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Leben oder Tod

 

„Renn‘ Lya, renn‘, wir treffen uns vor dem Tor“ schreit mir mein großer Bruder Kato zu. Die Männer von Thresh sind ihm dicht auf den Versen, trotzdem hält er mir den Rücken frei. Ich glaube zwar nicht daran, dass ich ihn vor dem Tor treffen werde, doch ihm zu liebe und zu meiner Rettung renne ich immer tiefer in den Wald hinein. Mein Herz schlägt so schnell und wild, dass es jeden Moment droht, aus meinem Körper zu springen. Meine Beine sind dornenzerkratzt und es läuft Blut aus den tiefen Schlitzen. Mein Blut,  das mich am Leben hält. Ich blicke zurück, höre einen tiefen männlichen Schrei. Katos Schrei. Die Männer von Thresh haben ihn wohl jetzt in ihrer Gewalt. Entweder haben sie ihm ein Messer in den Rücken gerammt oder einen festen Griff angewandt, was ich eher glaube.

Lya, so haben mich meine Eltern genannt, als ich diese grausame Welt erblickte, in einem Land, was auf einer Landkarte gar nicht existiert, aber es tut es trotzdem. Es wird von einem Volk, das die Elkiris heißt, aus der Ferne regiert. Einmal im Jahr finden die Existenzspiele statt. Sie sind ausschließlich für Geschwisterpaare, doch nur einer kann dort mitspielen, in diesem Fall bin ich das. Ich bin auf dem Weg von unserem Dorf bis jetzt ausgewählt worden um meinem Bruder und mir ein besseres Leben zu sichern. Ich muss jetzt  alleine den Weg zum Tor, das in einen andern Abschnitt unseres Landes führt finden um all die andern auseinandergerissenen Geschwisterpaare, aus den andern Abschnitten unseres Landes zu töten,  um mir und Kato ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch mir ist klar, dass die andern das gleiche Ziel haben und ich bin eine Rivalin, die es zu töten gibt. Es gibt nur noch Kato und mich, da unsere Mutter von der Elkiris in Stücke gerissen wurde und unser Vater wurde von ihnen so lange gefoltert, bis er sie angefleht hat ihm das Leben zu nehmen. Unsere Eltern haben die Elkiris verachtet und nicht vergöttert wie die andern Menschen in unserem Dorf, nur um am Leben zu bleiben.

