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Die Hungernden der Welt ernähren

 

Vor einigen Jahren ist in Hamburg ein kleines Mädchen in seinem Kinderzimmer verhungert. Es hatte noch Wolle aus dem Teppichboden gezupft und gegessen, es hatte sich büschelweise Haare ausgerissen und in den Mund gestopft, um doch nur mit irgend etwas seinen schmerzenden Magen zu füllen. Und dann lag es verhungert da, tot und abgemagert lag es in seinem Kinderbettchen.

Tief betroffene Menschen haben Kerzen entzündet, Blumen niedergelegt und Teddybären, und einige haben Brotlaibe vor das Haus gelegt, in dem das Kind verhungert war. Als wollten sie sagen: Kind, wenn wir das nur gewusst hätten, dass du in dieser Wohnung eingesperrt sitzt und hungerst. Wir hätten dir doch gerne etwas abgegeben. Und wenn wir zusammengelegt hätten: Für dich hätte es doch immer noch mitgereicht. Wenn wir nur geahnt hätten, dass du hier so sehr leidest, wir hätten etwas dagegen getan.

Auf dieser Welt hungern 850 Millionen Menschen. Sie leiden, und sie sterben: mehr als fünfzigtausend, jeden Tag. Wir sehen sie nicht, aber wir wissen von ihnen. Sie leben nicht unbedingt im Nachbarhaus, sondern die meisten von ihnen leben auf unseren Nachbarkontinenten. Und ich werde Ihnen später – im Kapitel Alternativen – zeigen, dass es für all diese Menschen mitreicht, und zwar locker, wenn wir zusammenlegen und ihnen etwas abgeben.

Wir würden das sicher tun, wenn wir sie sehen könnten, aber sie sind unsichtbar. Sie sind zu weit entfernt. Und außerdem: Eine so große Zahl sagt uns nichts. Sie ist unüberschaubar. Ein einzelnes Schicksal mag uns zu Tränen rühren, ein Foto von großen, verzweifelten braunen Kinderaugen, eine Filmaufnahme von einem Säugling, der hoffnungslos an einer längst versiegten Mutterbrust nuckelt; nur um der Erinnerung willen, dass da einmal etwas gewesen war, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der dieser furchtbare Schmerz im Magen nicht so sehr gebrannt hat.

Neulich stand in einer großen deutschen Wochenzeitung die Geschichte eines indischen Mädchens, das Wildkräuter sammeln gegangen war und dabei auf dem Feld eines anderen ein paar Spinatblätter abgepflückt hatte. Der Mann hatte ihm zur Strafe alle Finger seiner rechten Hand abgehackt.

Meine erste Reaktion ist gewesen: Oh, so etwas ist heutzutage schon einer deutschen Wochenzeitschrift eine Meldung wert? Die Zeiten haben sich wirklich zum Guten verändert! Und erst später habe ich dann an das kleine Mädchen gedacht.

Ich habe mir das Kind vorgestellt, vielleicht zehnjährig, in halblangem Rock und Bluse, wie kleine indische Mädchen sie tragen, wie es barfuß schmale Pfade entlangläuft, auf Dornen und auf Schlangen achtet und glücklich ist über jedes essbare Blättchen, das es findet; voller Stolz, dass es schon so groß ist, dass es schon dazu beitragen kann, dass die Familie heute Abend nicht hungrig zu Bett gehen wird.

Und dann sein Entsetzen über den Missgriff. Vielleicht hat es auch nichts Essbares gefunden und gedacht, dass dem reichen Nachbarn ein paar Spinatblättchen schon nicht fehlen werden. Und dann wird es erwischt. Und mit einem Schlag wird aus dem hoffnungsvollen, stolzen kleinen Mädchen ein Krüppel. Niemand wird sie heiraten wollen, wenn sie erwachsen sein wird; oder es wird von ihren Eltern eine so hohe Mitgift verlangt werden, dass sich die ganze Familie auf Generationen in Schulden stürzen muss. Sie wird verachtet sein, wo immer sie ist. Nicht verheiratet zu sein, ist in Indien eine Schande für eine Frau. Sie wird ihr Leben lang ihren Brüdern auf der Tasche liegen, oder sie wird betteln müssen. Oder aber es wird sie einer zur Frau nehmen für viel Geld, und der wird sie verachten, er wird sie prügeln, die Schwiegermutter wird sie quälen. Ihre ganze Zukunft, die vorher schon nicht rosig gewesen war, ist mit einem Schlag nur noch ein einziges nebelverhangenes Grauen.

Und jetzt tropfen mir die Tränen in die Tastatur.

Übrigens ist es auch möglich, dass die Eltern ihr Kind selbst verkrüppelt haben, weil sie es betteln schicken müssen, und sie haben diese Geschichte nur erfunden. Aber dann ist die Wahrheit noch grausamer als die Lüge.

Wenn wir jeden einzelnen der Millionen Hungernden der Welt vor uns sehen könnten, wir könnten es nicht ertragen. Ein solch unvorstellbares Elend liegt über der Welt.

Was tut Entwicklungshilfe?


Es hungern heute ebenso viele Menschen auf der Welt wie vor fünfzig Jahren. Das hört sich nicht an wie eine Erfolgsmeldung, es ist aber eine; denn seitdem hat sich die Menschheit mehr als verdoppelt. Und wenn wir vor fünfzig Jahren fast ein Drittel der Menschheit nicht ernähren konnten, dann ist es heute nur noch ein Siebtel.

Bis vor ein paar Jahren sind die Zahlen der Hungernden sogar leicht zurückgegangen. In letzter Zeit steigen sie wieder. Das ist ein ganz großer Erfolg, den wir unter anderem der Entwicklungshilfe verdanken. Ich sage das hier so ausdrücklich, damit nachher keiner meint, ich hätte was gegen Entwicklungshilfe, nur weil ich Ihnen jetzt erzählen will, was da so alles schieflaufen kann.

Tatsache ist nämlich auch: Es scheint einen Bodensatz an Hungernden zu geben, der von Entwicklungshilfe-Projekten einfach nicht erreicht wird.

Naturalhilfe


Als Kind habe ich gemeint, es gäbe doch genug Lebensmittel auf der Welt, und man müsse sie nur gerechter verteilen. Aber das ist natürlich ein Trugschluss. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass wir alte, gewachsene Strukturen ganz gehörig durcheinanderbringen können, wenn wir den Menschen einfach irgendwelche Dinge in die Hände drücken.

Unsere Altkleidersammlungen beispielsweise haben schon ganze regionale Textilindustrien in den Ruin getrieben. Die Menschen trugen zwar vorübergehend Modellkleider aus der vorvorletzten Saison, aber sie hatten keine Arbeitsplätze mehr.

Die Weltbank hat den armen Ländern verboten, ihre Wirtschaft durch Subventionen oder Zölle zu schützen. Die Lebensmittel aus der EG hingegen sind hoch subventioniert. Dass wir sie verkaufen und damit in ungleiche Konkurrenz zu heimischen Bauern treten, ist für die Entwicklung der heimischen Landwirtschaften schon schlimm genug. Wenn wir sie dann gar noch verschenken, dann ist das für die Kleinbauern der armen Länder ein finanzielles Fiasko.

Wenn es in der Sahelzone mal wieder noch weniger geregnet hatte als üblich, dann hatten früher die Hirtennomaden an ihren Rindern etwas mehr als üblich verdienen können und damit die verdursteten Tiere ebenso wettgemacht wie die mageren Einnahmen der vorigen Jahre, in denen das Fleisch billig gewesen war. Nun kommen wir mit unseren Bergen von EU-subventioniertem Rindfleisch, und die Preise fallen ins Bodenlose. Dabei ist auch bei den berüchtigtsten Hungersnöten in der Sahelzone immer genug zu essen vorhanden gewesen, wir hätten nichts hinzuschaffen brauchen; nur die Preise waren zu stark gestiegen. Es hat den Menschen nicht an Lebensmitteln gefehlt, sondern an dem Geld, sie zu kaufen.

Wenn ich als Kind mein Pausenbrot nicht gegessen hatte, dann pflegte meine Mutter zu sagen: Die armen Kinder in Indien wären froh, wenn sie das hätten. Inzwischen weiß man, dass es den armen Kindern in Indien auf Dauer nicht hilft, wenn wir ihnen unsere Essensreste hinfliegen. Dass derartige Sachhilfen nur bei akuten Notfällen wie Naturkatastrophen sinnvoll sind. Wenn nach einem Erdbeben ohnehin alles in Trümmern liegt, dann sind Naturalien gefragt. Aber ansonsten heißt das Credo der Entwicklungshilfe:

Gib einem Menschen keinen Fisch,


sondern zeig ihm, wie man angelt.

Wenn ich ein Indio am Amazonas wäre, dann würde ich mich ja schon fragen, wieso so ein Westeuropäer oder USAmerikaner daherkommt und meint, er könne besser angeln als ich. Wenn ich ein Küstenfischer in Kerala wäre, würde ich mir vielleicht einfach nur wünschen, dass mir die Industrieländer mit ihren subventionierten Hochseetrawlern nicht die ganzen Fischgründe leerfischen.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel dafür, wie man auch mit diesem Prinzip das Gegenteil von dem erreichen kann, was man erreichen wollte:

Die Sahelzone liegt südlich der Sahara. Sie ist nicht mehr ganz Wüste, aber auch noch nicht richtig Grasland. Wasser ist knapp und die Vegetation spärlich. Dort leben nomadische Rinderhirten, die ihre Herden von einer Wasserstelle zur anderen treiben. Südlich davon bauen sesshafte schwarzafrikanische Ackerbauern ihre Feldfrüchte an.

Nun ist es über Jahrhunderte so gewesen: Die Schwarzafrikaner säen, wenn die Regenzeit kommt. Alles sprießt und wuchert. Dann ist die Regenzeit vorüber und es wird trocken: Die Ackerbauern ernten ihre Felder ab. Die Trockenzeit ist da: In der Sahelzone wird das Wasser knapp, und die Viehzüchter treiben ihre Herden nach Süden. Die Rinderherden grasen die abgeernteten Stoppelfelder ab und hinterlassen ihren Dung, Ackerbauern und Viehzüchter tauschen ihre jeweiligen Erzeugnisse untereinander aus. Dann kommt die nächste Regenzeit, die Nomaden ziehen wieder nach Norden zurück, und die Ackerbauern bestellen wieder ihre Felder.

Nun sind wohlmeinende Menschen auf den Gedanken gekommen, das Leben eines Nomaden wäre doch nun im zwanzigsten Jahrhundert wirklich nicht mehr zeitgemäß und es sei niemandem zuzumuten, in Zelten zu wohnen. Es wurden Programme gestartet, um diese Nomaden sesshaft zu machen. Ich erinnere mich, in Zeitungen Erfolgsmeldungen gelesen zu haben.

Gleichzeitig hat man den Schwarzafrikanern erklärt, dass ihr Land bei entsprechender Bewässerung durchaus mehr als eine Ernte im Jahr einbringen könnte. Der Boden sei fruchtbar genug für zwei oder gar drei Ernten (und außerdem gibt es ja Düngemittel zu kaufen). In groß angelegten Programmen wurden Stauseen angelegt und Bewässerungskanäle gegraben.

Nun stellte sich aber heraus, dass die Vegetation in der Sahelzone eine durchgehende Beweidung gar nicht zulässt. Wenn eine Rinderherde zu lange an einem Ort bleibt, nagt sie die spärlichen Grashalme ab bis auf die Wurzeln, der Boden erodiert, und die Wüste breitet sich wieder ein Stück weiter aus. Die althergebrachte Lebensweise der Nomaden war sicher hart, aber sie war an diese Region perfekt angepasst und ökologisch sinnvoll. Nun saßen sie in ihren neu angelegten Dörfern, und um sie her schwand ihre Lebensgrundlage dahin.

Bevor sie ihre letzten Rinder verhungern sahen, sind die Viehzüchter wieder zu ihrer alten nomadischen Lebensweise zurückgekehrt. Und als die Trockenzeit da war und ihr Vieh kein Wasser mehr fand, wollten sie wieder wie seit jeher weiter in den Süden ziehen. Dort lagen die Felder aber nun nicht mehr brach, sondern es standen darauf die zweiten oder dritten Ernten, und die Ackerbauern ließen sie nicht mehr rein.

Das hört sich lustig an, aber in Wirklichkeit ist es eine Frage von Leben oder Tod. Und wenn dazu dann noch ein passender Auslöser kommt, eine kleine Revolte, eine Widerstandsbewegung oder ein Putsch hier, eine Rinderkrankheit oder ein Getreideschädling da, ein Stammesmitglied an einer Regierungsposition dort, dann kann im Handumdrehen das ganze Pulverfass in die Luft fliegen. Deshalb lautet ein weiteres Credo der Entwicklungshilfe:

Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.


Man mag die besten Absichten haben und kann dabei doch so viel falsch machen. Eine Zeitlang hat man Großprojekte gefördert, riesige Staudämme, die ganze Ökosysteme zerstört haben, Monokulturen, an denen die Großgrundbesitzer steinreich geworden und die Armen so arm geblieben sind, wie sie vorher gewesen waren. Statt ihrer kleinen gepachteten Felder, von denen sie sich notdürftig hatten ernähren können, haben sie nun bestenfalls noch ihren Landarbeiterlohn, der vorne und hinten nicht ausreicht. Und weil in einer großen Plantage weniger Arbeiter nötig sind als auf vielen kleinen Feldern, blieben viele der alten Kleinbauern übrig und haben seitdem gar nichts mehr.

All die vielen Organisationen, die es alle so gut meinen, arbeiten unkoordiniert jede nach bestem Wissen und Gewissen vor sich hin. Wie oft ist es vorgekommen, dass eine Kooperative gegründet werden sollte in einem Dorf, in dem es schon längst eine gab! Sagen wir mal, Teppichknüpferinnen hatten sich zusammengeschlossen, um ihre Teppiche gemeinsam besser vermarkten zu können. Dann kamen Entwicklungshelfer, die meinten, in diesem Dorf eine Kooperative von Teppichknüpferinnen gründen zu müssen. Die florierte zunächst, solange sie Unterstützung bekam, verdrängte die alte vom Markt und zwang sie zum Aufgeben. Dann lief die Unterstützung aus, die neue Kooperative verlief sich im Sande, und zum Schluss stand das Dorf schlechter da als vorher.

