denn in dem Deep-Roots-Jahr waren mehrere Ahnenheilungen enthalten; ich gewöhnte mich daran, und bald bekam ich sehr exakte Bilder dessen, was Ilka da tat. Dies hier hab ich mal notiert, während sie mich behandelt hat:
„Mund zieht sich zusammen wie von Schlehen, das Gefühl läuft den Rachen runter in den Magen, Unruhe, Zappeln in Armen und Beinen + Beklemmung im Rumpf, zugeschwollener Hals – die Pest? Diphtherie?
Ausweglosigkeit. Schwindel. Metallischer Geschmack, Schluckbeschwerden + Atemnot.“
Was war gewesen? Mein Vorfahre hatte sich erhängt. Aus Trauer. An einer Brücke.
Ich weiß nicht, wieso solche Informationen sich vererben. Er kann sich ja erst erhängt haben, nachdem er Kinder gezeugt hat. Aber offenbar tun sie das und all diese Empfindungen waren mir auf Abruf präsent. Falls ich im nächsten Buch eine Szene schreiben will, wie es sich anfühlt, sich zu erhängen: Ich wüsste es. Man beißt sich dabei auf die Zunge. Der metallische Geschmack im Mund muss Blut gewesen sein.
Und dann war da der Fall der Ahnenheilung über mehrere Etappen.
Ilka hatte eine Heilung gemacht zum Thema Selbstmord. Es war auch ein sehr großes Aufgebot von meinen Ahnen während der Heilung anwesend, sie standen in einem Kreis um mich herum, als solle etwas Wichtiges geschehen. Während dieser Heilung hatte ich das Gefühl – Tagebuchnotiz: „Enge, Bedrückung. In Verlies gesperrt und von Krallen zerfleischt. Tonnen von Gewichten über mir.“ Es war ein sehr intensives Gefühl von Bedrückung gewesen. Ich saß in einem Verlies, in dem ich noch nicht einmal aufrecht stehen konnte – ein niedriges gemauertes Tonnengewölbe –, und hatte Angst, ich sollte geopfert und von Vögeln zerrissen werden. Hab mir sogar schon Gedanken gemacht, in welchen Gegenden es eine solche Form von Menschenopfern einmal gegeben haben mag. Auf den Säulen von Göbekli Tepe vielleicht? Aber so weit haben meine Ahnenerinnerungen noch nie zurückgereicht. Und Tonnengewölbe hat es damals vermutlich auch nicht gegeben.
Ilka erzählte nach der Heilung von einer Dramaqueen mit der Überzeugung „ich kann das nicht, ich schaff das nicht ...“, die sich umgebracht hat. Denn um Selbstmord war es ja gegangen.
Ich erzählte ihr, dass ich während der Heilsitzung Beklemmung empfunden hatte, und Ilka schrieb zurück: „Die hoffentlich gegangen ist – ich weiß, was du meinst. Die war sehr deutlich bei deiner Ahnin.
Es ging auf der väterlichen Seite um eine Frau. Sie trug ein schwarzes Kleid. Ich schätze frühes 19. Jhd.
Sie hat sich vergiftet. Ich sah sie im Garten Beeren essen. Fast schon gierig.
Sie war völlig überfordert vom Leben. Sätze wie ‚ich kann/schaffe das nicht‘ und ‚ich halte das nicht aus‘. Sie war überzeugt von ihrer Schwäche. Hielt sich für zu schwach zum Leben.
Sie wollte keine Hilfe. Dramatisierte sehr.
Sie hielt sich selbst jetzt noch für zu schwach, um das Thema aufzulösen.
Ich war aber hartnäckig und hab ihr geholfen.
Dann spürte sie emsig die Erleichterung, die ihr selbst der Tod nicht bringen konnte.“
Die Geschichte von der Ahnin, die durch ihren Garten geht und giftige Beeren pflückt, war sehr viel weniger dramatisch als das, was ich während der Heilung empfunden hatte. Andererseits waren die Empfindungen mir vertraut, die Ilka schilderte; wohingegen die Angst vor Vögeln mir völlig fremd ist. Auch der gleichnamige Hitchcock-Film hatte mich nicht sehr berührt.
Ilka hatte da etwas aufgerührt, das mir wirklich zu schaffen machte: dieses Gefühl von Unzulänglichkeit. Es hatte offenbar noch andere Ahnen geplagt, nicht nur die eine Frau, die sich deswegen umgebracht hatte. Und nun war es in mir wieder aufgewacht.
Nun kommt wieder der Schamane ins Spiel. Eigentlich habe ich ihn angeschrieben, weil er eingangs Corona schamanische Beratungen angeboten hatte: Telefonat mit Kartenziehen. Sowas wollte ich gerne, weil ich mich mal wieder ertappt hatte, wie ich mich selbst boykottiere. Eine professionell gezogene Karte, dachte ich, mitsamt ihrer Deutung könnte mir Anhaltspunkte geben. Stattdessen hat er mich ohne Telefonat beguckt und mir rückgemeldet, ich zitiere: „Bei der Geschichte hatte ich jetzt folgendes Bild: Das war, als ob jemand Angst hat, zerrissen zu werden. Und gleichzeitig aber hat sich dieser Jemand viel zu klein gefühlt, also ungeschützt. ‚Nein, ich kann das nicht, und wenn ich es mache, dann fressen mich irgendwelche Feinde‘, das war so der Grundtenor. Und dann habe ich dich gesehen in einem ganz winzigen Kellergewölbe, so niedrig, dass du gar nicht aufrecht stehen konntest ... Irgendwas hat dich mal so zerscheppert, dass du gedacht hast: Wenn ich rausgehe, dann werde ich gefressen oder zerrissen oder klein gehalten ...“
Ihr könnt euch vorstellen, wie verblüfft ich war, dass die Bilder sooo exakt übereinstimmten? Ich hatte dieses Gefühl nur das eine einzige Mal gehabt, während Ilkas Ahnenheilung. Und auch sonst ist es nicht so weit verbreitet, dass ich jemals auch nur davon gehört hätte. Aber nachdem Matthias es auch gesehen hat – und seine Verbündeten an anderen Baustellen arbeiten wollten –, bin ich damit in die Heilung mit der Ahnenspirale gegangen, die wir im dritten Deep-Roots-Monat gelernt hatten. In dieser Spirale geht man in der Zeit zurück, bis man den Auslöser dessen gefunden hat, was man aktuell gerade bearbeiten und auflösen will.