Die Nacht bricht herein. Ich klettere auf einem Baum, um nicht von einem wilden Puma zerfleischt zu werden. Es ist bitterkalt, aber ich werde nicht erfrieren, da ich den gestrickten Pulli meiner Mutter anhabe. Am nächsten Morgen pflücke ich ein paar Beeren zum Frühstück bevor ich mich zum angrenzenden Teil, wo die Spiele stattfinden aufmache. Am späten Nachmittag erreiche ich es. Das Tor öffnet sich automatisch, nachdem ich meinen Namen gesagt habe. „Lya Avara“, höre ich mich sagen. Ich werde von einer Frau namens Limma Craft empfangen und in einen großen Raum geführt. An einer Kleiderstange hängt die Kleidung, die die Zyxes, also die Teilnehmer tragen werden. Eine dunkelblaue Röhrenjeans, dazu eine weiß – blau karierte Bluse und schwarze Turnschuhe. Nachdem ich meinen Pulli, meine rissige Hose und meine kaputten Schuhe gegen die „Spielerkleidung“ getauscht habe, setze ich mich vor den großen Spiegeltisch. Limma kommt herein, mustert mich, nickt mir zu, kämmt mein Haar. Ich erlaube ihr es zu einem Zopf, der über meine rechte Schulter fällt zu flechten. Ich habe seit Jahren niemanden mehr an meine Haarpracht gelassen, da mich das früher an meine Mutter erinnert hat. Heute ist es nicht mehr ganz so schlimm, aber das Gefühl von Schmerz und Trauer ist immer noch da.  Meine Augen schminkt Limma blau, zieht sie mit Kajal  nach und trägt matten Puder auf meine Wangen auf.  Als letztes taucht sie meine Lippen in ein zartes rosa. „So“, sagt Limma schließlich und lächelt mich an. „Jetzt werden wir dich mal deinem Bruder zeigen.“ „Er ist hier?“, frage ich ungläubig. „Ja, unten in unseren  Kellerräumen sitzen die restlichen Geschwisterteile.“  Ich folge ihr, bis sie mich in einen dunklen Kellerraum stößt. Die schwere Stahltür fällt ins Schloss. Es ist stockfinster. Meine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. In der Ecke kann ich den Umriss eines Menschen ausmachen. „Kato?, bist du es?“ „Ja“, sagt er einfach nur, aber nicht so fest, wie ich es von ihm gewohnt bin. Er kommt auf mich zu, schaut mir in die Augen, ich kann seine Augen blitzen sehen. „Kannst du mir etwas versprechen Lya? Du musst versuchen zu gewinnen, bitte!“, fleht er mich an. „Mom und Dad wären sehr stolz auf dich.“ Da ist es wieder  dieser Stich mitten  in das innere meines Herzens. So ungewollt. Immer wenn Kato über Mom  und Dad spricht, die beide tot sind und nie wieder zurück kommen werden, die die uns im Stich gelassen haben, weil sie nicht akzeptieren wollten. Die beiden Personen, die das Leben von Kato und mir zerstört haben. Ich weiß nicht genau, ob es Absicht war, was ich nicht glaube, ich glaube sie wollten sich nur helfen und haben nicht an ihre beiden Kinder  gedacht, die die ersten Monate und Jahre sehr hilflos dastanden mit einem Leben ohne Eltern. Dieser Satz „Du musst gewinnen!“, brennt sich so tief in meinen Kopf ein, dass ich den Schmerz der gedachten Tätowiernadel sogar spüren kann. Außerdem wird das andere Geschwisterteil, wenn das Kämpfende nicht überlebt qualvoll umgebracht und somit die ganze Familie in unserem Fall ausgelöscht. Dann gibt es die Familie Avara nicht mehr. Niemehr. Es würde uns noch nicht einmal irgendwer vermissen, da meine Eltern und somit auch Kato und ich von dem restlichen Volk unseres Dorfes verachten werden, bzw. unsere Eltern.  Kato kommt auf mich zu nimmt mich seit Jahren wieder in den Arm, drückt mich fest an seine Brust. „Viel Glück“, flüstert er mir ins Ohr. Dann nimmt er seine Kette ab,  küsst sie und hängt sie mir dann um. „Hier, Dad hätte gewollt, dass du sie bekommst, wenn du ausgewählt wirst. Sie wird dich beschützen. Pass gut auf dich auf Schwesterherz.“ Limma kommt herein, packt mich am Arm und zerrt mich aus dem Kellerloch heraus. „ Das werde ich, ich werde aufpassen versprochen. Ich liebe dich.“

Dann fällt die schwere Stahltür  ins Schloss und der Riegel wird wieder vorgeschoben. Auf dem Weg nach oben kann ich noch die trommelnden Fäuste meines Bruders und seine Stimme wahrnehmen. Er schreit gegen die Stahltür an. Ich kann so etwas wie „Ich liebe dich auch Lya“ wahrnehmen. Jetzt bin ich mir sicher, so sicher wie noch nie in meinem Leben, dass dies der härteste Kampf meines jungen Lebens wird. Ich blicke in den grauen Himmel und halte nur mit Mühe meine  Tränen zurück, denn einer meiner Mitstreiter steht auf seinem Balkon und sieht auf mich herunter. Er ist groß, größer als Kato, blond und muskulös. Dieser Junge scheint ein Gegner zu sein, der schwer zu schlagen sein wird. Ich gehe in mein „Zimmer“ in so eine Art Spielerhotel. Ein Signal ertönt, das verkündet, dass gleich eine Durchsage durchgegeben wird. Es ist Rupert Geklas, er ist der Überwacher  der Spiele. Er gibt durch, wo wir uns morgen früh, am Tag der Spiele einfinden müssen, er  wünscht uns noch viel Glück und Spaß und eine angenehme Nachtruhe. Spaß! als ob töten Spaß machen würde und eine angenehme Nachtruhe, wie soll man denn bitte schlafen, wenn man ganz genau weiß, dass morgen der Horror beginnt. Rupert schaltet nach und nach alle Lichter der Zyxes  aus. Ich drehe mich auf die Seite starre noch eine Weile in die Dunkelheit, schließe dann die Augen und schlafe endlich ein.