Einige Organisationen sind inzwischen dazu übergegangen, die Menschen selbst zu fragen, was sie brauchen. Den letzten Friedensnobelpreis gab es für das Bemühen, Menschen selbstständig zu machen. Das hat sich außerordentlich gut bewährt und funktioniert so:

Es werden Mikrokredite vergeben an Frauen, die ein kleines Gewerbe gründen wollen. Eine Suppenküche oder ein Imbissbüdchen, eine Hühnerfarm, eine Schneiderstube. Die Frauen bekommen ein Darlehen von etwa 50 bis 100 Euro, und zu 99 Prozent zahlen sie dieses Darlehen auch zurück.

Kinder fördern


Für mich gehört in die Kategorie von gut gemeint, aber schlecht gelaufen auch die Förderung von Kindern.

Warum das?

Die Antwort ist ganz einfach:

Was man sponsert, das fördert man auch.

Wenn unsere Regierung Kinder fördert, durch Kindergeld, freie Schulbildung, Steuervorteile, Elterngeld und dergleichen, was will sie damit erreichen? – Mehr Kinder.

Wenn ein Heizungsbauer Wintersportler sponsert, was will er damit erreichen – außer natürlich, dass die Menschen bei Eis und Schnee sofort an seine guten, warmen Heizungen denken? – Mehr Wintersportler.

Wenn eine Bank lokale Kultur fördert, durch Ausstellungen, Stipendien, Literaturpreise, was will sie damit erreichen – außer natürlich sich selbst einen guten Namen verschaffen? – Mehr lokale Kultur.

Wenn so viele Menschen arme Kinder in Entwicklungsländern fördern, durch Patenschaften, Waisenhäuser, Schulstipendien, Internatsplätze, was werden sie damit erreichen?

?!

Und nun sagen Sie nicht, weniger arme Kinder in Entwicklungsländern.

Was man sponsert, das fördert man auch. Das heißt nicht, dass man nun ganz damit aufhören sollte. Man muss es nur wissen, und man muss entsprechend gegensteuern.

Ich stelle mir vor, ich bin eine arme Frau in einem Slum. Ich lebe in einer Hütte aus Pappkartons und schlafe auf dem Erdboden. Wenn die Regenzeit kommt, werden mir die Kartons überm Kopf wegweichen, und der Boden wird sich in Schlamm verwandeln. Nun ja; aber die Regenzeit wird vorübergehen, der Boden wird wieder trocknen, und so Gott will, werde ich auch neue Kartons finden.

Was mir viel mehr Sorgen macht, ist der Tag, an dem ich alt oder krank werde. Der Tag, an dem ich nicht mehr von morgens bis abends auf den Beinen sein kann, um überall nach etwas Essbarem zu suchen. Was werde ich dann tun?

Wovon werde ich leben?

Jeden Tag breche ich bei Sonnenaufgang auf. Falls es gestern Essen gab, so ist es längst aufgegessen. Ich trinke etwas braunes Wasser und gehe los. Manchmal finde ich Essensreste in Mülltonnen. Manchmal finde ich eine Pfandflasche oder alte Zeitungen, die ich verkaufen kann. Manchmal gelingt es mir, etwas zu erbetteln. An diesen Tagen gibt es abends Essen. Eine Handvoll Getreide, eine Handvoll Hülsenfrüchte. Manchmal sogar eine Zwiebel oder ein anderes billiges Gemüse. An diesen Tagen kann ich abends essen.

An den anderen nicht.

Nun ja, so ist das.

Aber was wird sein, wenn ich krank werde? Was wird sein, wenn ich alt bin?

Eine kleine Mahlzeit am Tag zu haben, das ist nicht schlimm. Einen Tag gar keine Mahlzeit zu haben, ist auch nicht wirklich tragisch. Aber alt zu werden, ohne jemanden zu haben, der einen versorgt? Krank zu sein, vielleicht wochenlang, das heißt in meiner Kartonhütte auf dem Erdboden liegen und langsam verhungern. Nun, vielleicht werde ich ja nicht krank. Aber ganz sicher werde ich alt, wenn ich nicht vorher gestorben bin. Ganz sicher werde ich schwächer und schwächer; und es ist ein Kampf dort draußen auf den Straßen! So viele junge Menschen sind unterwegs, und sie sind schnell, und entschlossen, und kräftig. Manchmal schließen sie sich sogar zusammen. Da muss ich in meinen mittleren Jahren mich schon am Rand entlang bewegen und vorsichtig sein. Als alte Frau, selbst wenn ich noch auf den Beinen bin, werde ich keine Chance haben.

Es gibt nur eine einzige Lösung gegen diese Furcht: Ich muss Kinder haben. Ich muss so viele Kinder haben wie möglich. Je mehr Kinder ich habe, desto größer ist meine Hoffnung, dass eines davon mich wird ernähren können, oder alle zusammen, dass ich im Alter versorgt bin.

Und nun stellen Sie sich vor, dass plötzlich eine wohltätige Organisation daherkommt, am Rande meines Slums eine Schule baut und damit anfängt, Kinder auszusuchen, die diese Schule besuchen werden. Kostenlos können ein paar Kinder dort lernen, sie können dort sogar essen und vielleicht, wenn sie geschickt sind, abends etwas mit heimbringen. Und anschließend wird diese Schule auch noch dafür sorgen, dass die Kinder richtige, feste Arbeitsstellen bekommen und ein Gehalt beziehen, das für mich einen unvorstellbaren Reichtum bedeutet.

Ja, da werde ich doch erst recht versuchen, so viele Kinder zu bekommen, wie ich nur kann! Dann ist meine einzige Chance auf ein Alter ohne Hunger und Not doch in richtig greifbare Nähe gerückt. Dann wäre doch jede dumm, jede Frau im Slum, die nicht versuchen würde, so viele Kugeln wie möglich in der großen Lostrommel des Lebens zu haben. Wir haben keine Alternative, wissen Sie. Wir müssen so handeln. Und wir wissen ja noch nicht, dass die meisten dieser Kinder später nichts mehr von ihrer armen Herkunft werden hören wollen.

Da regen sich die Menschen auf über Mädchenbeschneidung und Zwangsprostitution, und zu Recht. Aber über diesen Gebärzwang, dem Frauen überall auf der Welt ausgesetzt sind, aus reiner wirtschaftlicher Not, über den redet kein Mensch. Ich finde das nicht weniger schlimm. Wenn man mich vor die Wahl stellen würde, mich verkrüppeln zu lassen, in einem Bordell zu arbeiten oder ein Kind nach dem anderen zur Welt zu bringen und dann hilflos zusehen zu müssen, wie sie eins nach dem anderen unter Qualen verhungern – ich weiß nicht, ob ich den Gebärzwang nicht sogar am Schlimmsten fände.

Neulich habe ich im Fernsehen ein Interview gesehen mit einer Frau, die als Kind die große Hungersnot in der stalinistischen Sowjetunion erlebt hatte. Sie erzählte, wie es tagelang überhaupt nichts zu essen gegeben hatte, und dann kam die Mutter heim und hatte es irgendwie geschafft, eine rote Bete zu ergattern. Sie kennen rote Bete? Eine Wurzelknolle, etwa faustgroß.

Diese Mutter setzte sich also hin, zerschnitt die rote Bete und verteilte sie unter ihre Kinder. Ihr ältester Bruder, erzählte die Frau, war schon seit Tagen so schwach gewesen, dass er nur noch auf dem Ofen gelegen hatte. Er hatte schon seit Tagen nicht mehr aufstehen können. Aber als er nun sah, dass die Mutter etwas zu essen hat, quälte er sich mühsam von dem Ofen herunter und zu der Mutter hin, um auch seinen Teil abzubekommen. Aber die Mutter sagte zu ihm: Du bekommst nichts, du stirbst sowieso.

Der alten Frau standen heute noch die Tränen in den Augen, als sie davon erzählte. Meinen Sie, es hätte die Mutter nicht noch viel mehr geschmerzt?

Und der arme Junge kroch wieder auf seinen Ofen hinauf und hatte nichts bekommen.

Am nächsten Tag war er tot. Als der Leichenwagen kam und ihn holte, nahm er die Mutter gleich mit. Die war zwar noch nicht tot, aber der Fahrer meinte, wegen der paar Minuten, die sie noch zu leben hätte, würde er nicht extra noch mal wiederkommen.

Vermutlich hatte sie selbst auch nichts mehr gegessen. Aber auf diese Weise hatte sie ihren anderen Kindern die kleine Chance gewahrt, zu überleben.

Wenn diese Frau die Möglichkeit gehabt hätte, sich zu prostituieren oder sich verkrüppeln zu lassen, damit ihre Kinder essen können – ich könnte mir vorstellen, dass sie sich gefreut hätte.

Millionen von Müttern stehen jetzt, in diesem Augenblick, vor der gleichen Entscheidung. Und für vierzigtausend Kinder wird es auch heute wieder zu spät sein.

Und morgen.

Und übermorgen.

Kinder fördern?


Natürlich, wenn da ein Kind steht, das niemanden hat, dann tut man etwas. Dann versucht man dieses Kind irgendwo unterzubringen, ihm eine Chance zu geben. Alles andere wäre herzlos. Und wenn man neben dem Herzen auch noch sein Hirn gebraucht, dann sucht man nach einer Lösung, bei der das Kind in seiner kulturellen und familiären Umgebung bleiben kann und möglichst die ganze Gemeinschaft profitiert. Dann sorgt man dafür, dass die Hilfe für dieses eine Kind nicht die Geburt von Dutzenden anderer hungernder Kinder zur Folge hat. Dass die Gesamtsituation dadurch nicht schlechter, sondern besser wird.

Ich selbst bin noch in einer intakten Großfamilie aufgewachsen. Als Kind habe ich keinen Moment daran gezweifelt, dass ich in diesen Strukturen sicher und geborgen bin. Wären meine Eltern während meiner Kindheit gestorben, dann wäre ich zu meinen Paten gekommen. Für mich waren Paten dazu da, dass jedes Kind von vornherein weiß, was in einem solchen Fall mit ihm geschieht. Sie hätten wahrscheinlich vom Staat ein wenig Geld dazubekommen, denke ich heute, um mich mit durchfüttern zu können; aber so weit habe ich damals noch nicht gedacht, und ich bin auch bis heute überzeugt, dass sie mich auch ohne staatliche Unterstützung aufgenommen hätten.

In den meisten Ländern der Welt existieren solche Strukturen auch heute noch. Wenn ein Kind seine Eltern verliert, dann sind in den allermeisten Fällen Verwandte da. Sie würden dieses Kind aufnehmen, und sie würden sich sehr freuen, wenn sie einen Bruchteil dessen bekämen, was ein Platz in einem Waisenhaus kostet.

In Burundi wurden Waisen traditionell von Nachbarn oder Verwandten aufgenommen. Nach dem blutigen Bürgerkrieg, in dem so viele Waisen übrig blieben, ist diese Tradition von einem Verein gefördert worden, und die neuen Pflegemütter bekamen zum Dank Saatgut, Decken, eine Hacke. So viele Familien hatten bei den Massakern Angehörige verloren. So viele Frauen waren allein zurückgeblieben. Bei ihnen ging es den Kindern besser als in den überfüllten Waisenhäusern.

Der Markt wird es richten


Das ist das Credo der neuen Wirtschaftsliberalen nach dem historischen Sieg des Kapitalismus über Staatssozialismus und Planwirtschaft.

Der Markt kann sehr viel. Wenn fünf Prozent weniger Kunden ein bestimmtes Produkt kaufen, dann wird der Produzent ganz schnell in sich gehen und herausfinden, was seine Kunden unzufrieden macht, und das abstellen. Wohingegen wenn fünf Prozent weniger Wahlberechtigte wählen gehen, dann interessiert das keine Socke. Außer natürlich ein paar altmodischen, idealistischen Journalisten. Wenn in der Sahelzone mal wieder kein Regen gefallen ist, dann wird der Markt dafür sorgen, dass alle benötigten Lebensmittel vorhanden und die Preise so hoch wie möglich sind. Das kann er.

Nur eines kann er nicht, und zwar aus strukturellen Gründen: Für die Hungernden der Welt kann er nichts, aber auch gar nichts tun.

Der Markt – das haben wir alle in der Schule gelernt – richtet sich nach Angebot und Nachfrage. Wo keine Nachfrage zu erwarten ist, da macht er auch kein Angebot. Und für den Markt heißt Nachfrage nicht: Da knurrt ein Magen. Für den Markt heißt Nachfrage: Da ist einer bereit, seine Geldbörse zu zücken und was zu bezahlen. Eine leere Geldbörse interessiert ihn nicht.

Der Markt kennt keine Menschen. Das mag auf manchen Gebieten seine Stärke sein. Für die Hungernden der Welt ist es ein Fiasko: Der Markt nimmt sie einfach nicht wahr. Sie sind für ihn nicht vorhanden. Er reagiert auf Kaufkraft, und wo keine Kaufkraft ist, da reagiert er gar nicht. Die Hungernden der Welt sind für ihn ein blinder Fleck, von dem er einfach nichts weiß. Das Credo mit dem Markt könnte in dem Moment stimmen, in dem jeder Mensch einen kleinen Geldbetrag zum Ausgeben hätte. Es könnte noch so wenig sein, aber in diesem Moment würde der Markt in Aktion treten und alles herbeischaffen, was dieser Mensch für sein Geld kaufen wollen könnte. Es würden sich Spielräume auftun für kleine Selbstständige, für Handwerker, Gewerbetreibende, Händler. Und wenn ich mich jetzt wieder in die arme Frau im Slum hineindenke – was hat sie von all dem?

Was ihr fehlt, ist auch nur der Hauch einer Alternative für ihr Leben im Alter. Was ihr fehlt, ist eine Spur von Hoffnung, und sei sie noch so klein. Sie hat ihr Leben lang in keine Rentenversicherung eingezahlt, denn sie hat niemals eine richtige, reguläre Arbeitsstelle gehabt.

Es müsste für sie eine Möglichkeit geben, dass sie im Alter versorgt ist.

Für einen Mikrokredit kommt sie nicht in Frage. Wozu soll sie im Slum eine kleine Hühnerfarm aufbauen, wo kein Mensch Geld für ein Ei hat?

Was kann der Markt für sie tun?

Wenn jeder im Slum ein paar Pfennige hätte, dann könnte die Frau – nennen wir sie Sara – im Alter mit einem kleinen Bauchladen durch die Gassen ziehen. Sie könnte die Kinder der Nachbarin hüten, die selbst in einem Imbissbüdchen arbeitet, weil jetzt ein Imbissbüdchen am Rande des Slums existieren kann. Sobald ein paar Pfennige Geld im Umlauf sind, eröffnen sich Möglichkeiten über Möglichkeiten. Jetzt kann der Markt zeigen, was in ihm steckt.