Ich hab die Frau in den niedrigen Kellergewölbe gefunden, und sie war total in Panik. Am nächsten Morgen würde man sie rausholen und dann würde man sie den Vögeln zum Zerfleischen vorwerfen, sie wäre ein Opfer – das kann wörtlich gemeint gewesen sein, muss aber nicht. Sie musste sich in diesem Kriechkeller verstecken, weil sonst die Vögel sie mit ihren Krallen und Schnäbeln zerfetzen würden. Was immer ihre realen Lebensumstände gewesen sein mögen, die Panik jedenfalls war echt.
Sie war völlig außer sich. Nicht ansprechbar. Der Keller zu niedrig, der Himmel zu weit, die Gefahr zu groß, sie selbst unzulänglich. Es war sehr schwierig, durch ihre Panik durchzukommen und zu ihr vorzudringen. Der Duft von Heckenrosen hat die erste kleine Bresche geschlagen, und da konnte ich dann ansetzen und so nach und nach ihre Aufmerksamkeit auf mich ziehen.
Ich habe uns beide auf einen Berg versetzt, der so hoch war, dass die Vögel unter uns flogen und sie einen Moment lang aufatmen und ihre Angst loslassen konnte, mit nichts als Weite und Himmel über uns und um uns her. Dann kam ein Adler und hat uns auf seinen Rücken genommen. Wenn man irgendwo sicher ist vor Vogelkrallen, dann auf dem Rücken eines Adlers! Ja, und seitdem fliegt sie so durch den Himmel und ist unendlich erleichtert und glücklich …
Und wenn ihr mich nach dem Realitätsgehalt ihrer Ängste fragt, ich würde vermuten, sie hatte Wahnvorstellungen und war einfach psychisch krank. Heutzutage würde man ihr wahrscheinlich ein beruhigendes Medikament geben, damit sie diese entsetzliche, allumfassende Panik erstmal loswird und man dann an dem Rest arbeiten kann. Aber zu ihrer Zeit musste sie ihr Leben damit leben. Und den Nachhall davon musste sie an ihre Nachfahren weitergeben.
Im dritten Monat von Deep Roots hatten wir diese Trance bekommen, mit der wir Traumata unserer Ahnen an ihrer Wurzel auflösen können, dort, wo sie seinerzeit entstanden sind. Dazu brauchten wir ein Bewusstsein dieses Problems und auch einen emotionalen Zugang dazu. Mit dieser Methode habe ich die Frau im Kellergewölbe aufgesucht. Ich hatte sie nicht heilen können, aber sie lebt nun glücklich und zufrieden auf dem Rücken eines Adlers und das schrille Kreischen ihrer Verzweiflung hallt nicht mehr durch die Ahnenlinien.
Inzwischen ist ja bekannt, wie ein Trauma sich in den Genen manifestiert und weitergegeben wird. Zu meiner Schulzeit hat man sich das noch sehr viel statischer vorgestellt. Die Entdecker der Epigenetik haben nicht umsonst Nobelpreise dafür bekommen; es ist wirklich eine Erkenntnis, die sehr vieles über den Haufen wirft, was wir bis dahin geglaubt hatten. Viele Fragen müssen wir uns jetzt neu stellen.
Für die Ahnenheilung ist nun die entsprechende Frage die, ob ein rückwirkend aufgelöstes Trauma dann auch bei denjenigen wieder aus den Genen verschwindet, die es geerbt haben. In der Praxis deutet sich an, dass es komplett verschwindet bei dem, der es bewusst und willentlich aufgelöst hat. Bei allen anderen, die es ebenfalls geerbt haben, scheint es an Macht über ihr Leben zu verlieren. Sie sind ihm nicht mehr hilflos ausgeliefert und können nun frei entscheiden, ob sie sich weiterhin von ihm beeinflussen lassen oder ob sie sich selbst für geheilt erklären. Es ist kein festgewachsener Bestandteil mehr, sondern nur noch ein Staubflöckchen auf dem Boden. Ein Besenwisch, und es ist weg. Das Schrillen durch die Ahnenlinien ist verstummt für alle, die diese Frau unter ihren Vorfahren haben.
Irgendwann hatte Ilka das Konzept des Ahnenhotels entwickelt, bei dem alles etwas kompakter, geordneter und übersichtlicher ist und bei dem auch ein paar Sicherheitsmechanismen eingebaut sind. Das Deep-Roots-Programm hat sie inzwischen aus ihrem Programm genommen, das lehrt sie gar nicht mehr, sondern nur noch das Ahnenhotel.
Damit sind vielleicht ein paar alte Möglichkeiten weggefallen, aber ein paar sehr interessante neue sind auf jeden Fall hinzugekommen.
Eine sehr begrüßenswerte neue Möglichkeit ist die, nach speziellen Ahnen zu fragen, einzeln oder in Gruppen, nach allen möglichen Kriterien sortiert, die einem einfallen mögen. Auch ist es möglich, ein Trauma anzugehen, von dem man noch gar nichts weiß. Man kann Zugang zu demjenigen Ahnen erbitten, dessen Heilung jetzt ansteht, der um einen Besuch gebeten hat, dessen Heilung einem selbst oder einem bestimmten Familienangehörigen weiterhelfen würde, da gibt es unendlich viele Möglichkeiten.
Wenn ich eine Trancereise zu meinen Ahnen antrete, dann frage ich immer, ob jemand mitkommen möchte. Meistens begleiten mich meine beiden Lichtahnen, manchmal auch mein Krafttier. Gelegentlich kommt noch jemand anderes mit. Und wenn es um Heilung von Traumata geht, die auch auf mich übergegriffen haben, dann ist das häufig mein inneres Kind in dem Alter, in dem das entsprechende Trauma bei mir zuschlug. Ein Schamane würde das vermutlich als einen Seelenteil wahrnehmen, der sich vor Schreck oder auch vor Schmerz seinerzeit abgespaltet hat. Der kommt dann mit zu der Heilung hinzu.
So war es auch in diesem Tag. Ich bin ins Ahnenhotel aufgebrochen zu einer Heilung. Mein Krafttier wollte mitkommen, das hat mich gefreut. Als ich aufbrechen wollte, sah ich, dass auch ein kleines Kind mitkommen wollte, das sich in der Regel ängstlich versteckt, auch vor mir. Ein Teil von mir, an den ich kaum herankomme. Umso mehr hab ich mich gefreut und umso wichtiger war es mir, dass ich jetzt nichts falsch mache.