 

Am nächsten Morgen werde ich von Fanfarenklängen unsanft aus dem Schlaf gerissen. Ich stehe auf, gehe zum Fenster und schaue nach unten auf die Straße. Dort feiern Menschen ausgelassen.  Alle in bunten Gewänder gehüllt. Stimmt heute ist der Tag, vor dem ich mich, seit ich denken kann so große Angst habe. Denn heute beginnen die Spiele. Am gegenüberliegenden Fenster steht ein Junge und sieht sich ebenfalls das Geschehen an. Als er mich bemerkt starrt er zu mir herüber. Ich habe das Gefühl, dass er durch mich hindurch starrt. Er ist mittelgroß, hat dunkle Haare, seine Augen sind dunkelbraun und  sein Blick ist verbissen, aber das hat er wahrscheinlich jahrelang geübt, denn ich kaufe ihm sein Bick nicht ab. Er heißt Lion. Löwe. Er checkt seine Beute ab, die er heute oder morgen jagen wird, doch ich passe wohl nicht in sein Beuteschema, denn er wendet seinen Blick ab und geht. Wenn der nur wüsste, dass ich seine Taktik  durchschaut habe, denke ich und fange an zu grinsen. Nachdem ich mich angezogen und gefrühstückt habe und meine Haare genauso geflochten habe, wie Limma es gestern getan hat gehe ich zum Treffpunkt und sehe zum ersten Mal meine Gegner. Fünfzehn an der Zahl. Einige wirken stark und sind muskulös andere sind klein und zerbrechlich. Sie werden leicht zu töten sein. Ich habe gelernt unscheinbar zu wirken und eine gleichgültige Maske aufzusetzen. Außerdem weiß dann niemand genau wer du bist und was du kannst. Dann kannst du immer auf den Überraschungseffekt setzen  und einfach auftauchen, töten und wieder so unscheinbar verschwinden, wie du aufgetaucht bist.  Meine Meinung äußere ich auch nicht frei, ich denke mir meinen Teil. Nach außen wirke ich verschlossen und das ist auch gut so, denn niemand kann meine Gedanken und Gefühle lesen, denn ich habe immer den gleich Gesichtsausdruck aufgelegt, dass hat sich über die Jahre hin so entwickelt. Ich lache nie, außer am Fluss, da fühle ich mich frei. Nur mein bester Freund Leeon kennt mein wahres ich. Noch nicht einmal mein Bruder kennt dieses. Marry ein kleines, dünnes Mädchen, ich schätze sie auf zwölf maximal dreizehn Jahre, würde bestimmt eine der ersten sein, die tot ist, wenn sie nicht so verdammt schnell wäre. Vor ihr muss man sich in Acht nehmen.  Die meisten von ihnen sind eigentlich sehr nett, aber man darf sich nicht mit ihnen anfreundet, denn wenn man gewinnen will, muss man sie töten. Ich stelle mich weit nach Hinten um alleine zu sein, als Lion auf mich zu kommt sich neben mich stellt und sagt: „ Zieh dich warm an Mädchen!“ Dann funkelt er mich böse an und geht. „Was ein Spinner“, denke ich.

 

Wir werden in einen Zug gesetzt und in einen andern Teil unseres Landes gefahren. Drei Stunden später bin ich alleine im Zug, denn alle Zyxes werden in verschiedenen Gegenden ausgesetzt. Möglichst weit auseinander. Ich bin die letzte, die die frische Luft einatmet. Rechts von mir ist ein Wald, links von mir ein Fluss. Hinter mir erstreckt sich eine Hügellandschaft und vor mir  liegt eine Berglandschaft. Ich schätze die meisten Gegner verstecken sich in den Bergen, denn dort gibt es Höhlen, wurde mir so erzählt. Ich kann mich selber überreden erstmal den Weg Richtung  Wald einzuschlagen. Die Überwacher der Spiele haben uns den Tipp gegeben die Umgebung genau zu betrachten, denn überall könnten Waffen versteckt sein. In Höhlen, in den Baumkronen oder am Fluss, begraben unter Sand, nicht so tief, dass man sie nicht finden könnte, aber dennoch so tief  vergraben, dass sie auf den ersten Blick nicht gleich zu erkennen sind. Ich starre in das Geäst der Bäume und dort entdecke ich einen Bogen mit ungefähr 4 Pfeilen. Ich klettere hinauf und schnapp ihn mir. Ich hänge mir ihn um die Schulter. Den Lederbeutel mit den Pfeilen knote ich an meinen Gürtel. Danach überblicke ich das Areal. Die Berge scheinen endlos hoch und weit zu sein, der Fluss hingegen ist klein, schmal und mündet irgendwo im nirgendwo. Die Hügel enden in einem Art Tal, wobei dies nur aus einer großen grünen ungeschützten  Fläche besteht. Ich bin schon den halben Baum wieder heruntergeklettert, als ich plötzlich einen  hellen Schrei höre. Wenige Minuten später ertönt das Signal, das verkündet, dass bereits ein Spieler oder eine Spielerin getötet wurde. Die Toten werden von zwei Männern geborgen in eine Holzkiste gepackt und zum Zug getragen. Ich lausche in den Wald hinein, ob ein Feind in der Nähe ist, da ich es aber niemanden hören kann, klettere ich schnell vom Baum herunter und renne Richtung Gebirge. Schritte nähern sich von rechts, ich lege einen Pfeil ein drehe mich nach links schieße, treffe ein Mädchen, ich weiß nicht wie sie heißt, aber sie ist tot. Jetzt sind wir nur noch dreizehn Spieler.  Ich warte nicht auf das Signal, sondern renne weiter, so schnell ich kann. Im rennen reiße ich ein paar Beeren ab, sie sind nicht giftig, das weiß ich von meinem Vater.