Verzweifelte Maßnahmen


Wer heute hungert, kann nicht warten, ob wir morgen vielleicht mal in die Pötte kommen und was tun. Er muss heute irgend etwas unternehmen.

Wer zu viele Kinder hat, um sie alle zu ernähren, kann das eine oder andere als Sklaven verkaufen. Wir alle wissen, dass Kinder ganz jung an Teppichfabriken verkauft werden, weil die kleinen Kinderhändchen besonders feine Knoten knüpfen können. Unsere Reaktion darauf ist, Teppiche zu kaufen, auf denen steht: Keine Kinderarbeit. Deswegen können die Eltern ihre Kinder aber trotzdem nicht selbst ernähren. Diese Kinderarbeit ist keine lokale Unsitte, auf die wir aufgeklärt und verächtlich hinabsehen könnten, sondern eine verzweifelte Maßnahme. Kinder werden als Fabrikarbeiter verkauft, als Haussklaven, als Soldaten oder als Prostituierte. All das nicht, weil die Eltern das lustig finden, sondern weil sie keine andere Möglichkeit mehr sehen. Und es ist nicht besonders sinnvoll, die Auswirkungen zu bekämpfen, die Freier zu bestrafen, die Teppiche nicht zu kaufen, diesen oder jenen Auswuchs zu verbieten. Wir doktern an Symptomen herum und lassen die Krankheit unbehandelt, dieses Krebsgeschwür, an dem die Menschheit leidet. Wir müssen den Hunger bekämpfen, nicht die verzweifelten Versuche, ihm zu entfliehen.

Manchmal frage ich mich, was ich selbst tun würde, wenn ich in einer solchen Lage wäre. Würde ich auch meine Kinder verkaufen und hoffen, dass es ihnen irgendwo anders besser gehen wird als daheim bei mir? Würde ich auch Drogen anpflanzen, wenn mein kleines Feld nicht genügend Gemüse abwürfe? Würde ich meinen ebenso armen Nachbarn bestehlen, um essen zu können? Würde ich zornig werden auf diejenigen, die alles haben, während ich hungere? Würde ich mich Terrororganisationen anschließen? Ich weiß es nicht, ich kann es nicht wissen.

Was würde mir einfallen an schrecklichen Dingen, die mir sicherlich den Magen umdrehten und das Herz zerrissen, und trotzdem würde ich sie tun? Einfach nur, weil ich keine andere Wahl habe?

Ich glaube nicht, dass so viele Väter und Mütter auf der Welt ihre Kinder an Bordelle verkaufen würden, wenn sie irgend eine andere Chance hätten. Wir sollten ihnen diese Chance geben.

Hoffnung Flucht und die Festung Europa


In Afrika legen ganze Dörfer zusammen in ihrer Not, verpfänden ihre Felder und verschulden sich noch mehr, tragen alles zusammen, was sie noch irgendwo zusammenkratzen können, und suchen unter ihren jungen Männern und Frauen, wer die größten Chancen haben könnte, das Ziel zu erreichen. Wer ist am geschicktesten, am mutigsten, am intelligentesten? Wer ist am gesündesten und kann die Strapazen am besten ertragen? Wer wird Hindernisse überwinden, Niederlagen überstehen, nicht aufgeben, niemals, unter keinen Umständen? Wer ist wendig und wird sich zu helfen wissen in aussichtslosen Situationen? Wer kann stolz sein wie ein Baum und sich beugen wie ein Grashalm?

Das ganze Dorf gibt diesem jungen Menschen alles mit, was es eigentlich gar nicht mehr entbehren kann; dazu ihre Gebete, ihre Segenswünsche, ihre Träume und ihre Hoffnungen, wenn dieser junge Mensch sich dann auf den Weg macht nach Europa.

Der Weg ist lang. Er führt über feindliches Stammesgebiet und durch Bürgerkriege. Die jungen Menschen werden überfallen und ausgeraubt, und wenn sie Glück haben, überleben sie, werden nicht in eine Armee gepresst und können weiterziehen. Der Weg führt über Flüsse und Grenzen und durch die große Wüste. Die jungen Menschen hungern, dursten und frieren, sie betteln und arbeiten und stehlen. Sie geben nicht auf, sie können nicht aufgeben, weil die Zukunft ihres ganzen Dorfes an ihnen hängt. Noch einmal wird das Dorf diese Gewaltanstrengung nicht leisten können. Die es schaffen, stehen eines Tages an dem Meer, auf dessen anderer Seite das gelobte Land liegt.

Da stehen sie nun, Schwarze in einem weißen Land, in Marokko oder Algerien. Jeder weiß, woher sie kommen und wohin sie wollen. Sie sind bis ans Meer gelangt, und nun führt ihr Weg nicht weiter. Sie würden tausende von Dollar brauchen für die heimliche Überfahrt auf einem zuverlässigen Schiff. Brüchige Fischerboote, windige Versprechungen und Seelenverkäufer sind etwas billiger. Aber auch dieses Geld haben sie nicht.

Sie schlafen in Erdlöchern im Wald, immer bereit aufzuspringen und wegzurennen, wenn eine Razzia kommt. Sie versuchen der Polizei aus dem Wege zu gehen, die sie abschieben würde, weil ihre Regierung sich mit Europa gut stellen will. Sie versuchen irgendwie das Geld zusammenzukratzen, das sie für eine Überfahrt brauchen. Natürlich werden sie doch erwischt, Schwarze in einem weißen Land. Man nimmt ihnen ihr Geld ab und sie werden abgeschoben über die Landesgrenzen hinaus, auf den Ladeflächen von LKWs in die Wüste gekarrt und dort abgeladen.

Aber sie kehren nicht um, sie gehen nicht zurück. Nein, sie versuchen es noch einmal und wieder und wieder. Alles ist besser, als zurückzukehren und die enttäuschten Hoffnungen, die Verzweiflung auf den vertrauten Gesichtern zu sehen. Die Menschen daheim hatten vorher schon nicht genug zum Leben, und für meine Chance haben sie auch ihr letztes bisschen noch hergegeben. Die alte Mutter hat ihren Esel verkauft und muss jetzt die weiten Wege zu Fuß zurücklegen, das Feuerholz und die Wasserkrüge halbe Tage weit selbst schleppen. Die Schwestern haben ihre Mitgift gegeben und werden nicht heiraten können. Das kann ich jetzt nicht einfach hinwerfen, das geht nicht.

Und Europa macht die Schotten dicht. Wer es auf ein Boot schafft, kann noch nicht wissen, ob das Boot nicht aufgegriffen wird. Wer es schafft, europäischen Boden zu betreten, kann noch nicht sicher sein, ob er nicht in ein Auffanglager kommt und von dort aus abgeschoben wird. Aber wir versuchen es wieder und wieder, denn unsere Mütter daheim hungern, und sie verlassen sich auf uns, und sie haben sonst niemanden. Wir sind ihre einzige Hoffnung.

Neulich habe ich gelesen, dass es in Deutschland zu wenig Kinder gibt und dass mehr Menschen sterben als geboren werden. Ein Politiker sagte dazu: Dieser Bevölkerungsschwund ist durch Zuwanderung nicht auszugleichen. Es hörte sich an, als würden wir überall auf der Welt um Einwanderer betteln, aber es wollte keiner kommen. Wie damals, als wir tausende von Green Cards an indische Programmierer verteilen wollten, aber die indischen Programmierer waren gar nicht interessiert. Dabei stehen die fähigsten jungen Leute Afrikas vor unseren Toren.

Wir haben die Festung Europa verschlossen, wie wir im Mittelalter bei Hungersnöten die Tore unserer Städte verschlossen haben, damit die Bauern der umliegenden Dörfern nicht hineinkonnten. Wir haben sie vor verschlossenen Toren sitzen und verhungern lassen, damit sie uns nicht auch noch auf dem leeren Stadtsäckel lagen.

Aber heute hungern wir nicht. Wir verschließen unsere Tore vor den Hungernden, obwohl wir genug haben. Und obwohl wir mit ein wenig Mühe und gutem Willen dafür sorgen könnten, dass die Alten in Afrika andere Hoffnungen haben, dass sie essen können, dass sie die Besten ihrer Dörfer nicht hinaus in die Ungewissheit schicken müssten. Auf eine Reise, von der sie wissen, dass sie gefährlich ist.

Weit gefährlicher, als es die Überfahrt auf dem Zwischendeck eines Segelschiffes nach Amerika war, damals, zu den Zeiten, als wir in Europa gehungert haben. Damals ist der größere Teil derer, die aufgebrochen sind, auch angekommen.

Wenn sie daheim eine reelle Chance hätten, wenn ihre Mütter nicht verzweifelt wären, dann wären die fähigsten jungen Leute Afrikas ebenso wenig an uns interessiert wie seinerzeit die indischen Programmierer.

Kinder, Kinder, Kinder …

 

Hoffentlich denken Sie jetzt nicht, ich fände es schlecht, wenn Sie Kinder fördern. Ich will auf keinen Fall, dass Sie Ihre Patenschaften, Stipendien und Schulspenden jetzt kündigen! Nein, jedes einzelne Kind, das geboren wird, ist ohne jeden Zweifel ein kostbares kleines Geschenk Gottes und hat es verdient, mit aller Liebe willkommen geheißen und nach besten Kräften gefördert zu werden.

Ich glaube, ich muss mich an dieser Stelle mal outen: Ja, ich habe selbst so ein Patenkind. Ein kleines Mädchen aus Pakistan, von dem ich jedes Jahr ein Foto bekomme und eine Zeichnung, und auch einen Brief, wenn ich selber nicht zu faul bin zu schreiben.

Aber ich habe dieses Patenkind bei einer Organisation, die die Kinder in ihren Familien lässt und das eingenommene Geld für die ganze Dorfgemeinschaft ausgibt. Eine Organisation, die Kinder, Frauen und Männer zusammentrommelt (getrennt) und mit ihnen gemeinsam berät, was man mit dem Geld am sinnvollsten tun solle. Wobei dann nicht nur Brunnen, Erste-Hilfe-Stationen und Kanalisation gewünscht und mit Hilfe der Dorfbewohner realisiert werden, sondern durchaus auch schon mal ein Klettergerüst auf dem Schulhof. Auch das ist wichtig.

Der Präsident Indiens hat in einer Rede an die Jugend seines Landes gesagt: Lasst euch von niemandem einreden, dass ihr unser Problem seid. Ihr seid nicht unser Problem. Nein: Ihr seid unsere Hoffnung, unsere Chance und unsere Zukunft.

Ich fand es schön, dass er das so sagte. Allerdings hätte er auch dazusagen können: Aber nun ist es auch langsam mal genug. Zwei Kinder pro Nase reichen.

In einem Buch, das dem abendländischen Leser die chinesische Weltanschauung nahebringen wollte, habe ich einmal dieses Beispiel gelesen:

Angenommen, ein europäisches und ein chinesisches Ehepaar leben auf einer einsamen Insel im Fluss. Sie haben jeweils ihre beiden Kinder bei sich und ein Paar ihrer Eltern, also die Großeltern ihrer Kinder. Nun hat es sehr heftig geregnet, der Fluss tritt über die Ufer, die Insel steht im Begriff, überschwemmt zu werden. Die Eltern könnten sich schwimmend ans Ufer retten, und jeder von ihnen könnte eine Person mitnehmen. Für wen würden sie sich entscheiden?

Die Abendländer würden selbstverständlich ihre Kinder retten. Kinder sind Hoffnung und Zukunft, Kinder haben das ganze Leben noch vor sich, während die Großeltern ihr Leben hinter sich haben und ohnehin nur noch wenige Jahre leben würden.

Wer Kinder rettet, entscheidet sich für eine größere Anzahl von Lebensjahren.

Die Chinesen würden ebenso selbstverständlich ihre Eltern retten. Eltern sind Weisheit, Erfahrung und Tradition. Kinder kann man neue bekommen, aber Eltern sind unersetzlich, es gibt sie nur ein einziges Mal.

Wir Abendländer haben seit Generationen Kinder gefördert. Wer Spenden sammeln will, setzt als Blickfang ein Kindergesicht mit großen braunen Kulleraugen auf seinen Bettelbrief. Diese Methode, seien wir ehrlich, hat nicht viel gebracht. Je mehr Kinder wir gefördert haben, desto mehr sind geboren worden.

Ich möchte Sie nicht dazu überreden, keine Kinder mehr zu fördern. Aber ich möchte Sie darum bitten, die ganze Situation einmal von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten. Nicht von dem der Kinder, sondern von dem der Großeltern aus. Wir haben uns so viel um die Kinder der Welt gekümmert, und die Alten der Welt haben wir darüber völlig aus den Augen verloren. Haben sie nicht ein Leben lang gearbeitet und sich gemüht? Sind sie unsere Hilfe nicht ebenso wert?

Nehmen wir als Beispiel meine Schwiegermutter. Sie hat ihren Mann in den 60er Jahren durch die Folgen einer Kriegsverletzung verloren. Sie hat nicht wieder geheiratet, sondern die drei Kinder alleine aufgezogen. Das neue Haus, von dem gerade die Grundmauern standen, hat sie mit der Hilfe ihrer Brüder fertig gebaut. Sie hat ein großes Haus und einen großen Garten bestellt, den Verwandten in der Landwirtschaft geholfen und war in ihrer Kirchengemeinde, im Weißen Kreuz und deutschlandweit im Vorstand des christlichen Hausfrauenvereins aktiv. Ihr Keller war voll mit Eingemachtem und selbstgekochter Marmelade. Sie hat ihre Kinder weitgehend aus ihrem Garten und dem Keller ernähren müssen. Ihren Nachbarinnen ist sie so freundschaftlich begegnet, dass eine von ihnen ein Buch darüber geschrieben hat („Vergiß die Rose nicht“).

Mit Ende sechzig hat sie Knochenmarkskrebs bekommen. Würde irgend jemand hingehen und sagen, die Frau braucht keine Rente zu kriegen, sie soll sich selbst unterhalten? Würde irgend jemand wagen hinzugehen und ihr beizubringen, wie man Strümpfe strickt?!

(Hätten Sie meine Schwiegermutter kennengelernt, dann würden Sie das jetzt noch lustiger finden. Sie hatte gelernt, sich durchzusetzen, und konnte bei Bedarf sehr deutlich werden.)

… und Großmütter.