Als wir zu dem Zimmer des fraglichen Vorfahren aufbrachen, kam mit einem Mal anstelle der vorherigen Anspannung eine Freude auf, dass ich mich im Aufzug zu den Zimmern auf den Boden setzte und wir uns zu dritt umarmten, Krafttier, inneres Kind und ich, voller Vorfreude und Begeisterung. Und dann die Enttäuschung: In dem Zimmer des Ahnen roch es säuerlich und abgestanden, so dass ich an Krankheit dachte. Ich konnte aber nichts und niemanden sehen. Es tat mir leid für das Kind, es hatte sich doch so sehr gefreut. Und nun so eine Pleite. Auch in dem Versteck hatte der Vorfahre nichts, was mir irgend einen Anhaltspunkt hätte geben können.
Stattdessen nahm ich wahr, dass sich durch meinen ganzen Körper ein feines Gespinst durchzog, wie Spinnweben, das hatte sich überall eingenistet und durchzog uns vom Kopf bis zu den Füßen, das Kind und mich. Wir fingen an, es aus uns rauszuziehen, ganze Händevoll. Es fühlte sich auch in den Händen wie alte Spinnweben an.
Wir gaben unsere Händevoll Gespinst dem Ahnen zurück; erst da nahm ich ihn und seine Umgebung wahr. Wir standen im Hof eines Bauernhauses. Eher einer Kate. Er war ein mürrischer, mittelalter Mann in einer blauen Arbeitsjacke. Er lebte allein auf seinem kleinen Hof. Die Frau gestorben, die wenigen Kinder aus dem Haus, bei den Nachbarn nicht sehr beliebt mit seiner mürrischen Art, ein Eigenbrötler. Nicht der Typ, der irgendwen um Rat und Hilfe fragt. Kaum der, der sie annimmt.
Das Gespinst, das er uns hinterlassen hatte – was immer es gewesen sein mag –, hatte das kleine Kind mehr behindert als mich. Es hüpfte auf dem Rückweg fröhlich neben mir her. Kein Wunder, dass ich nichts wahrgenommen hatte, dass ich enttäuscht gewesen war: Es war ein Thema aufgelöst worden, das nicht mich, sondern mein verstecktes inneres Kind betraf.
Einen Monat später stand ich wieder in einer Heiltrance im Hof einer kleinen Kate abseits vom Dorf. Diesmal mit einem Thema, das mich als Jugendliche betroffen hatte. Die Kinder dieses Hauses hatten etwas nicht gedurft, was alle anderen Kinder im Dorf gedurft hatten. Ich glaube, es ging um den Schulbesuch.
Und da hat bei mir ganz gehörig was gerappelt. Ich durfte als einzige meiner Schulklasse nicht „Mit Schirm, Charme und Melone“ sehen – und was das bedeutet, das könnt ihr nur ermessen, wenn ihr weiblich und so ungefähr mein Jahrgang seid! Meine Therapeutin meinte, dafür hätte sie morden können. Jetzt nur mal so als Anhaltspunkt.
Nun hab ich drauf gewartet, dass jetzt diese Kinder auftauchen, damit ich sie in ihrem Kummer trösten kann. Sie kamen aber nicht. Und schließlich begriff ich, dass es um den Vater ging, der alleine und verlassen neben seinem Misthaufen stand und auf seinem Recht beharrte, stur wie ein Maulesel, von seinen Kindern verlassen und von niemandem gemocht.
Es ist leichter, Opfer zu trösten als Tätern zu vergeben – sofern man solche Unterscheidungen überhaupt machen kann. Grade auch in der Ahnenarbeit, wo das so deutlich ineinander übergeht. Vor allem ist es dann schwierig, wenn man selbst getroffen ist. Wenn er wenigstens eine Spur von Traurigkeit gezeigt hätte über den Kummer, den er seinen Kindern angetan hatte! Ich konnte ihm nur zugestehen, dass er sich so verhalten hatte, wie er es für richtig hielt, nach bestem Wissen und Gewissen.
Erst Tage später wurde mir klar, dass es sich um den selben Mann gehandelt hatte. Ich sehe ja in Trancen nicht so richtig viel, von der Optik her hätte ich ihn nicht wiedererkannt – und die Stimmung hatte sich verändert zwischen den beiden Besuchen. Zwar war er so bockig und griesgrämig wie zuvor. Aber er war zugewandter beim zweiten Besuch, er tauchte freiwillig auf, er erklärte seinen Standpunkt. Er ließ eine Spur von Traurigkeit erkennen darüber, dass sich alle von ihm abgewandt hatten und er jetzt so mutterseelenallein und ungeliebt da stand.
Jetzt bin ich mal gespannt, ob es einen dritten Besuch geben wird.
Ilka hat beschlossen, in ihrem Buch über Ahnenarbeit auch das Konzept des Ahnenhotels offenzulegen, das sie entwickelt hat und in siebenwöchigen Kursen online lehrt. Während unseres Deep-Root-Kurses haben wir es testen dürfen. Und weil ohnehin alles veröffentlicht wird, was es über das Ahnenhotel zu erzählen gibt, darum muss ich jetzt nicht mehr so penibel darauf achten, dass ich nicht zu viel verrate, und kann ganz gradeheraus sagen: Ja, in diesem Ahnenhotel gibt es ein Restaurant. Und Zimmer gibt es auch.
Es gibt noch vieles mehr, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
Heute will ich euch erstmal nur berichten, wie ich mein Ahnenhotel erkundet habe. Ilka hatte uns ausführlich erklärt, was es da so alles gibt, und die Kursteilnehmerinnen waren begeistert losgezogen und hatten überall rumgeschnüffelt. Manche haben auch noch allerlei gefunden, was von der Erfinderin gar nicht vorgesehen gewesen war – aber auch das ist eine andere Geschichte, und die darf Britta selbst erzählen, hihi
Jedenfalls, ich gehe so in mein Hotelrestaurant rein und schaue mich ausgiebig um. Man möchte ja auch gerne wissen, aus welchen ethnischen Gruppen und sozialen Schichten man stammt, wo sollte man da auf den ersten Blick einen besseren Überblick bekommen können als in einem Restaurant! Ich bin tiefer und tiefer hineingegangen und habe immer altertümlicheres Mobiliar gesehen. Auf einem Podest war eine Rittertafel aus aufgebockten Holzplatten aufgebaut, auf der Teller mit ganzen gebratenen Tieren und Körbe mit Brot aufgetischt wurden. Diejenigen, die dahinter saßen, schauten offensichtlich auf das gemeine Fußvolk ein wenig herab. Im Hintergrund sah man teppichbehängte Steinmauern und eine große offene Feuerstelle.