Früher haben wir sie ständig gegessen, wenn wir jagen waren, darum kann ich auch so gut mit Pfeil und Bogen umgehen. Am frühen Abend erreiche ich die Berge. Wassergeplätscher zeigt mir, dass hier irgendwo eine Quelle entspringen muss. Ich folge dem Wassergeräusch und gelange wirklich an eine Quelle. Meine Hände forme ich zu einer Art Becher, halte sie ins Wasser, lasse das erfrischende Nass in die Hände laufen und trinke. Trinke so lange bis das Gefühl von Durst gestillt ist. Dann suche ich mir eine Höhle, wo ich die Nacht verbringe. Am nächsten Morgen liegt eine Leiche vor dem Eingang.  Diesmal ein Junge, blond, klein, keine Muskeln. Er muss  eben erst getötet worden sein. Entweder das Signal wurde noch nicht eingespielt oder ich habe es verschlafen. Doch in diesem Moment ertönt es und schon sind wir nur noch elf. Ich untersuche noch schnell den  Jungen, bevor die Männer kommen. Er wurde mit einem Messer getötet, denn der  Schnitt am seinem Hals ist so präzise, dass er nur mit einer Messerklinge hätte gemacht werden können. Also hier läuft jemand mit einem Messer herum und er hat auch keine Angst davor, es zum töten zu benutzen. Der tote Junge hat nichts weiter bei sich als einen kleinen Behälter, den man als Wasserflache einsetzten könnte. Ich nehme ihn an mich und mache mich davon. Entweder hatte derjenige, der ihn getötet hat keine Zeit ihn auf seine Bestandteile zu untersuchen oder er hat die Flasche gesehen, wollte sie nehmen, aber hat dann meine Schritte gehört und ist eiligst davongelaufen, weil er Angst hatte auch getötet zu werden. Ist mir aber jetzt auch egal, was dieser Jemand für ein Problem hatte. Ich setze mich in ein Gebüsch, um meine nächsten Schritte zu überlegen und sie danach auszuführen. Mein Kopf beschließt, dass ich zum Fluss gehen sollte um dort nach weiteren Waffen zu suchen, doch der Weg zu weit. Ich kann mich davon überzeugen, dass ich den Berg weiter hochsteige um zu gucken, was sich dort oben noch verbirgt. Als ich oben ankomme, erstarre ich den Marry ist dieser Jemand mit dem Messer. Als sie mich sieht versucht sie weggezulaufen, wie ich weiß ist sie wirklich schnell, doch meinem Pfeil entkommt sie nicht. Ich weiß nicht wie ich zu einem so blutrünstigen Monster werden konnte in zwei Tagen, aber der Gedanke an meinen gefangen Bruder, der Tag und Nacht mit dem Gedanken spielt zu sterben gibt mir Kraft über meine Taten zu stehen und weiter zu kämpfen. Marrys Schrei bleibt in ihrer Kehle stecken, als mein Pfeil ihr Genick durchbohrt. Ich nehme ihr das Messer ab, ziehe meinem Pfeil aus ihrem Genickt und stecke ihn wieder in den Lederbeutel. Das Messer stecke ich auch hinein. Danach fülle ich meine neuerworbene Flasche mit dem Quellwasser und mache mich auf den Weg zum Fluss. Der Weg ist zwar weit, aber dort fühle ich mich zu Hause, sicher, auch wenn man sich in diesem Areal nicht wirklich sicher fühlen kann. Überall könnten Feinde lauern, die dich nur umbringen und deine Waffen wollen. Ich schieße unterwegs ein Kaninchen, hänge es an einen Stock und trage es in den Wald. Dort mache ich ein Feuer, auch wenn es am helligen Tag riskant ist, nehme es aus und brate es. Ein Feuerzeug habe ich von Limma bekommen, genauso wie ein Stofftaschentuch. Indem wickel ich den Rest meines Essens ein und laufe zum Fluss. Obwohl ich beide Uferseiten genauestens absuche, finde ich keine weiteren Waffen, nur Löcher aus denen sie von andern ausgegraben wurde. Ich finde nur noch eine Klinge, sie liegt fast im Fluss. Ich nehme sie an mich, man kann ja nie wissen, wofür man sich noch gebrauchen könnte. Ich streife Schuhe und Socken ab, stecke die Socken in die Schuhe knote die Schnürsenkel zusammen und hänge sie mir über die Schulter. Ich lasse das kühle erfrischende Nass über meine wundgelaufenen Füße