Fragen wir doch Sara in ihrem Slum, was für sie lebensnotwendig wäre!

Sicher hätte sie gerne ein Wellblechdach auf ihrer Hütte, damit es nicht zwei Monate im Jahr ununterbrochen hineinregnet und alles nass ist. Sicher hätte sie gerne einen Boden aus Steinen oder Beton, damit sie nicht im Schlamm schlafen muss. Auch vier Wände wären gut, damit nicht jedes Ungeziefer, jede Ratte ungehindert durch ihre Hütte spazieren kann.

Aber was sie wirklich unbedingt braucht, was unabwendbar nötig ist, ist viel weniger. Das ist eine Handvoll Getreide am Tag und eine Handvoll Hülsenfrüchte, und hin und wieder ein wenig Gemüse. Mehr nicht.

Wenn das gegeben wäre, dann brauchte sie keine Angst mehr vor Alter oder Krankheit zu haben. Dann wäre sie nicht mehr gezwungen, womöglich jedes Jahr ein weiteres Kind zu gebären.

Wenn das für jeden gegeben wäre, dann brauchte keiner mehr seine Kinder in die Sklaverei zu verkaufen. Dann müsste sich nicht mehr die Hoffnung Afrikas auf die lange Wanderung nach Europa machen und die Hoffnung Lateinamerikas auf den Weg in die USA. Dann müsste Europa sich nicht mehr verschanzen und von Patrouillenbooten bewachen lassen. Diese dunkle Wolke aus Angst und Elend, Verzweiflung und Hunger würde sich auflösen, die über der Welt liegt.

Und wenn es nicht heute sein kann, weil wir der Ansicht sind, man dürfe hungernden Menschen nicht einfach Geld in die Hand drücken – warum auch immer, verstanden hab ich das nicht –, dann zumindest als Hoffnung für ihr Alter. Wenn Sara wüsste, dass sie im Alter versorgt sein wird, wie viel leichter würde ihr heute ihr schweres Leben fallen!

Für das gleiche Geld, mit dem man einem Kind aus dem Slum einen Schulplatz sponsert, kann man fünf alten Frauen eine kleine Altersrente zahlen. Und nun stellen Sie sich meine Situation noch einmal vor unter diesen veränderten Bedingungen!

Es gäbe jetzt also in dem Slum, in dem vielleicht zehntausend Menschen leben, für hundert Kinder die Möglichkeit einer anständigen Ausbildung und für fünfhundert Frauen die Aussicht auf eine kleine Altersrente. Nun ist es plötzlich nicht mehr so lebensnotwendig wichtig, auf Teufel komm raus so viele Kinder wie möglich zu bekommen. Solange es nur die hundert Kinder waren, die gefördert wurden, schnellte die Geburtenzahl im Slum hoch. Es wurden noch mehr Kinder zur Welt gebracht als jemals zuvor, und zehn Jahre nach der Eröffnung dieser Schule war das Elend im Slum größer als vorher.

Die neue Schule hat alles in allem die Situation nicht verbessert, sondern verschlechtert.

Jetzt plötzlich gibt es eine Alternative.

Natürlich werden die fünfhundert Frauen, die diese Unterstützung bekommen, diejenigen sein, denen es am schlechtesten geht, die am ältesten, am kranksten sind, die niemanden sonst haben, der sie unterstützen könnte. Nun plötzlich könnte es sogar vorteilhaft sein, wenn man wenige oder gar keine Kinder hat!

Die Frauen werden diese Hoffnung mit Leidenschaft ergreifen. Der Mensch braucht Hoffnung, und eine andere haben sie nicht. Deshalb werden sie sich mit all ihrem Glauben und ihrem Enthusiasmus auf diese stürzen. Es wird gar nicht so lange dauern, bis sie Zutrauen zu dieser neuen Möglichkeit gefasst haben. Und dann wird ein Umdenken im Slum einsetzen. Man wird nicht mehr in ständiger, ununterbrochener Angst vor dem Morgen leben müssen. Es wird am Horizont einen Silberstreifen geben. Man wird Kinder nicht mehr als Vorsorge und Altersversicherung bekommen müssen, und die Geburtenzahlen werden allmählich zurückgehen.

Die ganze Situation im Slum wird lichter. Dem Elend ist die Spitze genommen. Diejenigen, die die größte Not gelitten hatten, können jetzt ein wenig Geld ausgeben. Für die anderen eröffnen sich neue Möglichkeiten, an diesem Geld zu verdienen.

Es ist eine Nachfrage da. Der Markt beginnt den Slum wahrzunehmen und die Menschen in ihm.

Die Frauen werden es sogar fertigbringen, dieses Geld noch mit anderen zu teilen. Von einer Frau, die eine solche minimale Rente bekommt, habe ich gehört, dass sie manchmal auf ihre eine Mahlzeit am Tag verzichtet für das Vergnügen, ihren Enkelkindern eine Süßigkeit schenken zu können.

Wo anfangen?


Ich weiß nicht mehr, wer es gesagt hat: Jeder Mensch, der heute verhungert, ist ermordet worden.

Das kommt Ihnen zu drastisch vor?

Aber unterlassene Hilfeleistung ist auch ein Straftatbestand.

Die Armut ist unser großer gemeinsamer Feind, unsere Herausforderung. Menschen tun schreckliche Dinge aus Hunger. Sie verkrüppeln ihre Kinder, damit sie besser betteln können. Sie bringen ihre Frauen um, um ein zweites Mal Mitgift zu kassieren. Sie leben auf Müllhalden, gebären dort ihre Kinder und sterben auch dort.

Wir stehen in der Pflicht, unsere Mitmenschen nicht einfach verhungern zu lassen. Jeder einzelne Mensch auf der Welt hat das Recht zu essen und muss ernährt werden. Das steht für mich völlig außer Zweifel.

Aber wir können mit unserer Hilfeleistung nicht überall gleichzeitig anfangen. Und deshalb halte ich es ebenso für unsere Pflicht, nicht kopflos unsere übriggebliebenen Pausenbrote nach Indien zu fliegen, sondern bevor wir in Aktion treten sorgfältig zu überlegen, wo wir ansetzen wollen. Wo wir – Sie und ich – mit unseren bescheidenen Mitteln den größten Effekt erzielen, den größten Erfolg haben können. Es wäre einfacher, die Hungernden der Welt zu ernähren, wenn sie sich langsamer vermehren würden. Ich möchte gern meinen Beitrag so einsetzen, dass die Hungernden davon nicht mehr, sondern weniger werden. Ich finde, das sollte eigentlich das Minimalziel sein.

Nun ist die nächste logische Frage die:

Warum bekommen ausgerechnet diejenigen Menschen


so viele Kinder, die sie gar nicht ernähren können? Während bei denjenigen, denen es wirtschaftlich gut geht, die Geburtenzahlen ständig sinken? Und das teilweise so drastisch, dass die armen Länder aus allen Nähten quellen, während die reichen sich allmählich Sorgen um ihre Einwohnerzahlen zu machen beginnen und über Bevölkerungsschwund klagen?

Die Vereinten Nationen wissen es:


Die Hauptursache für eine große Kinderzahl bilden nicht religiöse Motive oder kulturelle Traditionen, sondern die Bedingungen der Armut. Häufig wird verkannt, daß Armut nicht nur eine Folge vieler Kinder ist, sondern bereits eine Ursache bildet, daß viele Kinder geboren werden; daß also eine erfolgversprechende Bevölkerungspolitik bei dieser Ursache ansetzen muß. …

Was kann und müßte getan werden?

Das Aktionsprogramm der Kairoer Weltbevölkerungskonferenz gab zwingende Hinweise, was nationale Regierungen und die internationale Entwicklungspolitik zur wirksamen Eindämmung des Bevölkerungswachstums tun müßten:

  • Die Bekämpfung der Massenarmut und höhere Investitionen in die soziale Entwicklung, was für die Entwicklungspolitik eine gezielte Armutsorientierung bedeuten würde, wie sie auf dem Kopenhagener Weltsozialgipfel (1995) in einem weiteren Aktionsprogramm beschlossen wurde;

  • Die Verbesserung der Bildungschancen und der Gesundheitsfürsorge, vor allem gezielte gesundheitspolitische Maßnahmen zur Verringerung der Kindersterblichkeit;

  • Den flächendeckenden Ausbau von Basisgesundheitsdiensten und Beratungszentren für die Familienplanung zur Sicherung der reproduktiven Gesundheit;

  • Den Ausbau sozialer Sicherungssysteme, die den Zwang vermindern, möglichst viele Kinder zur Alterssicherung in die Welt zu setzen;

  • Vor allem verstärkte Programme zur Frauenförderung, um die soziale Lage und Selbstbestimmung der Frauen zu verbessern, weil Familienplanung nur eine Chance hat, wenn die „Erde in der Hand der Mütter“ liegt;

  • Größere finanzielle Aufwendungen für bevölkerungspolitische Maßnahmen.

Leisinger, Hoffnung als Prinzip, 1993 hält den Abbau patriarchalischer Strukturen und geschlechtsspezifischer Diskriminierungen und die Schaffung von Chancengleichheit für Frauen für eine „prinzipielle Voraussetzung für den Erfolg entwicklungspolitischen Handelns, ohne die auch bevölkerungspolitische Zielsetzungen nicht erreichbar sind – zumindest nicht auf ethisch akzeptablem Weg“. Alle bevölkerungspolitischen Strategien setzen auf die verändernde Rolle und Kraft der Frauen: auf ihr Empowerment.

Nuscheler, Lern- und Arbeitsbuch, Bonn 1996 S. 210 u. 220


Ganz offensichtlich gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem Einkommen einer Familie und der Anzahl ihrer Kinder. Die asiatischen Tigerstaaten haben gezeigt, wie schnell und wie drastisch die Geburtenzahlen reagieren, wenn es einem Land wirtschaftlich besser geht.

Es ist schon die Befürchtung geäußert worden, die Menschheit würde sich noch schneller als jetzt vermehren, wenn die Hungernden zu essen hätten, nicht verhungerten und stattdessen Kinder bekämen. Das ist nicht nur zynisch, es trifft auch zum Glück nicht zu. Diese Sorge können wir also schon mal abhaken.

Ein ganz wesentlicher Faktor für die Geburtenzahlen ist die gesellschaftliche Stellung der Frauen. Wo Frauen verachtet und unterdrückt werden, bekommen sie signifikant mehr Kinder als dort, wo sie geachtet und angesehen sind. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass sie sich im ersteren Fall nur über ihre Kinder definieren, genauer gesagt über ihre Söhne, und nur durch viele Söhne zu Ansehen und ein wenig Einfluss kommen können.

Wir müssen uns also Gedanken darüber machen, wie wir es mit unserem bescheidenen Beitrag am besten hinbekommen, Frauen weltweit zu mehr Ansehen zu verhelfen.

Hier ist die Antwort einfach: Sie müssten wirtschaftlich unabhängig sein. Wo eine Frau kein eigenes Geld hat, geht sie aus den Händen des Vaters in die Hände des Ehemannes über, ohne selbst ein Wort mitreden zu können. Sie ist kein Einkommensfaktor, sondern ein Wirtschaftsgut. Sie wird gekauft und verkauft wie die Kuh oder der Esel. Dabei bleibt es gleich, ob der Vater Geld dafür verlangt, dass er sie aufgezogen hat, oder ob der Bräutigam Geld dafür verlangt, dass er sie in Zukunft ernähren wird.

Die Situation sähe völlig anders aus, wenn sie selbst zum Einkommen beitrüge.

Auch ihre Bildung spielt eine Rolle; Frauen, die eine Schule besucht haben, bekommen weniger Kinder als diejenigen, denen dieses Recht verweigert worden ist. Wobei die Mädchenbildung natürlich wieder mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Ansehen von Frauen eng zusammenhängt. Wo Mädchen als Gebärvieh betrachtet werden, wird man sie nicht zur Schule schicken.

Es sind die Frauen der Welt, die über die Anzahl der Kinder bestimmen. Wer die Explosion der Weltbevölkerung verlangsamen will, muss bei den Frauen ansetzen. Den Vätern scheint es egal zu sein, wie viele kleine Mäuler daheim aufgesperrt warten.

Die einzigen, die sich gegen eine Reduzierung der Geburtenzahlen und gegen Empfängnisverhütung sperren, sind die katholischen Kardinäle und die islamistischen Mullahs. Zwei Männerbünde, wie sie im Buche stehen. Frauen bekommen aus der Not heraus so viele Kinder; aber Männer sind imstande, das zum Prinzip zu erheben.

Dann kommt noch hinzu die Möglichkeit des Zugangs zu Verhütungsmitteln. Aber in diesem Bereich hat man schon sehr viel investiert, und die anderen Faktoren scheinen einen sehr viel stärkeren Einfluss zu haben.

Den wichtigsten Grund für die hohen Geburtenzahlen der Ärmsten habe ich schon genannt: Es ist die Angst vor Alter und Krankheit. Das völlige Fehlen jeglicher Absicherung für Notfälle.

Diese Angst betrifft natürlich im Prinzip Männer und Frauen gleichermaßen. Aber: Die Mehrzahl der Hungernden ist weiblich. Deshalb ist auch die Angst vor Alter und Krankheit vorwiegend weiblich.

Und da es Frauen sind, die über die Anzahl der Kinder bestimmen, ist es für mich der sinnvollste Ansatz der, Frauen diese Angst zu nehmen. Altersrenten für Frauen schlagen mehrere Fliegen mit einer Klappe:

Sie tun etwas gegen den Hunger in der Welt,

sie geben Frauen ihre Würde zurück,

sie nehmen ihnen die Angst vor Altersarmut

und sorgen damit für geringere Geburtenraten.

Mein Traum ist es,


dass jede einzelne der hungernden Frauen der Welt weiß, dass sie versorgt sein wird im Alter, wenn keiner sonst da ist, der für sie sorgt. Dass sie nicht angewiesen sein wird auf Söhne und Enkel, auf Brüder und Neffen, die auch nichts haben und sie verstoßen würden. Dass sie es nicht nötig hat, so viele Kinder zu bekommen wie möglich, als Sicherheit. In der verzweifelten Hoffnung, dass vielleicht eines darunter sein könnte, bei dem sie später einmal wird leben können.

Wenn wir das erreichen könnten – dann hätten wir gleichzeitig auch etwas für das Ansehen von Frauen getan.