(Es ist uns immer wieder aufgefallen, dass wir häufig unmittelbar nach der Begegnung mit einem Vorfahren auch in der realen Welt irgendwelche Hinweise erhielten. In diesem Fall war es nicht der Tag darauf, sondern erst in der folgenden Woche, dass ich einen Brief bekam – vermutlich von einem Onkel zweiten oder dritten Grades, von dem ich noch nie gehört hatte. Er tat darin die Ansicht kund, dass der Mädchenname meiner Mutter, „Scheel“, auf einen schielenden Angehörigen des niedrigen Adels im frühen Mittelalter zurückzuführen sei.)
Direkt neben der Empore der Burgherren, ein wenig zurückgesetzt und ein wenig unterhalb des normalen Bodenniveaus, stand im Restaurant ein Verschlag aus rohen, ungehobelten Brettern und Ästen, durch den der Wind durchpfiff. Rund um den Tisch saß eine verhärmte vielköpfige Familie, die Getreidebrei aus selbstgeschnitzten Holzschüsselchen aß.
Das fand ich so, so traurig. Da sitzen die einen und essen ganze Wildschweine und direkt daneben müssen sich welche mit Hafer und Hirse mühsam am Leben halten. Ich hätte nicht gedacht, dass solche Unterschiede so lange Bestand haben würden! Ich fand das jammerschade. Es hatte mir für dieses Mal die Freude an der Erforschung meines Ahnenhotels vorübergehend verdorben. Ilka meinte, wenn etwas so starke Emotionen hervorruft, dann würde es sich ihrer Erfahrung nach lohnen, da etwas genauer hinzuschauen; aber ich fand meine emotionale Reaktion der Sachlage durchaus angemessen.
Dann hatten wir alles mögliche gelernt, erlebt, erforscht und erfahren und kamen nun zu dem abschließenden Teil des Ahnenhotel-Kurses, in dem die Teilnehmerinnen sich jeweils in das Zimmer eines Vorfahren begeben, der um Heilung gebeten hat. Ich fragte einfach nach dem, der gerade an der Reihe wäre, und landete in einer Bruchbude, einem Verschlag von einem Zimmer, in dem es nach Angst und Armut und Scham und Schande nur so stank. Es war kein Vorfahre zu sehen, obwohl ich deutlich spürte, dass da viele waren, die ganz still da standen, den Atem anhielten und versuchten, sich unsichtbar zu machen. In dem Zimmer selbst konnte ich nur ausmachen, dass es vollgestopft war mit Schlafstellen.
Die Geheimnisse eines Lebens werden gerne versteckt, auch von Ahnen. Ich entdeckte aber das Versteck und öffnete es. Darin fand ich ein handgeschnitztes Holzschüsselchen. Jetzt erst wurde mir klar, dass ich im Zimmer derjenigen stand, die ich vor Wochen im Restaurant gesehen hatte. Es war ein besonders kleines Holzschüsselchen, offenbar für ein Kind gedacht. Als ich es in Händen hielt, wurde sehr zögerlich auch der Vater der Familie sichtbar, während alle anderen weiter furchtsam im Hintergrund blieben. Er schaute voller Scham auf den Boden.
Ich bin mal davon ausgegangen, dass diese Familie ein Neugeborenes einfach hat verhungern lassen, weil sonst für keinen mehr genug dagewesen wäre. Es gibt übrigens auch etwas heftigere Varianten; mir fiel das Jugendbuch „In 300 Jahren vielleicht“ ein, das im 30-Jährigen Krieg spielt und in dem das thematisiert ist.
Was kann man da machen? Ich habe ihnen versichert, dass ich fest davon überzeugt bin, dass sie das bestmögliche getan haben. Dass ich sie sehr bewundere dafür, dass sie es geschafft haben, in solchen Zeiten zu überleben. Dass es mich ohne ihren Mut und ohne ihr Durchhaltevermögen und vermutlich auch ohne ihre Schandtaten gar nicht gäbe. Dass ich für all das extrem dankbar bin.
Sie haben ja dermaßen gestrahlt! Das Gefühl von Schwere verschwand spurlos und es verbreitete sich stattdessen ein Funkeln wie von lauter winzigen Regenbogensplittern. Jetzt konnte ich sie alle sehen, die ganze magere, abgehärmte Sippschaft, und jeder einzelne von ihnen strahlte mich an, als hätte ich grade den heiligen Gral entdeckt.
Eine der Töchter hat mich sogar aus meiner Trance heraus begleitet und für einen Moment neben mir auf meinem Bett gelegen. Mein Bett ist aus Tischlerplatten zusammengeschraubt und in der Matratze schreiben die Milben vermutlich schon ihre eigenen Geschichtsbücher, aber für diese junge Frau war es der Inbegriff von Luxus.
Und natürlich hat mich meine Neugier nochmal zurück in das Restaurant meines Ahnenhotels getrieben. Der Verschlag war nicht mehr da. Es gab noch die Empore mit der Rittertafel, aber daneben war der Boden gleichmäßig eben und alle andren Tische sahen gleich aus.
Ich bin gefragt worden nach neuen Folgen von Ahnengeschichten. Also erstmal: Es freut mich, dass es euch gefällt!
Nun sind die alten Folgen daraus entstanden, dass sich um kleine Einzelerlebnisse herum Zusammenhänge kristallisiert haben und im Laufe der Zeit ein größeres Ganzes entstanden ist - und ich schreibe zwar immer schön fleißig mit, aber kleine Einzelerlebnisse in sich sind mehr belanglos als erzählenswert. Das Kristallisieren braucht seine Zeit. Und die größeren Zusammenhänge, die ich noch übrig habe, sind entweder ein bisschen spooky oder sie erzählen mehr über mich, als ich eigentlich öffentlich erzählen wollte.