strömen. Stromaufwärts wäre eine gute Idee zu laufen, doch es wäre zu riskant. Darum schlage ich den Weg stromabwärts ein. Es ist wirklich schön hier. Hier am Fluss kann ich endlich den Kampf gegen die anderen und gegen mich selbst vergessen. Ich habe schon daran gedacht aufzugeben, nur eine Sekunde, aber lange genug um zu wissen, dass es ein blöder Einfall war. Das kann ich meinem Bruder nicht antun. Er muss doch jetzt schon mit dem Gedanken spielen, dass ich und dann auch er bald tot sein könnten. Wenn einer im Areal getötet wird, hört man das Signal auch in den Gefängnissen, dort wo die andern Geschwisterteile einsitzen und hoffen, dass ihre Schwester oder ihr Bruder die Spiele überleben. Die Namen der Toten werden abends immer verlesen, also in den Gefängnissen, hier wo die Spieler sind nicht, dort wo das Grauen und der Tod Einzug erhalten haben. Hier ertönt immer das Signal und wenn es besonders gute Zyxes waren, dann werden ihre Gesichter an den Himmel produziert. Der Himmel wird dann zu so einer Art Großleinwand. Außerdem ertönt das Signal bei einem guten Spieler immer zweimal, bevor die Männer von Thresh kommen um die Leiche zu bergen und von hier wegzuschaffen, in den Teil des Landes, wo er zuletzt gelebt hatte. Die Nacht bricht herein. Ich klettere wie immer auf einen Baum, lege mich in die Baumkrone, ganz weit nach oben, sodass mich vom Boden niemand erkennen kann. Dann schlafe ich ein. Vogelgezwitscher weckt mich auf. Ich klettere vom Baum, springe die letzten Meter, lande fest auf beiden Füßen, stehe erneut mitten in einem neuen Kampf ums Überleben. Ich sehe an mir herunter. Meine Bluse ist total verdreckt, das Weiß ist grau  geworden. Also gehe ich zum Fluss, wasche meine Bluse, Schuhe und Socken. Meine Hose ist noch gut erhalten. Ich ziehe mich wieder an, esse die Reste vom Hasen und mache mich dann auf in Richtung Gebirge. Dort werde ich den Tag verbringen, mich ausruhen, Vorräte sammeln, einen Schlafplatz suchen und meine nächsten Schritte überlegen. Ich streife durchs Gebüsch, höre Stimmen, ein Gespräch. Ich will eigentlich nicht lauschen doch sie reden so laut, dass es nicht zu überhören ist. „June, wenn wir uns verbünden, dann haben wir gute Chancen nicht so schnell getötet zu werden, außerdem hast du dann einen Feind weniger“. „Ja, da hast du recht Lion, also gut verbünden wir uns!“ Gut jetzt habe ich immer noch zwei Feinde, aber zwei verbündete sind schlimmer, als zwei normale. Inzwischen sind wir nur noch zu fünft, denn wir sind schon drei Wochen hier. Es sind schon zehn Zyxes, also auch zehn Geschwisterteile umgekommen. In drei Wochen zwanzig Leute. Ich habe inzwischen sechs Verletzungen. Zwei an jedem Arm, durch die Äste der Bäume vom vielen klettern und die andern zwei an den Beinen. Eine durch eine scharfe Kante einer Felsens, vom hochklettern durchs Gebirge und die andere ist eine Verbrennung. Letzte Nacht schlug bei einem Gewitter der Blitz in den Baum ein, auf dem ich schlief. Die Verbrennung ist nicht stark, aber schmerzhaft. Ich habe ein Stück meiner Bluse abgerissen und mein Taschentuch mit Wasser aus der Flasche befeuchtet. Jetzt habe ich einen Nassverband um die Brandwunde angelegt. Es kühlt und tut gut, aber Salbe wäre besser, doch so etwas bekommt man nicht. Nur in Ausnahmefällen, wenn man schwer verletzt ist und kurz vom Tod steht, dann bekommst du Medikamente, sonst nicht. Die beiden verbündeten machen sich davon. Sobald dir Luft rein ist renne ich, renne so schnell, dass die Landschaft neben mir nur so vorbeifliegt. Ich renne so schnell, wie ich vor Threshs Männern davon gelaufen bin, als mein Bruder mir den Rücken freigehalten hat, nur damit ich nicht eingesperrt werde. Ich höre seine Stimme „Renn‘, renn‘“. Meine Schritte werden noch schneller, wenn ich noch schneller laufe, dann hebe ich ab.