Wenn eine Frau in der Zukunft ein Einkommen zu erwarten hat, dann wird man sie heute schon besser behandeln. Dann hat sie eine ganz andere Stellung innerhalb der Familie. Dann muss sie sich nicht mehr über die Anzahl ihrer Söhne definieren. Dann ist sie ein eigener Mensch mit einem eigenen Wert. Dann wird sie mit Ehrerbietung behandelt und es liegt im Interesse ihrer Angehörigen, dass sie ein hohes Alter erreicht. Jeder wird sie bei sich aufnehmen wollen, wenn sie alt geworden ist. Sie wird auf niemanden angewiesen sein; im Gegenteil, sie wird den anderen noch etwas abgeben können.


Und wir?


Die Menschheit kann nicht an einem ihrer Teile so sehr leiden, ohne dass alle anderen davon mitbetroffen wären. Wir können nicht sagen: Das geht uns nichts an. Genauso gut könnte der Kopf sagen: Was interessiert es mich, wenn da unten die Zehen abfaulen?

Da wir vorhin bei der Festung Europa waren: Was kostet es eigentlich, all die hoffnungsvollen Hungerflüchtlinge draußen zu halten? Ich erinnere mich, dass es neulich Zoff in der EU gab, weil Italien und Spanien die Kosten nicht mehr alleine tragen wollten. Sie waren der Ansicht, wenn sie im Interesse der gesamten EU das Mittelmeer „sauber“ halten, dann sollte sich auch die ganze EU finanziell beteiligen.

Es sind also wohl mehr als ein paar Mark fuffzig. Mehr als der Esel einer alten Frau und die Aussteuer ihrer Töchter.

Der Unterschied ist: Wir haben’s. Aber statt es für die Behandlung der Krankheit auszugeben, verwenden wir es für die Bekämpfung der Symptome. Wir bekämpfen Zwangsprostitution, Kinderarbeit, Menschenhandel. Wir geben Geld für die Bekämpfung der Symptome aus, mit dem wir sehr viel gegen die Krankheit tun könnten. Und solange wir nichts gegen die Krankheit selbst tun, ist all das Geld sinnlos aus dem Fenster geworfen.

Aber wir zahlen noch in anderer Hinsicht drauf.


All die Hungernden der Welt suchen tagein, tagaus nach einer Möglichkeit, ein paar Cent irgendwo zu verdienen. Sie unterbieten sich gegenseitig in ihren Lohnforderungen. Wenn der Nachbar hungert, kann ein Tagelöhner nicht das Geld verlangen, das er eigentlich haben müsste, um seine Familie zu ernähren. Der Nachbar wartet nur darauf, dass sein Job frei wird. Und wenn der Landarbeiter nur ein paar Cent bekommt, kann der Fabrikarbeiter nicht mehr verlangen. Es stehen genug andere auf der Schwelle, die seine Arbeit übernehmen würden. Es wäre utopisch, wenn er unter diesen Umständen eine Gewerkschaft gründen, Forderungen stellen und streiken wollte. Er wäre seinen Arbeitsplatz los, bevor er seine Forderungen auch nur formuliert hätte. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zähneknirschend seinen mageren Lohn entgegenzunehmen. Und wenn er den vereinbarten Lohn gar nicht bekommt, dann kann er auch nichts dagegen tun.

Nun wäre der Fabrikant ja blöd, wenn er das nicht ausnutzen würde. Alle anderen tun es schließlich auch. Warum sollte irgendjemand einen Lohn zahlen, von dem ein Mensch leben kann, wenn dieser Mensch auch für weniger arbeitet? Ein Siebtel der Menschheit ist eine einzige riesige Ersatzarmee von hungernden Arbeitslosen. Wie sollten wir davon unbeeinflusst bleiben?

Und so stehen wir da und müssen hilflos zusehen, wie die Massenfertigung von immer mehr Waren immer weiter in Billiglohnländer zieht. Einfache Arbeit für ungelernte Menschen ist in Deutschland kaum noch zu bekommen. Früher hat sich doch keiner darüber aufgeregt, dass zu viele junge Menschen unzureichende Schulabschlüsse haben! Es hat auch für sie immer irgendeine Arbeit gegeben, von der sie haben leben können. Das ist jetzt nicht mehr so. Jetzt wissen unsere Hauptschüler, dass sie keine Chance haben, und wenn sie sich dementsprechend benehmen, dann wundern wir uns.

Mindestlöhne


Mindestlöhne sind eine schöne Sache, aber sie brauchen nicht unbedingt gesetzlich festgeschrieben zu werden. De facto regeln sie sich auch selbst. Und zwar ist der Netto-Mindestlohn in jedem Land so hoch wie die jeweilige Sozialhilfe. Darunter wird keiner arbeiten; warum sollte er auch.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks mit seinem Recht auf Arbeit haben die osteuropäischen Länder wie Bulgarien und Rumänien eine relativ hohe Sozialhilfe eingeführt; entsprechend ist dort jetzt auch das Lohngefüge auf einem relativ hohen Niveau. Die Länder der ehemaligen Sowjetunion, wie Russland, haben sich für eine relativ niedrige Sozialhilfe entschieden; dort ist jetzt auch das Lohnniveau relativ niedrig. Dafür ist allerdings die Arbeitslosenquote in Bulgarien und Rumänien höher; aber diejenigen Menschen, die Arbeit haben, verdienen so viel, dass genug Abgaben reinkommen, um diese hohe Sozialhilfe auch bezahlen zu können. Zumindest habe ich das folgende Zitat so verstanden:

… Auch fungierten passive und aktive Arbeitsmarktpolitiken, Sozialhilfe, Behindertenrenten, Krankengeld u.ä. abgabenfinanzierten Sozialleistungen in den Transformationsländern als de facto-Mindestlöhne und begrenzten die Lohnspreizung nach unten. Insbesondere boten einige MOE- [Mittel- und osteuropäische Länder] -Sozialsysteme Personen mit niedrigen Einkommen, wie etwa ungelernten Arbeitskräften, einen relativ hohen Lohnersatz. Im Gegensatz vor allem zu den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, in denen eine hohe Lohnflexibilität nach unten die Beschäftigungsverluste dämpfte und die Arbeitskräfte ihre Reproduktion durch die Partizipation an fortbestehenden Sozialleistungen der Betriebe und zunehmende Beschäftigung im informellen Sektor sicherten, wurden in MOE in der Transformation stärker Arbeitskräfte freigesetzt und von den sozialen Sicherungssystemen „aufgefangen“. Im Ergebnis haben diese institutionellen Arrangements in der besonderen Transformationssituation gerade die notwendige Reallokation der Arbeitskräfte in MOE sozial ermöglicht, während die Niedriglohnpolitik in der ehemaligen Sowjetunion – Russlands Arbeitsmarkt etwa wurde häufig als „neoclassical dream“ bzw. „the example of a flexible labor market“ bezeichnet – die Restrukturierungen behinderte und zu einem kombinierten Rückgang von Produktion, Beschäftigung und Arbeitsproduktivität geführt hat.

Dipl.-Pol Anne Schüttpelz, Von den Zielen weit entfernt; Forum Wissenschaft 1/2007


Und vermutlich helfen sich die Menschen in Russland mit Schwarzarbeit und Kriminalität über die Runden.

In Deutschland beträgt also der De-facto-Mindestlohn 345 Euro plus Miete netto. (Falls Sie übrigens der Ansicht sind, von 345 Euro im Monat könne man bequem leben, dann ziehen Sie doch mal Ihre Kosten für Strom, Telefon, Versicherungen und dergleichen davon ab und schauen, was dann noch übrig bleibt.) Das also wäre der Nettolohn, der in Deutschland nicht unterschritten würde – wenn nicht die Hartz-Reformen eine Kombination aus Arbeitslohn und Sozialleistungen „fordern und fördern“ würden..

Nun ist in anderen Ländern der EU die Sozialhilfe anders geregelt, die Lebenshaltungskosten sind teilweise kaum miteinander zu vergleichen, auch über die Frage, was lebensnotwendig ist, gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Manch einem mag ein solcher Lohn wie der in Deutschland als sehr verlockend erscheinen. Das aber nur, solange er in einem Land mit niedrigen Lebenshaltungskosten davon hört; wenn er hier ist und hier von diesem Geld leben soll, dann sieht das schon wieder anders aus.

Sobald wir aber aus Europa herauskommen, sind die Grundvoraussetzungen ganz andere. Die Hungernden der Welt leben in Ländern, in denen es so was wie Sozialhilfe schlichtweg nicht gibt. Und insofern auch keine informellen Mindestlöhne. De facto ist der Mindestlohn in diesen Ländern: gar nichts. Draufzahlen würde keiner, um einen Arbeitsplatz zu haben, aber darüber ist alles möglich.

Kein Wunder, dass uns das in Europa in die Bredouille bringt.

Nun gibt es an diesem Punkt zwei praktikable Möglichkeiten: Entweder es kriegen alle auf der Welt Sozialhilfe, oder wir verzichten alle darauf. Im ersten Fall würden die Löhne weltweit steigen und alle hätten zu essen, im zweiten Fall würden sie sinken.

Ich wäre ja für die erste Möglichkeit. Lohndumping, Preisdumping und Sozialdumping müssen nicht zwangsläufig eine Spirale nach unten bilden. Wir könnten die Entwicklung auch umkehren.

Unsere Politiker scheinen zur Zeit die zweite Möglichkeit vorzuziehen. In ihrem Bestreben, Investitionen in ihre jeweiligen Länder zu locken, setzen sie auf niedrige Sozialabgaben und möglichst gute Bedingungen für Wirtschaftsunternehmen. Auch die Entwicklungshilfe geht davon aus, Industrialisierung in armen Ländern voranzutreiben in der Hoffnung, dass etwas von dem Geld auch zu den Ärmsten durchsickern wird. Aber dieses Prinzip verfolgt man jetzt seit 50 Jahren, und es ist in viel zu vielen Ländern noch nichts gesickert gekommen.

Allmählich könnte man mal auf den Gedanken kommen, ein anderes Prinzip auszuprobieren.

Grundsicherung – für wen?


Der Spruch „gib den Menschen keinen Fisch, sondern zeig ihnen, wie man angelt“ heißt ja im Klartext: Wir sollten den Hungernden nicht einfach das Geld für ihren Lebensunterhalt geben, sondern eine Möglichkeit, sich dieses Geld selbst zu verdienen.

Nun gibt es aber Menschen, die nicht in der Lage sind, sich ihren Unterhalt selbst zu verdienen. Nicht nur weltweit, sondern auch hier bei uns.

Wir geben Alten ihre Rente, Kranken das Krankengeld. Wir zahlen selbstverständlich Unterstützung für Invalide, Arbeitslose und Behinderte. Wir versorgen Kinder und Jugendliche, die niemanden haben, der für sie sorgt. Hier bei uns finden wir das völlig selbstverständlich und normal. Warum sollte es weltweit anders sein?

Kinder sind die Zukunft der Welt. Jedes einzelne Kind ist ein potenzieller Einstein oder Gandhi. Jedes ist auf seine eigene Art wertvoll und unersetzlich.

Ein Kind, das jahrelang unter Hunger gelitten hat, ist in seiner Entwicklung zurückgeblieben und kann das niemals im Leben wieder aufholen. Diese Kinder werden niemals zu vollwertigen Mitgliedern der arbeitenden Bevölkerung heranwachsen. Ihr Körperbau und ihre Intelligenz werden ihr Leben lang hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. Sie werden weder eine qualifizierte Arbeitsstelle ausfüllen können, noch werden sie für die Förderung durch einen Mikrokredit jemals in Frage kommen. Das äußerste, worauf sie hoffen können, ist ein einfacher, unqualifizierter, schlecht bezahlter Job als Handlanger.

Wir hätten diesem Kind lieber rechtzeitig einen Fisch geben sollen.

Die Alten der Welt haben sich jahrzehntelang gemüht. Sie haben sich abgearbeitet, gerackert und geschuftet, meinetwegen auch gebettelt und gestohlen. Da halte ich es mit dem Bischof, den die Kölner nach Kriegsende hatten, der meinte, dass Mundraub besser sei als der Hungertod. Ich bin mir sicher, dass dieser Bischof da im Sinne seines Chefs gesprochen hat.

Sollen wir den Menschen, die zu alt zum Angeln sind, nicht einen brüderlichen Fisch hinüberreichen?

Und was ist mit den Arbeitslosen? Bei uns bekommen sie Geld, aber woanders auf der Welt, wo ihre Lage zudem noch viel schwieriger ist als bei uns, da sollen sie hungern? Bei uns hat man als Arbeitsloser ein Recht auf das Existenzminimum, aber woanders werden Menschen faul, wenn man ihnen Geld gibt?

Das kann doch wohl nicht Euer Ernst sein.

Eine Handvoll Getreide, eine Handvoll Hülsenfrüchte.


Nun werden Sie sich fragen: Was kostet das eigentlich?

Ich spende für eine indische Organisation, die Witwen mit einer kleinen Rente für das Lebensminimum unterstützt. Ich werde sie Ihnen später noch als Beispiel vorstellen. Diese Witwen bekommen monatlich 300 Rupies, das reicht für eine einfache vegetarische Mahlzeit am Tag; und das sind umgerechnet sechs Dollar, zur Zeit gut fünf Euro. Vermutlich werden die Preise für Grundnahrungsmittel sich in anderen Hungerländern im ähnlichen Bereich bewegen. Mehr als ein Drittel der Hungernden sind Kinder. Wenn ich mal für Kinder den halben Satz annehme, also drei Dollar im Monat, dann sind das durchschnittlich etwa vier Euro pro Monat und Nase. Um allen 850 Millionen Hungernden der Welt ein minimales Grundeinkommen zu ermöglichen, müssten also die 850 Millionen Reichsten monatlich vier Euro bezahlen. Die Milliarden von Menschen, die sich schlecht und recht durchs Leben schlagen, blieben in dieser Rechnung unbehelligt. Es kann mir doch keiner erzählen, dass das zu viel ist. Vier Euro im Monat, das sind nicht wirklich erschreckende Zahlen. Und zum einen ist es die einzig wirklich effektive Methode, die Krankheit Hunger endgültig zu besiegen, nachdem jeder Angelunterricht an den Bedürftigsten vorbeigeht und der Markt sich keinen Deut für sie interessiert. Zum anderen würde es die Weltwirtschaft nachhaltig und in einem nie gekannten Ausmaß ankurbeln, wenn so viele Konsumenten hinzukämen. Unsere vier Euro im Monat würde kein Einzelhändler in Deutschland wirklich vermissen, aber die 300 Rupies für Sara im Slum würden einen ganz gewaltigen, deutlich spürbaren Unterschied machen.