Dieses hier ist ein bisschen von beidem:
In meinem Horoskop steht die Lilith, der Punkt der verletzten Weiblichkeit, ganz hinten versteckt am Ende des zwölften Hauses. Und davor steht noch der Saturn wie ein Torwächter. Und der wiederum hat ein Quadrat zu meiner Sonne, also mit dem komm ich kurz gesagt gar nicht aus, und auch um meinen real existierenden Vater mache ich eher lieber einen großen Bogen.
Dieses vorausgesetzt, war die Idee, dass man sich seiner Lilith doch vielleicht auch über das Ahnenhotel nähern könnte. Nachschauen, um was für eine Verletzung es überhaupt geht und ob man da vielleicht was machen kann.
Als ich da in meinem Herzen stehe und aufbrechen will, kommt meine Mama dazu und will mit. Meine Mama war ein ungeheuer herzenslieber Mensch, aber völlig ohne jegliches Durchsetzungsvermögen, von daher war ihre ganze Herzensliebe auch ein bisschen eine brotlose Kunst. Möglicherweise hat es in mir eine Art von Grundvertrauen hinterlassen auf einer sehr tiefen, nicht alltagstauglichen Ebene, das mag sein. Und wäre natürlich auch nicht zu unterschätzen.
An der Rezeption stand zum ersten Mal nicht mein übliches Krokodil, sondern da standen die beiden Haushexen, die wollten auch gleich mit Es war eine reine Frauenrunde, die sich da auf den Weg machte. Auch meine Lichtahnin war dabei, wie eigentlich immer, und dazu noch ein paar starke Ahninnen, die ich inzwischen kennengelernt habe. Eine außergewöhnlich große Veranstaltung.
Bei dem Vorfahren kamen wir vor eine ganz normale lackierte Tür. Aber als wir drin waren in seinem Zimmer, da standen wir in einem riesigen Ballsaal mit schwarz-weißem Marmorboden und sehr bedrückender Energie und waren geschrumpft auf Erbsengröße. Winzigklein auf weitem Flur und mit der lastenden Energie noch obendrauf. Die Haushexe musste uns erst wieder vergrößern, damit ich überhaupt an den Tresor drankam. Und auch dann brauchte ich noch meine ganze Willenskraft.
Bei mir passen die Zimmerschlüssel auch immer zum Versteck der Vorfahren und schließen das auf. In diesem Fall fing die Tresortür an zu rosten und zu bröckeln, sobald der Schlüssel sie berührte. Sie löste sich zusehends in Staub auf, der Rest vom Tresor fing auch damit an, und dann griff das über auf den ganzen Raum, und es stellte sich heraus, dass der ganze Ballsaal ein einziges Spiegelkabinett war. Große Standspiegel auf Staffeleien überall, und einer nach dem anderen davon löste sich einfach auf, rieselte als Staub auf den Boden, verschwand und enthüllte den nächsten Spiegel hinter ihm, bis am Schluss nichts weiter übrig war als ein staubiger Bretterboden und ein kleiner Säugling. Und vielleicht ein altmodischer Schnuller, der vielleicht aus dem Tresor gefallen ist.
Meine Mutter stürzte auf den Säugling zu und nahm ihn in die Arme und war glücklich. Wahrscheinlich hat sie ihr Leben lang darauf gewartet, meinen Vater einmal sehen zu dürfen.
Nun hab ich mich gefragt, ob das nun meine Lilith-Wunde schon war oder ob ich nur den Zugang dazu freigeräumt habe. Vielleicht hätte ich mich ein bisschen besser umschauen sollen, als die Spiegel weg waren. Aber meine Nerven waren ziemlich aufgebraucht.
Dann kam eine Nacht, in der ich im Traum Prüfungen zu bestehen hatte. Ich sollte zeigen, ob ich Gleichmut bewahren kann und mein mentales Gleichgewicht behalte, wenn es einmal haarig wird.
Und am Tag darauf machte ich mich auf den zweiten Teil der Lilith-Reise. Ich hatte ein schwarzes Schutzkleid an, lang bis auf die Füße und über die Fingerspitzen und mit Kapuze. Ich sah aus wie ein Jedi. Und diesmal wollte keiner mit. Sie standen alle in meinem Herzen in einem großen Halbkreis und sahen mir beim Wegfliegen zu.
An der Rezeption war das gesamte Personal versammelt, das Hotelfoyer voller unsichtbarer Ahnen, und der Schlüssel ging durch viele Hände, bevor er endlich zu mir kam. Alle wollten sie ihn nochmal anfassen. Die Haushexe gab mir zu verstehen, das müsse ich jetzt alleine machen, es käme auf die Reinheit meines Herzens an. Kein Lichtahne, kein niemand. Nur ich alleine. Sie würden mich aber anschließend aufsammeln, wenn alle Stricke reißen. Na toll.
Die Atmosphäre hinter der Tür schlug mir entgegen wie ein Wand aus Metall, schmerzhaft wie ein Schrei. Ich war tatsächlich zu einer Hexenverbrennung gekommen und musste die letzten Minuten davon mit durchstehen, betend. Für alle. Es ist ja nicht nur die verbrannte Hexe eine Vorfahrin. Manche der Zuschauer sind es ja auch. (Onkel Kunibert so zu seinem Nachbarn: Also ich fand sie ja als Kind schon ein wenig seltsam.)
Aus dem Versteck kroch ein halb verhungertes Krafttier. Sie hat sich nicht entscheiden können, ob sie ihre Kraft aufgibt oder sie auslebt, und hat einen Mittelweg zu finden versucht. In dem Moment tauchte meine Kraftfüchsin auf und kümmerte sich.
Und meine Aufgabe bei dem ganzen Geschehen war es, ganz ruhig und gesammelt zu bleiben und mit blutendem Herzen, aber gleichzeitig ganz ungerührt und still da zu stehen und zuzuschauen, wie meine Vorfahrin verbrennt. (Warum auch immer.)
Als die Ahnin gestorben war, kam sie zu mir und fragte, wie es ihren Nachfahren ergangen sei, ob sie überlebt hätten. Es fühlte sich an, als hätte sie ihre Zeit angehalten, um nicht erleben zu müssen, was danach noch geschehen war (geschehen sein wird? hm.). Da kann man natürlich immer schön auf die eigene Existenz verweisen: Alles gut. Mindestens einer muss überlebt und Kinder gehabt haben, sonst gäbe es mich nicht.