Ich renne, als wäre ich auf der Flucht. Bin ich eigentlich auch. Auf der Flucht vor den Andern, vor mir selbst, vor dem Gedanken sterben zu können, dass mein Bruder sterben könnte. Ich verwerfe den Gedanken wieder, weil ich merke, wie meine Schritte langsamer werden. Jetzt gehe ich nur noch. Meinen Bogen und meinen Lederbeutel fest an mir. Ich erreiche das Gebirge am frühen Nachmittag, kletter in den letzten Winkel, dorthin, wo mich niemand sehen kann, egal von welcher Seite er oder sie kommt. Neben mir befindet sich ein Beerenstrauch. Ich habe keine Ahnung, ob sie giftig sind oder nicht. Weil ich seit heute Morgen nichts mehr zwischen den Zähnen hatte, esse ich einfach, egal was danach mit mir passiert, ich esse, esse immer mehr. Sie sind so süß und lecker, dass ich mindestens zwanzig Minuten nur die Beeren in mich hineinstopfe. Es tut gut etwas zu Essen. Ich greife nach der Wasserflasche und trinke einen Schluck. Es wird Abend und ich rolle mich zusammen, wie ein Murmeltier, denn diese Nacht wird kalt, das spüre ich. Heute ist niemand gestorben. Keine Signaltöne erklingen und kein Gesicht wird an den Himmel produziert. Es sind noch mindestens zwei schwächere Zyxes im Rennen. Sie heißen Dyna und Flay. Der Junge ist groß, aber nicht stark und das Mädchen ist zierlich, nicht muskulös nicht schnell, aber schlau. In den letzten vier Wochen hat sie alleine drei Menschen getötet. Sie lockt sie in einen Hinterhalt, dann schlägt sie eiskalt zu. Ich habe es mit angesehen, vom Baum aus. Alles geschah direkt unter mir. Fünfzehn Meter in der Tiefe. Dann ist da noch Lion, der der mir gesagt hat ich solle mich warm anziehen, der Spinner ist wohl mein größter Feind. Totenstille ist hier oben zwischen den Felsvorsprüngen und in dieser Stille schlafe ich ein. Zwei Schreie reißen mich aus dem Schlaf. Ein männlicher, ein weiblicher. Dann ertönen vier Signaltöne. Zwei gute Mitspieler scheinen tot zu sein. Jetzt sind wir nur noch zu dritt, nach 5 Wochen endlosem kämpfen, bald wird es zu Ende sein. Jetzt fällt mir erst auf, dass die Schreie ganz aus meiner Näher kamen. Ich gucke mich um, sehe Lion. Er sieht mich, weil ich aufgestanden bin. Mist! Warum bin ich bloß aufgestanden? Ich hätte mich von Hinten heranschleichen und meinen größten Rivalen töten können. Ohne nachzudenken renne ich los, jage durchs Gebirge, stolpere über Steine. Mein Kopf dröhnt, meine Augen tränen, auf dem linken Ohr bin ich taub, aber es pfeift noch, das ist ein gutes Zeichen. Die Beeren sind schuld. Sie hießen bei meinem Vater „die Teufel“, jetzt weiß ich auch wieso. Ich laufe um mein Leben, versuche Lion abzuschütteln. Nach einer wilden Verfolgungsjagd, bin ich erschöpft, aber in Sicherheit.  Lion hat aufgegeben und hat sich zurückfallen lassen. „Ich kriege dich noch Lya! Auch wenn es das letzte ist was ich tue!“, schreit er mir hinterher. Ich reagiere nicht darauf, sondern klettere mal wieder auf einen Baum. Ich weiß, dass June einen Speer und Flay ein gutes Messer hatte. Diese Waffen hat sich jetzt wahrscheinlich Lion unter den Nagel gerissen. Hätte ich auch gemacht, wenn Lion mich nicht gejagt hätte oder aufgetaucht wäre, dann würde ich jetzt die Waffen besitzen. Nicht Lion. Die Gesichter von June, die Verbündete von Lion und Flay werden am Horizont eingeblendet, weil es bereits später Abend ist. Am Leben sind jetzt nur noch drei. Lion, Dyna und ich. Meine Verbrennung schmerzt und die Schnittwunden sind zu Narben geworden, aber das ist egal.