Sie werden mir jetzt erzählen, die Existenzsicherung seiner Bürger sei die Angelegenheit jedes einzelnen Staates. Meine Lieben – wo steht das? Auf den Steintafeln, die Moses vom Berg herunterbrachte?

Das ist rein zufällig hierzulande so, und auch das erst seit gut hundert Jahren. Naturgesetz ist das keines. Irgendwann in den Gründerjahren setzte sich in Deutschland mal die Theorie durch, dass es das einzige Ziel der Wirtschaft sei, möglichst viel Profit zu machen, und dass der Staat für die daraus entstehenden sozialen Probleme verantwortlich sei. Davor hatte die Fürsorge für ihre Mitglieder, für die Witwen und Waisen der Handwerker bei den Zünften gelegen. Für die übrigen Armen waren die Gemeinden zuständig gewesen. Herrschte eine Hungersnot im Lande, dann verschlossen die Gemeinden ihre Tore und ließen einfach niemanden mehr herein; wer draußen blieb, mochte verhungern.

Heute hat unser Staat die Verantwortung für all seine Bürger übernommen. Naturgesetz, wie gesagt, ist das keines. Es standen seinerzeit auch andere Theorien zur Auswahl. Und nur weil wir uns in Deutschland einmal für diese entschieden haben, heißt das weder, dass sie richtig ist, noch, dass sie auch für andere Länder anwendbar sei. Man könnte sogar meinen, dass diese Theorie nur so lange funktionierte, wie auch die Wirtschaft an Ländergrenzen gebunden war, und dass es jetzt bei der globalisierten Wirtschaft auch eine globale Sozialfürsorge braucht.

Jedenfalls sind alle anderen Möglichkeiten nicht mehr und nicht weniger denkbar, nicht mehr und nicht weniger legitim, und was praktikabel ist und was nicht, das käme auf einen Versuch an.

Innerhalb der EU sollen keine Tore mehr vor irgendjemandem verschlossen werden. Ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Diesem ersten Schritt, den die EU jetzt geht, müssten weitere Schritte folgen.

Dabei ist es nicht nötig, die Hungernden der Welt reinzulassen und ihnen hier Sozialhilfe zu geben. Es kommt uns wesentlich billiger, sie da zu versorgen, wo sie sind. So sehr ich es auch begrüße, wenn Menschen aus aller Welt unsere Gesellschaft bunter machen, so kann ich doch gut verstehen, wenn jemand lieber da bleibt, wo er ist.

Aber Tatsache ist auch: Die Staaten, in denen die Hungernden leben, können sich eine solche Existenzsicherung aus ihrem eigenen Haushalt nicht leisten. Sie krabbeln sich selbst mit Mühe und Not über die Runden.

Diese armen kleinen Staaten werden von einer Schuldenlast gedrückt. Sie können kaum in ihre Infrastruktur investieren, weil der Großteil der Einnahmen sofort wieder an die Weltbank geht. Da haben sie vor Jahren, als es Mode war, große Projekte zu fördern und große Kredite zu vergeben, zum Höchstzins Geld geliehen.

Ich habe selbst eine Eigentumswohnung, für die ich nur einen minimalen Prozentsatz selbst angezahlt habe. Der Rest kam von der Bank, zum Glück in einer Phase mit niedrigen Zinsen. Trotzdem wird die Bank am Schluss dreieinhalb Mal so viel Geld von mir bekommen haben wie ich von ihr.

Ebenso geht es den kleinen Staaten. Natürlich ist es auch wahr, dass sie das Geld nicht immer sinnvoll investiert haben. Manche Regierung hat sich erstmal privat saniert. Das Geld ist weg, auf Schweizer Nummernkonten verschwunden; und die Bürger sind es, die jetzt Jahr für Jahr die Zinsen dafür aufbringen müssen. Andere Länder haben mit ihren ebenso kleinen, ebenso armen Nachbarländern Wettrüsten veranstaltet, nach dem Vorbild der großen. Und kein Land, das jemals der Nato oder dem Warschauer Pakt angehört hat, hat das Recht, sie dafür zu verurteilen. Und schon gar nicht die unschuldigen Bürger. Und ganz bestimmt nicht zum Tode durch Verhungern.

Ein Sozialsystem, wie wir es haben, ist von diesen Ländern nicht zu erwarten. Sie haben schlichtweg das Geld dafür nicht, so einfach ist das. Wenn es diesen Staaten besser ginge, wenn es mehr Arbeit gäbe – aber bis der Staat eine Fischereiflotte aufgebaut hat, können die Menschen nicht warten. Sie brauchen ihren Fisch heute.

In Deutschland haben wir in unseren Sozialsystemen de facto ein heilloses Kuddelmuddel. Das Wohngeld wird von den Gemeinden gezahlt, Arbeitslose und Rentner leben im Prinzip von den Versicherungsbeiträgen, die Versicherungen wieder bekommen Zuschüsse vom Staat. Als man die Sozialhilfe, die in der Verantwortung der Gemeinden liegt, teilweise mit der Arbeitslosenhilfe zusammenlegte, brach vorübergehend völliges Chaos aus. Es werden also neue Möglichkeiten ausprobiert, es sind alle möglichen Kombinationen denkbar, alles wird diskutiert.

Genauso gut könnte man darüber nachdenken, die Existenzsicherung für die Hungernden der Welt in die Hände der Vereinten Nationen zu legen. Dass dafür Nationalstaaten zuständig seien, das ist nirgends als eherne Wahrheit unverrückbar einzementiert. Ich finde, wir sollten auch diese Möglichkeit diskutieren:

Die Reichsten der Welt spenden einen minimalen Monatsbeitrag, den die Vereinten Nationen verteilen. Die Hungernden der Welt haben zu essen. Arbeiter können sich zusammenschließen, Gewerkschaften bilden; die Löhne steigen, wie in China, so auch bei uns. Frauen werden nicht mehr wie Vieh behandelt, Kinder können zur Schule gehen. Alle haben etwas davon, und keinem tut es wirklich weh. Sagen Sie selbst, ist das nicht eine Lösung von atemberaubender Einfachheit und Brillanz? Eine win-win-Situation, wie sie im Buche steht? Ich muss zugeben, ich bin ein bisschen stolz darauf.

Zumindest auf den theoretischen Teil.

In der Praxis


sieht wie immer alles ganz anders aus. Eine solche Umstrukturierung kostet sehr viel Zeit, und Zeit ist das, was die Hungernden von heute nicht haben, wenn sie noch zu den Lebenden von morgen zählen wollen.

Der Artikel 28 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ fordert eine internationale Sozialordnung.

Dieser Artikel wurde beschlossen und verabschiedet am 16. Dezember 1966. „Verabschiedet“ heißt in diesem Fall, dass der Artikel seitdem gilt. Eine internationale Sozialordnung ist ein seit über 50 Jahren anerkanntes Menschenrecht. Man hat nur noch nichts davon bemerkt.

Die Vereinten Nationen haben 1994, nach dem Ende des Kalten Krieges, die Einrichtung eines Weltsozialfonds vorgeschlagen. Sie meinten, man brauche doch nun nicht mehr so hohe Rüstungsausgaben. Wenn die Verteidigungshaushalte nur um drei Prozent zurückgefahren würden und das eingesparte Geld in einen solchen Fonds flösse, kämen jährlich etwa 90 Milliarden Dollar zusammen. Das hätte ausgereicht, dass kein Mensch auf der Welt mehr hätte hungern müssen.

Die schlechte Nachricht ist: Es hat nicht stattgefunden. Die gute Nachricht ist: Die Vereinten Nationen sehen die Notwendigkeit und sind bereit, sich zu engagieren. Sie müssten nur noch das Geld für ihren Sozialfonds bekommen.

Also ist die Frage eigentlich nur noch, woher das nötige Geld kommen soll.

2005 haben die G7 beschlossen, ihre Entwicklungshilfebudgets bis 2010 um 50 Milliarden jährlich aufzustocken (zu dem Zeitpunkt standen Euro und Dollar noch näher beieinander). Auch dieses Geld würde reichen, damit für jeden der Hungernden eine Handvoll Getreide und eine Handvoll Hülsenfrüchte täglich im Sozialfonds wären. Es würde nur nicht außerdem noch für die Gehälter derjenigen reichen, die das Geld verteilen würden. Aber ich bin sicher, dass es genug vertrauenswürdige Organisationen gibt, die diese Aufgabe mit Begeisterung übernehmen würden.

In Deutschland hat man ja die Arbeitgeber für die Sozialausgaben mit in die Pflicht genommen, sie bezahlen die Arbeitgeberanteile der Sozialversicherungen. Was den Nachteil hat, dass es oft billiger ist, eine neue Produktionsanlage zu kaufen und stattdessen Arbeiter zu entlassen. Und es nützt denjenigen nichts, die erst gar keine sozialversicherungspflichtige Arbeit haben.

Ich bezweifle, dass ein vergleichbares Modell sich international so ohne weiteren Widerstand durchsetzen ließe. Obwohl man sich andererseits natürlich schon fragt, warum internationale Konzerne in Deutschland zur Sozialversicherung beitragen müssen und woanders nicht.

Vielleicht wäre es aber auch an der Zeit, sich ein anderes Modell auszudenken, in dem die Sozialabgaben nicht mehr nach den Arbeitskräften bemessen werden, sondern nach etwas anderem. Der Energieverbrauch wäre da beispielsweise eine Möglichkeit. So hätte man gleichzeitig etwas gegen die Erderwärmung getan.

Andere haben vorgeschlagen, die Spekulation mit Devisen zu besteuern. Erinnern Sie sich an den jungen Engländer, der mit solchen Spekulationen eine ganze altehrwürdige englische Bank in den Bankrott getrieben hat? Das Gleiche kann armen Ländern auch passieren. Diese sogenannte Tobin-Steuer (nach dem Erfinder) könnte da den Übermut ein wenig dämpfen. Und die Spekulation mit Lebensmitteln hat sicher nicht dazu beigetragen, dass Bohnen und Reis weltweit billiger werden; hier könnte man gut eine Hungernden-Steuer einführen.

Es könnte allerdings sein, dass diejenigen, die von den heutigen Hungerlöhnen profitieren, zunächst gar nicht so besonders begeistert von der Idee sind, das allgemeine Niveau etwas anzuheben, und erst später bemerken, dass sie von den neuen Konsumenten mehr profitieren als von den alten Billiglöhnen.

Da wäre Überzeugungsarbeit zu leisten. Schreiben Sie Briefe und E-Mails! Machen Sie Ihrem Abgeordneten klar, dass Sie nicht nur an sich selbst denken, sondern auch an Ihre Mitmenschen! Schreiben Sie Leserbriefe, diskutieren Sie mit Ihrem Kaffeekränzchen und Ihrem Stammtisch!

Sicher wissen unsere Politiker, dass der Hunger der Welt uns nicht unberührt auf einer Insel der Seligen lässt. Dass die extreme Armut der Nährboden ist für Krieg und Terrorismus, für Drogenhandel und Kriminalität. Natürlich wollen Politiker gerne etwas Sinnvolles tun. Vor allem aber wollen sie wiedergewählt werden. Wenn sie den Eindruck haben, dass hohe Ausgaben für andere Länder in der Bevölkerung nicht gut ankommen, dann werden sie diese Ausgaben vermeiden und lieber die unvermeidlichen Folgekosten der nächsten Generation hinterlassen. Also sollten wir ihnen klar machen, dass uns die Ernährung der Hungernden dieses Geld wert ist, dass wir es sehr schätzen würden, wenn sich da etwas bewegt.

Und weil Staaten so lange brauchen, so sehr viel länger, als die Hungernden warten können, deshalb möchte ich weiter vorschlagen: Lassen Sie uns doch einfach schon mal anfangen. Wir, die Menschen, können unser Mögliches tun, und die Politik kann uns dann folgen.

Und damit sich niemand auf der Welt schlecht fühlen muss, wenn ihm so von oben nach unten Almosen hinabgereicht werden wie einem Bettler vor der Kirchentür, sollten wir solidarische Bündnisse schließen.

Kirchen


haben in Teilen Afrikas begonnen, solche Renten auszuzahlen, wie ich sie Ihnen vorschlagen möchte. Religionsgemeinschaften aller Art könnten sich zusammenschließen. Ein Almosen ist immer ein wenig herabsetzend, aber eine Gabe von einem Mitgläubigen welcher Religion auch immer, einem „Mitpilger auf dem Weg zu Gott“, wie der Erzbischof von Trivandrum es ausdrückte, ist etwas anderes. Eine solche Gabe kann man als Geschenk Gottes entgegennehmen, ohne sich seinen Mitmenschen gegenüber im geringsten herabgesetzt fühlen zu müssen.

Wenn Sie einer Kirche angehören, erkundigen Sie sich! Regen Sie Partnerschaften an, spenden Sie gezielt!

Arbeiter können Arbeitern helfen.


Was die Gewerkschaften tun, ist mir nicht ganz klar. Man könnte meinen, sie haben die Globalisierung verschlafen. Auf mich wirkt es, als hätten sie nur ihre nationalen Mitglieder und deren Interessen im Auge.

Als könnte es den deutschen Textilarbeitern egal sein, was eine Näherin in China verdient! Als würden nicht die Metaller in Polen gegen die in Deutschland ganz offen ausgespielt!

Als in Deutschland die alten Zünfte von der Industrialisierung verdrängt wurden, als die neue Schicht der Industriearbeiter entstand, die nirgends und von niemandem abgesichert war in den Wechselfällen des neuen Berufslebens, da waren es die Arbeiter selbst, die sich organisierten. Sie bauten Unterstützungskassen auf und versicherten sich praktisch gegenseitig. Die heutigen Sozialversicherungen sind aus diesen Anfängen entstanden. Die heutigen Gewerkschaften sind Relikte aus dieser Zeit. In ihren Archiven müssten sich so viele sinnvolle, praktikable Ansätze finden lassen. Statt um ein paar Prozentpunkte hinterm Komma zu feilschen, könnten sie in der neuen globalen Wirtschaftswelt wieder richtig sinnvoll und nützlich sein.

Stellen Sie sich vor, dass die Arbeiter der Welt wieder sich organisieren, wieder Unterstützungskassen bilden, diesmal im weltweiten Maßstab! Und dass wieder Sozialsysteme daraus entstehen und kein Mensch auf der Welt mehr Angst vor Hunger haben muss.