Irgendwo war sie auch noch energetisch angebunden. Es waren Verbindungen zu sehen, aber wo führten sie hin? Damit kenne ich mich nicht aus. Da hab ich ihr nur das Messer meines Lichtahnen geliehen, damit sie das selbst durchtrennen kann.
Sie ruhte sich noch einen Moment an meiner Brust und unter meinem Schultertuch aus, dann machte sie sich auf den Weg ins Ahnenhotel, um dort ihren Platz einzunehmen.
Ich bin da auch noch mal kurz vorbei und hab den Schuldigen geraten, sie mit einem Blumenstrauß oder dergleichen zu empfangen und ganz allgemein ein bisschen Reue an den Tag zu legen. Außerdem habe ich einen Segen über alle gesprochen – einen druidischen, ich hatte Mühe, ihn zusammenzukriegen. Einmal hatte ich das Bedürfnis gehabt, über einen der Vorfahren den apostolischen Segen zu sprechen, damit hab ich mich leichter getan.
Wir sind ja samt und sonders Opfer wie Täter und die Grenzen sind fließend. Wir brauchen alle die Vergebung unserer Nächsten und die Gnade Gottes [insert name here ... ].
Ein paar Tage später war ich noch einmal da, um zu schauen, ob sie gut angekommen ist und wie es ihr geht. Sie stand mit anderen in einem großen Kreis im Garten an einem Ritualplatz. Kam auf mich zu, um mit mir zu reden. Ich wollte ihr erzählen, dass ich eigentlich nur mich selbst heilen wollte und sie mehr so der Beifang ist; das hat sie mit einer Handbewegung weggewischt. Dann hab ich noch erklärt, dass man in meiner Zeit ihre Gaben leben darf und sie bedenkenlos so viel weitergeben darf, wie sie für angebracht befindet. Mal sehn. Sie ist auf jeden Fall eine größere Nummer, als ich zunächst vermutet hatte.
Erst dachte ich, die Vorfahren und sie hätten alle lange weiße Gewänder getragen. Aber inzwischen glaube ich, sie standen alle im Hemd da. Vielleicht sollte es ein zünftiger Hexensabbath werden? Ich hab mich dann mal verkrümelt. Ich glaube, auf meiner Seite der Wechseljahre hat man da nichts mehr verloren. Schade eigentlich, ja, ich weiß ... wenn nicht ich, wer dann
Übrigens scheint es als unhöflich zu gelten, sich bei einer Hexe nach dem Befinden ihres Familiars zu erkundigen. Falls ihr mal in die Verlegenheit kommt; jetzt wisst ihr Bescheid.
Wann hat es begonnen, dass meine Träume mich leben? Und muss ich mir jetzt Sorgen machen?
Ich gehe vorwärts im Dunkeln, Schritt für Schritt, obwohl ich die Hand vor den Augen nicht sehe, weil ich sonst keine Möglichkeit habe, weil ich andres nicht tun kann. Wenn mein Fuß sich in Schlingpflanzen verfängt, wenn ich gegen ein Hindernis laufe, dann habe ich noch Glück gehabt; wenn vor mir ein Abgrund liegt, dann hatte ich Pech. Wie Watte ist die Dunkelheit um mich her, geräuschlos, und mutterseelenallein setze ich einen Fuß vor den anderen. Vielleicht haben meine Träume ein Ziel? Vielleicht laufe ich auch im Kreis.
Wann hat es begonnen?
Vielleicht begann es mit dem Lockdown im ersten Frühling; das ist zumindest der Zeitpunkt, an dem ich von meiner heimlichen Arbeit erfuhr. Allnächtlich, wenn ich die Schwelle zwischen Wachsein und Schlaf überschritt, wurde ich der Last gewahr, die ich mit mir trug und mit hinübernahm. Es waren Säcke voll mit Abfall und Unrat, so viel ich nur tragen konnte, die ich in das Reich meiner Träume schleppte, Nacht für Nacht. Und ich wusste, dass ich sie mit mir nehmen sollte in den Schlaf und damit auch unter die Oberfläche der Erde. Denn ich fuhr nicht wie gewöhnlich in meinem Bett hinaus auf das Meer meiner Träume, sondern ich grub mich durch die Erdkruste hinunter zu den Wurzeln der Bäume. Dort würden sie gut aufgehoben sein, die Erde würde sich ihrer annehmen, und irgendwann würde all dieser widerliche, unausstehliche Müll sich in fruchtbare Erde verwandelt haben.
Es war mühsame, schwere Arbeit, aber ich wusste, was ich tat.
Dann kam eine Zeit, in der wusste ich das nicht mehr. Ich hatte gearbeitet im Schlaf, ja, und ich wachte erschöpft auf. Aber was hatte ich getan? Einzelne Sätze wurden mir aus dem Schlaf mitgegeben, mit denen ich dann erwachte: Das war mühsam heute. Jetzt dauert es nicht mehr lange. Heute haben wir ein gutes Stück geschafft. Es war sehr anstrengend heute; du solltest gleich als erstes duschen. Es dauert nicht mehr lange. Wir sind bald fertig. Einen Tag noch. So, das wars.
Und dann hatte ich für die nächsten paar Wochen meine gewohnten Träume wieder zurück.
Eines Nachts, es war bald nach Samhain, wanderte ich im Traum umher und suchte nach einer geeigneten Stelle für einen heiligen Ort. Und in der Nacht darauf war es meine Aufgabe, den gefundenen Ort zu weihen. Was ich in meinem wachen Leben niemals getan hatte, das tat ich jetzt im Traum: Ich zog einen Kreis und lud die Himmelsrichtungen ein und die Geister des Ortes, die Ahnen und das Feenvolk. Ich trommelte, sang und tanzte und sprach die geheimen heiligen Worte, die einer einfachen Lichtung ihre Weihe gaben und die ich weder vorher noch nachher jemals gekannt habe. Und dann begann ich wach zu werden. Und ich wusste in meinem Halbschlaf, dass das Ritual noch nicht beendet war, dass ich es ordentlich abschließen musste, damit nicht Fetzen und Bruchstücke davon zwischen den Realitäten umherwirbeln. Im Dämmer zwischen Schlaf und Wachen suchte ich meine wenigen Kenntnisse zusammen. Ich verabschiedete das Feenvolk, die Ahnen und die Geister des Ortes. Ich verabschiedete Erde, Himmel und die vier Richtungen. Ich öffnete den Kreis und bedankte mich bei allen Mitwirkenden und allen Zeugen. Und dann erlaubte ich mir, fertig aufzuwachen.