 

 

Als ich am nächsten Morgen aufwache, spüre ich einen Schmerz auf meiner rechten Wange, ein Schnitt. Nicht sehr tief, auch nicht lang aber er brennt höllisch. Was ist das? Eine Warnung? Eine Handlung, dessen Sinn ich nicht verstehe, oder nicht verstehen soll? Eine weitere Verletzung ganz bestimmt, aber warum hat diese Person mich nur geschnitten und nicht getötet? Vielleicht um mich einzuschüchtern, damit ich leichter zu töten bin, oder ist es ein Machtspiel, das er mit mir spielt? Ich weiß es nicht, aber ich werde dahinterkommen. Das bin ich mir du meinem Bruder schuldig. Das Areal wird nun verkleinert. Das Gebirge fällt nun raus und ein großes Stück Wald. Der Teil, wo ich meinen Schlafbaum hatte und wo ich mich auskannte. Hohe Zäune werden aus der Erde gefahren. Durch diese fließt Strom, nicht stark, sodass man davon sterben könnte, wenn man ihn berührt, aber doch so stark, dass man betäubt wird, wenn man ihm längere Zeit ausgesetzt ist. Ich stehe jetzt einen Meter vom Zaun entfernt. Ich kann das Summen genau hören. Schritte nähern sich von hinten, ich zücke das Messer drehe mich blitzschnell um und steche zu. Dyna sackt leblos zu Boden. Der Stich ging mitten ins Herz. Das Signal ertönt. Jetzt weiß Lion, dass es nur noch einen Menschen zu töten gibt. In diesem Fall bin ich sein Opfer. Das Messer lass ich in Dynas Körper stecken, ich hab noch die Klinge und die restlichen Pfeile. Der Gong erklingt. Ab jetzt beginnen die letzten zwölf Stunden in diesem Krieg hier. Vielleicht sogar die letzten zwölf Stunden meines Lebens.  Jetzt haben wir zwölf Stunden Zeit den andern Zyxes zu finden und ihn zu töten. Schaffen wir dies nicht, werden wir getötet und unsere Geschwister auch. Ich küsse die Kette, die ich von Kato bekommen habe, genau heute vor sechs Wochen. Mein Körper ist abgemagert, meine Kraft ist fast null und mein Wille zu gewinnen so stark, dass er undbeschreibbar ist. Auf einmal hab ich wieder Kraft. Kraft in den Baum hochzuklettern, ganz nach oben in die Krone. Mir bleiben jetzt noch 11 Stunden. Ich warte hier auf Lion, ich kann lange warten, in solchen Dingen bin ich verdammt gut. Ich habe mein halbes Leben darauf gewartet, dass meine Eltern zurückkommen, weil ich nicht wahrhaben wollte, dass sie umgebracht wurden. Es wird Abend, Nacht und jetzt wird es schonwieder langsam heller. Uns bleiben noch 4 Stunden. Ich höre das Knacken von trockenen Ästen, unten auf dem Boden. Ich blicke nach unten. Da ist er. Lion, mein letzter Rivale, den es zu töten gibt. Was hat er für Waffen. Ein Messer, einen Bogen, ich weiß nicht ob er schießen kann, dann hat er noch eine Speerspitze und einen Pfeil. Ich schreie auf, weil ich mich vor einem Vogel erschrecke. Lion blinzelt in die aufgehende Sonne, sieht mich, nimmt Bogen und den Pfeil, zielt auf mich, schießt. Wenige Meter neben mir steckt der Pfeil im Baumstamm, der mich hätte töten können. Meine Chance. Ich nehme Pfeil und Bogen ziele, schieße, treffe nicht. Kletter vom Baum, springe auf die Erde, schaue mich um, merke Lion in meinem Rücken. Er nimmt mich in einen festen Griff, versucht mich zu ersticken. Die Klinge habe ich im Gürtel stecken ich ziehe sie irgendwie heraus schneide ihm in den Arm, der meine Kehle zuschnürt. Er schreit auf lässt mich los, falle, liege auf dem Boden. Nehme meinen Bogen spanne mit zitternden Fingern den Pfeil ein. „Dreh dich um du Schein“, höre ich mich schreien. Lion dreht sich um. Ohne zu zielen lasse ich meine Finger von der Sehne gleiten. Die Pfeilspitze schlägt in Lions Magen ein. Er schreit auf vor Schmerz. Er blitzt mich noch einmal aus seinen Augen an, dann klappt er sie zu. Für immer. Jetzt sind meine Kräfte auch am Ende. Ich sacke ohnmächtig zu Boden.