Und überall auf der Welt könnten Menschen ihre Rechte einfordern. Kinder könnten ihr Recht auf Schulbildung einfordern, weil die Familie nicht mehr auf ihre Arbeitskraft angewiesen ist. Frauen könnten sich scheiden lassen und müssten nicht mehr in den Selbstmord flüchten als einzigen Ausweg aus unerträglichen Verhältnissen. Arbeiter könnten sich zusammenschließen und für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne kämpfen.

Die Löhne würden steigen. Billiglohnländer wären etwas weniger billig; zum Ausgleich dafür würden sie nun auch als Käufer interessant. Es gäbe weltweit mehr Nachfrage nach allem möglichen. Es müsste mehr produziert werden. Die Löhne würden noch weiter steigen …

Die Lohnentwicklung befindet sich zur Zeit in einer Spirale nach unten. Es bräuchte so wenig, diese Entwicklung umzukehren: eine Handvoll Getreide und eine Handvoll Hülsenfrüchte.

Da scheinen mir noch viele Handlungsmöglichkeiten völlig ungenutzt brachzuliegen. Ergreift sie, Genossen. Wo bleibt die vielgerühmte internationale Solidarität?

Vor allem aber möchte ich Frauen bitten, Frauen zu helfen.


Liebe Frauen. Niemand ist so hilfsbereit wie Ihr. Es ist schön, dass Euch die Kinder der Welt so sehr zu Herzen gehen. Aber – bitte, vergesst Sara in ihrem Slum nicht! Sie ist ebenso auf Euch angewiesen wie irgendein Kind.

Vielleicht hat sie nicht so treuherzige braune Kulleraugen. Vielleicht sieht sie schon ein bisschen verbraucht und verhärmt aus. Wahrscheinlich ist sie keine Schönheit. Aber sie braucht Euch. Von den 850 Millionen Hungernden unserer Welt sind ein Drittel Kinder. Die meisten von ihnen sind weiblich. Die wenigsten werden alt.

Wenn wir es schaffen, dass es für diese wenigen alten Frauen eine Perspektive gibt, dann haben wir viel erreicht. Ich bin davon überzeugt: Wenn – rein rechnerisch – jede erwachsene Deutsche fünf Euro im Monat für die ältesten Frauen unter den Hungernden spenden würde, wir würden die Auswirkungen auf die Explosion der Weltbevölkerung noch zu unseren Lebzeiten spüren können.

Und damit hätten wir viel, sehr viel für die Kinder getan. Dann könnten Kinder deshalb geboren werden, weil sie gewünscht sind. Dann könnten Kinder nur dann geboren werden, wenn auch etwas zu essen für sie im Topf ist.

Ein kleines indisches Mädchen würde auch dann einen Ehemann finden, wenn ihm die Finger der rechten Hand fehlen. Eine Mutter in Afrika brauchte nicht ihren Esel zu verkaufen und die Mitgift ihrer Töchter, um das begabteste ihrer Kinder auf den langen Weg nach Europa zu schicken, über zehntausende von Kilometern hinweg; obwohl sie genau weiß, dass man von den wenigsten, die sich auf diesen Weg gemacht haben, jemals wieder etwas gehört hat; obwohl es ihr das Herz zerreißt, ihr Kind fortgehen zu sehen.

Sara könnte ruhig schlafen, wenn sie an ihr Alter denkt. Sie könnte stolz und würdevoll durch ihr mühseliges Leben gehen. Und ich lasse mich dafür auch gerne eine Utopistin nennen. Bitte, spenden Sie weiter für ein Patenkind, für einen Platz in einer Schule, einem Waisenhaus oder Kinderdorf! Es ist sehr wichtig, dass gut ausgebildete junge Menschen in den armen Ländern der Welt die vielen wichtigen Aufgaben anpacken können.

Aber denken Sie auch daran, dass für jedes Kind, das auf diese Weise unterstützt wird, zehn zusätzliche geboren werden, die niemals eine Chance bekommen. Seien Sie noch ein wenig großherziger und spenden Sie einen zusätzlichen kleinen Betrag für eine Altersrente, damit zehn zusätzliche Kinder weniger geboren werden und es allen nachher besser geht als vorher.

Frauen machen weltweit zwei Drittel der Arbeit …


„Wir müssen immer noch doppelt so viel arbeiten wie Männer, wenn wir genauso viel verdienen wollen“, sagte eine Bekannte. Und sie fügte hinzu: „Aber das fällt uns auch nicht schwer.“


Tagesablauf von Männern und Frauen:


Sie steht als erste auf und macht Feuer

Sie stillt das Baby

Sie bereitet das Frühstück vor

Er steht auf, wenn das Frühstück bereitsteht

Sie wäscht die Kinder und zieht sie an

Er isst

Sie isst

Sie geht einen km zum Wasserholen und zurück

Er geht einen km zum Feld

Sie füttert und tränkt das Vieh, spült das Kochgeschirr usw.

Er arbeitet auf dem Feld

Sie geht wieder einen km zum Wasserholen und zurück

Sie wäscht die Wäsche

Sie stillt das Baby

Sie geht einen km zum Feld, um ihrem Mann das Essen zu bringen

Er isst, nachdem sie mit dem Essen eingetroffen ist

Sie geht einen km nach Hause

Sie geht zu ihrem Feld

Sie jätet dort das Unkraut

Er arbeitet auf dem Feld

Sie stillt das Baby

Sie sammelt Feuerholz

Sie geht einen km nach Hause

Sie stampft Mais

Er geht einen km nach Hause

Sie geht einen km zum Wasserholen und zurück

Er ruht sich aus

Sie macht Feuer

Sie bereitet das Essen und isst

Er isst

Sie stillt das Baby

Er geht, um andere Männer zu treffen

Sie räumt auf

Er geht ins Bett

Sie geht zuletzt ins Bett


Quelle: Weltbevölkerungsbericht 1995, zitiert nach: Franz Nuscheler, Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik, Bonn 1996


Wussten Sie, dass Frauen weltweit fast die Hälfte der Lebensmittel produzieren? Wenn man bedenkt, dass die großen Agrarunternehmen weitgehend in männlicher Hand sind, ist das eine ganz außerordentliche Zahl. Männer bestellen die Felder mit den Früchten, die für den Verkauf bestimmt sind; Frauen bauen das an, was die Familie selbst isst. Die Zustände verändern sich von schlimm zu katastrophal, wo man Frauen ihre kleinen Gärtchen fortnimmt. Und nebenbei ziehen sie Kinder auf, holen Wasser und Feuerholz oft kilometerweit her, kochen und waschen.

„Die afrikanische Frau ist der Mut selbst, sie bringt die Dinge in Bewegung, sie nimmt ihr Leben in die Hand, läßt sich durch nichts von ihrer Arbeit abbringen und führt diese zu Ende. Aber in den Sphären der Macht setzt man kaum auf sie.“

Esther Kamatari, Prinzessin der Waisen, München 2003, S. 225

… verdienen ein Zehntel des Einkommens …


Diese Fähigkeit der Frauen, Dinge in die Hand zu nehmen, hat ihnen in den Industrieländern inzwischen zu einer regen Beteiligung am Wirtschaftsleben verholfen. Nach offiziellen Statistiken verdienen Frauen in Deutschland fast 90 Prozent von dem, was Männer in vergleichbaren Positionen bekommen. Nur dass die vergleichbaren Positionen mit den ganz hohen Gehältern nach wie vor in männlicher Hand sind. So dass auch diese Frauen wieder weniger Rente bekommen werden als die Männer. Auch in Deutschland ist Altersarmut weiblich.

Wir haben es doch bei unseren eigenen Müttern und Großmüttern erlebt:

Sie haben ihre Familien durch Kriegs- und Nachkriegsjahre gelotst, sie haben Hunger und Kälte, Bomben und Obdachlosigkeit, Flucht und Vertreibung getrotzt. Dann haben sie die Trümmer weggeräumt und das Wirtschaftswunder mit aufgebaut. Sie haben Kinder aufgezogen und Eltern gepflegt. Sie haben morgens das Frühstück gemacht und dann alle geweckt, sie haben abends noch in der Küche gestanden, wenn Mann und Kinder schon längst vor dem Fernseher saßen, sie haben Buchführung und Steuererklärung gemacht, und wenn nachts ein Kind weinte oder die Oma zur Toilette musste, sind sie aufgestanden.

Und als sie alt wurden, standen sie da mit einer Rente, die zum Leben nicht reichte und zum Sterben auch nicht. Und sie waren verwundert und fragten sich, was sie falsch gemacht hatten; hatten sie nicht ihr Leben lang gearbeitet? Wäre es nun nicht an der Zeit gewesen, die Früchte ihrer Mühen zu ernten und auch einmal die Hände in den Schoß zu legen und das Leben etwas zu genießen? Sie wollten ja gar nicht viel. Ihr Fehler ist es gewesen, dass all das, was sie getan hatten, keine sozialversicherungspflichtigen Tätigkeiten gewesen sind.

Genau so geht es vielen Millionen Frauen auf der ganzen Welt. Sie machen zwei Drittel der Arbeit, aber es ist keine sozialversicherungspflichtige Arbeit. Und wenn sie alt werden, haben sie gar nichts.

… und besitzen ein Hundertstel des Vermögens.


Zwischen Männern und Frauen besteht ein deutliches Gefälle. Von den Deutschen, die auf Lohnsteuerkarte V arbeiten, sind 94 Prozent weiblich. Vermögen werden diese Frauen keines ansammeln können.

Das ist zweifellos ein himmelschreiendes Unrecht, und wir wehren uns zu Recht dagegen.

Aber es besteht ein noch deutlicheres Gefälle zwischen dem Norden und dem Süden der Erde. Und wir, die wir wissen, wie es ist, am unteren Ende zu stehen, wir stehen in diesem Fall mit am oberen Ende. Ich finde: Gerade wir Frauen sollten besonders sensibel sein. Wir sollten Gerechtigkeit nicht nur dort fordern, wo sie uns selbst zugute kommt. Wir sollten die Solidarität derjenigen leben, die weltweit auf der Verliererseite stehen.

Wir sollten, mit einem Wort, unser Zehntel des Einkommens und unser Hundertstel des Vermögens zuerst mal unter uns gerechter verteilen. Wenn wir es schaffen, mit unserem Zehntel dafür zu sorgen, dass alte Frauen auf der Welt nicht mehr hungern müssen, dann haben wir etwas geleistet, worauf wir zu Recht stolz sein können.

Was für eine Position würde uns das geben im Kampf um unsere gerechte Hälfte von allem!

Und stellen Sie sich nur einmal vor, was das weltweit für das Ansehen von Frauen bedeuten würde! In Ländern, in denen Frauen bisher keine Rechte haben; wo sie als Anhängsel von Vater, Ehemann oder Sohn betrachtet werden - was würde es für einen Unterschied machen, wenn sie einen großen Teil des Familieneinkommens heimbringen! Männer wären gezwungen, Frauen mit anderen Augen zu sehen. Hie moralisch, da finanziell.

Es ist viel Arbeit. Auch unter den Hungernden der Welt sind zwei Drittel weiblich. Aber die Vereinten Nationen haben es ja gesagt: Frauen machen weltweit zwei Drittel der Arbeit. Also werden wir auch das noch schaffen. Und dann sollen die Männer sehen, wie sie mit ihrem Drittel zurechtkommen.

Und zu guter Letzt: Vielleicht stammt das Widerstreben dagegen, Hungernden einfach Geld in die Hand zu drücken statt Lebensmittel und dergleichen und all die negativen Folgen für die heimische Wirtschaft einfach hinzunehmen, noch aus der Zeit, in der man in guter alter Manier die Männer als Haushaltsvorstände ansah und denen das Geld gab?

Frauen gehen anders mit Geld um. Man hat festgestellt, dass in Haushalten, die von Frauen geleitet werden, Geld konsequent für Gesundheit, kleine Investitionen und den Schulbesuch der Kinder ausgegeben wird. Deswegen wird in vielen Projekten Geld nur noch an Frauen ausgezahlt; es hat sich bewährt.

Projekte


Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit – früher Entwicklungshilfeministerium – hat ein Grundsatzpapier herausgegeben, in dem die offizielle deutsche Auffassung zu internationaler Grundsicherung des Lebensunterhaltes niedergelegt ist. Im Kern lautet die Botschaft: Die Bundesrepublik ist dafür. Allerdings ist sie der Ansicht, es handle sich um nationale Aufgaben. Wie das gehen soll, dazu sagt sie nichts.

Immerhin hat sie ihre Bereitschaft erklärt, in ganz bestimmten Fällen auch finanziell mitzuhelfen. Wenn nämlich irgendwo eine Rentenversicherung eingeführt werden soll, wenn dieses Projekt tragfähig erscheint und Nachhaltigkeit erwarten lässt, dann ist das Bundesministerium bereit, sich an der Anschubfinanzierung zu beteiligen, also auf Deutsch: die Sache erst mal ins Laufen zu bringen, wenn erwartet werden kann, dass sie danach von selber weiterläuft.

Das ist doch schon mal besser als nichts.

Wenn also Sara die Mitbewohner ihres Slums dazu überreden könnte, jeder ein paar Cent monatlich in eine gemeinsame Rentenkasse zu zahlen, damit jeder im Alter versorgt ist – nein, das geht nicht, weil die Bewohner des Slums keinen Cent dafür übrig haben. Andererseits: Hätten sie ihn, dann wäre ja in dieser Kasse schon was drin, und sie brauchte keine Anschubfinanzierung.

Und wenn die ersten Renten schon ausgezahlt würden, in der Hoffnung, dass die Slumbewohner dann anschließend ihre paar Cent zahlen, wenn sie erst mal sehen, wie sinnvoll dieses Projekt ist?

Ich weiß nicht, ob ein deutsches Ministerium eine solch vage Hoffnung als ein ausreichendes Zeichen der Nachhaltigkeit betrachtet.

Aber das Ministerium kann auch nicht einfach hingehen und einem anderen Land sagen: Passt mal auf, wir richten jetzt bei euch mal Altersrenten ein. Das könnte zu diplomatischen Verwicklungen führen; ich zumindest wäre nicht amüsiert, wenn ich ein armes Land wäre. Ein Grund mehr, warum eine internationale Sozialordnung von den Vereinten Nationen kommen müsste.

Das Ministerium tritt prinzipiell nur dann in Aktion, wenn jemand kommt und von sich aus ein Projekt vorschlägt. Ich wüsste im Moment nicht, wer das sein sollte und wie das Projekt aussehen müsste; aber vielleicht fällt Ihnen ja etwas ein.