Der Gedanke gefiel mir, dass es nun womöglich irgendwo auf der Erde einen weiteren heiligen Ort geben mochte. Es gefiel mir weniger, als ich feststellte, dass nun von mir erwartet wurde, täglich für die vier Richtungen zu trommeln. Denn ich kann nicht trommeln. Ich habe noch nie getrommelt in meinem ganzen Leben. Und Trommel besitze ich auch keine.
Aber ich hatte eine Verabredung mit einem Schamanen, der mir schamanisches Arbeiten beibringen würde. Der würde mir doch sicher helfen können. Er tat es nicht und erlaubte mir auch nicht, neben unserem bestehenden Vertrag eine andre zu fragen. Was sollte ich nun tun?
Ich schnappte mir ein altes Tamburin und klopfte darauf rum, so gut ich konnte. Und ich hinterließ einen Aufruf in meinem Ahnenhotel: Suche Schamanen, die mir Trommeln beibringen können! Nach drei Wochen war die Antwort da: Ist in Ordnung, komm vorbei. Bring deine Trommel mit.
Also bin ich bei der nächsten Trance mit klopfendem Herzen, feuchten Händen und meinem popeligen kleinen Tamburin neben mir aufgebrochen zu meinen schamanischen Vorfahren.
Es war eine der Raunächte. Der Aufzug fuhr so lange wie noch nie mit mir, immer tiefer in die Vergangenheit hinein. Und als er endlich anhielt und ich ausstieg, stand ich nicht wie sonst auf einem Hotelflur, sondern im Wald. Es gab einen Weg, dem ich folgte – aber wo waren die Türen rechts und links? Wie sollte ich hier mitten im Wald meine Ahnen finden, die mich zu sich eingeladen hatten? Ob das eine Prüfung war?
Schließlich hatten sie ein Einsehen und zeigten mir ein Stückchen Hauswand zwischen den Bäumen und Büschen mit einer hölzernen Tür darin, an die ich klopfen konnte. Irgend eine Eingebung veranlasste mich dazu, nicht wie gewohnt auf Brusthöhe zu klopfen, sondern wie eine Katze oder ein Hund dicht über der Schwelle mit den Fingernägeln zu kratzen. Die Tür öffnete sich und ein sehr alter Mensch sah mich aus runzligem braunem Gesicht an. Weil ich das Geschlecht nicht erkennen konnte, begrüßte ich die Gestalt ganz neutral als „Ancestor“ – was dazu führte, dass ich fortan all meine Gedanken auf Englisch formulieren musste, die ich an sie richten wollte. Ich habe inzwischen das Gefühl, dass weibliche Personalpronomen angemessen sind, und rede jetzt von ihr.
Sie führte mich zu einer Bank, setzte sich neben mich und ließ sich das Tamburin zeigen. Sie schaute es sich genau an, prüfte den Klang und machte den Eindruck, als hätte sie schon schlechtere Trommeln gesehen, was mich ein wenig verblüffte. Irgendwann würde meine Trommel zu mir kommen, meinte sie, so lange würde das mit diesem Provisorium schon angehen. Dann ließ sie mich noch vorführen, wie ich das Tamburin anschlage; das gefiel ihr weniger. Sie griff meine Hand, wie man die Hand eines kleinen Kindes greift, das essen lernen soll, und korrigierte meinen Rhythmus, bis sie zufrieden war.
Und dann meinte sie, sie möchte mich noch jemandem vorstellen.
Hinter der Tür, durch die ich reingekommen war, lag kein Haus. Da war die Bank, auf der wir gesessen hatten, ja; da war auch ein Vordach, eine Herdstelle, ein Schemel. Aber es war keine Rückwand da. Ich war durch die Tür einer Fassade eingetreten. Und jetzt weitete sich mein Blick, so dass ich über die unmittelbare Umgebung hinausschauen konnte, und was ich sah, war ein weiter Halbkreis von Wald und innerhalb dieses Halbkreises, auf der Lichtung, ein loderndes Feuer. Nach und nach konturierten sich die Gestalten von Menschen hinter dem Feuer, Menschen, die Geweihe trugen und ihre Gesichter bemalt hatten und in Felle gekleidet waren, und hinter ihnen schemenhaft Tiere zwischen den Bäumen: ein Bär vielleicht, ein Rabe, eine Eule, mit Sicherheit ein Hirsch und ein Eber.
Sie alle sahen mich über das Feuer hinweg an. Zweifellos war ich ein Eindringling, den sie in ihrer Welt nicht so ohne weiteres willkommen hießen. Dass sie auf meinen Aufruf geantwortet hatten, hieß noch lange nicht, dass sie mich und meine Welt auch nur im Geringsten akzeptabel fanden.
Aber sie waren auch neugierig. Sie hatten Gerüchte gehört. Jetzt forderten sie mich auf, mir einige Errungenschaften meiner Zeit bildlich vorzustellen: wie ich in einem Zimmer Licht anmache. Wie ich in einem Auto durch eine Stadt fahre. Sie waren nicht der Ansicht, dass es sich dafür gelohnt hat, so vieles wegzuwerfen, von dem ich nicht einmal mehr etwas weiß. Ich habe ausdrücklich dazugedacht, dass ich die ökologischen Konsequenzen daraus ebenso entsetzlich finde wie sie. Knurrig waren sie weiterhin, aber sie erlaubten mir, einen Ast auf ihr Feuer zu legen.
Ich war mal in einer Facebookgruppe, in der sowas beschrieben wurde; und in diesen Beschreibungen wurde immer dazugesagt, welches Holz genommen wird und warum. Nun weiß ich nichts über die Zuschreibungen von Bäumen – dass meine Freundin und ich „Die weiße Göttin“ gelesen haben, ist Jahrzehnte her. Und aus welcher Kultur diese Männer und Frauen jenseits des Feuers stammten, in welchen Ländern unter welchen Bäumen sie gelebt hatten, was sie damit in Verbindung brachten, das weiß ich auch nicht. Außerdem brauchte ich ja neben der Bedeutung des Baumes auch noch eine Vorstellung eines Astes und die englische Bezeichnung, da ich nach wie vor auf Englisch mit ihnen dachte.