 

 

Als ich die Augen öffne, liege ich in dem Bett, indem ich vor den Spielen geschlafen habe. Meine Narben sind verschwunden, meine Brandnarbe ist auch nicht mehr zu sehen und auf dem tauben Ohr kann ich wieder hören. Ich stehe auf, gehe zum Fenster, ziehe den Vorhang auf. Die warmen Strahlen der Morgensonne küssen mein Gesicht. „Guten Morgen Lya.“ Ich drehe mich um. Kato steht in meinem Zimmer. Erst jetzt bemerke ich, dass ein zweites Bett im Zimmer steht. Ich falle ihm in die Arme. „Hast du die ganze Nacht bei mir geschlafen?“ „Nein“, sagt Kato. „Nur die halbe.        Die andere Hälfte saß ich auf deiner Bettkante und habe deine Hand gehalten.“ „Danke, dass du auf mich aufgepasst hast, Kato!“ „Das bin ich dir schuldig, du hast mit deinem Leben gespielt, damit ich am Leben bleibe. Ich wusste die ganze Zeit, dass du gewinnst. Und jetzt zieh dich an, die Elkiris warten auf dich, sie wollen dich dem Land vorstellen und dir deinen Preis überreichen.“ Ich ziehe mich also an, das Kleid, das an meinem Schrank hängt. Ein langes rotes Abendkleid. Wunderschön. Meine Haare flechte ich nicht, sondern lasse sie offen. Dann schminke ich mich dezent, lege lange Ohrringe und eine schicke Halskette an. Danach folge ich Kato in einen Großen Saal. Dort sitzt Thresh, der Anführer der Elkiris. Er überreicht mir so viel Essen, dass wir ein Jahr lang nicht mehr jagen müssen, wenn wir sparsam sind, dann reicht es auch für zwei Jahre. Dann ist Kato zwanzig und kann für die Elkiris arbeiten. Er holt dann die Leichen von den Spielern aus dem Areal und schafft sie in die verschiedenen Teile unseres Landes, das was nicht existieren dürfte. Eigentlich. Ich bin dann siebzehn und schmeiße wahrscheinlich den Haushalt. Thresh gibt uns noch neue und kostbare Kleidung, sagt mir noch „Herzlichen Glückwunsch, dass du gewonnen hast!“, dann lässt er uns gehen. Zurück nach Hause, dort wo wir uns auskennen, dort, wo wir jetzt Anerkennung bekommen, weil ich die Spiele gewonnen habe. Vier Stunden später sind wir zu Hause angekommen, ich erlange Ruhm und Applaus. Kato und ich lassen uns in Moms und Dads Ehebett fallen. „Jetzt wird alles besser, glaub mir Lya!“ Das glaube ich ihm gerne, schließe die Augen und schließe endgültig mit dem Thema Spiele ab. Doch mit dem Tod von Mom und Dad werde ich nie abschließen, sie werden in meinem Herzen weiterleben. Für immer!

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Tag der Veröffentlichung: 03.05.2013

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