Jedenfalls ist der offizielle Weg lang und steinig. Aber wir, die Menschen, können ja schon mal anfangen. Deshalb stelle ich Ihnen hier zwei private Organisationen vor, die bereits angefangen haben:

Amrita Nidhi


Im Jahr 2004 hat der Mata Amritanandamayi Math – Hauptsitz in Kerala, Zweigstellen in ganz Indien – Renten ausgezahlt an 50 000 alte Frauen in Indien. Das Projekt heißt zur Unterscheidung von den zahlreichen anderen Projekten des Ashrams Amrita Nidhi.

In manchen anderen Fällen zahlt übrigens auch der indische Staat eine kleine Altersrente; Vorbedingung dafür ist allerdings, dass die Frau kinderlos und verwitwet ist. Und die Auszahlung läuft nicht in allen Bundesstaaten reibungslos; mancherorts kommt das Geld unregelmäßig oder Bedürftige erhalten überhaupt keine Rente.

An dem Projekt Amrita Nidhi können auch Witwen teilnehmen, die von ihren Kindern nicht versorgt werden können, ebenso wie Frauen, deren Ehemänner invalide oder behindert sind.

Die Antragstellung läuft mit indischer Gründlichkeit ab (vergessen Sie alles, was Sie über deutsche Gründlichkeit jemals gehört haben). Wer an dem Projekt teilnehmen will, muss zunächst einen schriftlichen Antrag ausfüllen oder in den Zweigstellen des Ashrams ausfüllen lassen. Dann schwärmen Freiwillige aus, um jede einzelne Angabe genau zu überprüfen. Jede Antragstellerin wird zuhause besucht. In Zweifelsfällen werden Nachbarn und Verwandte befragt. Es soll sichergestellt sein, dass diese Renten nur an Frauen gezahlt werden, die auch wirklich darauf angewiesen sind.

Wer schließlich angenommen wurde, erhält einen Berechtigungsausweis, mit dem jeden Monat ein Scheck über 300 Rupies abgeholt werden kann. 300 Rupies reichen für eine tägliche Mahlzeit aus Reis, Linsen und Gemüse.

Nach dem Tsunami am Weihnachtstag 2004 hat der Ashram beschlossen, das Projekt auszuweiten. Es sollen doppelt so viele Renten ausgezahlt werden; es werden erstmals auch alte Männer aufgenommen, die im Tsunami ihre Familien verloren haben und sich nicht mehr selbst ernähren können; und wenn sich die bürokratischen Hindernisse beseitigen lassen, sollen auch die Tsunamiopfer in Sri Lanka mit eingeschlossen werden.

Für die bescheidenen Bedürfnisse des Ashrams selbst spenden die zahlreichen indischen Besucher genug, und auch an ehrenamtlichen Helfern fehlt es ihm nicht. Deshalb gehen keine Spendengelder für irgendwelche Nebenzwecke verloren.

Hier könnte Sara übrigens sogar zu einem richtigen Haus kommen. Der Ashram hat auch tausende Häuser für Slumbewohner in ganz Indien bauen lassen. Er hat nach dem Erdbeben in Gujarat 2001 drei der am stärksten zerstörten Dörfer wieder aufgebaut, die inzwischen von der indischen Regierung als Vorzeigemodelle für effiziente Projektarbeit verwendet werden. Er hat nach dem Tsunami Notlager eingerichtet und versorgt und anschließend ganz maßgeblich zu den Wiederaufbaumaßnahmen beigetragen. Er baut Häuser und Fischerboote als Ersatz für die zerstörten, richtet Berufslehrgänge für Frauen ein und hat Kinder psychologisch betreut.

Kein Wunder, dass Mata Amritanandamayi für ihre Initiative und ihr Engagement vielfach ausgezeichnet worden ist. Nicht nur von der indischen Regierung, sondern auch von interreligiösen Organisationen und den Vereinten Nationen. Ich kenne diese Organisation und habe uneingeschränktes Vertrauen zu ihr.

Informationen auf deutsch:

http://www.amma.de/projekte/amrita_nidhi/index.php

Ausführlichere Informationen auf englisch:

http://www.amritapuri.org/social/nidhi/nidhi.php

Help Age


Diese Organisation habe ich von vertrauenswürdigen Bekannten empfohlen bekommen, und ich weiß nicht viel mehr von ihr, als Sie selbst im Internet nachlesen können. Im Kern geht es darum:

Obwohl die meisten der Hungernden nach wie vor in Asien leben, ist zur Zeit die Lage in Afrika besonders kritisch. In manchen Regionen des Kontinents sind bis zur Hälfte der jungen Erwachsenen mit dem HI-Virus infiziert, viele sind aidskrank. Das heißt, es stirbt ausgerechnet die Generation weg, die eigentlich die Kinder und die Alten versorgen sollte. Es geht nicht mal mehr um eine Verbesserung der Verhältnisse, es ist kaum noch jemand da, der Angeln lernen könnte, es geht nur noch ums schlichte Überleben.

Unter dem Projektnamen „Foster a Grandparent“ sucht Help Age Paten für Großmütter, die ihre verwaisten Enkel aufziehen und versuchen, die Lücke zu schließen, die der Aids-Tod ihrer Kinder hinterlassen hat. Die alten Frauen sollen monatlich 4,50 Euro für sich bekommen und 1,50 Euro für jedes Enkelkind, das sie versorgen.

Wenn ich meine Kinder hätte beerdigen müssen, dann wäre es mir ein großer Trost, wenn ich meine Enkel aufziehen dürfte. Aber im hohen Alter wäre ich sicher nicht mehr in der Lage, außerdem auch noch für unser aller Lebensunterhalt zu arbeiten.

Mir kommt dieses Projekt sehr sinnvoll vor. Aber ich kenne es wie gesagt nicht persönlich, deshalb machen Sie sich bitte selbst ein Bild!

Informationen auf deutsch:

http://www.helpage.de/

Ausführlichere Informationen auf englisch:

http://www.helpage.org/

Nachtrag: Erfahrungen


Eigentlich schreibe ich hier ja mal wieder über Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. Ich kenne mich weder mit Entwicklungspolitik noch mit Wirtschaftstheorien aus. All diese Gedanken kamen mir so einer nach dem andern zugeflogen, sie haben sich in meinem Kopf eingenistet, sich geweigert, ihn wieder zu verlassen, und darauf bestanden, dass ich sie in irgendeiner Form weitertrage.

Das habe ich hiermit getan.

Nachdem ich dieses aufgeschrieben hatte, habe ich es einigen Freunden zur Begutachtung gegeben. Und dabei bin ich darauf hingewiesen worden, dass es tatsächlich bereits Projekte gibt, wie ich sie hier vorschlage, und dass sich auch bereits erste Auswirkungen ausmachen lassen. Ich habe mich aber entschlossen, den ursprünglichen Text stehen zu lassen, wie er stand, und stattdessen diesen Nachtrag anzuhängen.

Südafrika


zahlt seit 1996 eine bedingungslose Altersrente. Bedingungslos heißt, sie ist nicht an irgendwelche früheren Beitragszahlungen geknüpft, sondern wird einfach an jeden Mann über 65 und jede Frau über 60 ausgezahlt – in der Stadt nach einer Bedürftigkeitsprüfung, auf dem Land an jeden. Sie beträgt 60 Euro im Monat und ist damit relativ hoch; als absolutes Lebensminimum sind in Südafrika zehn Euro monatlich im Gespräch. (Kirchen und Gewerkschaften in Südafrika fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen von zehn Euro monatlich für jeden. Damit wären die Hungernden erst mal notdürftig versorgt, soziale Probleme wären besser in den Griff zu kriegen, und das Geld einfach an jeden Bürger auszuzahlen würde mehr Bürokratiekosten einsparen als es Mehrkosten mit sich bringt.)

Es hat sich herausgestellt, dass nach Einführung dieser Grundrente alte Menschen einen ganz anderen Stellenwert, eine andere Würde und Achtung bekommen haben. Sie sind keine Last mehr, die irgendwer halt mitschleppen muss. Sie leben wieder häufiger in den Familien und tragen mit ihrer Rente zum Familieneinkommen bei.

Die Rentenempfänger werden zum Mittelpunkt ländlicher Haushalte. Die Anzahl der im Haushalt mit alten Menschen zusammenlebenden Kinder steigt, und damit kommen die Renten auch diesen Kindern zugute. Alle Haushaltsmitglieder legen ihre Einkünfte zusammen, und es ist eine deutliche Reduzierung der Armut zu erkennen. Es ist sogar schon ein Zusammenhang festgestellt worden mit dem Größenwachstum der Kinder.

Weiter ist eine ganz deutliche Zunahme familiärer Kleinunternehmen festzustellen. Offenbar investieren die Alten ihre Rente. Die Haushalte werden kreditwürdig. Die Wirtschaftlichkeit landwirtschaftlicher Betriebe wurde deutlich gesteigert. Das führt zu einer signifikanten wirtschaftlichen Ankurbelung; die Einkommenssituation ganzer Regionen hat sich deutlich verbessert, der Handel wurde angeregt, es wurden Märkte geschaffen. Es war Kaufkraft da, und damit stieg die Nachfrage nach lokal produzierten Gütern.

Diese kleinen Renten für alte Frauen haben die Wirtschaft ganzer Regionen angekurbelt und deutlich mehr positive Effekte gehabt als beispielsweise die Ansiedlung einer neuen Fabrik.

Brasilien


In Brasilien gibt es seit 1991 eine Rente für Frauen aus der Landwirtschaft und dem informellen städtischen Sektor – das heißt, für Frauen, die als Kindermädchen oder dergleichen gearbeitet und keine Ansprüche an Rentenversicherungen haben. Auch hier sind schon sehr deutlich die positiven Effekte zu sehen.

Beispielsweise hat man festgestellt, dass in Haushalten, in denen eine alte Frau eine solche Rente bezieht, die Mädchen deutlich länger zur Schule gehen. Das betrifft besonders Mädchen zwischen zwölf und vierzehn Jahren. In anderen Haushalten werden Mädchen mit zwölf aus der Schule genommen, weil sie kräftig genug geworden sind, um zuhause mithelfen zu können. In den Haushalten der Rentenempfängerinnen dürfen Mädchen ihre Schulbildung abschließen.

Das ist zum Teil eine Frage des Geldes, der wirtschaftlichen Notwendigkeit. Auch wenn ein Mann im Haushalt eine Rente bekam, trat bereits eine Verbesserung ein. Aber diese Verbesserung war deutlich stärker, wenn die Rentenbezieher Frauen waren.

Auch in Südafrika sind positive Auswirkungen zu beobachten auf den Status, den Mädchen innerhalb des Haushalts haben.

Dieses Ergebnis hat mich ganz besonders gefreut. Es beweist, dass ich mit einer These Recht habe, die ich für etwas gewagt gehalten hatte: dass nämlich das Ansehen, das einer alten Frau durch ihr eigenes Geld zukommt, auf ihre Enkelinnen abfärbt. Dass der Stellenwert, den man einem Mädchen beimisst, mit davon bestimmt wird, ob sie im Alter Geld zu erwarten hat oder nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass in diesem Punkt so schnell schon so eindeutige, messbare Ergebnisse zu erwarten wären.

Auch in Brasilien hat man die Erfahrung gemacht, dass die Wirtschaftlichkeit landwirtschaftlicher Betriebe deutlich gesteigert wurde. Auch hier wurden die Renten dazu genutzt, für die ganze Familie etwas aufzubauen. Brasilianische Banken akzeptieren diese Renten als Sicherheit für kleine Kredite, und so konnte Geld investiert werden.

Längerfristig hat Brasilien vor, allen Einwohnern ein bedingungsloses Grundeinkommen zu zahlen. Es soll so bemessen sein, dass man grade eben davon leben kann. Die Regierung rechnet damit, dass die Reichen des Landes sich nicht die Mühe machen werden, für die paar Pfennige hinzugehen und Antragsformulare auszufüllen. So würde das Geld automatisch bei denjenigen landen, die es auch brauchen.

Befürworter eines weltweiten bedingungslosen Grundeinkommens für alle beobachten die Entwicklung in Brasilien mit großem Interesse.

Resümee


Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis: Rentenpolitik ist Entwicklungspolitik. Von allen Formen sozialen Engagements, die sie untersucht hat, waren die Altersrenten uneingeschränkt empfehlenswert und zeigten nur positive Auswirkungen, während bei allen anderen Formen bis auf eine sich positive und negative Auswirkungen mehr oder weniger die Waage hielten.

Bei dieser anderen Ausnahme handelt es sich um ein Projekt, bei dem den Eltern Geld gezahlt wurde, wenn sie ihre Kinder zur Schule schickten. Allerdings musste darauf geachtet werden, dass die Anzahl der geförderten Kinder pro Familie beschränkt wurde. Und darauf, dass das Geld den Müttern oder Großmüttern ausgezahlt wurde.

Aber Brasilien und Südafrika zählen nicht zu den allerärmsten Ländern der Welt. Sie können sich diese Maßnahmen leisten und von den Vorteilen profitieren; andere Länder können das nicht.

Ich will nicht warten, bis unsere Regierungen endlich was tun. Und vor allem können auch die Hungernden so lange nicht warten.

Und deshalb fang ich jetzt einfach mal an.


Spendenkonten


Amrita Nidhi:

Deutschland: Amrita e. V., Königswinter VR-Bank Neuwied BLZ 574 601 17,

Konto 520 50 80

Österreich: Amrita Austria, Wien Erste Bank BLZ 20111,

Konto 28 52 74 28 300

Schweiz: Amrita Vereinigung, Steinmaur Postscheckkonto,

Konto 87-44861-1


HelpAge: Sparkasse Osnabrück BLZ 265 501 05,

Konto 55517


Eva Finkenstädt, geboren 1954, lernte Schriftsetzerin und arbeitete als Korrektorin in der Bundesdruckerei Berlin und für Mohndruck in Gütersloh. Im zweiten Bildungsweg besuchte sie die Schule für Erwachsenenbildung in Berlin. Sie studierte Religionswissenschaften, Geschichte und Literatur und arbeitet heute als freiberufliche Lektorin und Autorin in Marburg.


Veröffentlichungen:

Das Herdfeuer, der Weg. Mittelalterroman, Verlag OelMühlenPresse Marburg

Als Co-Übersetzerin: Amma – das Leben umarmen. Gebunden im Theseus Verlag Berlin, als Taschenbuch bei Knaur

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.02.2020

Alle Rechte vorbehalten

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