Ich nahm die Birke. Ein Birkenast ist leicht vorzustellen, das Wort „birch“ tauchte auch von irgendwo auf, und es würde mich sehr wundern, wenn in irgendeiner Kultur die Birke für was anderes als Anfang und Jugend steht. Also lehnte ich den vorgestellten Ast an die Stelle des Feuers, die als nächste neue Nahrung brauchen würde, und dachte dazu: Ich bin eine absolute Anfängerin und bringe einen Birkenast zu diesem Feuer und bitte um euren Segen.
Damit hatte ich sie. Mit der reinen Tatsache, dass ich einen Ast nicht einfach irgendwo quer auf ein Feuer draufwerfe, sondern ihn ordentlich an der richtigen Stelle anlehne. Sie hatten geglaubt, der Umgang mit einem offenen Feuer sei von ihrer Zeit bis zu meiner verloren gegangen, wie so vieles andere, und jetzt sahen sie wohl zum ersten Mal einen Anknüpfungspunkt zwischen ihnen und mir.
Tatsächlich waren sie dermaßen angetan, dass sie mich an ihr Feuer einluden, als zum Abschluss der Rauhnächte die Göttin in ihren drei Gestalten dort tanzte. Und als ich einen Termin hatte für meinen ersten Anfängerkurs in schamanischer Arbeit, riefen sie mich wieder zu sich, um sich mein Bild meines Lehrers zeigen zu lassen und um den Kurs mit ihm abzusegnen.
Das kleine Mädchen hüpft fröhlich den aufstiebenden Funken nach, dass die blonden Zöpfe fliegen. Jenseits des Feuers, wo meine Ahnen heute einen weiten Platz freigelassen haben, sehe ich ihre schmale weiße Gestalt zwischen den aufzüngelnden Flammen selbstvergessen tanzen.
Um dieses Kindes willen ist Unschuld geschützt oder sollte es zumindest sein. Was könnte es entwaffnenderes geben? In ihr liegen gebündelt die Kräfte des Neuanfangs, wie abgedeckte Glut auf den neuen Morgen wartet und die Blütenknospe auf ihre Befruchtung. Reines Potenzial, Vorbereitung, Lebenskraft und Lebensfreude, selbstvergessen tanzend in einem weißen Kleidchen.
Die Alte steht ruhig und schaut mir entgegen, ihr Gesicht süß wie ein schrumpliger Winterapfel, Lederbänder und Federn ins graue Haar geflochten, ihr wissendes Lachen zahnlos, klar und durchdringend die Augen. Ich küsse voller Liebe ihre runzligen Hände und schwöre ihr leichten Herzens Treue für den Rest meines Lebens.
Diese Hände haben Kinder entbunden, Gliedmaßen amputiert, Wunden versorgt und die Hände von Sterbenden gehalten über jene Schwelle hinaus. Sie haben Heilsalben angerührt und Gifttränke gemischt, Wasser getragen und Feuer geschürt. Ihre Augen haben gesehen, was es zu sehen gibt, auf glatten Oberflächen und in die Tiefen hinein. Sie ist tief verbunden mit allem, was ist, und ihre Wurzeln durchziehen die Erde.
Und die Rote – ah, wie sie ums Feuer fegt, ein langes Krummschwert in der einen Hand, gebogen wie die Sichel des Mondes. Sie wirbelt mit hoch auffliegendem Rock und blitzenden Zähnen, und in der Luft liegt ein Hauch von Moschus und ein Hauch von Gefahr und Lachen und Frauenschweiß und Blut und Versprechen. Sie tanzt durch die Flammen, als brennten sie nicht. Das ist sie, in deren Diensten ich stand, von der ich mich mit Wehmut verabschiedet habe, als meine Zeit vorüber war.
Es ist ratsam, sich ihr vorsichtig zu nähern, wenn du ein Mann bist. Komm auf deinen Knien und mit Geschenken auf den vorgestreckten Händen. Und du weißt, dass sie deine kostbarsten Gaben achtlos zurücklassen wird bei der nächsten Gelegenheit, und doch reut dich kein einziger Taler; dieses Blitzen in ihren Augen ist jeden Groschen wert.
Du bist nicht der Mann, der so stark ist, dass sie sich Schwäche erlauben dürfte. Du bist im besten Fall der Zeitvertreib einer kurzen Weile. Aber wenn sie das Geschenk deines guten Willens und deiner Verehrung annimmt, dann wirst du diese kurze Weile besingen dein Leben lang.
Es ist die letzte der Nächte zwischen den Jahren. Jenseits des Feuers, jenseits der tanzenden Göttin, durch Rauch und aufwirbelnde Flammen sehe ich die Gesichter meiner schamanischen Ahnen zwischen den Bäumen im Lichtschein auftauchen und wieder in Schatten verschwinden, sehe die Geweihe auf ihren Köpfen, die Farbstreifen auf ihren Gesichtern, die Tiere in ihrer Begleitung. Heute haben sie keine Augen für mich, heute sind ihre Blicke auf den Tanz der Göttin gerichtet, und ich fühle mich demütig geehrt, dass ich Besucherin ihres Festes sein darf für einen kurzen Augenblick zwischen den Jahren, zwischen den Zeiten, zwischen den Welten.
Vielleicht ist es der heilige Ort dieser Schamanen gewesen, den ich im Traum zu weihen hatte? vielleicht war ich gerufen, eine Profanisierung zu beenden und ihnen ihren Platz zurückzugeben – den heiligen Ort, auf dem die dreifache Göttin tanzt, an dem sie mit den Elementen der Erde sprechen und mit den Seelen der Hirsche, ihrer Verwandten, deren Geweihe sie tragen und deren Fell, mit deren Haut und deren Sehnen sie ihre Trommeln bespannen.
Habe ich sie zurückgeholt aus der Ortlosigkeit, aus dem Vergessen? trieben ihre Seelen verloren zwischen den Welten und fanden keinen Ort, auf den sie ihre Hufe stellen konnten? ist das der Grund, warum sie mich eingeladen haben zu ihrem Fest?
Ich verbeuge mich vor ihnen in Dankbarkeit.
Tag der Veröffentlichung: 01.08.2021
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